Mutterrecht

»Für das Mutterrecht bietet der Mythos (...)
eine (...) Bürgschaft der Echtheit dar.
Der Gegensatz desselben zu den Ideen der
späteren Zeit ist ein so tiefer und
durchgreifender, daß unter der Herrschaft
der letzteren eine Erdichtung gynaikokratischer
Erscheinungen nicht stattfinden konnte.
J.J. Bachofen

Die Mütter

Jane Ellen Harrisons Äußerung über die Widersinnigkeit, daß der Mann die Rolle der Mutter übernimmt, kann erweitert werden, so daß sie die »anhaftende Nutzlosigkeit und den häßlichen Mißklang« des Vater-Gottes einschließt, der die Rolle und die Aufgaben der Mutter-Göttin übernimmt. Doch soweit haben wir uns in geschichdicher Zeit von der Vorstellung der weiblichen Gottheit entfernt, daß es weniger blasphemisch erschiene, von Gott als von einem »es« denn von einer »sie« zu sprechen, wie Mary Daly schreibt.[1]
Vielleicht das größte Übel in der heutigen Welt besteht darin, daß seit etwa zwei- oder dreitausend, besonders aber in den letzten 1 500 Jahren, die Menschen die falsche Gottheit verehrten und den falschen Idealen nachgestrebt haben. Als der Mensch durch Gott die Große Göttin ersetzte, traten gleichzeitig an die Stelle humaner Werte, autoritäre. Die Beziehung des Menschen zu Gott wurde die eines Kindes zu seinem Vater, dessen Liebe und Wohlwollen, wie Fromm hervorhebt, nur durch blinden Gehorsam und völlige Fügsamkeit gewonnen werden können, während in der alten Zeit die Beziehung Mensch-Gott die des Kindes zu seiner Mutter war, deren Liebe bedingungslos und deren Wohlwollen selbstverständlich ist.[2]
Als die Göttin der Gerechtigkeit dem Gott der Rache wich, wurde der Mensch grausam und unmenschlich, und das Autoritätsprinzip trat an die Stelle des Mitleids als Gesetz des Landes. Die Entmenschlichung der modernen Gesellschaft, die von der heutigen Jugend so beklagt wird, ist ein natürlicher und voraussagbarer Auswuchs fortgeschrittenen Patriarchalismus'. In unserem Bemühen, mit blindem Gehorsam den Forderungen des rachedurstigen Gottes und seiner unerbittlichen irdischen Stellvertreter nachzukommen, haben wir die Kunst der Milde und Teilnahme verloren. Die Anklagen gegen die »Weißen« von Seiten der amerikanischen Schwarzen sind nicht solche gegen weiße, bzw. kaukasische rassische Wesensmerkmale, sondern gegen patriarchale, nämlich Anmaßung, Selbstsucht, Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer, autoritäres Verhalten und die gewaltsame Durchsetzung der vom Mann geschaffenen Gesetze.
Patriarchale Völker legen mehr Gewicht auf Besitz- denn auf Menschenrechte und betonen stärker die starre moralische Gleichförmigkeit als die Begriffe von Gerechtigkeit und Gnade. Matriarchale Gesellschaften zeichnen sich, wie von Gelehrten, angefangen mit Morgan und Bachofen bis Malinowski und Mead, untersucht wurde, durch wirkliche Demokratie aus, in der das Glück und die Erfüllung der einzelnen alle anderen Ziele der Gesellschaft überragen. Hier besteht eine Philosophie des Leben-und-leben-lassens, in der die Würde und Selbstbestimmung des Individuums geachtet und gefördert werden. Sexuelle Moral ist eine Angelegenheit des persönlichen Gewissens und nicht des Gesetzes. Und illegitime Kinder sind aus demselben Grunde unbekannt, dessentwegen die Spartaner eine Bastardschaft für unmöglich hielten: Jedes von einer Frau geborene Kind ist legitim.
Derselbe Zwiespalt zwischen matriarchalen und patriarchalen Werten entsteht bei den Fragen der Abtreibung und der Todesstrafe. In einer matriarchalen Gesellschaft gehört der Körper der Frau ihr selbst, und ihr bleibt die Entscheidung überlassen, ob sie den Fötus in ihr behalten oder abtreiben will. Im klassichen Griechenland und Rom, in denen mütterliche Erbfolge, aber nicht matriarchale oder gynaikokratische Gesellschaftsformen herrschten, wurde dieses Vorrecht durch die Frauen bis in das 4. Jahrhundert n. Chr. bewahrt. Konstantin war es, der erste christliche Kaiser Roms, der gewollte Abtreibung zu einem Verbrechen erklärte;[3] und dabei blieb es in den meisten christlichen Ländern bis in unsere Zeit. Die Todesstrafe ist ebenso eine patriarchale Errungenschaft: das unerbittliche Gesetz des »Augeum-Auge«. Matriarchate sind mit der Reue des Mörders und seiner vollen Entschädigung der Abhängigen seines Opfers zufrieden. Aber die Patriarchen müssen blutige Rache nehmen, auch wenn die Hinrichtung des Schuldigen mehr Unheil als Wohl für die Überlebenden des Opfers verursacht.[4]
Aus matriarchaler Sicht wird selbst das Recht der Gesellschaft bezweifelt, willkürliche Sitten festzulegen. Und das Recht des Gesetzes, die Anpassung an diese Verhaltensweisen zu erzwingen, wird entschieden abgelehnt. Eines der schlimmsten moralischen Vergehen besteht in patriarchaler Sicht in der Geburt eines vaterlosen Kindes. Das ganze patriarchale Zeitalter hindurch haben Frauen wegen des Verstoßes gegen männliches Eigentumsrecht unerhört gelitten, und ihre Kinder sogar noch mehr. Doch der einzige Fehler bei vaterlosen Familien, die von heutigen Soziologen so bedauert werden, besteht nicht darin, daß sie vaterlos sind, sondern daß die Mütter nicht die Unterstützung und Zustimmung der Gesellschaft finden. In einer normalen, gut geleiteten, von Frauen bestimmten Gesellschaft wäre das nicht der Fall. Der Vater ist zum Glück und zur Entwicklung des Kindes überhaupt nicht nötig, auch wenn die Regierung und zuständige soziale Stellen noch so viel über diese Angelegenheit geschrieben haben. Viele Jahrtausende hindurch erzogen und erziehen Frauen immer noch sehr gute Kinder ohne Hilfe des Mannes.
