Anna Achmatowa - Annäherung und Bildkorrektur

 

Ich trink aufs zerstörte Haus,
Auf mein Leben, das schlimm war und rauh,
Auf die Einsamkeit zu zweit,
Auf dich auch trink ich eins -
Auf den Lügenmund, der mich verriet,
Auf die Todeskälte des Blicks,
Auf die grausam grobschlächtige Welt,
Auf Gott, der sich fern von mir hält [1]
Anna Achmatowa (1934)

Mitte der sechziger Jahre, kurz vor ihrem Tod, hätte ich Anna Achmatowa in Leningrad noch besuchen können. Zu dieser Zeit war die strenge Abschirmung der Dichterin vor ausländischen Besuchern bereits weitgehend aufgehoben. Aus aller Welt kamen Schriftstellerkollegen, Wissenschaftler, Verleger und Übersetzer zu ihr. Aber das Interesse richtete sich nicht allein auf die geheimnisumwitterte, greise Achmatowa. Damals hatte eine große Welle der Sympathie und Aufmerksamkeit für die russische Gegenwartsliteratur den Westen erfaßt. Die Faszination durch den Facettenreichtum dieser Literatur, ihren sozialkritischen Anspruch und Gehalt war überwältigend. Erstmals seit der Weimarer Zeit wieder bot die russische Literatur künstlerisch maßgebliche Leistungen in großer Dichte und Vielfalt und erlaubte tiefere Einblicke in die Gegenwart und jüngste Geschichte des für viele unheimlich gewordenen Riesenlandes hinter dem Eisernen Vorhang.
Die Chance eines Besuches bei der Dichterin habe ich damals ungenutzt gelassen. Sie gehörte für mich nicht zu der Gruppe interessanter Autoren, auf die ich gespannt gewesen wäre.
Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Es war keine persönliche Fehlentscheidung allein. Dieses Versäumnis hat auch mit dem damaligen, stark ideologisch geprägten Denkumfeld für einen jungen Slawisten in der DDR zu tun, wo ich gerade mein Studium abgeschlossen hatte. In dieses ideologische System paßte die russische Dichterin nicht oder nur mit Entstellungen hinein. Der Leser dieser Monographie möge es wohlwollend annehmen, wenn im einführenden Kapitel auch ein spezifisch ostdeutscher Annäherungsaspekt an die Achmatowa mit zur Sprache kommt.
Unser Professor hatte in seinen Vorlesungen für die junge Achmatowa und ihr Schaffen eine Menge klangvoller, exotischer Begriffe gewählt,  die  kaum je  Erläuterung fanden:  Akmeismus,  Hyper-boräus, Apollon, Dichterzunft, Streunender Hund.[2] Und die Achmatowa war in dieser phantastischen Welt des Morbiden, Dekadenten gefangen. Diese Welt hatte ihr helles Gegenüber im Grandiosen, Vitalen und Erhabenen. Statt Aufbruch der Menschheit, Revolution und Epochenwende auf der einen Seite gab es bei ihr und ihren Freunden Nostalgie, Liebes- und Weltschmerz, Kammerlyrik, Enge. Die junge Achmatowa hatte, so lehrte man uns, tragischerweise und auch selbstverschuldet den Zug der Zeit verpaßt. Für unseren Professor wurde sie dennoch keine Unperson, sein Interesse richtete sich auf ihren eigenwillig-individualistischen Patriotismus, wie er in einer vielzitierten Gedichtzeile von 1921 zum Ausdruck kam. Trotzig hatte sie ihren emigrierten Dichterkollegen hingeworfen: Nein, nicht mit denen bin ich, die das Land  dem Feind hinwarfen, Fleisch zum Fraß.[3] Andere Texte unterschlug der Professor - oder kannte er sie nicht? Der ästhetische und thematische Reichtum ihrer Dichtung, die ihr eigene Stimme aus Zorn, Hilflosigkeit, in späteren Jahren aus Versteinerung und unendlicher Trauer, aber immer wieder auch die verborgene innere Kraft blieben uns fremd - und damit das Wesentliche dieser Dichterin.
