Aussagen der Mythologie

»Wo lassen sich aber diese Ursprünge erkennen?
Die Antwort ist zweifelsfrei.
In den Mythen, dem getreuen Bilde der ältesten Zeit.«
J.J. Bachofen

Erneuerung und Verbreitung

Die europäischen Forscher des großen Zeitalters der Entdeckungen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert waren sehr verwundert über die Gleichartigkeiten, die sie unter primitiven Stämmen fanden, die so von der Welt abgeschnitten waren, daß sie nicht einmal etwas von dem Volk auf der nächsten Insel wußten. Die Europäer waren überrascht, als sie bestimmte Glaubensanschauungen, Legenden, Mythen, Überlieferungen, Bräuche und Tabus auf der ganzen Welt fanden, die von Sibirien bis zur Südsee sich nur in unwesentlichen Dingen unterschieden.
Die Entdeckung dieser unerklärlichen Ähnlichkeiten brachte die Anthropologen des 19. Jahrhunderts, vor allem die Deutschen Georg Waitz und Adolf Bastian, dazu, die »autochtone« Theorie der lokalen Evolution zu entwickeln, d.h. die Theorie, daß alle Völker durch bestimmte Entwicklungsstufen fortschreiten ohne die Unterstützung durch Begegnung oder des Vorbildes. Im 20. Jahrhundert »war diese Theorie in Vergessenheit geraten, aus der sie nie hätte emporkommen sollen«, wie A.C. Haddon sagt,[1] und an ihre Stelle trat die »Verbreitungs«Theorie. Diese jetzt von verständigeren Gelehrten übernommene Theorie behauptet, »daß die Entwicklung nur an einem Punkt stattfand und sich von dort aus über die Erde ausbreitete«.[2]
Wo dieses ursprüngliche Gebiet gewesen sein kann, ist nicht geklärt. Jüngere archäologische Untersuchungen scheinen auf einen Ursprung in Anatolien hinzuweisen, doch das war möglicherweise nur der letzte Vorposten der  ersten Kultur. Die große Frage ist, ob die Kultur durch Völkerwanderung von einem Ursprungspunkt aus verbreitet wurde, oder ob sie in einem verlorenen Zeitalter, als Weltreisen selbstverständlich waren, bewußt ringsum auf der Welt gegründet wurde.
Wenn die Wanderung von einem zentralen Ursprung aus die Antwort wäre, so hätte es allem Anschein nach keinen Rückschritt gegeben, der offensichtlich unter den Völkern der Welt stattgefunden hat. »Eine bewußte Gründung« durch ein überragendes Geschlecht könnte die Tatsache erklären, daß mit dem Tod der zentralen Kultur nicht nur die Welt aufhörte, sich weiterzuentwickeln, sondern tatsächlich in den Zustand der Wildheit zurückfiel. Unsere Forscher fanden, daß die »wilden« Völker auf der ganzen Erde »durch ihre Folklore, ihre Bräuche und ihre verschwommenen metaphysischen Vorstellungen ihren Zustand enthüllten«, daß sie nicht echte Primitive waren, frisch aus des Schöpfers Hand, sondern daß »sie sich in einem in die Wildheit zurückversetzten Kulturzustand befanden«.[3]
Je weiter wir in der Untersuchung der Völker wie auch ihrer Sprache zurückgehen, umso, mehr erkennen wir, wie entwickelt sie waren. In Irland bewahrten die allerersten Siedler, die Firbolgs, die »kleinen Leute« des irischen Mythos, ein altes Wissen, das selbst ihren Eroberern, den hervorragenden und begabten Tuatha De Danann, nicht voll verständlich war. Und die Milesier, die die Tuathas unterwarfen, hatten, wie alle späteren Kelten, »das komplexe astronomische System verloren und nur noch sehr verschwommene Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele bewahrt.«[4]
»Die gemeinsame Religion der archaischen Kultur«, schreibt John Rhys, »von der Ostsee bis nach Gibraltar war das Druidentum.«[5] Und das Druidentum war die Religion der Kelten. Es kann in die entfernteste Vergangenheit zurückverfolgt werden, fährt Rhys fort, über das keltische Europa hinaus bis in das ägäische Gebiet. Die Druiden waren einst alle Frauen, die Druidinnen; und, wie Cäsar bemerkt, selbst in römischen Zeiten wurden diese weiblichen Druiden von den keltischen Führern Galliens befragt. Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war nach Tacitus der Gegenstand der druidischen Verehrung eine Große Göttin, deren Heiligtum in einem Eichenhain auf einer Meeresinsel stand.[6]

Sumer und das keltische Kreuz

»Das Wissen der Druiden von den geschichtlichen Zeiten, ihre astronomischen und physikalischen Kenntnisse und ihre Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele waren viel zu genau, als daß sie von Barbaren hätten erfunden werden können.«[7] Wo hatten sie also diese alte Weisheit erworben, die durch die alten Seefahrer und später, viel später, durch den Thrakier Orpheus offenkundig wurde?