Doch in unserer patriarchalen Gesellschaft ist eine mannlose Frau Ziel der Verachtung, und ihre Kinder werden entweder bemitleidet oder schief angesehen. Also sind es allein unsere patriarchalen Sitten, die einen Vater für das Heim fordern, und nicht die Natur oder das Wohlbefinden des Kindes.
Im Gegensatz zu modernen soziologischen Lehrsätzen ist nicht das vaterbeherrschte, sondern das auf die Mutter gerichtete Heim das glücklichste. Wenn man eine Kindergruppe fragt, wer zu Hause »die Hosen anhabe«, so antworten die einen stolz und selbstsicher ,»Mutter«, während die anderen, mit einem an Haß grenzenden Groll den Vater nennen. Hier zeigt sich die unbewußte Kenntnis des Kindes davon, daß dies eine Umkehrung der natürlichen Ordnurig der Dinge ist: Zu Hause sollte die Mutter bestimmen. Wenn der Mann aufhört, der Frau des Hauses gehorsam zu sein, gerät das Heim vollkommen durcheinander.[5]
»Mammi« hat in den letzten Jahren gewaltige Prügel gekriegt, und wurde für alles, von der Kriminalität bis zu Baissen in Wall Street, verantwortlich gemacht. Aber es stimmt immer noch, daß die Mutter den weitaus größten Einfluß auf das Wohl all ihrer  Kinder, besonders aber ihrer Söhne, ausübt. Es gibt kaum einen hervorragenden Mann in der Geschichte, der nicht entweder ganz vaterlos oder aus irgendeinem Grund von seinem Vater so weit getrennt war, daß er in seinen bildenden Jahren keine Verbindung zu ihm hatte. Selbst in den seltenen Fällen, bei denen ein Vater vorhanden war, war es der Sohn, den die Mutter bevorzugte, den sie sehr stark beeinflußte und der durch sie berühmt wurde. »Fast ausnahmslos (...) waren die Präsidenten der Vereinigten Staaten Muttersöhne«,[6] genauso wie die berühmten Staatsmänner, angefangen von Perikles und den Gracchen bis Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt. »Der Hauptbeitrag, den die Väter berühmter Söhne lieferten, bestand darin, daß sie ihren Frauen und Söhnen ein unannehmbares Beispiel gaben, das überwunden werden mußte.«[7] Im klassischen Mythos werden die Helden und Götter ausschließlich von ihren Müttern erzogen. Der halbgeschichtliche Theseus wuchs bei seiner Mutter in Troezen auf und sah seinen Vater Ägeus erst, als er erwachsen war. Man denke auch daran, daß der berühmte Achilles in Mädchenkleidern unter den Frauen aufwuchs. Und in der homerischen »Hymne an Hermes« berichtet Apollon, daß seine Mutter ihn großzog, während der Vater sich »nicht um ihn kümmerte«.[8]
Die Vorstellung der weiblichen Autorität ist im menschlichen Unterbewußtsein so tief eingebettet, daß das Kind selbst nach diesen vielen Jahrhunderten des Vaterrechts instinktiv die Mutter als die oberste Autorität betrachtet. Es sieht den Vater als ebenbürtig an, als ebenso der weiblichen Herrschaft unterworfen. Die Kinder müssen gelehrt werden, ihren Vater zu lieben, zu ehren und zu achten, eine Aufgabe, der sich gewöhnlich die Mutter unterzieht. Generationen junger Mütter sind bestürzt und erschreckt gewesen, als sie entdeckten, daß ihre Kinder keinen instinktiven Bezug zum »Vater« hatten.
In der Erfahrung nahezu eines jeden Kindes ist es die Mutter, nicht der Vater, die alle Kinder gleichermaßen liebt, ihnen ohne Ansehen ihres mehr oder weniger großen Wertes beisteht und ihnen ohne Einschränkung vergibt. Dies sind Wesenseigenschaften, die im Neuen Testament »Gott Vater« gegeben werden, doch sind sie ausschließlich mütterliche, nicht väterliche Züge.
»Wenn wir heutzutage von Gott als Vater sprechen, begrenzen wir sehr stark die Quellen des Lebens«, sagt Harrison.[9]) »Die Idee der Mutterschaft erzeugt ein Gefühl der Brüderlichkeit unter allen Menschen, das mit der Entwicklung der Vaterherrschaft abstirbt«, schreibt Bachofen.[10] Die einzige Nation, die ihr Heimatland im Gegensatz zu Mutterland Vaterland nennt, ist Deutschland, ein Land, das in dem einige Jahre zurückliegenden Blutbad der Nazis all die Exzesse demonstriert hat, die in einem extremen Patriarchat verborgen sind. »Die auf dem Vaterrecht gegründete Familie ist ein geschlossenes Gefüge, wohingegen die matriarchale Familie den typischen universellen Charakter hat, der am Anfang einer jeden Entwicklung steht.«[11]
»Die für die frühen matriarchalen Völker kennzeichnende optimistische Vorstellung von der nächsten Welt«, schreibt Sybille von Cles-Redin, »der Glaube an die Reinkarnation im alles erneuernden Schoß der Großen Göttin, scheint später einer düsteren, pessimistischen Aussicht auf das Jenseits gewichen zu sein. Mit dem Rückzug der mütterlichen Welt und dem Erscheinen der neuen männlichen Götter wurde die Welt häßlicher, die Vorstellung von der Zerstörung stärker und die Hoffnung auf Erlösung immer schwächer.«[12]
»Die Verbindung, die am Anfang jeder Kultur, jeder Tugend und jeden höheren Daseinsbegriffs steht, ist die zwischen Mutter und Kind. Sie wirkt in einer Welt der Gewalt als göttliches Prinzip der Liebe, des Friedens und der Eintracht. Die väterliche Liebe erscheint viel später. Die Frau ist der Ursprung aller Güte, aller Kultur, aller Zuneigung und aller Fürsorge für die Lebenden und aller Trauer um die Toten.«[13]Die mütterliche Liebe war nicht nur die erste Art der Liebe, sondern für viele Jahrtausende auch die einzige. Als die Frau, nachdem sie den Mann bezähmt hatte, ihre Liebe für ihre Kinder auf deren Vater ausdehnte, begann der Mann vielleicht zum ersten Mal zu erfahren, was Liebe ist. Schließlich lernte er, die Liebe der Frau zu schätzen und dankbar für sie zu sein, obwohl er kein Gefühl dafür hatte, sie in gleicher Weise zu erwidern. Am Ende wurde er von ihr als grundlegender Notwendigkeit des Lebens abhängig. Doch immer noch versucht die Frau, ihn zu lehren, was Liebe wirklich ist. Denn, wenn Männer von ,Liebe' sprechen, meinen sie eigentlich »skrotale Raserei«.[14]
Unsere moderne Gesellschaft, schreibt Eisler, »ist das Ergebnis der Unterwerfung einer ursprünglich vegetarischen und Ackerbau treibenden Bevölkerung durch Jäger, die später überwiegend die Oberhand behielten. (...) Die Jäger, Räuber und Piraten sind die Eroberer, die auf der ganzen Welt die Ackerbauern unterwarfen«.[15] Aber die Staatsmänner, die Helden, die Heiligen sind die Ackerbauern, deren mütterliche Gene in der unvermeidlichen Vermischung der Stämme bestehen blieben.
