Poem ohne Held?

»Sie können sich nicht vorstellen, wieviel wilde und lächerliche Auslegungen diese «Petersburger Erzählung» erzeugt hat«, klagte Achmatowa in einem fiktiven Brief 1955 angesichts feindseliger Reaktionen auf ihr Poem ohne Held (Poema bez geroja), das sie in frühen Fassungen schon in Taschkent vor Freunden rezitiert hatte. »Am strengsten urteilen meine Altersgenossen, deren Anschuldigungen in Taschkent Herr X. formuliert hat. Nach Aussagen von Teilnehmern einer Lesung soll das der dem Modernismus nahestehende Kunsthistoriker A. M. Efros gewesen sein. Er sagte, ich trüge irgendwelche alten Rechnungen mit meiner Epoche (des ersten Jahrzehnts) aus und mit Leuten, die nicht mehr da seien beziehungsweise nicht mehr antworten könnten. Für jene, die diese Rechnungen nicht kennen, sei das Poem unverständlich und uninteressant. Andere, besonders Frauen, meinten, das Poem ohne Held sei Verrat an ihrem früheren <Ideal> und - was noch schlimmer sei - eine Bloßstellung, eine Beleidigung meiner früheren Verse (zum Beispiel in < Rosenkranz»), die sie so liebten [...].«[180]
Einer derart dezidierten und offenen Ablehnung dieses Spätwerkes der Achmatowa begegnet man heute kaum mehr; das Poem hat dennoch längst noch nicht allgemeine Anerkennung gefunden, weder als Höhepunkt im Schaffen der Dichterin noch als herausragendes Werk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Für den deutschen Leser muß man einräumen, daß Schwierigkeiten bei der Aufnahme des Werkes nicht so sehr mit sprachlichen Barrieren zusammenhängen - es gibt unterdessen beachtenswerte Nachdichtungen des Poems von Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Sarah und Rainer Kirsch sowie Irmgard Wille,[181] sondern eher mit der Eigenart des an Assoziationen reichen Textes und dem heute geringen Ansehen des Genres Poem in Deutschland, wo es faktisch keinen Platz mehr in der Gegenwartsliteratur besitzt. Nachschlagewerke definieren Poem ziemlich einhellig als «meist abfällige Bezeichnung für längere Dichtungen», dessen frühere Traditionslinie (etwa Clemens Brentano, Conrad Ferdinand Meyer, Heinrich Heine) abgerissen oder zu Roman und Novelle mutiert sei.[182]
Das Verständnis von Achmatowas Poem ist ohne Zweifel an weiterentwickelte literarische Bildungsvoraussetzungen und Erfahrungen gebunden - an das Wissen um Gattungstraditionen, an sehr viele biographische, weltliterarische und kulturgeschichtliche Kenntnisse. Achmatowa tritt mit dem Poem ohne Held in eine bis zu ihrer Zeit beinahe ungebrochene Geschichte des russischen Poems ein und verleiht ihm ein postmodernes Gesicht. Sie besinnt sich auf geschichts-philosophische, menschheitsgeschichtliche und psychologische Dimensionen des Poems, wie sie von Alexander Puschkin über Michail Lermontow bis hin zu Alexander Blok und Wladimir Majakowski] erschlossen wurden. Das geschieht in einer eigenwilligen, modernen Mischung - dem Poem wird bei Achmatowa ein bis dahin nicht üblicher Freiraum für ein immens heterogenes, subjektives Potential an Assoziationen eröffnet. Es verliert dabei alles, was an eine «runde», erzählbare und epische Fabel erinnert. Wie Achmatowa sagte, liegt seine Spezifik in seiner grenzenlosen Heterogenität, die allein vom Horizont und den Maßgaben des lyrischen Subjekts bestimmt wird.
Seit ihrem fünfzigsten Lebensjahr hat dieses Werk sie bis zu ihrem Tod wie eine Krankheit immer wieder heimgesucht, und als fertig hat sie es niemals angesehen. Es hat in sich Ereignisse und Gefühle verschiedenster Zeitebenen aufgenommen, und jetzt, wo ich mich endlich von ihm freigemacht habe, sehe ich es völlig einheitlich und geschlossen.[183] (Achmatowa, Über das Poem, 1959) Die Werkgeschichte des Poems weist aus, daß Achmatowa es in den letzten Dezembertagen 1940 begonnen hat. Sie glaubte allerdings manchmal, daß sie den Einfall bereits im Februar oder Oktober 1917 gehabt habe. Zum ersten Male kam es zu mir in das Fontannyj Dom [...], nachdem es schon im Herbst ein kleines Stück [...] als Vorboten geschickt hatte. Ich hatte es nicht gerufen. Ich hatte es nicht einmal erwartet an jenem kalten und dunklen Tag meines letzten Leningrader Winters.***428.1.184