Dürfen wir die Hypothese wagen, daß der Mittelpunkt der großen verlorenen Kultur, wo immer er auch gewesen sein mag, von der die ganze Welt beeinträchtigenden Sintflut des 10. Jahrtausend zerstört wurde, als sich der Nordpol zum Sudanbecken verlagerte, und daß ihre wenigen überlebenden Führer eine Zuflucht in den Bergfestungen des ägäischen Thrakien fanden? Denn in Thrakien wurde die alte Wissenschaft bis in Orpheus' Zeit hinein überliefert, in Thrakien fanden die klassischen Griechen Zeugnisse einer alten Technik, die weit über ihre eigenen Fähigkeiten hinausging.[8] Thrakien war nach Apuleius der Ursprungsort der Hexerei (der Frauenweisheit), und nicht weit entfernt wohnte der Stamm der Amazonen, dieses blauäugige Frauengeschlecht, das vollkommen ohne Männer lebte und jeden Mann ermordete, der es wagte, sich seinen Grenzen zu nähern. (In der keltischen Mythologie finden wir ein Frauenland, ähnlich dem der Amazonen in der ägäischen Sage. John A. McCulloch schreibt, »daß im irischen Volk immer noch diese Überlieferung vom Frauenland besteht«.)[9]
Vielleicht entkamen nur die weisen Frauen der großen Katastrophe, und um die Art zu erhalten, wurde die Fortpflanzung durch Parthenogenese allgemein üblich. Dies könnte den von Platon bewahrten Mythos der Alten, daß alle ihre Vorfahren weiblich waren, und auch die von den Amazonen angewandte Fortpflanzung erklären. Denn der Sage entsprechend zogen die Amazonen, obwohl sie ohne Männer waren, ihre Mädchen groß und töteten die Knaben. In Thrakien, so können wir hinzufügen, wurde auch Orpheus, der »geheimnisvolle Mann des Altertums«, geboren und ermordet.
Vor allem  hatten in Thrakien die Druiden ihren  Ursprung. Das Druidentum kann ohne weiteres die alte und ursprüngliche Religion sein, und es wäre interessant, sie von ihrem Ursprung über Sumer ins geschichtliche keltische Europa und in die moderne Zeit hinein zu verfolgen.
Im sumerischen Mythos erschien die Schöpfergöttin Tiamat aus den Wellen der Eriträischen See (dem heutigen Persischen Golf) als eine »Fischfrau« und sie lehrte die Menschen die Künste des Lebens: »Städte zu bauen, Tempel zu gründen - und Gesetze aufzustellen; und sie unterwies sie, kurz gesagt, in all dem, was die Gebräuche verfeinerte und ihr Leben gesitteter gestaltete«. So berichtet es Berosos von Babylon im 4. Jahrhundert vor Christus. »(Ihre) Anweisungen waren so umfassend« sagt Polyhistor, »daß seit dieser Zeit nichts Wesentliches mehr hinzugefügt worden ist.«[10] Man glaubte, daß dieses Ereignis um 16 000 vor Christus stattgefunden habe, doch ein späterer Zeitpunkt scheint plausibler. Tiamat kann eine matriarchale Königin des thrakisch-anatolischen Restes der verlorenen Kultur gewesen sein, die etwa in der Zeit des neunten oder zehnten Jahrtausends zu ihrer Kolonie am Persischen Golf reiste und ihr Volk erneut in den verlorenen Kulturkünsten unterwies. Der Euphrat floß damals wie heute von ZentralAnatolien hinab zu seiner Mündung am Persischen Golf, und es ist geologisch gesichert, daß er selbst in biblischen Zeiten viel breiter und tiefer war als heute.
Es kann sein, daß Tiamat diesen breiten Fluß von Anatolien oder dem nahen Thrakien in einem Schiff hinabgesegelt ist, dessen Gallionsfigur eine nixenartige Gestalt der alten Sage war, halb Fisch, halb Mensch. Im späteren babylonischen Mythos wurde die Meerjungfrau zu einem Meermann, dem Oannes. Doch Meermänner sind in der mythologischen Tierkunde eine Anomalie, und Oannes ist offensichtlich ein späterer patriarchaler Versuch, der Kulturbringerin ein männliches Geschlecht zu geben.
Daß Meerjungfrauen in der späteren Mythologie fast ausschließlich keltisch waren, stützt unsere Hypothese von der engen, unmittelbaren Verbindung zwischen den matriarchalen Kelten und der verlorenen Kultur. »Das Vorherrschen von Geschichten über Meerjungfrauen unter keltischen Völkern weist darauf hin, daß diese Nymphen ursprünglich Gottheiten   dieser   Völker   waren«,   schreibt   Sabine   Baring Gould.[11] Es deutet auch darauf hin, daß die Kelten, die in geschichtlichen Zeiten keine Flotte besaßen, zu einer bestimmten Zeit eine enge Verbindung zum Meer, dem Lebensraum der Nixen, gehabt haben müssen. Morgan le Fay aus der Arthus-Sage, Morrigan aus der irischen Sage und Morgana aus den dänischen und italienisch-keltischen Überlieferungen sind alle ein und dieselbe Feenkönigin, deren Name Kind des Meeres bedeutet, wobei »mor« das keltische Wort für Meer ist.