So hat also »der männliche Charakter unserer Zivilisation seinen Ursprung nicht in einem angeborenen Geschlechtsunterschied, sondern im Übergewicht der Gewalt auf Seiten des Mannes, was mit der Frage der Zivilisation an sich gar nichts zu tun hat«.[16] Doch diese Gewalt, die erworbene Muskelkraft des unterlegenen Geschlechts war es, die zu der in der westlichen Welt immer noch anhaltenden patriarchalen Revolution und zu dem beständigen Niedergang der Kultur führte. Denn »solange Gewalt herrscht, die körperliche Gewalt des einzelnen, ist eine Gesellschaft unmöglich«.[17]

Die natürliche Überlegenheit der Königinnen

John Stuart Mill erkannte die Tatsache, daß die Königinnen den Königen überlegen waren, und fragte, warum die weiblichen Monarchen, obwohl in der Geschichte in der Minderzahl, sich stets als bessere Herrscherinnen als die Könige erwiesen hatten.[18] Sogar der Misogynist (Frauenhasser) Montesquieu aus dem 18. Jahrhundert gab zu, daß Frauen am besten zum Regieren geeignet waren: »Gerade aufgrund ihrer Schwächen (sie) sind sie im allgemeinen milde und gemäßigt, Eigenschaften, die zu guter Staatsführung eher befähigen als Strenge und Härte.«[19]
Diese Logik ist etwas befremdend, zeigt aber, daß im 18. Jahrhundert, genau wie heute, die Tugenden der Frauen wie Milde und Mäßigung als .Schwäche' charakterisiert werden und nicht als das was sie sind, nämlich starke und wünschenswerte Eigenschaften, während die männliche .Strenge und Härte' zu Tugenden gemacht werden - was sie nicht sind. Wenn Männer nicht ihre aggressive Strenge und Härte aufgeben und einige der weiblichen .Schwächen' übernehmen, dann ist die Zivilisation zum Untergang verurteilt - wie Ashley Montagu sagt.[20]
Um ein Beispiel für das natürliche Führungs- und Verwaltungsgeschick der Frau in der modernen Zeit zu finden, brauchen wir nur in Mills eigenes Land, nach England, zu gehen. In der Geschichte jenes großen Landes tragen die bedeutendsten Abschnitte die Namen von Frauen: das Elizabethanische Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen, sowohl auf geographischem als auch auf geistigem Gebiet; das Zeitalter der Königin Anne, als die .Vernunft' im raschen Fortschritt der Wissenschaft, der Kunst und der Bildung triumphierte; und das Viktorianische Zeitalter der Pax Britannica.
Rußlands bedeutendster Zeitabschnitt vor der Revolution von 1917 fiel mit der Herrschaft einer Königin, Katharinas der Großen, zusammen. Und Spanien errang unter Isabella die Führungsstellung in der Welt, die es im 15. und 16. Jahrhundert innehatte. Während der langen Regierungszeit der Königin Katharina von Medici im 16. Jahrhundert erhob sich Frankreich zum kulturellen und geistigen Mittelpunkt der Welt, der es bis in unsere Zeit hinein blieb. »Weibliche Herrscher haben sowohl in gemäßigten als auch in despotischen Regierungen Erfolg, wie das Beispiel Englands und Rußlands zeigt«, schreibt Montesquieu.[21] Viele Schriftsteller haben neidisch diese Erscheinung bemerkt und sie auf die Tatsache zurückgeführt, daß die Königinnen bessere Ratgeber als die Könige hätten, was ihnen, wenn schon nichts anderes, immerhin das Verdienst zumißt, besonders talentiert zum Aussuchen von Ratgebern zu sein. Die wahrscheinlichere Antwort jedoch ist die, daß sich Männer besser der Frauenherrschaft fügen, daß schon allein die Idee des Königinnentums ein altes männliches Bedürfnis erfüllt und ein atavistisches Verlangen nach den alten Tagen der weiblichen Autorität stillt, nach dem goldenen Zeitalter der Königinnenherrschaft, als Frieden und Gerechtigkeit auf Erden herrschten und die Götter des Krieges noch nicht geboren waren.

