Anno Domini - Nicht mit denen bin ich

       

 

Bis zum Erscheinen von Achmatowas nächstem Gedichtband sollten über vier Jahre vergehen. Gründe für diese lange Unterbrechung gab es genügend, gesellschaftliche und persönliche. Mit der Oktoberrevolution und dem Sturz des Zarismus veränderten sich die sozialen, politischen und existentiellen Bedingungen auch für die russischen Schriftsteller und Künstler, wenngleich nicht mit einem Schlag, denn in den ersten Jahren nach der Revolution standen sie nicht im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses. Zunächst erschütterte ein erbittert geführter, jahrelanger Bürgerkrieg [72] das Riesenreich Rußland bis ins Mark und bis in seine fernsten Regionen. In ihn griffen viele europäische Staaten und die USA militärisch ein, um die gestürzten Kräfte zu retten, vor allem aber auch, um eine vermeintlich leichte Beute aufzuteilen. Für die Bolschewiki um Lenin ging es um die Sicherung der Macht, und diese war im politisch-ideologischen Konzept der Weltrevolution unter Führung Rußlands untrennbar an die Erhaltung der territorialen Integrität des ehemaligen zaristischen Imperiums gebunden. Im Laufe weniger Jahre kam es zu einer radikalen geistigen und sozialen Polarisierung der Gesellschaft, wie sie Rußland bisher unbekannt gewesen war. Für viele russische Schriftsteller wurde diese Situation bald unerträglich - sie wurden in die Emigration getrieben,[73] zumal ideologische Ausgrenzung und Diffamierungen mit der sich vertiefenden Polarisierung immer deutlicher um sich griffen. Den in Sowjetrußland verbliebenen Schriftstellern stand ein ungleich schwererer künstlerischer und personlicher Weg bevor, ohne mit dieser Aussage die unsäglichen Probleme der emigrierten Schriftsteller verkleinern zu wollen.
In der sich schnell ausgestaltenden und konsolidierenden Diktatur der Bolschewiki versuchten viele der im Lande verbliebenen Schrittsteller - solange es möglich war, offen und ehrlich - das von ihnen erwartete neue, revolutionäre Zeit- und Gesellschaftsverständnis für sich zu finden und künstlerisch darüber Zeugnis abzulegen. Eine vertiefte historisch-kritische Sicht auf die dabei zustande gekommenen Leistungen ist aber mangels wichtiger, wahrscheinlich nicht mehr erschließbarer Quellen zu Schaffensprozessen und Zensurpraktiken sehr schwer und auf allgemeine Schlüsse angewiesen. Auf Zeugnisse über erzwungene künstlerische Kompromisse oder aus Vorsicht und Opportunismus eingegangene Werkveränderungen ist kaum zu hoffen. Angesichts der lebensgefährlichen Verfolgungen seit den dreißiger Jahren wurden solche Zeugnisse, wie es auch für Anna Achmatowa gilt, von den Autoren vernichtet.
Anna Achmatowa ist in Sowjetrußland geblieben, aber ihre künstlerischen wie persönlichen Entscheidungen lassen sich keiner Typologie wirklich zuordnen. Wohl gibt es zeitweise Kompromisse in künstlerischen Entscheidungen, über die im folgenden zu reden sein wird, aber von einem Ansinnen, sich dem politisch-ideologischen Gesellschaftskonzepl der bolschewistischen Führungspartei anzunähern, kann bei ihr zu keiner Zeit die Rede sein.
Anna Achmatowa mußte nach der Revolution zunächst eine längst fällige persönliche Entscheidung treffen. Das Zusammenleben mit Nikolaj Gumiljow, der 1918 nach Rußland zurückgekommen war, erschien ihr endgültig als sinnlos, mehr noch, es lähmte ihre schöpferischen Kräfte und widersprach ihrem Selbstwertgefühl. Ich brauch nicht das kleine Glück, hatte sie sich schon einige Zeit vorher versichert/ch kann meinen Mann zur Geliebten begleiten/Und danach leg ich mein müdes Kind zu Bett.[74]
Gumiljow hatte während der Kriegsjahre erneut seine innere Ruhelosigkeit, sein Getriebensein ohne ein bestimmbares Ziel unter Beweis gestellt. Er war, wie die Achmatowa selbst, ungeeignet für ein übliches Familienleben. So beantragte die dreißigjährige Achmatowa im August 1918 die Scheidung. Nach der Revolution war das in Rußland nur eine kurze und formale Prozedur. Man erklärte seine persönliche Entscheidung vor einer Behörde, und die Angelegenheit war mit einer Eintragung im Ausweis erledigt.[75]
Anna Achmatowa heiratete sehr bald wieder, aber auch diese Ehe zerbrach nach kurzer Zeit.

                        