Das einseitige Bild der Achmatowa gehörte zum ideologischen Klischee vom schweren Weg, der jedem nichtproletarischen Künstler objektiv beschieden sei. Erst nach vielen Irrungen und überwundenen Schwankungen kämen die besten «beim Volk» an. Dieses Denkmodell vom Leidensweg der bürgerlichen Intellektuellen hat tiefe Wurzeln im russischen Gesellschaftsbild und fand Eingang als Orientierungsthese in Literaturpolitik und Literaturwissenschaft der Sowjetunion und anderer sozialistischer Länder. Besonders gelungene literarische Gestaltungen, die dieser Konzeption folgten, wurden die sogenannten Epochenromane «Der Leidensweg» von Alexej Tolstoj und «Der stille Don» von Michail Scholochow.[4]
Unser Professor hatte vergeblich versucht, bei der Achmatowa wenigstens ansatzweise den Weg zum Volk zu entdecken. Ihr Patriotismus für das damalige Sowjetrußland sollte diesen Ansatz markieren.  Aber ihr Leidensweg wurde ein ganz anderer als in dem beschriebenen simplen Klischee. Ihre Beziehungen zu den Zeitereignissen und Zeitgenossen, zu den literarischen und geschichtlichen Traditionen waren viel zu widerspruchsvoll, als daß sie in dem genannten Modell hätten Platz finden können. So waren sie in den Vorlesungen unseres Professors entfallen. Gerechterweise muß hier noch darauf hingewiesen werden, daß einige Literaturwissenschaftler in der DDR bereits seit den siebziger Jahren - freilich unter großen Schwierigkeiten, was die Quellenlage betraf - an einem gesicherten Achmatowa-Bild gearbeitet haben. Auf ihre Leistungen wird in der vorliegenden Monographie zurückgegriffen.[5]
  Heute ist Anna Achmatowa als bedeutendste russische Dichterin weltweit anerkannt. Oft ist der nicht ganz passende, aber ehrend gemeinte Vergleich mit der altgriechischen Liebeslyrikerin Sappho zu lesen.[6] Achmatowas Dichterfreund Ossip Mandelstam nannte ihr Werk, als es noch längst nicht abgeschlossen war, ein Symbol für Größe und Würde Rußlands.[7] Seine und andere Wertschätzungen sollen in unserer Monographie neu durchdacht werden, sind sie doch auf dem Boden eines Denkens entstanden, das damals noch selten zweifelte an einer traditionsreichen, aber bedenklichen Literaturauffassung, insbesondere einer sehr überhöhten Vorstellung von der Bedeutung und gesellschaftlichen Wirkungskraft eines literarischen Autors. So faszinierend es klingen mag, wenn die Achmatowa als die letzte überragende literarische Autorität Rußlands bezeichnet wird, so ist das wohl nicht mehr als leeres Pathos, das an den wesentlichen Seiten und Leistungen ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes vorbeigeht.