Die mütterliche Erbfolge

»Männer fürchteten und verehrten die Matriarchinnen und leisteten ihnen Gehorsam.«[22] Die Frau hielt sich Liebhaber nur zu ihrer Freude, aber nicht, um ihren Kindern einen Vater zu geben, denn das hielt sie für unnötig. Nachdem jedoch einmal der Zusammenhang zwischen Beischlaf und Geburt sowohl von den Männern als auch Frauen erkannt worden war, verbesserte sich die Stellung des Mannes allmählich. Die Stammeskönigin oder Mutter (Matriarchin) erwählte nun einen Gatten, der »ausführende Gewalt nur erhielt, wenn ihm erlaubt wurde, die Königin zu vertreten«.[23]
War das der Fall, so trug er ihre Gewänder, legte sich falsche Brüste zu und entlieh sich als Zeichen der Macht und Autorität die Mondaxt der Königin, das kretische königliche Symbol wie auch das Emblem der Gynaikokratie in der Alten Welt. Der König behielt seine Stellung durch Heirat der Erbkönigin, und der Thron blieb selbst in später geschichtlicher Zeit, noch lange nach dem Sieg des Patriarchats, bei der mütterlichen Linie. »Der König blieb noch lange nach dem Ende der matriarchalen Phase unter der Vorherrschaft der Königin«, schreibt Graves[24]; und als Könige längst an die Stelle der Königinnen getreten waren, »erwarb der König sein Recht« nicht von seinem Vater, sondern von seiner Mutter oder seiner Frau. »Nicht um Erben zu zeugen nimmt er sich eine Frau, denn seine Söhne werden ihm nicht folgen, sondern um Macht zu gewinnen« und seinen Anspruch auf den Thron rechtlich zu bestätigen.[25]
Der König wurde stets von außerhalb der königlichen Familie gewählt, da die Erbfolge von der Königin auf die Tochter überging und »die Krönung des Königs nur in der Hochzeitsfeier mit der Königin bestand.«[26] Könige durch Heirat suchten schließlich nach Wegen, sich den Thron zu erhalten, und dachten sich viele Pläne aus, um dieses Ziel zu erreichen. Der Inzest innerhalb der königlichen Familie war eine Methode, wobei der König nach dem Tode seiner Frau seine eigene Tocher, die Erbin, heiratete oder seinen Sohn dazu brachte, dies zu tun, worauf der weitverbreitete Brauch der Geschwisterheirat unter königlichen Familien in geschichtlicher Zeit zurückzuführen ist.[27] Die Römer errichteten die vestalische Schule, um die weiblichen Erben im Zaum zu halten und um Außenstehende bei ihren Versuchen zu entmutigen, den Thron, der in mütterlicher Linie vererbt wurde, durch Heirat mit den königlichen Damen zu erwerben. Daß das nicht immer glückte, wird durch den Fall der vestalischen Jungfrau Rhea Silvia bestätigt, die trotz aller Vorsichtsmaßnahmen die Mutter von König Romulus wurde. In Palästina errichtete König David den königlichen Harem zum selben Zweck - die Frau des rechtmäßigen Königshauses Saul sollte abgesondert und die Monarchie für Davids eigene Familie bewahrt werden.
»Das weitverbreitete Gesetz der weiblichen Abstammung liegt tief in der Geschichte der Gesellschaft begründet«, schreibt Tylor. [28] Es war nur natürlich, daß in einer Welt, in der Vaterschaft unbekannt war, das Erbe nur auf die weibliche Linie beschränkt wurde. Aber dieses mütterliche Vorrecht erklärt nicht, warum die Söhne einer Frau, die ebenso sicher ihre Kinder waren wie ihre Töchter, vom Erbe ausgeschlossen wurden. Und es erklärt auch nicht, warum sich die mütterliche Erbfolge bis lange nach der Errichtung des Patriarchats und bis weit in geschichtliche Zeiten hinein erhalten hat. »Eine Gens«, sagt Morgan, »bestand aus einer Stammutter und ihren Kindern, den Kindern ihrer Töchter und ihrer weiblichen Nachkommenschaft aus der weiblichen Linie. Die Kinder ihrer Söhne, und die männliche Nachkommenschaft aus der männlichen Linie wurden ausgeschlossen.«[29] »Die Abstammung in weiblicher Linie«, schrieb Ernst Curtius, »findet sich bis zum heutigen Tage in Indien; sie bestand unter den alten Ägyptern; und jenseits der Grenzen des Ostens erscheint sie bei den Etruskern, den Kretern, den Lykiern und den Athenern. »Es wäre ein Irrtum«, gibt der patristische Teutone des 19. Jahrhunderts zu bedenken, »den Brauch für eine Huldigung gegenüber dem weiblichen Geschlecht anzusehen! Vielmehr wurzelt er in primitiver Sitte und ursprünglicher Gesellschaft.«[30] Herodots Bericht über die mütterliche Erbfolge bei den Lykiern seiner Zeit ist bekannt. Aber 300 Jahre später berichtet Polybius, daß in Lokres, einem Nachbarn des attischen Athen, noch zu jenem späten Zeitpunkt mütterliche Erbfolge vorherrschte: »Die Bewohner von Lokres selbst haben mir versichert, daß sich bei ihnen der Erbadel von Frauen und nicht von Männern herleitet.«[31]
Die allgemeine Gültigkeit der mütterlichen Erbfolge unter allen Völkern wird durch die Tatsache nachgewiesen, daß sie selbst im 20. Jahrhundert in Ozeanien, jenem weiten Gebiet, in dem sich matriarchale Bräuche bis hinein in unsere Tage erhalten haben, noch üblich ist.