Ihr zweiter Mann, Wladimir Schilejko (1891-1930), stammte aus Achmatowas literarischem Freundeskreis der «Dichterzunft», wo er sich mit Gedichten versucht hatte. Das war aber schon lange her, unterdessen hatte er seine eigentliche Berufung gefunden: er war Ende Zwanzig und galt bereits als hervorragender Assyrologe, beherrschte zudem mehrere orientalische Sprachen, was die Achmatowa besonders an ihm interessiert haben mag. Zum Zeitpunkt dieser Eheschließung stand er vor seiner Berufung zum Professor, die 1919 an die Petersburger Universität erfolgte. Aber Schilejko war nicht mehr geeignet für Ehe und Familie als Gu-miljow. Der russische Achmatowa-Biograph Dmitrij Chrenkow schrieb dazu: «Da haben zwei die Ehe geschlossen, die völlig unfähig für die irdischen Dinge des Lebens waren. In ihrem Hause fand man schwerlich eine Gabel oder eine heile Tasse, ganz zu schweigen von irgendwelchen Lebensmitteln.»[76]
Zum Glück wohnten sie in dieser Zeit des Mangels und chaotischer Versorgungsverhältnisse in einer Art Wohnheim, eingerichtet für Angehörige der Akademie der Wissenschaften. Einige weitschauende Persönlichkeiten unter den neuen Herrschenden wie Maxim Gorkij,[77] Anatolij Lunatscharskij [78] oder die Schriftstellerin Larissa Reisner [79] bemühten sich in der allgemeinen Not, nicht selten auch gegen Tendenzen des Proletkults [80] und der Intelligenzfeindlichkeit, wenigstens die notdürftigsten Lebensbedingungen für die Intellektuellen zu sichern. Wer nicht in einer derartigen Einrichtung unterkam, stand oft mit leeren Händen und ohne Dach über dem Kopf da. Anna Achmatowa arbeitete ein paar Monate als Bibliothekshelferin im Agronomischen Institut der Akademie und hatte damit das Recht auf eine Lebensmittelkarte. Daß sie und ihr Mann, wie die meisten Künstler und Wissenschaftler, unter erbärmlichen materiellen Bedingungen leben mußten, war für sie nebensächlich. Sie arbeiteten wie besessen, jeder seinen eigenen Interessen und Vorhaben folgend.
Für Achmatowa gab es bald eine böse Überraschung: Schilejko erwies sich als eifersüchtiger Ehemann, der ihr das Schreiben zu untersagen versuchte. Die Motive dafür bleiben im dunkeln. Offensichtlich hielt er von Achmatowas Kunst oder überhaupt von Lyrik nicht viel. Es folgten immer häufiger kleinliche Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Einmal hatte Schilejko ihr den Spitznamen «Akuma» (böser Geist) gegeben, den Achmatowa nicht unpassend fand und in ihrer Vorliebe für Selbstironie später gern benutzte.
Schon 1921 wurde diese zweite Ehe ohne Aufhebens beendet.
Was Achmatowa in den ersten nachrevolutionären Jahren an Gedichten geschrieben hatte und zur Veröffentlichung freigab, findet sich in zwei Bändchen des Jahres 1921. Der eine erschien mit dem Titel Wegerich (Podoroznik)[81] im Verlagshaus «Petropolis», das bis zu seiner Enteignung (1922) auch Werke von Gumiljow, Mandelstam und Kusmin herausbrachte. Wegerich hatte nur eine Auflage von tausend Exemplaren und umfaßte achtunddreißig Texte. In unserer Monographie wird auf ihn nicht gesondert eingegangen, weil er unverändert in Achmatowas zweiten Gedichtband von 1921 Anno Domini MCMXXI (später nur noch Anno Domini) aufgenommen worden ist. Anno Domini, die erste große nachrevolutionäre Gedichtsammlung der Autorin/st für das Verständnis von Achmatowas Positionen zu den Umwälzungen in Rußland besonders aufschlußreich. Sie enthielt außer den wiederabgedruckten Wegerich-Texten (1917-1920) vor allem ihre neuesten Arbeiten von 1921 sowie einen dritten Teil Stimme des Gedächtnisses (Golos pamjati) mit einer Auswahl früherer Gedichte. Diese Anlage des Bandes legt den Schluß nahe, daß Achmatowa in ihm eine gültige Repräsentation ihres gesamten bisherigen Schaffens sehen wollte.
Es erscheint nicht abwegig, daß sie 1921 noch auf neue Wirkungsmöglichkeiten für ihre Kunst hoffte oder gar ein patriotisch-staatsbürgerliches Engagement im Rahmen der neuen Verhältnisse für denkbar hielt. Dafür spricht, daß bis zu dieser Zeit die Künste in Sowjetrußland relativ günstige Bedingungen hatten und sich eine Art Polyphonie aus unterschiedlichsten, durchaus streitbar zueinander stehenden traditionellen, experimentellen und avantgardistischen Schulen und Richtungen herauszubilden begann, noch unre-glementiert durch Parteidirektiven. Aus Dokumenten der ersten nachrevolutionären Jahre wird Achmatowas öffentliches Engagement sichtbar. Verschiedene Verbände organisierten in Petersburger Theatern und Konzertsälen regelmäßig Schriftstellerabende. Am 29. Dezember 1919 trat Achmatowa zum Beispiel mit dem berühmten Alexander Blök, mit Gumiljow sowie anderen ehemaligen Dichterkollegen der «Zunft» auf. Was sie dort gelesen hat/st leider nicht überliefert, dafür aber, daß dieser Abend Petrograder Poeten in einem geheizten Saal stattfand, der Eintritt sozial gestaffelt und gering war, vor allem aber, daß sehr viele Zuhörer gekommen waren und der Achmatowa applaudierten. Anna Achmatowa war ins Petersburger Kulturleben integriert und konnte sich zu dieser Zeit vor Auftrittsverpflichtungen nicht retten. Nie vorher hatte sie die Wirkung ihrer Gedichte so unmittelbar erleben können wie in diesen ersten Jahren nach der Revolution.
Kurze Zeit genoß die Achmatowa sogar bei einigen maßgeblichen Kulturfunktionären Anerkennung. Diese beruhte allerdings auf einer unangemessenen und willkürlichen Interpretation ihrer Gedichte. Im Parteizentralorgan «Prawda» (Wahrheit) konnte man am 4. Juli 1922 lesen, die Achmatowa besinge in ihren Gedichten die Oktoberrevolution als Beginn einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte. Kulturpolitikerinnen wie Alexandra Kollontaj oder Larissa Reisner glaubten, Achmatowas Dichtung einen guten Dienst erweisen zu können/ndem sie sie mit der Parteiideologie in Einklang zu bringen versuchten. Ihre Gedichte seien ein künstlerisches Spiegelbild für die Frauenseele in der Epoche des weltgeschichtlichen Umbruchs, der in Rußland begonnen habe, für den Todeskampfzweier Kulturen und Ideologien. Die Ausführungen gipfelten in der Feststellung, Achmatowas Lyrik sei insgesamt ein literarisches Epochenäquivalent.[82]
Diese Versuche zeigten wenig Wirkung. Für Achmatowas kurzzeitiges Ansehen bei einigen Kulturfunktionären scheint eher ein Gedicht ihres Anno Domini-Bandes, genauer noch dessen erste Zeile   eine Rolle gespielt zu haben, die bald von Freunden und Feinden Achmatowas zitiert wurde: Nein, nicht mit denen bin ich, die Land/Dem Feind hinwarfen, Fleisch zum Fraß./Ihr plumpes Schmeichelwort/ch nehms nicht an./Ihnen mein Lied nicht, das ich den Freunden gab. Das war aber nur der zornige und auch pro tive Anfangsvers als Antwort auf Schmähungen durch verschie ene emigrierte Dichterkollegen. Dieser Text offenbarte noch andere Gefühle und Töne: unaufgelöste innere Spannungen, das Für und Wider der Emigration, Belastungen, Trauer, Mitleid. Vieles in ihm läßt sich auch gar nicht eindeutig entschlüsseln. Die weiteren Strophen lauten:

Doch immer nah mir: der Vertriebene,
Wie hinter Gitter eingezwängt, wie krank.
Das bittere fremde Brot - der Pilger brichts,
Dunkel sein Weg, ohn Ende lang.
Und hier/m tauben Qualm der Brände,
Die letzte Jugend hingebracht,
Wehrten wir doch von allen Schlägen
Nicht einen einzigen von uns ab.
Und später wissen wir, wird wahr befunden
Jeder Tag, wie er war: jetzt, hier.
Doch niemand auf der Welt ist tränenloser,
Hochmütiger und einfacher als wir.[83]
(ohne Titel, 1922; Nachdichtung: Rainer Kirsch)

Wie entschieden dieses Gedicht bis heute wirken mag und auch tatsächlich eine endgültige Absage an die Emigration war, Achmatowas poetisches Anliegen war nur sehr oberflächlich erfaßt wenn man sich einzig auf dieses Gedicht oder gar nur auf dessen erste, wie eine Losung klingende Zeile konzentrierte. Erst das Umfeld dieses Textes, sein Bezug zu anderen Achmatowa-Gedichten, den sogenannten «Kontexten»[84] kann den qualvollen Weg zur Entscheidung der Autorin erhellen, die Zweifel und Ängste deutlich machen, auf deren differenzierte Darstellung und Mitteilung es Achmatowa ankam. Ohne deren Kenntnis wäre Achmatowa nicht die Die unverwechselbarer Stimme und Haltung.
Im Sommer 1917 hatte sie in einem anderen Gedicht die Versuchung, die damals für sie bestand, deutlich gemacht: Und eine Stimme war. Sie rief mich an/Tröstend, sprach: Komm nun, wo ich bin. / Verlaß dein taubes, dein in Sünden Land/ Von Rußland geh auf immer. Auch Gründe für ein Weggehen waren notiert: schmerzliche Niederlagen, Kränkungen, Demütigungen. Am Schluß findet sich in einem für Achmatowa charakteristischen Bild die entschiedene Zurückweisung möglicher Verführungen: Doch unbetroffen und gelassener Seele/Verschloß ich mit den Händen mein Gehör./Daß nicht die nichtswürdige Rede/den Geist, den trauervollen, mir befleckt.[85] (ohne Titel, 1917; Nachdichtung: Rainer Kirsch)
Das Jahr 1921 wurde für die noch junge Dichterin zum tragischen Wendepunkt ihres Lebens. Wie zur Bestätigung für ihre selbsterdachte abergläubische Legende um ihre Person hatte sie das, was nun auf sie zukam in zahlreichen Gedichten vorausgeahnt, hatte Unglück als ihre eigene Bestimmung zu akzeptieren und auszuhalten versucht. Im Tenor dieser Vorahnungen lagen ihre Kassandrarufe vom Sommer 1914 in denen sie ihre Ängste um Gumiljow artikulierte, der an der Front in Ostpreußen war. Ihre Vorahnungen von persönlichem Unheil vermischten sich nun mit der Sorge um die Geschicke des Landes, das im Bürgerkrieg um seine Existenz kämpfte und zu alledem noch von Mißernten und Hungersnöten schicksalhaft heimgesucht wurde. Im eigenen Unglück fühlte sie schmerzlich das des Landes.
Am 3. August 1921 wurde Nikolaj Gumiljow verhaftet. Die Beschuldigung lautete: Verschwörung gegen die Sowjetmacht, Zusammenarbeit mit der Konterrevolution. Achmatowa erfuhr von der Verhaftung Gumiljows auf der Beerdigungsfeier für den Dichter Alexander Blok am 7. August. Gumiljow und zwanzig weitere junge Männer wurden am 25. August standrechtlich erschossen. Eine offizielle Mitteilung darüber veröffentlichten die Zeitungen am 1. September. Seit kurzem erst ist bekannt, daß mehrere Gnadengesuche von Freunden damals abgelehnt worden waren.