Verschiedene Erinnerungen an Achmatowa belegen, daß die meisten ihrer schreibenden Zeitgenossen Achmatowas poetisches Talent früh erkannt hatten. Dabei war der Dichterhimmel Rußlands zu dieser Zeit sehr reich besetzt. Man denke an Alexander Blök, Wladimir Majakowski], an Sergej Jessenin, Nikolaj Gumiljow oder an Boris Pasternak und Marina Zwetajewa.8 Wie in hundert Spiegeln erscheint  die  Achmatowa  auch  in Widmungsgedichten  anderer Dichter, darunter auch deutscher Schriftsteller.[9] Diese Zeugnisse wie auch Achmatowas eigene dichterische «Annäherungen» an Poeten Rußlands und der Weltliteratur werden in unserer Monographie angeführt, um den weiten Entstehungsgrund und Wirkungsraum ihrer Dichtung zu zeigen. Und nicht nur Autoren, auch Maler, Bildhauer und Fotografen konnten sich dem Charisma von Achmatowas Persönlichkeit zu keiner Zeit entziehen. In zahlreichen Arbeiten suchten sie das Besondere und Einmalige ihrer Wirkung zu erfassen. Der Italiener Amedeo Modigliani steht dabei ganz am Anfang einer langen Liste berühmter Namen.[10]
Den Aufzeichnungen ihrer engsten Vertrauten Lidija Tschukowskaja kann man entnehmen, wie Anna Achmatowa trotz jahrzehntelanger Ausgrenzungen und öffentlicher Schmähungen durch führende sowjetische Kulturpolitiker im Bewußtsein ihrer Landsleute lebendig geblieben ist: Ihre Gedichte wurden auswendig gelernt und mündlich, oft konspirativ, verbreitet. In dieser typisch russischen Art der Rezeption war die Tschukowskaja selbst fast unübertroffen. Sie kannte alle Gedichte der Achmatowa auswendig, oft sogar in den verschiedenen Fassungen. Auch die Dichterin hatte ein phänomenales Gedächtnis für ihre eigenen Texte. Mit dessen Hilfe war sie imstande, zweimal die Vernichtung ihres literarischen Archivs einigermaßen wettzumachen.
Die Achmatowa gehört durch Persönlichkeit und Werk zu den für viele Westeuropäer geheimnisvollen Kraftquellen, die die Russen ihre gesellschaftlichen Katastrophen, Entbehrungen und Erniedrigungen überstehen ließen. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, die Achmatowa in diesem Zusammenhang als eine legendär-mythische Figur der russischen Literatur und Gesellschaft zu bezeichnen.
Heute stehen dem deutschen Leser schon einige bemerkenswerte Publikationen über die russische Dichterin zur Verfügung. Sofern er Russisch beherrscht, hat er auch eine befriedigende Anzahl an Werkausgaben und Textsammlungen. Ansprechende deutsche Nachdichtungen sind allerdings noch rar. In unserer Monographie mußte daher nicht selten auf möglichst genaue eigene Übersetzungen vieler ihrer Gedichte zurückgegriffen werden, wo es noch keine akzepta­blen Nachdichtungen gibt.
Auf eine Quelle von besonderem Wert wurde bereits hingewie­sen: es sind die umfangreichen Aufzeichnungen von Lidija Tschukowskaja.[11] Sie war auch die Herausgeberin mehrerer Lyrikbände Achmatowas in verschiedenen Jahren. Sie kannte das Werk der Ach­matowa beinahe genausogut wie die Dichterin selbst. Als Tochter des einflußreichen Schriftstellers Kornej Tschukowskij [12] war sie zu­dem eine hervorragende Kennerin des Leningrader literarischen Lebens und seiner Interna. Ihre Aufzeichnungen betreffen die ge­fahrvollen Jahre ab 1938.
Auf zwei weitere deutschsprachige Arbeiten sei noch ausdrücklich verwiesen. Das ist zum einen Anatolij Naimans Erinnerungsbuch «Erzählungen über Anna Achmatowa».[13] Es vermittelt dem Leser den  interessanten  Erfahrungshorizont  der mittleren  Generation nichtangepaßter russischer Autoren gegenüber der Achmatowa. Nai-man war die letzten Jahre literarischer Sekretär der Achmatowa. Mit ihm und über ihn fand auch der spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky Zugang zum engeren Freundeskreis der Achmatowa auf ih­rer Datscha in Komarowo bei Leningrad. Eine Fundgrube für deut­sche Achmatowa-Freunde ist zum anderen Jelena Kusminas Buch «Anna Achmatowa».[14] Die Autorin ist sachkundige Mitarbeiterin des 1989 eröffneten Achmatowa-Museums in Petersburg.