           

In ihrem Statt-Vorwort steht die Widmung der Autorin: Dem Andenken seiner ersten Zuhörer, meinen Freunden und Mitbürgern, die während der Belagerung den Tod gefunden haben.[185] Sie höre deren Stimmen, und dieser unsichtbare Chor sei ihr Rechtfertigung für das Poem. Das wurde 1943 in Taschkent geschrieben; anderthalb Jahre danach, in Leningrad:  Einige Leute hätten ihr geraten, das Poem verständlicher zu machen, sie aber weise das demonstrativ zurück, denn ihr Poem enthalte keinerlei dritten, siebten oder neunundzwanzigsten Sinn. Es folgten in den nächsten Jahren neue Widmungen und Erklärungen. Sie bezeugen die Diskontinuität des Entstehungsvorgangs dieses eigenwilligen Werkes. Suche und Versuche haben sich in den Text eingeschrieben. Russische Philologen haben mit Akribie alle erdenklichen Hinweise auf Wirklichkeit im Poemtext entschlüsselt. Dabei kommt auch eine Fülle an Mutmaßungen mit ins Spiel. Bereits an der ersten Widmung des Poems läßt sich das demonstrieren.
Die Assoziationen dieser Widmung betreffen den jungen Dichter Wjatscheslaw Knjasew, der 1913 wegen unerwiderter Liebe zu der Tänzerin Olga Glebowa-Sudejkina Selbstmord begangen hatte. Sie beziehen sich nicht weniger aber auch auf dessen Freund Michail Kusmin, einen der Mitbegründer der akmeistischen Richtung in der «Dichterzunft«.[186] Schließlich wird vermutet, daß auch Ossip Man-delstam mit dieser Widmung gemeint sein kann. In die zwölf Verse dieses Textes ist eine Fülle biographischer und literarischer Fakten eingeschrieben, Erinnerung an viele Künstlerkollegen, und das in freizügiger, «willkürlicher» zeitlicher Schichtung und verschiedensten Brechungen. Diese Konstruktion deutet das kreative Prinzip ihres Werkes insgesamt an und zeigt, daß es zu entschlüsseln durchaus bedeutet, einen dritten, siebten und hin und wieder sogar einen neunundzwanzigsten Sinn zu suchen.
Achmatowas zweite Widmung gilt dann ihrer langjährigen Freundin, der Tänzerin Olga Glebowa-Sudejkina. Sie wird eine Schlüsselfigur des Poems und repräsentiert für die Dichterin die ideale, vollendete Frauenpersönlichkeit. Zugleich sah sie in ihr die Symbolfigur für die Realität und die Atmosphäre des Kunstlebens in Petersburg vor dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Achmatowa reicherte ihre Gestalt mit Zügen der antiken Figur der Psyche an, die die Sudejkina in zwei Balletten 1913 getanzt hatte. In diesen Stücken war es zusätzlich zu einer künstlerisch komplizierten Kontamination zweier Figuren gekommen: der Psyche und der Putanniza (Verwirrerin). Die lange zweite Widmung von 1945 enthält auch erstmalig Todesgedanken der sechsundfünfzigjährigen Achmatowa, ausgelöst durch den Tod der Freundin Glebowa-Sudejkina, die mit sechzig Jahren 1945 in ihrem Pariser Exil gestorben war.
Die Entschlüsselung schließlich der Dritten und letzten Widmung (1956),[187] schafft einen weiteren Zugang zum Poem. Die Forschung hat hier Achmatowas Assoziationen in Zusammenhang mit dem erwähnten britischen Philosophen Isaiah Berlin gebracht. In mystischer Übersteigerung sah Achmatowa ihr Schicksal eng verknüpft mit diesem Mann, sogar historische Ereignisse wie den Ausbruch des «Kalten Krieges» oder das Aufleben des Terrors im eigenen Land nach 1945 sah sie von diesen Beziehungen beeinflußt.
Im ersten Teil ihres Werkes konzentrieren sich die wichtigsten Geschehnisse des ganzen Poems. Von ihm aus wird mit faszinierender Suggestion und künstlerischer Konsequenz die innere Ordnung des Poems, seine kompositionelle und thematische Logik gesteuert und der Heterogenität an der Oberfläche der Ereignisse entgegenwirkt. Das heißt, durch diesen ersten Teil muß der Leser sich hindurchfinden, ihn muß er sich vor Augen und in Erinnerung halten, will er den weiteren Fortgang des Poems als sinnvoll begreifen. Sein zweiter Teil (Kehrseite [188]) erscheint ihm gegenüber als Antithese und sein dritter (Epilog [189]) als Versuch einer Synthese. Damit stehen alle Teile des Poems in einem engen inhaltlichen und kompositioneilen Bezug zueinander.