       

                              

Nach neuesten Veröffentlichungen [86] kann man davon ausgehen, daß die Anschuldigung der Konterrevolution und Verschwörung eine Verleumdung war, die wahrscheinlich einen Racheakt zum Hintergrund hatte. Gumiljow war nach der Februarrevolution [87] als Fähnrich einem Kommissar der provisorischen Regierung unterstellt worden, der in außerordentlicher Mission nach Frankreich beordert worden war, um dort im Auftrag Kerenskijs bei der demokratischen Reorganisation des russischen Truppenkontingents zu helfen sowie bei der Bekämpfung von Anarchie mitzuwirken. Unter den russischen Soldaten in Frankreich war es zwischen Juni und September 1917 zu Meutereien gekommen im Lager La Courtaine sogar zum offenen Aufstand mit der Forderung nach Kriegsbeendigung und sofortiger Entlassung. Der Aufstand von circa 9000 Soldaten wurde militärisch niedergeschlagen, die Anführer wurden in Arrest genommen beziehungsweise nach Afrika verbannt. Im Zusammenhang mit diesem Ereignis verfaßte Gumiljow für seinen Vorgesetzten einen BenchL Es ist sicher, daß Gumiljow ein entschiedener Gegner jeder militärischen Undiszipliniertheit war und daß er an Verhandlungen mit den aufständischen Soldaten teilgenommen hatte; vermutlich auch an anderen Aktivitäten gegen die zu dieser Zeit überall zunehmenden Desertionen. Sicher, Gumiljow war kein Freund des neuen Regimes, und seine Rückkehr 1918 kann nicht als Loyalitätsbeweis gegenüber der neuen Macht gesehen werden. Aber es gibt bis heute keinerlei Beweis für konterrevolutionäre Aktivitäten seinerseits.
Achmatowa hat mit Bestürzung, Trauer und mit Selbstbezichtigungen auf Gumiljows Tod reagiert. Er war der bisher schwerste Schicksalsschlag für sie. In ihrer Vorstellung hatte eine dunkle anonyme Macht ganz in ihrer Nähe zugeschlagen. Gumiljows Erschießung war zugleich der erste brutale Schlag gegen die russische Literatur von sehen der neuen Macht.
Schon am 16. August 1921 entstand das folgende kurze Gedicht für Gumiljow - Totenklage, noch ehe Achmatowa die offizielle Gewißheit seines Todes hatte: Bist mit dem Leben nicht davongekommen/ Aus dem Schnee nicht aufgestanden./Bajonettstiche 28/Revolverschüsse 5/Ein so gräßliches Gewand/Habe ich meinem Freund genäht./Blut liebt sie und immer Blut/Unsere russische Erde.[88] (Übersetzung: Barbara Honigmann)
Im Herbst desselben Jahres steigert sie in einem anderen kurzen Gedicht ihre Selbstbeschuldigungen bis zur Unerträglichkeit: Tod hab ich den Lieben gebracht/ Ist einer dem anderen gefolgt./O, Elend mir! Meine Worte haben Gräber gemacht./ Wie die Krähen kreisen über/Heißem frischem Blut/ So hat meine Liebe, frohlockend/Wilde Lieder geschrien.<»[89] (ohneTitel, 1921 Übersetzung: Wolfgang Hässner)
Im Anno Domini-Band finden sich Erinnerungen an viele für sie wichtige Menschen und verbinden sich mit deutlicher werdenden Wahrnehmungen vom Lauf der Zeit, von dessen geschichtlicher Dimension. Ihre persönlichen Erlebnisse sind mehr als früher in den Raum der allgemeinen Stimmungen und Ereignisse des Landes gestellt, ohne daß am Ende konkrete Einzelheiten dieser Ereignisse in den Gedichten auszumachen wären. Sie haben vielmehr ihre vollkommene poetische Verwandlung erfahren.