Der auf alten vorchristlichen keltischen Münzen dargestellte Zusammenhang zwischen dem keltischen Kreuz und der Meerjungfrau oder Wassergöttin bietet ein fesselndes Forschungsgebiet. Diese Münzen wurden bei Marseille, Loiret, Quimper und in anderen Teilen des gallischen Frankreich gefunden, ebenso auch in Spanien und in der Bretagne, und sie weisen nach, daß das Kreuz das Zeichen der alten, vielleicht mit Tiamat selbst identischen Göttin war. Bezeichnenderweise war das Kreuz auch ein druidisches Wahrzeichen, und das druidische Kreuz hatte, wie das auf den keltischen Münzen, abgerundete Arme von gleicher Länge: die Gestalt eines vierblättrigen Kleeblattes. Deswegen, und nicht auf Grund einer christlichen Analogie, wird das Kleeblatt in Irland verehrt und in der modernen keltischen Welt als Glücksbringer betrachtet. Es ist interessant zu beobachten, daß dasselbe gleicharmige Kreuz ein Wahrzeichen des Poseidon war, des griechischen Meeres- oder Wassergottes, nach Platon eine Gottheit der Bewohner von Atlantis, dessen Hauptstadt nach ihm benannt war. In der kretisch-griechischen Mythologie war Poseidon der Sohn-Gemahl der Großen Göttin von Mykene und Kreta, der Göttin Potnia. In der natürlichen Entwicklung der Mythen verwandeln sich Göttinnen unvermeidlich in Götter, besonders wenn sie sehr wichtige Schöpfungsgöttinnen sind. W.R. Smith schreibt, daß er sehr erstaunt war, als er fand, daß die Göttinnen der alten Semiten tatsächlich in historischen Zeiten »ihr Geschlecht änderten und Götter wurden«.[12] Und Bück weist darauf hin, daß noch vor fünfhundert Jahren Atea, der große Gott von Polynesien, eine Göttin war.[13] So kann es auch bei Poseidon gewesen sein. Vielleicht war er ursprünglich eine Göttin  und  zwar  tatsächlich  die Göttin, Tiamat-Potnia, die große Schöpfergöttin Sumers, Atlantis und der Kelten. Sein Wahrzeichen, das Kreuz, wäre daher eigentlich das Zeichen der Großen Göttin, wie es das in der keltischen Religion geblieben zu sein scheint.
Das gleicharmige Kreuz wurde auf Urnen der gynaikokratischen Etrusker und besonders bezeichnend, auf einer alten phönizischen Münze gefunden, die auf ihrer Vorderseite den heiligen Stier zeigt, das Symbol der Frauenherrschaft. An der Stätte des alten Bablos fand man eine Münze, die die Göttin Astarte (Ishtar-Tiamat) darstellt, die das gleiche Kreuz hält und deren Fuß auf dem Bug eines Schiffes ruht! Dieses keltische Kreuz reiste im Gegensatz zu Kreuzen anderer Art, von denen es sehr viele gibt, in prähistorischen Zeiten in viele Gegenden, denn es tauchte im fernen Ozeanien auf, eingezeichnet auf den heiligen Steinen Neuguineas und der Osterinseln. In Australien fand man ein entsprechendes Amulett aus Grünstein, das in der Gestalt des keltischen Kreuzes geformt war, ein genaues Gegenstück zu einem Amulett, das man in Ägypten fand, dem Platz der alten Stadt, wo Nofretete und Pharao Echnaton vor 3500 Jahren Hof hielten.
Die Algonquin- und Siouxindianer von Nordamerika verbanden genauso wie die arktischen Athabasken und die Stämme von Zentralamerika das gleicharmige Kreuz mit der Mondgöttin (der Wassergöttin), und die araukanischen Mondpriesterinnen bezogen es in ihre heiligen Rituale ein. In China und Tibet »stand das keltische Kreuz an hervorragender Stelle in den Heiligtümern der Großen Göttin und war als religiöses Symbol in ganz Westasien weit verbreitet«.[14] In den Ruinen der Akropolis von Susa, der alten Hauptstadt des persischen Reiches, die auf dem Platz einer sogar noch älteren sumerischen Stadt errichtet worden war, hat man dieses Kreuz auf Scherben von Tempelvasen gefunden.
Und schließlich entdeckte man in Spanien alte keltische Münzen, auf denen das keltische Kreuz zusammen mit dem Stier und der Mondsichel zu sehen war, beides alte Symbole der Göttin und weiblicher Souveränität.
Das  christliche  Kreuz  mit  seinem  langen  senkrechten  und seinem kurzen Querarm hat eine andere Geschichte, wie wir in Kapitel 6 (»Geschlechtssymbolik«) sehen werden.
Der keltisch-druidische Einfluß ist in unserem modernen Leben weit größer als allgemein bemerkt wird. Von den Druiden haben die meisten Christen ihren Glauben vom Überleben der Seele und von den Schutzengeln als den Geistern der geliebten Toten übernommen. Hesiod, »der Dichter der Matriarchate«, schrieb im 8. Jahrhundert v. Chr. von Engeln als den schützenden Geistern der Toten,[15] eine Vorstellung, die bei den Griechen der Klassik nicht mehr bestand. Der Gedanke vom Überleben der Seele in Engelform war ohne Zweifel in der ursprünglichen Religion verbreitet und nur unter den Kelten bewahrt worden. Was Gerard Murphy »fremdartige Lieblichkeit der keltischen Mythologie« nennt, mag seinen Ursprung in der Tatsache haben, daß der keltische Mythos der letzte Widerhall der ursprünglichen Universalreligion des matriarchalen Zeitalters ist, einer Religion, die im Unterbewußtsein des modernen Menschen als Teil seiner eigentlichen Seele begraben liegt.
Diese Vorstellungen werden vom Christentum mißbilligt und geleugnet, wie das auch in der jüdischen Religion der Fall war. Der Hl. Paulus beharrt darauf, daß unsere einzige Überlebenshoffnung in der Auferstehung des Körpers beim letzten Gericht besteht, und das Alte Testament lehrt, wie der ägyptische Atomismus, daß es keine Unsterblichkeit irgendwelcher Art gibt. In der christlichen und in der jüdischen Engelslehre, die beide von der persischen Weltentstehungslehre abgeleitet sind, stellen die Engel eine vollkommen getrennte Schöpfung dar, nie menschlich und nur halb göttlich. Darüber hinaus sind sie im christlichen Glauben männlichen Geschlechts, wohingegen die Engel in den frühen griechischen und keltischen Religionen, die Geister oder animae der Toten, immer weiblich sind.