»Gemäß den Rechtsgrundlagen der Melanesier (...) steht nur solchen das Bürgerrecht, das Erbrecht auf Landbesitz usw. zu, die in der weiblichen Linie von den ursprünglichen weiblichen Vorfahren abstammen«, berichtet Malinowski.[32] Und Mantegazza schreibt: »Vor dem Erscheinen der christlichen Missionare waren die Polynesier ein typisch matriarchales Volk, Frauen hatten eine rechtliche Stellung, die der der Männer um vieles überlegen war (...) und Abstammung und Vererbung lagen in der weiblichen Linie.«[33] Nach Bück bestehen diese Verhältnisse noch im polynesischen Samoa und Tonga; [34]und Benedict berichtet von ähnlichen Bräuchen bei den Zuni-Indianern in Nordamerika.[35]
Die vielen Mythen und Märchen von schönen Jungfrauen, die, wie zum Beispiel Dornröschen, in Türmen oder Kerkern eingeschlossen sind oder von wilden Drachen bewacht werden, gründen auf dem allgemeinen Gesetz der mütterlichen Erbfolge. Die schöne Jungfrau ist stets die Erbprinzessin, die mit ihrer Heirat das Königreich vergibt, zum Nachteil ihrer männlichen Verwandten, die sie deshalb unverheiratet zu halten suchen. Das gleichfalls häufige Märchenthema vom jungen Prinzen ohne Land, der um die Prinzessin wirbt und mit ihr das Königreich gewinnt, erinnert ebenfalls an die mütterliche Erbfolge. Der besitzlose Prinz ist der enterbte Sproß eines mütterlichen Geschlechts, der ausziehen und sein Glück irgendwo durch Heirat einer Erbin suchen muß, während seine Schwester zu Hause auf dem Thron sitzt und unter den um ihre Hand und ihr Land anhaltenden und miteinander streitenden Freiern wählt.
Strabo, Schriftsteller im ersten Jahrhundert n. Chr. berichtet, daß die Bewohner von Kantabrien wie die Ägypter das Erbe auf die Töchter beschränkten, die »verpflichtet waren, ihre Brüder mit Mitgift auszustatten.« (36) Und ein paar Jahre später erwähnt Diodorus Siculus, daß zu seiner Zeit »nur die Töchter in Ägypten erben«. (37) In Lydien, Lykien und Karien, also in spätgeschichtlicher Zeit, erbten die Töchter, gleich wieviele Brüder sie gehabt haben mochten. In Lykien folgte Laodamia ihrem Vater, dem König Bellerophon auf den Thron, unter Ausschluß seiner vielen Söhne. Und in Lydien, im 6. Jahrhundert v. Chr., ermordete die Königin von Kandaules ihren Ehemann und setzte ihren Liebhaber Gyges auf den Thron, was wieder einmal beweist, daß der Thron der Königin und nicht ihrem Gemahl gehörte. Der Trojanische Krieg wurde um Helena geführt, nicht, weil Menelaos ein eifersüchtiger Gatte, sondern Helena die Erbkönigin war, ohne deren Zustimmung kein König in Lazedämonien regieren konnte. Bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. erhielten die persischen Könige ihre Stellung durch Heirat einer königlichen Prinzessin. Herodot erzählt uns, daß der große König Cyrus »der Sohn eines gewöhnlichen Vaters« war, »ein persischer Untertan und in jeder Hinsicht niederen Standes, doch er hatte die Tochter des Königs Astyges geheiratet« und war so König von Persien geworden. (38) Sein Nachfolger Darius gewann diesen Titel ebenfalls durch Heirat, und zwar von Atossa, der Tochter von Cyrus. Als Darius seinerseits starb, wurde nicht sein ältester Sohn Artabazanes König, sondern der Knabe Xerxes, der Sohn, den Königin Atossa von einem früheren, nicht königlichen Gatten hatte!
Von Herodot bis Dio Cassius, einer Zeitspanne von fast 800 Jahren, war Kandace der Name oder Titel der Erbkönigin von Nubien. Strabo beschreibt im Jahre sieben v. Chr. die Kandace seiner Zeit, die er selbst gesehen hatte, als »eher männliche Frau, auf einem Auge blind.«[39] Er berichtet weiter, daß diese einäugige Königin eine Truppe von zehntausend Mann in eigener Person zum Kampf gegen den Gouverneur in Ägypten, Plubius Petronius, anführte. Kandace wird von Plinius dem Älteren und 62 n. Chr. von Seneca erwähnt. Senecas Kandace ist zweifellos diejenige, die in der Apostelgeschichte erwähnt wird, als Philippus' Bekehrung »eines Eunuchs, einer berühmten Autorität unter der Königin Kandace« besprochen wird. Nubien, einst das alte Äthiopien und heute der Sudan, war im Altertum eine von Ägyptern bewohnte ägyptische Kolonie.
Die phönizische Königin Dido gründete den großen Stadtstaat von Karthago. Sie beherrschte ihn bis zu ihrem Tode und ihr folgten Königinnen, die in unmittelbarer Linie von ihr abstammten. Legenden und auch Virgil erzählen, daß eine ihrer königlichen Töchter von Äneas war, als dieser nach dem Trojanischen Krieg nach Italien unterwegs war, und daß Äneas' Weigerung, in Karthago zu bleiben und ihr Gemahl zu werden, die schöne Dido veranlaßte, sich von den Mauern ihrer Stadt zu stürzen. Wie es auch gewesen sein mag, das Frauenreich Karthago könnte einige Jahrhunderte später der Grund dafür gewesen sein, daß Cato von der Idee besessen war, die Stadt müsse zerstört werden: Carthago delendum est, ein Schwur, mit dem er jede seiner Senatsreden abschloß. Cato war ein wütender Frauenfeind und für die Vokonischen Gesetze der späten Republik verantwortlich, die die römischen Frauen vorübergehend ihrer uralten Rechte und Privilegien beraubten.[40] Nur vorübergehend, weil das Kaiserreich die Gesetze außer Kraft setzte und sie bis zur christlichen Ära nicht wieder rechtskräftig, dafür aber sehr viel strenger wurden.