Achmatowa sah zu Beginn der zwanziger Jahre die Zeit gekommen, für sich Bilanz zu ziehen. Ihr bewegtes Leben und die ereignisreichen Jahre in Rußland verwoben sich dabei immer enger miteinander. Es kam zu größerer Themenvielfalt in ihrer Lyrik, aber stets blieb diese eng gebunden an Daten ihres Gedächtnisses,[90] wie sie es gern nannte. Manchmal hat die Dichterin diese ihr vom Gedächtnis aufgebürdete Last verwünscht. Ihr Vermögen, vor allem schmerzliches Erleben wahrzunehmen und in Dichtung zu sublimieren, zeigt sich in Anno Domini weiter gereift.
Man könnte das, einen bekannten Titel von Peter Weiss verwendend, als Achmatowas Ästhetik des Widerstands verstehen. Einerseits erschien Achmatowa ihr eigenes Leben bis dahin als Kette unerfüllter, enttäuschender oder durch Mißverständnisse zugrundegerichteter Partnerbeziehungen. Andererseits hatten diese und andere Entzweiungen oft ihre Existenz als Dichterin zum Ausgangspunkt gehabt/hr Recht auf künstlerische Eigenständigkeit und Freiheit. Dieses Recht schien ihr immer wieder, nicht nur von Künstlerkollegen und Verwandten/n Frage gestellt. Dabei war sie, objektiv gesehen, schon lange die bemerkenswerteste russische Dichterin. Unverwechselbares an poetischer Sprache, an lyrischem Gestus und Bildern war ihr gelungen - und sie war sich dessen bewußt. Auch in Anno Domini schwingt der frühere trotzige Ton, mit dem sie ihr Recht auf poetische Selbstverwirklichung glaubte verdeutlichen zu müssen. Dieses war für sie grundlegend und unantastbar, hatte aber nichts mit ihrem Geschlecht zu tun, sondern gehörte für sie zum selbstverständlichen Recht jedes Menschen.
Ihre einstige Antwort an Gumiljow: Ich bin keine Poetesse,[91] hieß nicht, sich männlichem Schreiben anzuverwandeln, wie es etwa von Sinaida Hippius, einer anderen russischen Dichterin,[92] bekannt und beschrieben wurde. Diese, berichtet Jelena Kusmina, habe bewußt das Männliche in Haltung, Umgang und Denkweise zu kopieren versucht, Herrenanzüge getragen, nur mit Männern über Politik, Religion und Philosophie geredet und in ihren Gedichten Intellekt und intellektuelle Spannung über das Gefühl gestellt. Bei der Achmatowa sei das völlig anders gewesen. In ihren Gedichten wie im Leben sei sie stets Frau geblieben. Gumiljow habe sich einmal mit dem Blick auf diese Sinaida Hippius über sie lustig gemacht und gesagt: «Du wirst nie einen Salon haben - den interessantesten Besucher wirst du immer auf dein Zimmer mitnehmen.»[93]
Achmatowa hat sich nie veranlaßt gesehen, über «weibliches Schreiben» ausdrücklich zu reflektieren. Wesentliches Kriterium einer Dichtung war für sie das künstlerisch-ästhetische, handwerkliche und intellektuelle Niveau, ungeachtet des Geschlechts des Autors. Die meisten ihrer Dichterkollegen sind ihr darin auch ohne weiteres gefolgt und haben die junge Dichterin von Anfang an in ihre Mitte aufgenommen.
Achmatowas Verständnis für «weibliches Schreiben» hat dennoch eine interessante und spezifische Seite: ihr Schreiben ist durchaus «weibliches Schreiben» in dem Sinne, daß es von Beginn an in einem reichen Spektrum lyrischer Subjektivität die Persönlichkeit einer Frau offenbart. Diese Subjektivität erscheint in den Gedichten äußerst dynamisch, präzise und differenziert, beobachtet und gestaltet in unendlich vielfältigen Lebenssituationen/n jeweils genau erfaßten Psychogrammen und einem breiten, Widersprüche fixierenden emotionalen und ästhetischen Bereich. Hinzu kommt, daß die Verse von Anno Domini eine Einengung von Achmatowas Dichtung auf das rein Private oder Intime nicht erlauben.
Was Achmatowa bis dahin geleistet hatte, entsprach im übrigen der akmeistischen Programmatik, die unterschiedslos vom Dichter, gleichgültig, ob Mann oder Frau, sehr genaue, realistische und an die sinnlichen Dinge und Gegenstände dieser Welt gebundene Widerspiegelung verlangte. Wurde ihr Genüge getan, war auch die weibliche Sicht auf die Welt garantiert, vorausgesetzt, das dichterische Talent stand dahinter. Diese Forderung der Akmeisten hat Achmatowa von Anfang an dank ihres Talents mit größter Selbstverständlichkeit erfüllt. Diese Aussagen werden keineswegs dadurch geschmälert, daß Frauen zum bevorzugten Rezipientenkreis ihrer Lyrik gehört haben und vielleicht immer gehören werden, daß sie ihr eigenes Verständnis für Achmatowa fanden und finden, auch wenn feststeht, daß die Dichterin nur ganz selten ihre Texte speziell an Frauen gerichtet hat.
Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen Widmungsgedichte der Achmatowa an Frauen, vor allem an Künstlerinnen, kein besonders beweiskräftiges Argument für «weibliches Schreiben», schon deshalb nicht, weil sich bei dieser Textsorte ebenso viele Männern gewidmete Gedichte finden lassen.
Nicht erst in Anno Domini, sondern bereits in der Rosenkranz-Sammlung findet man Widmungsgedichte an die Schauspielerin, Tänzerin und Sängerin Olga Glebowa-Sudejkina (1885-1945), die in Achmatowas Schaffen beinahe durchgängig bis ins Spätwerk auftaucht, und zwar deutlich als eine Art Doppelgängerin, ein anderer Entwurf ihrer selbst. Im berühmten Petersburger Künstlercafe «Der streunende Hund», das Silvester 1911 gleichzeitig als Kabarett eröffnet worden war, gab es damals kaum eine interessantere und geheimnisvollere Frau als die Sudejkina. Sie war vielseitig begabt und führte ein selbstbewußtes, unabhängiges Künstlerleben. Später (1924) emigrierte sie nach Paris. Im «Streunenden Hund» traf sich ein bestimmter Teil des künstlerischen Nachwuchses und produzierte sich dort spontan. Die Sudejkina war mit ihren leidenschaftlichen Tänzen die Attraktion. Achmatowa befreundete sich eng mit ihr. Das folgende Gedicht aus Rosenkranz gibt die damalige Atmosphäre gut wieder:

Wir alle sind hier Trinker, lasterhafte Weiber
Und wie unglücklich alle zusammen!
An den Wänden die Blumen und Vögel
Haben Sehnsucht nach den Wolken.
Du rauchst eine schwarze Pfeife,
Seltsamer Nebel über ihr.
Ich habe einen ganz engen Rock angezogen,
Damit ich dir noch schöner scheine.
Die Fenster sind für immer hier vernagelt.
Was gibts denn draußen, Frühling oder Frost?
Mit deinen Augen blickst du wie Eine lauernde Katze.
O, wie mein armes Herz sich sehnt!
Warte ich denn nur noch auf den Tod?
Ach, die, die jetzt noch tanzen kann,
Landet hundert zu eins in der Hölle.[94]
(ohne Titel, 1. Januar 1913; Nachdichtung: Barbara Honigmann)