Der erste Teil ist auf das Jahr 1940 fixiert und als Petersburger Erzählung auch genau lokalisiert. Ein fiktiver «Autor» (im weiteren als Dichterin, als «Autorin» erkennbar) erlebt am Silversterabend 1940 statt der Begegnung mit einem erwarteten lieben Gast in seinem Haus (es ist Achmatowas Haus an der Fontanka) einen Riesenspuk. Wie in einem wüsten Alptraum fallen Masken und Schatten über ihn her, wild zusammengewirbelt aus wirklichen und literarischen, klassischen und zeitgenössischen Figuren (darunter Faust, Don Juan, Lykurg, Solon, Hammurabi, Bibelfiguren und andere). Gesprächsfetzen, Flammenspiele, Hitze und Kälte - alles tobt wie entfesselt durcheinander. Dazwischen erscheinen, wie gesagt, wichtige Zeitgenossen aus dem Jahre 1913: vor allem Theaterleute um Wsewolod Meyerhold, der in diesem Jahr Furore in Rußland machte.190 Achmatowas zweiter Ehemann Wladimir Schilejko taucht als «Maske» auf (das war sein Spitzname), literarische Gestalten aus Werken von Knut Hamsun, Oscar Wilde und Shakespeare wirbeln herum. Zwischen auseinandertretenden Wänden, bei Sirenengeheul und sich zur Kuppel hebender Zimmerdecke findet dieses phantastische Spiel statt. Zentrale Figur des Wirbels ist die bewunderte Glebowa-Sudejkina. Die «Autorin» staunt nur über alles, was seinen eigenen Anfang und Einstieg ms Leben vor Augen führt. Wenn fröhlich - dann richtig, / Nur wie konnts geschehen, / Daß ich von allen allein hier noch lebe? Das lyrische Subjekt möchte sich in seiner damaligen Eitelkeit als junge, umschwärmte, schöne und erfolgreiche Frau, geschmückt mit schwarzen Achaten, me wieder begegnen. Gemeint war der frühe Ruhm damals im Kreis der Akmeisten, nach dem Erfolg des Wetscher-Bandes. Die damaligen Schönredner erwiesen sich als falsche Propheten.[191]
War die überfallartige Wiederkehr der Vergangenheit in Achmatowas Poem ein phantastischer und höchst launischer Wirbel wie aus abgefallenen Blättern, eine «Hoffmanniade»[192] um Mitternacht in willkürlichem Bunt? Genauer besehen ist es das nicht, sondern ein von der Dichterin streng kontrolliertes, einem künstlerischen Plan unterworfenes Spiel der Assoziationen, in dem nur das Auftrittserlaubnis bekommt, was zur Beleuchtung des 20. Jahrhunderts geeignet ist. Alles wird auf seinen Sinn durchgegangen, und damit einher geht immer auch ein Durcharbeiten der eigenen Biographie des lyrischen Ich. Der Gestus des Fragens bleibt beherrschend.
Achmatowas Wahl des Poems als Genre für dieses analytische Durchgehen des Jahrhunderts hatte zur Folge, daß sie bisherige Poemspezifika in wesentlichen Punkten aufgeben mußte. Vergleic -bare Innovationsversuche literarischer Genres haben stets zunächst eher Verwunderung und Zweifel als Zustimmung ausgelöst. So war es auch bei diesem Spätwerk der Achmatowa. Weder eine bedeutende historische Figur noch ein großer zeitgenössischer Held zeigten sich in ihrem Poem, auch ein zum kollektiven Helden stilisiertes Volk tauchte nicht auf. Eines dieser Momente war traditionelle Bedingung für ein Poem in der russischen Literatur. Bei Achmatowa kommt es zur kühnen Umkehrung des zentralen Genremerkmals - zum Poem ohne Held. So weit waren die bedeutenden Erneuerer des Poems nach Puschkin und Lermontow - Alexander Blok, Wladimir Majakowski] oder Alexander Twardowskij -nicht gegangen. Achmatowa hat durch den Verzicht auf den bisher obligatorischen individuellen oder kollektiven Helden im Zentrum die Verwandlung des modernen Poems in ein tragikomisches Genre eingeführt und damit die literarische Form auf eine künstlerisch produktive Weise weiterentwickelt.
Der ihrem Versuch zugrundegelegte geschichtsphilosophische Gedanke gab ihr die Berechtigung dazu: Das 20. Jahrhundert hat in ihrer Vorstellung keine bedeutenden positiven Persönlichkeiten hervorgebracht, die zu Poemhelden getaugt hätten. Das Jahrhundert ist zum unfaßbaren Spektakel, zum rasanten und irren Wirbel, zur Tragikomödie geworden. Sieht man sich Achmatowas Vokabular dafür im ersten Poemteil an, so gibt es keinen Zweifel an den Intentionen der Dichterin: Schatten, immer wieder Schatten tauchen auf; Gespenster, ein Tanz der Skelette; das Chaos, das schwarze Verbrechen, die Schwüle - alle als Personifizierungen des Todes.