Im heutigen Ghana, dem Nachbarn des alten Karthago, »haben die Königinnen der Akaner, wie Dido, seit unergründlichen Zeiten Macht ausgeübt; und wie die phönizische und karthagische Göttin Tanet, gebar die akanische Göttin Nyame das Universum ohne männlichen Partner.«[41]
In Ägypten, wie auch in der übrigen alten Welt, vererbte sich der Thron in weiblicher Linie, wobei der Gatte der Erbin zum Pharao wurde. Deshalb war die Geschwisterheirat in der ägyptischen Königsfamilie eher die Regel als die Ausnahme. Doch der Bruder regierte nur mit der Zustimmung der Erbin, seiner Schwester-Frau. Gelegentlich verweigerte diese jedoch die Zustimmung, wie z.B. Nitocris aus der sechsten Dynastie, die, so erzählt Manetho, als absolute Monarchin regierte; dasselbe galt wahrscheinlich für die Unbekannte von Sakkara, deren kürzlich entdecktes Grab auf eine mächtige und gewaltige Pharaonin schließen läßt.[42]
Dasselbe galt für die Königin Hatschepsut, der Tochter Thutmoses I., die zuerst mit ihrem älteren und nach dessen Tod mit ihrem jüngeren Bruder verheiratet war. Während dieser beiden Ehen regierte sie unangefochten als Pharaonin, und ihre lange und ruhmreiche Herrschaft wird als eine der Glanzstunden Ägyptens angesehen. Velikovsky identifiziert sie auch interessanterweise und sehr überzeugend als die Königin von Saba, die Salomon besuchte.[43] Nach Hatschepsuts Tod bestieg ihr Bruder-Gatte, der vielleicht seine Nichte geheiratet hatte, als Thutmoses III. den Thron und stürzte sein Land sofort in eine Reihe blutiger Eroberungskriege.
Rawlinson und James Breasted, von denen man Besseres hätte erwarten können, betrachten Hatschepsuts Herrschaft als Thronraub. Breasted nennt sie »aggressiv« und die Thronergreifung »einen Frevel«. [44] Und Rawlinson beschreibt sie als »eine Frau mit viel Energie, mit männlichem Denkvermögen, raffiniert, rachsüchtig und gewissenlos.«[45] Beweise für die mütterliche Erbfolge lagen aber schon klar und eindeutig sogar zu ihrer Zeit vor. Diesen beiden viktorianischen Gelehrten, mit der patriarchalen Tradition von der Unfähigkeit der Frauen gefüttert - um eine berühmte Frau frei zu zitieren [46] - war es nicht möglich, dies zu erkennen, und sie nahmen natürlich an, daß Frauen schon immer solche Nieten waren, wozu sie der viktorianische Mann gemacht hatte, und daß deshalb Thutmoses II. und III. von ihrer Schwester schmachvoll um ihre Rechte geprellt worden waren. Die Gelehrten des 20. Jahrhunderts haben aber die Wahrheit erkannt und zugegeben - wie die Alten es getan hatten.
Cleopatra, die letzte der Pharaonen, die Königin Ägyptens im Jahrhundert, das der christlichen Zeit unmittelbar vorausging, war ebenfalls mit ihrem Bruder verheiratet, doch wurde sie als Pharao und absolute Herrscherin ihres Staates angesehen. Mit ihr verhandelten Antonius und Cäsar bei ihren Versuchen, Ägypten auf ihre jeweilige Seite im römischen Bürgerkrieg zu ziehen.
Sie war übrigens eine reinrassige, blonde, mazedonische Griechin, die in der Schlacht von Aktium die Flotte anführte, und nicht dieses hitzige Halbblut, wie moderne Soziologen' und Filmemacher sie gerne hätten. Oktavian, der jene Schlacht gewann und zufolge des Sieges als Kaiser Augustus ausgerufen wurde, war der direkte Neffe (in der weiblichen Linie, wohlgemerkt) von Julius Cäsar. Und Jahre später folgten ihm die Nachkommen seiner Frau Livia auf den kaiserlichen Thron, während seine eigenen väterlichen Verwandten von der Thronfolge ausgeschlossen waren.
Livius erzählt, daß den ersten römischen Stämmen Frauen vorstanden [47] und Tacitus erzählt, daß sich die große claudianische Kaiserfamilie von der ruhmvollen Stammutter Claudia Quinta ableitet, deren Reliquienschrein zu seiner Zeit verehrt wurde.[48] Durch die Ehe mit Faustina, der Tochter von Faustina der Älteren und Antonius Pius wurde Marc Aurel Kaiser. Seine Frau war eine berühmte Ehebrecherin, doch Marc Aurel weigerte sich, den Rat des Senats anzunehmen und sich von ihr scheiden zu lassen. Er sagte hingegen: »Wenn ich von Faustina scheide, muß ich mich von ihrer Mitgift trennen, nämlich dem Römischen Reich.«[49]
Es ist eine traurige Anmerkung zu der vom Christentum eingeführten >Verbesserung< der Sitten, daß nur 200 Jahre nach Marc Aurel der erste christliche Kaiser Konstantin seine unschuldige junge Frau auf den bloßen Verdacht des Ehebruchs hin lebendig in kochendes Wasser steckte. Und Konstantins Frauenfeindlichkeit ist tatsächlich ein weiter Sprung vom alten Sumer, wo nach dem Gesetz ein beim Ehebruch ertappter Mann sterben mußte, die Frau jedoch unbehelligt bleiben sollte. »Sie soll ihre Unschuld bestätigen und in Frieden nach Hause zurückkehren«, steht da geschrieben, »und ihr Gatte soll sie willkommen heißen.«[50]
Konstantin war, wie Marc Aurel, selbst ein Nutznießer der mütterlichen Erbfolge und hatte durch die Ehe mit Fausta, der Tochter Kaiser Maximians, das Reich gewonnen.
Die mütterliche Erbfolge war in Europa bei allen Ständen des Volkes bis ins späte Mittelalter üblich, als schließlich das teutonische und/oder das Kirchenrecht über die ältere kelto-romanische Gesetzesordnung triumphierte. Henry Hallam hebt hervor, daß in Frankreich noch im 14. Jahrhundert trotz des Salischen Gesetzes der teutonischen Franken, das Frauen in direkter Abstammung ausschloß, Töchter mit den Söhnen auf gleicher Grundlage Land und Titel erbten.[51]
Montesquieu nimmt an, daß das Salische Gesetz von späteren Historikern mißverstanden worden sei. »Wenn Töchter durch das Salische Gesetz allgemein vom Landerbe ausgeschlossen waren«, schreibt er, »so ist es unmöglich, all die Chroniken, Formulare und Stiftungsurkunden zu erklären, die immer wieder die Ländereien und Besitzungen von Frauen erwähnen.«[52] Es ist bezeichnend, daß selbst unter dem Salischen Gesetz, das die Söhne begünstigte, die Schwestern gegenüber den Brüdern und die Schwestern der Mütter gegenüber denen der Väter Vorrang hatten. »In der Bindung zur Schwester der Mutter«, schreibt Montesquieu, »lag etwas überaus Zärtliches.«[53]
So sehen wir, daß die bevorzugte Stellung der Schwester, die, wie wir herausgefunden haben, im heutigen Polynesien bis ins alte keltische Europa herrschte, auch bei den »unkultivierten Deutschen«, wie sie Montesquieu nennt, üblich war. Wenn schon die schwesterliche Verwandtschaft in geschichtlicher Zeit von den frauenfeindlichen Deutschen mit einem Hauch von Heiligkeit umgeben worden war, wieviel heiliger muß dann die Beziehung zwischen Mutter und Tochter gewesen sein, bevor dieses abstammungsmäßig noch engere Verhältnis als für die Besitzrechte des Mannes gefährlich angesehen wurde.