Weil die Sudejkina den Selbstmord des begabten jungen Dichters Wjatscheslaw Knjasew verschuldet hatte, schrieb Achmatowa in Stimme des Gedächtnisses: Was siehst du, was schaust du mißmutig zur Wand/In der Stunde der späten Himmelsröte? [...] Vielleicht ist es der Park von Zarskoje Selo, / Wo dir die Angst den Weg vertrat? / Oder siehst du vielleicht ihn zu deinen Knien, I Der deiner Fron entfloh in den weißen Tod?[95] (1913; Übersetzung: Wolfgang Hässner)
Achmatowa war von der Leichtigkeit und auch Leichtfertigkeit der Sudejkina fasziniert. Sie bewunderte diese Frau und hielt sie für ein Muster an Selbstbewußtsein. Zugleich verhielt sie sich ihr gegenüber fragend-kritisch. Auch nach Sudejkinas Weggang in die Emigration blieb es für die Achmatowa eine spannungsvolle Beziehung zu einer «Doppelgängerin».[96] Ihr letztes Gedicht an sie im Anno Domini-Band war ein bitterer Abschied: Du prophezeist, du Bittre, und läßt deine Arme sinken,/ Die Haare kleben an deiner blutlosen Stirn, / Und du lächelst - oh; doch keine Biene mehr I Verführt dein rosarotes Lächeln I Und keinen Falter stürzts mehr in Verwirrung / Wie Mondaugen so hell, und gespannt / Steht dein Blick starr in die Ferne. / Dem Toten gilt dein süßer Vorwurf? I Oder verzeihst du gnädig/Deine Schwächen, deine Schande den Lebenden?[97] (ohne Titel, 1921; Übersetzung: Wolfgang Hässner)
Um die Mitte der zwanziger Jahre verstummte Anna Achmatowa. Der Gedichtband Anno Domini war abgesehen von wenigen Einzeltexten für fast zwei Jahrzehnte ihre letzte größere Publikation. In den Achmatowa-Biographien finden sich verschiedene Versionen für die Gründe ihres langen Schweigens. Gleb Struve, einer der verdienstvollen Herausgeber ihres Werkes im Ausland,[98] sieht allein einen gewaltsamen Akt sowjetischer Kulturpolitik ihr gegenüber, der mit dem Berufsverbot endete. Andere Versionen vermuten, daß die Dichterin die innere Emigration wählte, weil sie selbst gespürt habe, daß ihre Dichtung nicht mehr in die Zeit passe. Schließlich sehen genaue Kenner, daß ihre schöpferischen Kräfte in dieser Zeit abgenommen hatten oder gänzlich verbraucht waren, wofür wiederum Gründe gefunden werden müßten. Sie selbst schrieb: Um die Mitte der zwanziger Jahre begann ich mich intensiv und mit großem Interesse mit der Architektur Alt-Petersburgs zu befassen und mit Leben und Werk Puschkins. Ergebnis meiner Puschkin-Studien waren drei Arbeiten - zum einen «Der Goldene Hahn», dann Untersuchungen zu «Adolphe» von Benjamin Constant und zu «Der steinerne Gast». Sie wurden alle zu ihrer Zeit gedruckt.[99] Während Achmatowa hier ihr poetisches Verstummen übergeht, finden sich später offene Eingeständnisse wie dieses: Für nichts bin ich mehr gut, I Kein einziges Wort kommt über meine Lippen. / Kein Präsens, stolz bin ich auf Vergangenheit. / Und diese Schande nimmt den Atem mir.[100]
Es handelte sich bei ihr zweifellos um eine Schaffenskrise. Als diese für sie endlich überwunden schien, datierte Anna Achmatowa sie auch exakt in die Jahre 1923 bis 1936 und stellte an deren Ende selbstbewußt fest, daß sich ihre Handschrift stark verändert habe, ihre Stimme anders klinge und eine Rückkehr zu ihrer bisherigen Art zu schreiben ausgeschlossen sei. Jetzt, schrieb sie 1936, flössen die Gedichte wieder überstürzt, wie atemlos.[101]
Die Krise ist aber ohne das Wirken äußerer Faktoren unzureichend erklärt. Diese wirkten lähmend, verzögernd und demotivierend auf einen Neuansatz in ihrem Schaffen.
Seit Gumiljows Erschießung hatte Achmatowa immer mehr die Hoffnung auf eine kulturelle Erneuerung ihres Landes verloren. Spätestens 1924 mußte ihr bewußt geworden sein, daß mit einem gesellschaftlich getragenen Aufbruch in Kunst und Wissenschaft nicht mehr zu rechnen war. Die von den meisten namhaften Künstlern und Wissenschaftlern erhoffte polyphone Kunstszene, in der auch Achmatowa hätte ihren Platz finden können, gehörte nicht zum Konzept der neuen Macht. Im Gegenteil forcierte die bolschewistische Partei um 1924 ihre ideologischen und organisatorischen Anstrengungen, um die vielen literarischen, künstlerischen Gruppierungen, Schulen und Richtungen im Land einer dogmatischen kulturpolitischen Linie und Führung unterzuordnen. Viele Künstler entzogen sich dem durch Emigration, darunter auch viele Freunde der Achmatowa. Sie fühlte sich einsam und depressiven Stimmungen ausgeliefert. Ihr wurde bewußt, daß mit dem Massenexodus meist avantgardistischer Künstler die russische Kultur auf unabsehbare Zeit ihr wertvollstes Innovationspotential verlor.
Zu der komplizierten Dialektik schaffensinterner und -externer Faktoren kommen sicher auch Achmatowas abergläubische, manchmal apokalyptische Vorahnungen hinzu. Zugestanden hat sie dies beispielsweise für die sintflutartige Überschwemmung Leningrads 1924, auch im Zusammenhang mit der aus ihrer Sicht unheilverheißenden Umbenennung ihrer geliebten Stadt Petersburg in Leningrad oder ihren qualvollen Begegnungen mit Zarskoje Selo, das während der Revolutionswirren der Devastation anheimgefallen war. In all diesen Ereignissen glaubte sie symbolische Vorzeichen für das allgemeine Unheil erkennen zu müssen, das seit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution über Rußland gekommen war.
Ein Schlüsseltext für diese Zeit und Stimmung ist das Gedicht Lots Weib (Lotova shena), Teil eines offenbar größeren, aber Fragment gebliebenen Vorhabens, wo die Dichterin in alttestamentarischen Frauenfiguren wie Rahel und Lots Frau Überlieferung und Aktuelles, Fremdes und Eigenes zusammenbringt, Beruhigung und innere Kraft suchend. Achmatowa beschreibt mit starken Bildern den Erstarrungsvorgang von Lots Frau, die einen letzten Blick auf ihre untergehende Stadt Sodom gewagt hat: Des heimischen Sodoms sanftrötliche Türme, / Den Platz, wo du sangest, den Hof, wo du spannest, / Das ragende Haus mit den leeroffnen Türen, / Wo du dem Gemahle die Kinder gebarst.»[102]
Lots Frau hatte dafür mit ihrem Leben bezahlt:

Durchsichtiges Salz wurde ihr Leib; die behenden
Füße erstarrten, verwuchsen im Stein.
Wer wird dieser Frau eine Träne nachweinen,
Sie kleinster Verlust wohl im Höllengeschick?
Nur mein Herz wird ihrer gedenken: für einen
Hin gab sie ihr Leben, für einen Blick.[103]
(24. Februar 1924; Übertragung: Peter Gosse)

In der mitleidvollen Beziehung des lyrischen Ich zur bekannten biblischen Frauenfigur spürt man zugleich Achmatowas Versuch, sich dieser Figur zu nähern, sich ihr anzuverwandeln und mit ihr eins zu werden - über die Zeiten hinweg. Damit konnte sie Trost und Widerstandskraft finden und auf ähnliche Wirkungen bei ihren Lesern hoffen. Doch 1924 war das schon sehr schwer geworden. Das Gedicht erschien zwar in einer literarischen Zeitschrift in kleiner Auflage, aber es blieb über zwanzig Jahre den meisten Lesern unbekannt. In Achmatowas Bild vom untergehenden Sodom104 (Rußland/Sowjetunion) und vom fliehenden Lot und seiner Familie (den Hunderttausenden Emigranten) war ein brisanter politischer Vergleich - bewußt oder unbewußt - angelegt, den die Zensur nicht übersehen konnte. Achmatowa hat an diesem Bild mehr die Frau, Lots Weib, interessiert, und diese Seite bekam unter ihrer Hand eine besondere Tiefe. Sie betonte den Schmerz der Frau und die Unmöglichkeit für sie, ihr Haus, ihr Land zu verlassen, ihre Vergangenheit aufzugeben. Für die Dichterin verhielt es sich ebenso. Deshalb konnte sie sich mit der biblischen Figur identifizieren.
Für die offizielle Kulturpolitik war dieser Text eine «antisowjetische Provokation». Achmatowas Auftreten auf einem Leseabend in Moskau kurze Zeit später machte schließlich für die Zensoren das Maß voll. Die Dichterin hatte wie mit erstarrter Stimme und leichenblaß ihr Gedicht Verleumdung (Kleveta) in der Fassung von 1922 vorgetragen. Im Publikum aber saßen nicht nur ihre Dichterfreunde wie Boris Pilnjak oder Jewgenij Samjatin, sondern auch ihre Gegner.

Verleumdung

Ringsum Verleumdung greift nach mir.
Ihr Kriechgang folgt mir nach im Traum,
Und in der toten Stadt mit ihrem gnadenlosen Himmel
Schweif ich umher nach Brot und Obdach.
Ihr Widerschein in aller Augen flackert,
Es ist wie beim Verrat, ein andermal wie beim Erschrecken.
Ich furcht sie nicht. Jeder Herausforderung
Geh ich gebührend Antwort, würdevoll und streng.
Ich weiß: unweigerlich kommt jener Tag,
wo morgens meine Freunde sind
Und meinen süßen Traum mit Seufzen enden.
Man legt ein Bild mir auf die kalte Brust.
Unerkannt kommt sie sodann herein,
In meinem Blut ihr ungestillter Mund,
Ohne Pause wüste Beleidigungen,
Und ihre Stimme mengt sich in der Totenmesse Sang.
Und allen hörbar ist ihr schändlich Faseln,
Daß Nachbar seinem Nachbarn nicht ins Auge blicken kann,
Daß fürchterliche Leere bleibt in mir,
Daß meine Seele brennt zum letzten Male
In irdischer Ohnmacht, fliegt ins Morgengrauen fort,
Mit wilder Bange um die rückgelaßne Erde.[105]
(1922; Übersetzung: Wolfgang Hässner)

Die düsteren Bilder und die Todesstimmung, vor allem auch die Zeilen: Jeder Herausforderung / Geb ich gebührend Antwort, würdevoll und streng - wurden von der Parteipresse als unerträgliche Provokation aufgenommen. Angesichts von Achmatowas Autorität mußte ihre Stimme zum Schweigen gebracht werden. Ohnehin war sie die Frau eines Konterrevolutionärs! Da heute die Würdelosigkeit kaum noch vorstellbar ist, mit der damals seitens der Parteifunktionäre vorgegangen wurde, seien einige Auslassungen des Zentralorgans «Prawda» über den letzten Leseabend der Achmatowa angeführt: «Und dann intonierte Achmatowa im Stile altgläubiger Gesänge irgend etwas über Tote. [...] Im Saal verdichtete sich die Atmosphäre von reinster Ästhetik, Archivstaub und Eau de Cologne. [...] Die zerknitterten, nach Mottenpulver riechenden, steifen Gehröcke haben einfach nicht bemerkt, daß ihr Heute das Heute von gestern ist und die Beschaffenheit steinharten Brotes hat, das selbst ein geübter Esser kaum herunterwürgen kann. Den ewig Gestrigen schmeckt natürlich auch diese Speise von gestern am besten.»[106]
Nach 1924 starben viele literarische Zeitschriften und Verlage, darunter der von Maxim Gorkij und Anatolij Lunatscharskij gegründete Verlag «Weltliteratur» mit einem breitgefächerten, alle bedeutenden literarischen Richtungen und Strömungen repräsentierenden Editionsprogramm, das auf Jahrzehnte im voraus angelegt war. Die zahlreichen literarischen Gruppierungen, Schulen und Vereinigungen fielen der Zentralisierung in der Kulturpolitik zum Opfer.[107] Ein einheitlicher Schriftstellerverband wurde vorbereitet und 1934 gegründet.[108] Andere Autorenvereinigungen waren verboten.