Ein ironischer Aspekt der christlichen Symbolik ist, daß die in der Kirchenkunst dargestellten männlichen Engel nichts anderes als ein Bildnis der Großen Göttin selbst sind. Denn als man ihren Kult in Rom gnadenlos austilgte und ihre Tempel für den christlichen Gebrauch umwandelte, blieb ihr beflügeltes Abbild auf den römischen Münzen eingeprägt, ungeachtet der neuen christlichen Priesterherrschaft in Konstantinopel. Was konnte die bedrängte Kirche damals anderes tun, als die Große Göttin als den »Engel des Herrn«, den Erzengel Michael, zu übernehmen?[16]
Doch zurück nach Thrakien. Von hier aus überschritt eine spätere Generation den nahen Hellespont nach Anatolien und errichtete dort, neben anderen, die »vorgeschichtlichen«, jüngst von Archäologen ausgegrabenen Städte von Catal Hüyük, Mersin, Hacilar und Alalakh. Das von diesen matriarchalen Völkern bewahrte Wissen führte, wie wir vermutet haben, zu der Blüte der großen sumerischen Kultur, »die nie begonnen zu haben scheint«, wie die Historiker beklagen. »Sozusagen über Nacht«, schreibt Thorkild Jacobsen, ein Sumerologe von Harvard, »begann die (sumerische) Kultur, vollständig in all ihren wesentlichen Merkmalen.«[17] Ihre astronomischen Kenntnisse übertrafen die des modernen Menschen bis zum Jahre 1930, denn erst damals entdeckte Clyde Tombaugh den neunten Planeten Pluto, und erst 1781 bzw. 1846 entdeckte William Herschel Uranus, den siebten Planeten und Urbain Leverier Neptun, den achten. Doch auf Siegeln, die man an alten Plätzen ausgrub, die zu Sumer gehörten, ist unsere Sonne mit allen neun sich um die Sonne drehenden Planeten dargestellt. Die Siegel zeigen aber nicht nur das, sondern auch andere Sonnen, mit weiteren, noch unentdeckten Welten, die um sie kreisen.[18]
Das heliozentrische Universum und die Vielfalt der Welten, ein Glaube, der von der christlichen Kirche noch bis vor 400 Jahren als Ketzerei gebrandmarkt wurde, war den alten Sumerern bereits vor 7 000 Jahren bekannt. Woher hatten sie diese Erkenntnis? - Im Gegensatz zur Annahme früherer Archäologen, in Anatolien fänden sich keinerlei Spuren von früheren Kulturen, häufen sich jetzt die Beweise, daß es der Ursprungsort aller geschichtlichen Kultur gewesen sein kann. Dort schlummerten nicht nur die Samen der alten verlorenen Kultur, um schließlich die großen Kulturen der Sumerer, Kreter und Ägypter hervorzubringen, sondern als diese von den Patriarchen zerstört worden waren, fanden die ursprünglichen Samen wieder Brachland im anatolischen lonien. Hier erblühten sie in späten geschichtlichen Zeiten zu dem Glanz, den Athen darstellte, und zu der großen keltisch-ionischen Kultur, die vor erst 1 500 Jahren mit dem Aufkommen des offiziellen Christentums und dem endgültigen Fall Roms endete, jenen zwei zusammenhängenden Ereignissen, die in das finstere Mittelalter Europas führten.

Orpheus und das Druidentum

Thrakien war der Ursprung des anatolischen Wunders, das Bindeglied zwischen der großen verlorenen Kultur und all den geschichtlichen Kulturen, einschließlich unserer eigenen. »Die Thrakier«, schrieb Herodot, »wohnen zwischen hohen Bergen, die mit Wäldern überzogen und deren Spitzen mit Schnee bedeckt sind. (...) Ihr Orakel befindet sich auf der höchsten Bergspitze, und ihr Prophet ist eine Frau.«[19] Aus Thrakien kamen die neun Musen, »Berggöttinnen«, und es war die Heimat der geheimnisvollen Mänaden, über die wir jetzt mehr zu sagen haben.
In diesem Land wurde die Göttin Diana verehrt, und zwar in ähnlicher Weise wie bei den alten Kelten der Britischen Inseln: Sowohl die Thrakier als auch die Kelten versahen nach Herodot in gleicher Weise die Opfergaben für ihre Göttin wie kein anderes Volk mit »Weizenstroh«. Seit ältesten Zeiten, schreibt Herodot, hatten »die Hyperboreer« (das Volk aus dem hohen Norden, das heißt von den Britischen Inseln) ihre Opfergaben zum Tempel der Diana auf Delos geschickt. Diese mit Weizenstroh umwickelten Opfergaben wurden durch Europa über Land zum Adriatischen Meer geschickt, hinab zur Bucht von Korinth nach Euböa und dann nach Tenos, »von wo die dortigen Bewohner von Thenos diese schließlich, ohne in Andros zu halten, nach Delos« im Ägäischen Meer brachten. »Die Frauen von Thrakien«, fährt er fort, »bringen bei ihren Opferungen für die königliche Diana immer Weizenstroh mit ihren Gaben. Aus eigener Anschauung kann ich bestätigen, daß das so ist.«[20] Aber der sonst so verständige Herodot hatte für die Ähnlichkeit der Bräuche dieser zwei so weit voneinander entfernten Völker keine Erklärung.