Unter den Franken und Sachsen, beides teutonische Völker, erbten die Töchter, wenn keine Söhne vorhanden waren, und die Tochter kam vor dem Sohn des Sohnes.[54] Väterliche Erbfolge und Ausschluß der Frauen, die in der modernen Gesellschaft für so selbstverständlich gehalten werden, sind in Wirklichkeit sehr junge Neuerungen. Doch das Leid, das sie gebracht haben, ist unermeßlich. Von dem nachhaltigen Schmerz der Victoria SackvilleWest ist oft gesprochen worden, die 1925 ihren geliebten Ahnensitz Knole nicht erben konnte, da das Gesetz verfügt hatte, daß ein entfernter männlicher Verwandter des Vaters Vorrang vor der Tochter habe. Diese Ungerechtigkeit wurde von den meisten als unveränderliches Gesetz akzeptiert; doch nur wenige hundert Jahre früher wäre Lady Victoria unter dem Sächsischen Gesetz (Saxon Law) als natürliche und rechtliche Erbin ihres Vaters, seines Titels und seiner Besitzungen angesehen worden.
In den Vereinigten Staaten, wo es nie unveräußerliches Eigentum gab, ist es trotzdem üblich, daß der Sohn den Großteil des Vermögens und Eigentums seines Vaters erbt, als Sproß, der »den Namen weitertragen wird«. In der langenReihe der menschlichen Absurditäten ist dies ohnegleichen. Denn was ist dieser »Name«? Die Töchter sind genauso wie die Söhne mit ihm geboren und in einer gerechten Gesellschaft könnten die Töchter und deren Kinder ihn behalten und weitertragen, wie sie es so oft im Mittelalter, und so weit wie man in die Geschichte zurückgehen will, getan haben.
Selbst noch im 18. Jahrhundert wurde der berühmte Name Churchill durch die Tochter, nicht den Sohn, des ersten Herzogs von Marlborough weitergetragen. Ihre Kinder waren es, die den Herzogstitel und den Namen Churchill behielten und fortführten, wobei der Name des Vaters, Spencer, an die zweite Stelle trat und schließlich vom berühmtesten der Churchills, Sir Winston, ganz fallen gelassen wurde.
Durch die neuzeitlichen Gesetze der letzten paar Jahrhunderte sank die Stellung der Frau selbst unter die der teutonischen Frauen der unkultivierten Deutschen des ausgehenden Mittelalters und noch weit unter die bei den Kelten, bei denen es, wie Tacitus schrieb, »bei der Erbfolge keinen Unterschied in den Geschlechtern gab«.[55] Selbst unter den Hebräern war die mütterliche Erbfolge bis in geschichtliche Zeiten hinein üblich, wie das Alte Testament, wenn auch ungewollt, offenbart.

Mütterliche Erbfolge in der Bibel

»Sarah stand höher als ihr Gatte Abraham«, erzählen die Sagen der Juden. Abraham verdankte seine Herden und auch seine Stellung als Stammesführer seiner Frau Sarah.[56] Aus den Legenden, wenn auch nicht so sehr aus der Schöpfungsgeschichte, geht klar hervor, daß sie eine chaldäische Prinzessin war, die Abraham eine Stellung verlieh, indem sie ihn heiratete. Daß sie die wichtigere Person war, wird im Alten Testament angedeutet und in den Sagen vollkommen geklärt. Die Sagen der Juden sind eine Zusammenstellung alter jüdischer Überlieferungen, die sich im Bewußtsein des Volkes noch erhalten hatten, nachdem das Pentateuch einer umwälzenden Neuausgabe durch spätere Patriarchen unterworfen worden war. Sie bieten daher einen viel genaueren Einblick in das frühe Judentum.
Dort heißt es, daß »Sahras Tod ein großer Verlust für das Land war. Solange sie lebte, ging alles gut. Nach ihrem Tod entstand Unordnung«.[57] Und das ist beim Tod einer einfachen Gattin nicht möglich. Tatsächlich war Abraham »nur der Gatte«. Sein Stamm war ursprünglich der Stamm Sarahs, und ihr gab Gott das angebliche Versprechen, daß sie ein großes Volk begründen würde. Die Legenden berichten, daß Sarah, als sie hörte, Abraham sei auf dem Berg, und bereite sich vor, Isaak zu opfern, »zu Stein erstarrte« und auf der Stelle starb.[58] So erfuhr sie nie, daß Gott Abrahams Hand aufgehalten hatte und ihr Sohn lebte. Die Juden erhielten ihren Namen Israeliten nicht vom Vater Abraham, sondern von Sarahs Sohn Isaak oder Israel. (Nach der Bibel leitet sich der Name der Israeliten von Jakob ab, dem Sohn Rebekkas. Anm. d. Red.). In einer Gesellschaft mit väterlicher Erbfolge hätte der Name des Sohnes nicht den des Vaters ersetzt, und man hätte die Hebräer Abramiten und nicht Israeliten genannt. Nur in matrilinearen Gesellschaften ersetzte der Name des Sohnes später den der Mutter.