So muß abschließend festgestellt werden: Achmatowas Schaffenskrise kann, legt man ihre Selbstaussagen zugrunde, nicht länger als bis zur Mitte der dreißiger Jahre angehalten haben. Ihr viel längeres Verstummen in der literarischen Öffentlichkeit (bis 1940/41) hatte dann allein äußere Ursachen: massive Drohungen, fortwährende Demütigungen und Ausgrenzung. Sie mußte Beschimpfungen als Mystikerin, Nonne (!) und Feindin der neuen gesellschaftlichen Ordnung über sich ergehen lassen. Ein besonders rüder Schreiber hatte Achmatowa nach dem Freitod des Dichters Sergej Jessenin [109] am 28. Dezember 1925 gar aufgefordert, dessen Beispiel zu folgen. Die Jahre ihres absoluten Publikationsverbots dauerten bis 1940.

Achmatowa war im Jahre 1923 eine dritte Ehe eingegangen, nachdem sie sich von Wladimir Schilejko hatte scheiden lassen. Sie lebte nun mit dem Kunstwissenschaftler Nikolaj Punin (1888-1953) zusammen. Auf die Probleme dieser Verbindung wird später noch eingegangen. Zunächst hatte sie an diesem Mann eine wirkliche Stütze in den für sie schweren Zeiten. Punin leistete eine interessante und wichtige kulturpädagogische Arbeit, an der Achmatowa auf verschiedene Weise Anteil nahm. Als Professor für Kunstgeschichte und leitender Museumsfachmann besaß er im Scheremetjew-Palast (von Achmatowa meist als «Fontannyj Dom» bezeichnet) eine kleine Dienstwohnung. Dieser Palast mit seinen wertvollen Kunstsammlungen war durch Schenkung des letzten Besitzers in Staatseigentum übergegangen und dem Russischen Museum zugewiesen worden. Punin engagierte sich im Einvernehmen mit dem Volksbildungsminister Anatolij Lunatscharskij führend bei der musealen Aufbereitung der immensen Kunstschätze des Palastes.[110]
In der kleinen Wohnung der beiden trafen sich in den nächsten Jahren (zwischen 1923 und 1929/30) namhafte Künstler wie Wladimir Majakowskij, Wladimir Tatlin, Kusma Petrow-Wodkin, Nikolaj Tyrsa und Alexej Osmjorkin sowie der Kunstfotograf Nappelbaum und die Bildhauerin Natalja Danko und andere. Es wurde heftig und offen über die gesellschaftlichen und kulturpolitischen Vorgänge sowie über neue künstlerische Arbeiten der Anwesenden gestritten. Auch Achmatowas Verse standen nicht selten im Mittelpunkt solcher Debatten. Viele Künstler kamen auch, um Anna zu porträtieren, zu modellieren oder zu fotografieren. Die Zahl künstlerischer Darstellungen der Achmatowa ist sehr groß. In unserer Monographie finden sich einige der wichtigsten.
Diese «Salon»-Zusammenkünfte wirkten der Ausgrenzung Achmatowas aus dem geistig-kulturellen Leben entgegen, sie waren wesentlich für die allmähliche Wiedergewinnung ihrer psychischen Balance. Vermittelt durch Punin konnte sie in den zwanziger Jahren mit Übersetzungen aus dem Französischen und Italienischen ihren Etat etwas aufbessern. Diese Arbeiten waren zudem für sie inhaltlich interessant, es ging um Rubens-Briefe und um eine Cezanne-Monographie. Sie leistete Punin auch für seine Vorlesungen und Vorträge wertvolle Zuarbeit. Schließlich sind für diese Jahre ihre akribischen Bemühungen um die Sammlung und Aufbewahrung des Nachlasses von Nikolaj Gumiljow [111] nachgewiesen. Ohne ihr gewissenhaftes Zutun wäre vieles von seinem Werk für immer verloren gewesen. Den Arbeiten ihres ersten Mannes widmete sie Untersuchungen, unter anderem erforschte sie die literarischen Wechselbeziehungen mit dem englischen Autor Edgar Allan Poe. Sie begeisterte sich für die zu dieser Zeit stärker aufkommende vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) und nahm diese Methode in ihre Puschkin-Forschungen auf.
Schließlich bezeugt Lidija Tschukowskaja in ihren «Aufzeichnungen über Achmatowa»,[112] daß auch viele unbekannte Menschen zu der verfemten Dichterin kamen, meistens Frauen. Im engen Kreis, in ihrer winzigen Wohnung, kam es zu privaten Lesungen. Sie gab es bis zum Beginn des von Stalin eingeleiteten Massenterrors gegen Intellektuelle, als solche Treffen lebensgefährlich für alle Beteiligten wurden. Diese Form der literarischen Kommunikation hat dazu beigetragen, daß Achmatowas Gedichte nicht dem Vergessen anheimfielen.