Die Diana von Delos selbst war es, die nach Geoffrey of Monmouth die ersten Briten nach England sandte. Als Brutus, der sagenhafte Gründer Britanniens, sie in Delos aufsuchte, versprach sie ihm, daß er der Stammvater eines großen Geschlechts werde. »Jenseits des Sonnenuntergangs und der Gebiete von Gallien liegt eine Insel im Meer. Im Verlauf der Jahre wird sich diese Insel als geeigneter Wohnraum für dein Volk erweisen. Dort wird aus deinem Stamm ein Geschlecht von Königen geboren werden und der ganze Erdkreis wird ihnen Untertan sein.«[21]
Bezeichnenderweise war dieser Brutus, der Vater der britischen Kelten, ein Anatolier. Aus Italien vertrieben, wohin er sich mit den geschlagenen Trojanern unter Äneas gewandt hatte, suchte er Zuflucht in Griechenland, wo er ebenfalls nicht bleiben konnte. Auf Delos erfuhr er seine wahre Bestimmung, und um die Göttin zu danken, versprach er, sie werde für immer die Göttin seines Volkes werden. »Mein Volk wird dich zu allen Zeiten verehren und dir Tempel weihen.« [22] Und die Geschichte beweist, daß er sein Wort gehalten hat, denn als die Christen zu den Kelten Galliens, Britanniens und Irlands kamen, verehrten diese innig die Göttin Dana, »die Göttin der Lichtungen und der wilden Wälder«, und sandten ihr alljährlich Gaben zu ihrem alten Heiligtum auf der ägäischen Insel Delos.
Diana war eine sehr alte ägäische Göttin, viel älter als sie im hellenisch-griechischen Mythos auf Grund ihrer Zwillingsgeburt mit Apollon auf Delos wäre. Wir dürfen nicht vergessen, daß die griechischen Mythen, wie sie uns überliefert worden sind, spätere hellenische Auslegungen von viel älteren Sagen darstellen. Häufig war die Göttin in Übereinstimmung mit ihren vielen Benennungen in den verschiedenen Teilen der Erde geteilt und neu benannt worden. Genauso wie in späteren Mythen der Donnergott zu Zeus, Thor, Jupiter, Jove, Jehova, Jahweh usw. wurde, war in früheren Mythen die Große Göttin zu Potnia, Ceres, Cybele, Athene, Diana, Artemis, Anat, Isis, Ishtar, Astarte, Minerva, Dana usw. geworden. Dana (Diana) war die Göttin der Kelten Europas und der Britischen Inseln. Ihr Name wurde in vielen Ortsbezeichnungen unsterblich, vom Fluß Don in Osteuropa bis selbst London[23] und Irland, wo die Tuatha De Danann, das »Volk der Göttin Dana«, frühe keltische Siedler waren. Die Eiche, die den alten Thrakiern ebenso wie den keltischen Druiden heilig war, wurde mit dieser Göttin verbunden. Selbst in Italien war der Hain der Diana auf Aricia, wo Äneas den Mistelzweig (den »goldenen Zweig«) gepflückt hatte, ein Eichenhain. Und der Mistelzweig war den Druiden ein Gegenstand kultischer Verehrung.
Die keltische Dana und die delische Diana des klassischen Griechenland müssen beide aus Thrakien gekommen sein, wo ihr Tempel, wie Herodot sagt, »auf der höchsten Bergspitze stand« und »eine Frau ihre Prophetin war«. Die Mänaden waren die Priesterinnen dieser thrakischen Göttin und deshalb, wie die späteren keltischen Priester der Dana, die Druiden, Wächterinnen der alten Weisheit.
Von dem thrakischen  Orpheus  erzählten  sowohl Platon  als 51 auch Plutarch, daß er Zugang zu dem alten Wissen gehabt habe, das in hellenischen Zeiten verlorengegangen war. Er wußte zum Beispiel, daß die Sonne und nicht die Erde den Mittelpunkt unseres Universums bildet, daß andere Systeme mit anderen Sonnen in der Weite des Raumes bestehen und daß andere Welten als unsere eigene sich um die Sonne drehen. »Die Ägypter«, schreibt Richard Knight, »konnten Orpheus sicherlich nicht die Vielzahl der Welten und das wahre Sonnensystem gelehrt haben, die die fundamentalen Prinzipien seiner Philosophie gewesen zu sein scheinen. Er kann auch sein Wissen von keinem Volk erworben haben, von dem irgendwelche geschichtlichen Zeugnisse erhalten blieben, denn wir kennen keines, bei dem sich die Wissenschaft so entwickelt hätte, daß eine Weisheit, die so wenig mit der allgemeinen Beobachtung übereinstimmte und so im Gegensatz zum normalen Sinneseindruck stand, nicht zurückgewiesen worden wäre, wie es alle Sekten der griechischen Philosophie taten, mit Ausnahme der des Pythagoras.«[24]
Pythagoras lehrte in der Zeit nach Orpheus nicht nur die Vielzahl der Welten, das heliozentrische System, die Theorie von der umwälzenden Entwicklung, die periodische Bewegung der Pole und die sphärische Gestalt der Erde, sondern er vertrat auch die Wiedergeburt und Unsterblichkeit der Seele. Könnte er all das von Orpheus übernommen haben? Und wo hatte sich Orpheus das Wissen erworben wenn nicht in Thrakien, seinem Heimatland, mit seinen schroffen Bergfestungen, wo die andernorts längst vergessene wissenschaftliche Kenntnis der alten Seefahrer bewahrt worden war.