Talmudische Gelehrte, jüdische Rabbis, sie alle haben seit langem erkannt, daß die Matriarchinnen Sarah, Rebekka, Rachel und Leah wichtigere Personen waren als ihre Männer Abraham, Isaak und Jakob.[59] Doch nachexilische patriarchale Herausgeber des Alten Testaments verheimlichten die Tatsache sehr erfolgreich. Aus diesem Grunde ist es seltsam, daß zumindest eine wichtige Königin Israels ihre Stellung und Bedeutung im Alten Testament behalten durfte: Deborah blieb, was sie immer war: »Herrscherin über die Mächtigen«.
Im Buch der Richter ist Deborah eine Richterin in Israel, und sie selbst verkündet ihre Stellung als Haupt des Stammes: ,, (...) bis daß ich, Deborah, aufkam, bis ich aufkam, eine Mutter in Isreal.« »Die Kinder Israels kamen zu ihr hinauf vor Gericht«, heißt es in Richter 4:5. Sie rief ihren Feldherrn Barak und befahl ihm, an der Spitze von zehntausend Soldaten gegen den Kanaaniten Sisera in die Schlacht zu ziehen. Sie war also nicht nur Richterin und Oberhaupt der Stämme Israels, sondern auch Oberbefehlshaberin und herrschende Königin ihres Volkes. Diese Stelle des Alten Testaments gibt wahrscheinlich ein genaues Bild von der Herrschaft der alten Königinnen; doch Deborah herrschte in geschichtlicher Zeit, und zwar im ersten Jahrtausend v. Chr. Christliche Bibelausleger, die von der Idee einer herrschenden Königin im historischen Israel erschreckt waren, übertrugen die Richterstellung auf Barak und machten aus Deborah eine einfache »Prophetin«, die Barak diente. Aber so erzählt es die Bibel nicht. Und wenigstens in diesem Fall kann man sich darauf verlassen, daß sie genau ist.
Aber warum wurde Deborahs Geschichte nicht von den patriarchalen Herausgebern verändert? Die Antwort ist einfach: weil sie das außerordentlich gerühmte literarische Glanzstück der Juden enthält, das Lied der Deborah, das früheste Kunstwerk eines halbgebildeten Volkes. Nachfolgende Herausgeber hätten dieses Gedicht genausowenig verändert wie moderne Herausgeber auch nur ein Wort an Hamlets Monolog. Andere, und möglicherweise wichtigere Königinnen, konnten vielleicht der Sache der männlichen Vorherrschaft geopfert werden - nicht aber Deborah und ihr Gedicht.
Sigmund Freud war »erstaunt« - wie er selbst sagt - als er hörte, daß noch bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. hinein eine jüdische Kolonie in Oberägypten in der Nähe von Elefantine die alte und ursprüngliche jüdische Gottheit, die Göttin 'Anat anbetete.[60] Wäre Freud mit der Literatur seines eigenen Landes vertraut gewesen, dann hätte es ihn sogar noch mehr erstaunt, im Buch der Richter zu lesen, daß zur Zeit Homers in Israel eine Königin regierte.
Trotz der großen Abscheu vor Inzest heirateten die Juden ihrer Dynastie wegen weibliche Verwandte - wie Nahor und Jochebed ihre Tanten, die Schwestern des Vaters, nicht der Mutter, wohlgemerkt. Denn wie in allen Gesellschaften des Altertums zählte auch bei den frühen Hebräern nur die mütterliche Linie zur Verwandtschaft. Die väterliche Sippe war nicht blutsverwandt. Deshalb betrachteten sie Ehen zwischen Geschwistern mit dem gleichen Vater aber verschiedenen Müttern nicht als Inzest. Wie der große Redner Demosthenes im klassischen Griechenland von einem seiner Klienten sagte: »Er ehelichte seine Schwester rechtmäßig, da sie nicht die Schwester derselben Mutter ist.«[61]
Auch im Neuen Testament erhebt die mütterliche Erbfolge ihr hehres Haupt, trotz aller Versuche seiner Herausgeber, es abzubauen. Denn es ist offensichtlich, daß der im Matthäus-Evangelium aufgeführte Stammbaum Jesu ursprünglich und richtigerweise nicht der Stammbaum Josefs, sondern der Mariens war. Jesus verdankte sein Ansehen und sein königliches Blut seiner Mutter Maria, die »aus dem Stamme Juda und dem königlichen Hause Davids kam«.[62]
Nur das Lukas-Evangelium erwähnt Marias Geschlecht, während es die anderen auf Josef übertragen. Doch dieser hatte nach christlichem Glauben keinen Anteil an der Empfängnis Jesu. Wie konnte dann Jesus seine davidische Herkunft von Josef ableiten, der nicht sein Vater war?
Die ausführliche, bei Matthäus aufgestellte Ahnenreihe, die die Abstammung Jesu darstellen soll und kläglich mit dem Satz schließt: ,,Matthan zeugte Jakob, Jakob zeugte Josef, den Mann Marias, von welcher ist geboren Jesus, der da heißt Christus«, erinnert an einen alten ,Bauernwitz': der Bauer erklärt einem verirrten Reisenden den Weg zu seinem Hotel. Nach umständlicher und langatmiger Beschreibung schließt er kläglich: »da gibt's 'n Hotel, aber das is's nich'.«
Auch Josef war »es« nicht. Nach den von ihren Nachbarn mündlich weitergegebenen Legenden über Jesus und Maria heißt es: ,,Matthan zeugte Anna, die Mutter Mariens, von der geboren worden war Jesus, den man Christus nannte.« Dieser Stammbaum ist viel sinnvoller als der biblische, der Davids Nachkommen in Josef, »den Mann Mariens«, zu einem toten Ende führt.
In der Legende wird Herodes beschuldigt, Mariens Familiengeschichte zerstört zu haben, um das königliche Blut Jesu zu verbergen.[63] Es ist jedoch viel wahrscheinlicher, daß die Übertragung von Marias Stammbaum auf Josef das Ergebnis einer späteren Ausgabe durch Schreiber ist, die den Auftrag hatten, Maria in Übereinstimmung mit der neuen paulinisch-christlichen Lehre von der Unwichtigkeit und Ersetzbarkeit der Frauen »herunterzuspielen«.