»Thrakien war sicherlich in einer weit zurückliegenden Zeit von einem hochkultivierten Volk bewohnt«, schreibt Knight, »denn als Philipp von Mazedonien im 5. Jahrhundert v. Chr. die Goldminen in jenem Land öffnete, entdeckte er, daß sie schon vorher in großem Ausmaß und mit besonderem Können von einem Volk betrieben worden waren, das technisch weit entwickelt war und von dem in keinem Teil der Erde damals irgendwelche Erinnerungen bestanden.«[25]
Hier haben wir erneut die alten Goldminen, die Minen der alten Seefahrer, die in der ganzen Welt nach Gold suchten und mehr über unser Universum wußten, als die moderne Wissenschaft bisher zu erfahren fähig war. Der Thrakier Orpheus gab seine Kenntnis vom Kosmos an Pythagoras weiter. Könnte er auch Epikur in das Geheimnis der Atomtheorie eingeführt haben? Pythagoras wie Epikur gehörten zu den alten Philosophen, deren Werke man absichtlich während des Finsteren Mittelalters Europas zerstörte, als, wie Gibbon behauptet, das Licht der Erkenntnis bewußt von der christlichen Kirche ausgelöscht wurde.[26] So mußten zwei Jahrtausende vergehen, bevor Kepler, Galilei und Kopernikus das wiederentdeckten, was Orpheus, Aristarch und Pythagoras die Alten gelehrt hatten, und bis Albert Einstein auf die alte Atomtheorie Epikurs stieß. Sir William Harvey fand bei seiner Entdeckung des Blutkreislaufes nur das wieder, worum die Alten schon wußten, wie Philostratus aussagt.[27] Auch die Evolutionstheorie war Anaximander bereits 2 400 Jahre vor Darwin bekannt, doch wurde sie später von Aristoteles bezweifelt.[28] Dieser, »der weiseste der Heiden«, war von den frühen Christen verehrt worden, die deshalb seine Werke erhielten, während sie verbrecherischerweise die Werke der ihm Überlegenen zerstörten. Er war ein Vorbote der mittelalterlichen Unwissenheit, ein unbewußter Verbündeter der Kirchenväter. Weil Aristoteles die alte Wahrheit ablehnte, die den Sumerern, den Chaldäern und den frühen Griechen bekannt war, nämlich daß die Erde eine Kugel ist, die sich um die Sonne dreht, konnte die christliche Kirche so lange ihr Dogma verteidigen, die Erde sei eine Scheibe, gestützt von den Säulen der Hölle und bedeckt vom Himmelsgewölbe, über dem die Sonne gefällig auf- und untergehe.
Doch all dies war den Weisen der voraristotelischen Welt des 6. und 7. Jahrhunderts vor Christus bekannt, der Zeit der Sieben Weisen, die die klassischen Griechen wegen ihres Besitzes der alten Wahrheiten so verehrten, Wahrheiten, die zu Platons Zeiten aufgegeben oder bezweifelt wurden und in der Plutarchs vergessen waren. Könnte Orpheus die »alte Weisheit« den Weisen übermittelt haben? Und könnte es sein, daß er deswegen starb, weil er sie enthüllt hatte? Nach dem Mythos wurde Orpheus von den Mänaden aus verschiedenen weltlichen Gründen ermordet. Doch wenn die Mänaden Druidinnen waren, wie ich vermute, so waren sie in Wirklichkeit die Wächterinnen alter Weisheit, und Orpheus wurde von ihnen getötet, weil er, selbst ein Druide, ihre Geheimnisse entschleiert hatte.
Nach der späteren hellenischen Mythologie wurde Orpheus von Zeus erschlagen, »weil er göttliche Geheimnisse verraten« hatte.[29] Zeus ist hier offensichtlich ein Anachronismus, denn der neue Gott konnte kein Teilhaber der göttlichen Geheimnisse oder der »alten Weisheit«, wie die Griechen sie nannten, gewesen sein. Der in der späteren Sage angegebene Grund für Orpheus' Hinrichtung mag der wahre sein, doch die ihn hinrichteten, waren die Druidinnen, nicht Zeus.
Die Druiden lehrten, wie Orpheus und Pythagoras, die Unsterblichkeit der Seele und die Wiedergeburt, eine Tatsache, die klassische Schriftsteller Roms zu dem Schluß kommen ließ, daß die Druiden Galliens und Britanniens »von Pythagoras (und Orpheus) beeinflußt worden waren«.[30] Die Sache verhält sich jedoch genau umgekehrt. Orpheus und Pythagoras waren von den Druidinnen, den Mänaden Thrakiens beeinflußt worden. Von ihnen hatte Orpheus die alte Weisheit erworben, die den Sieben Weisen weitervermittelt worden war, zu denen Anaximander, der Lehrer des Pythagoras, gehörte.
Nach Porphyrius war Pythagoras als Sohn eines Etruskers und einer kretischen Mutter auf der ägäischen Insel Samos geboren worden. In jungen Jahren wurde er nach Milet in Karien gesandt, um von Anaximander unterrichtet zu werden. Später studierte er unter Aristoklea an der berühmten Schule von Delphi in Phokis, wo später eine andere Frau, Theoklea, eine Schülerin des Pythagoras, Hohe Priesterin werden sollte. Porphyrius erzählt eine vertrauliche Geschichte von einem Zalmoxis, einem thrakischen Jungen, den Pythagoras liebte, und »der auch Thaies genannt wurde«.[31] Thaies war nun einer der Sieben Weisen der Griechen, der die »alte Weisheit« besaß, und man nimmt an, daß er von Karien kam. Aber war er tatsächlich ein Thrakier wie vor ihm Orpheus? Und war Zalmoxis ebenso wie Orpheus ein Druide?
Porphyrius hat sehr wenig über den geheimnisvollen Zalmoxis zu sagen, doch er betont die scheinbar unwichtige Tatsache, daß »er ein Band um seine Stirn trug«.[32] Das kann ein Hinweis auf ein altes, vordruidisches Zeichen der ursprünglichen Göttinnenreligion sein, denn es erinnert an ein Band, das von den Mänaden auf einigen griechischen Basreliefs getragen wird, und an die Kopfbänder, die spätere Druidinnen und Druiden Europas angelegt hatten. Geoffrey of Monmouth schreibt, daß der keltische Brutus und sein Gefolge, als sie die Göttin Diana auf ihrer Insel besuchten, »nach einem uralten Brauch Bänder um ihre Stirnen wickelten«.[33] Auch keltische Kriegerköniginnen tragen auf Abbildungen dieses Band um ihre Schläfen. Keltische Königinnen wurden für Verkörperungen der Göttin gehalten,  und »König  und Druide waren  der in der Königin verkörperten Göttin Untertan«.[34]
»Ich schließe daraus«, schreibt E.R. Dodds, »daß Orpheus eine thrakische Gestalt von sehr ähnlichem Charakter wie Zalmoxis ist, das heißt ein Schamane (Priester) oder Vorläufer der Schamanen (...). Er, Orpheus, verbindet den Stand des Dichters, Magiers, Weissagers und Lehrers der Religion (...). Wie Schamanen überall, besucht er die Unterwelt. Schließlich lebt sein Ich als singendes Haupt fort (...). Solche seherischen Köpfe erscheinen in der nordischen Mythologie und auch in der irischen Überlieferung.«[35]
In diesen sind die Schamanen Druiden. Die Druiden der keltischen Gemeinschaften verbanden wie Orpheus die Stellung des Dichters, Magiers, Religionslehrers und Wahrsagers. In der irisch-keltischen Sage besucht Cuchulain wie Orpheus die Unterwelt. Im walisisch-keltischen Mythos spricht der Held Bran, wieder wie Orpheus, auch noch, nachdem ihm das Haupt vom Rumpf getrennt worden ist. Im griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike geht Orpheus in die Unterwelt, um Eurydike zurückzuholen, die dorthin unfreiwillig gegangen war. Doch Eurydike ist eine typische keltische Königin der Unterwelt, eine Zauberkönigin, eine Schwester der keltischen Loreley (Meerjungfrau), die Männer in Gefahren lockt. Die Liste der von Zauberinnen behexten keltischen Helden ist endlos und beginnt mit Orpheus.[36]
Von ihm sagt man, daß er selbst die Steine und Bäume mit seiner begnadeten Redekunst verzaubern konnte. Und Beredsamkeit war schon immer ein Merkmal der Kelten. Darüber hinaus beteten die keltischen Gallier, nach Lukianos im 2. Jahrhundert n. Chr., Orpheus in der Gestalt des Ogmios, ihres Gottes der Beredsamkeit, an. Und der irisch-keltische Gott Ogma war ebenso ein Gott der Dichtkunst und Sprache.
Die Eiche war den Druiden von Gallien und Britannien heilig. Und auf Zonä in Thrakien stand in der Klassik ein dem Orpheus geweihter Eichenhain.[37]
Daher scheint es offensichtlich, daß Orpheus ein früher Druide und deshalb ein früher Kelte war. Er war jedoch ein abtrünniger Druide, und deshalb erlitt er seinen Tod von den Druidinnen, den heiligen weisen Frauen von Thrakien. Und geradeso wie Thrakien das fehlende Glied zwischen der verlorenen Kultur und den geschichtlichen Kulturen ist, so ist auch Orpheus, der geheimnisvolle Mann des Altertums, das Bindeglied zwischen der alten Religion und dem geschichtlichen Druidentum, das den modernen westlichen religiösen Glauben so stark beeinflußt hat.
Denn das Druidentum war eine Göttinnenreligion, und die europäischen Christen blieben lange ihrer alten Göttin treu. Die Römer hatten versucht, das Druidentum in ihren Provinzen zu beseitigen, und sie gingen sogar so weit, die heiligen Eichen von Mona im Irischen Kanal abzuhauen, aber nur aufgrund des Aspekts der Zauberei. Sie hatten nichts gegen die Anbetung von Göttinnen, denn die übten sie ja selbst. Die irischen Kelten, von denen man sagte, sie seien von den Heiden am leichtesten zu bekehren gewesen, wurden überhaupt nicht bekehrt. Sie änderten nur den Namen ihrer Göttin in Maria um und fuhren fort, sie wie vorher anzubeten. Und das rituelle Druidentum ging mit dem Feenvolk unter die Erde.

Der heilige Stier

In der antiken Welt war vielleicht am weitesten der Stierkult verbreitet, die Verehrung des Tieres, das der Großen Göttin geweiht war. Selbst in den entferntesten Bereichen des Mythos und des Altertums finden wir, wo immer eine Göttin an oberster Stelle regierte, den heiligen Stier neben ihr. Der alte kretische Gott Poseidon, der Sohn Potnias (der Mächtigen), war ein Stiergott ebenso wie ein Fischgott. Platon berichtet uns, daß Poseidon der Gott von Atlantis war, wo der Stier verehrt wurde. Die erste Herrscherin von Atlantis, die zwar von Diodorus Siculus im ersten Jahrhundert v. Chr., aber nicht von Platon erwähnt wurde, war die Königin Basilea, die Poseidon zeitlich vorausging. Sie war es, schreibt Diodorus in seinem gewaltigen Werk »Historische Bibliothek«, die nach einem blutigen Krieg gegen die Kräfte des Bösen und des Chaos Ordnung, Recht und Gerechtigkeit in die Welt brachte. Sie war der keltischen Sitte entsprechend eine Kriegerkönigin, eine Vorgängerin von Cartismandua, Veleda, Boadicea und Tomyris.
Königin Basilea entwickelte sich zur Großen Göttin »unter hundert Namen, aber nur einer Person«, die in der ganzen alten Welt beständig verehrt wurde. Das unvorstellbare Alter dieser großen Königin wird dadurch deutlich, daß sie für die Tochter der  Gaia gehalten wurde, der Urgöttin, die in  späteren hellenischen Mythen die Welt aus dem Chaos schuf; und sie ging so selbst Gaias Sohn Kronos voraus, dem alten »Vater Zeit«.
Wo immer sich der Göttinnenkult ausbreitete, war er vom heiligen Stier begleitet. In Indien, wo der Stier noch heute verehrt wird, war der Stierkult Teil des Göttinnenkultes, der bis in Ramas Zeit hinein vorherrschte. Apis, der der Isis geweihte Stiergott von Ägypten, ist, wie auch der Stiergott, »das Goldene Kalb«, des alten Palästina und Syrien, seit langem bekannt. Letzterer war Moloch, der syrischen Göttin Ea (Tiamat) geweiht, die unter den Juden als 'Anat oder Neith verehrt wurde. Ausgrabungen bei Ninive, Babylon, Ur und ebenso bei kleineren Städten des Euphrat-Tigris-Tales erweisen, daß der Stier zur Verehrung der großen Fischgöttin Tiamat gehörte, die oft als Meerjungfrau dargestellt wird, wie z.B. auf einem Siegel, das man bei Ninive ausgegraben hat.[39] Es hat sich herausgestellt, daß Poseidon die spätere Gestalt derselben Fischgöttin ist.[40]
Der Stierkult des alten Kreta ist allgemein bekannt durch die Geschichte des Minotauros, der Generationen von heiligen Stieren verkörpert, die im Labyrinth in Luxus gehalten wurden, und denen möglicherweise gelegentlich gefangene Jungen und Mädchen geopfert wurden. Er war der alten Göttin Potnia geweiht, der ersten Gottheit Kretas und später von Mykene. Der Stier und die Labrys, die kretische Doppelaxt, waren die Zeichen des Göttinnenkultes und der matriarchalen Herrschaft in der ganzen alten Welt. Man fand sie auch eingeritzt oder aufgemalt an den Wänden der Höhlen des paläolithischen Europa, der Tempel des neolithischen Anatolien und bei Stonehenge in England, genauso wie im bronzezeitlichen Kreta, Mykene, Ionien, Pylos, Tiryns und im italienischen Umbrien und Rom.
Im vorhellenischen Athen gehörte der heilige Stier zum Kult der Großen Göttin Athene,[41] woran Aristophanes in den ,,Fröschen« und in den »Wolken« erinnert. Der Stierkult verschwand in Griechenland jedoch mit der Ankunft von Zeus im 8. Jahrhundert. Denn im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung erreichte Zeus nach W.K.C. Guthrie eine bedeutende Stellung in der griechischen Religion erst zu Zeiten Hesiods und Homers.[42] Homers Erhöhung von Zeus in der Utas war, wie Leonard Cottrell hervorhebt, ein Anachronismus.[43] Zeus war zur Zeit des Trojanischen Krieges ein sehr unbedeutender Gott. Daß das Homer selbst wußte, zeigt sich daran, daß er in der Mas Athene vor Zeus, den König der Götter, setzt.
Erst im 6. Jahrhundert v. Chr. setzten die ReIigions-»Reformer«, wie Guthrie sie nennt,[44] Zeus an die erste Stelle im griechischen Pantheon. Orpheus muß gerade vor der griechischen Religionsreform gelebt haben. Einige Mythen reihen ihn in die Argonauten der Generation vor Troja um 1300 v. Chr. ein, doch verläßlichere Quellen geben für ihn die Zeit nach dem dorischen Einfall an oder weisen ihn in etwa als Zeitgenossen von Thaies, Anaximander und Pythagoras des 6. Jahrhunderts oder im frühesten Fall des Thamyris und der Sappho des 7. Jahrhunderts aus. (Sappho soll sein singendes Haupt vom Strand von Lesbos gerettet haben.)
In Orpheus' Heimatland Thrakien war der Stier lange Zeit der Göttin heilig gewesen, doch in der orphischen Religion, die die Erhabenheit von Zeus über Hera lehrte, behielt der Stier weiterhin seinen alten Rang. Diese Tatsache ist ein weiterer Beweis dafür, daß Orpheus ein abtrünniger Druide war, ein Heretiker der alten Religion. Denn die Druiden Thrakiens hatten immer den Stier verehrt, und der Stierkult hielt sich unter den späteren Kelten sogar bis in das 4. Jahrhundert nach Chr.[45]
»Der Stier wurde von den Kelten verehrt, und seine Opferung war ein Teil der druidischen Zeremonie«,[46] wie es in der orphischen und atheneischen Religion gewesen war. In Indien, Ägypten, Kreta und Anatolien wurde der Stier nicht geopfert. Die keltischen Pikten Schottlands verehrten den Stier und die Göttin noch im 17. Jahrhundert, bis es die Schottische Kirche nötig fand, den Stierkult unter dem Landvolk als Gotteslästerung zu brandmarken.[47]
Wir können den Stierkult von seinem Ausgangspunkt im Gebiet der verlorenen Kultur, (man nenne sie Atlantis oder wie man wolle) über das prähistorische Sumer zum historischen Babylon, Ägypten, Kreta, Syrien und Griechenland hinverfolgen. Er hielt sich in Thrakien, im keltischen Europa und in Britannien bis in die Neuzeit und begleitete immer den Göttinnenkult. Seine letzte Ausprägung in einer organisierten Religion fand er im Druidentum.
Im letzten Jahrzehnt der archäologischen Arbeit hat man auf dem Gelände der »ältesten Stadt der Geschichte«, [48] Catal Hüyüks in Anatolien, das Bindeglied zwischen Mythischem und Historischem gefunden. Denn dort, wo die Große Göttin unleugbar an oberster Stelle stand, war das einzige Geschöpf, das ihre Heiligtümer und Tempel mit ihr teilte, der heilige Stier. »Sie war die Gottheit, und ihr folgte der heilige Stier von Platons verlorenem Kontinent.«[49]