Es ist alles in Ordnung: Schweigend
Liegt dort das Poem, wie es sich gehört.
Und doch: Wenn ein Thema sich losreißt
Und, gegen das Fenster trommelnd, beschwört
Von fernher die Antwort, als sei
Alles ein Spiel nur schrecklicher Lust -
Ein Rasseln, ein Stöhnen, ein Adlerschrei,
Und die Arme gekreuzt auf der Brust?[193]
(Poem ohne Held, Erster Teil, Nachwort; Nachdichtung: Heinz Czechowski)

Dieses aus Achmatowas Sicht unwirkliche Jahrhundert ließ sich anders nicht fassen als in den Dimensionen von Magie und Dämonie, als irrsinniger Wirbel, der alles Bisherige um seine gewohnte Ordnung bringt. Charakteristisch für die ehemals akmeistische Dichterin ist dabei, wie sehr sich ihre scheinbar hemmungslose Bilder- und Figurenflut an historischer Wirklichkeit orientiert.
Im zweiten, Kehrseite genannten Teil kommt es im Disput zwischen dem lyrischen Subjekt und einem fiktiven Redakteur zu Rechtfertigungsversuchen und antithetischen Einwänden, ja zur Selbstinterpretation des Poems. Zunächst artikuliert der Redakteur gängige Lesegewohnheiten: Er brummte: «Drei Themen auf einmal / Und hat man das Ganze zuende gelesen, / Begreift man nicht, wer verliebt ist in wen, / Wer, wann und weshalb sich begegnet, / Wer umkam und wer am Leben geblieben, / Und wer da der Autor, der Held, -/ Und was sollen uns heute diese Gedanken I Über den Dichter und irgendeinen /Gespenstischen Spuk?»[194] Die Antworten zur Verteidigung der fiktiven Autorin lesen sich wie ein Plädoyer für moderne Ästhetik, die sich aus der Umklammerung durch die Wirklichkeit gelöst und der schöpferischen, manchmal auch unbändig wilden Phantasie ihr Recht eingeräumt hat. In dieser Funktion muß Achmatowas Poem ebenfalls gesehen werden: als einer der Versuche in der russischen Literatur zur Befreiung von dogmatischen Fesseln und Vorschriften, wie sie eine enge Realismus- beziehungsweise Widerspiegelungskonzeption verlangte.

Ich war nicht froh, daß mir aus der Ferne
Erklang in den Ohren
Der höllischen Harlekinade Geheul.
Ich hoffte, daß es wie Fetzen von Rauch
Durch die Finsternis flöge,
Vorüber am Weißen Saal.
Doch dem Plunder war nicht zu entrinnen,
Der alte Cagliostro schlägt seine Volten,
Ein Satan von raffiniertester Art,
Der nicht mit mir den Toten beweint,
Und der nicht weiß, was Gewissen bedeutet,
Und wozu es so etwas gibt.[195]

Einige Passagen des zweiten Teils sind Monologe des lyrischen Ich, das sich als Dichterin (Achmatowa) bestimmt hat und verteidigt: Ich werd nicht in Hymnen, bestellten, zerschmelzen! / Nein, schenkt mir nicht [...] einer/Toten Stirn-Diadem. / Ich werd eine Lyra bald brauchen,/Doch die eines Sophokles, nicht eines Shakespeare. / Es steht an der Schwelle das SCHICKSAL! Dieses Thema war für das sich verteidigende Dichter-Ich wie auf dem Boden die Chrysantheme, / Die man zertritt, wenn [196] man fortträgt den Sarg. Zwischen <Drandenken> und <Sich-Erinnern> sei ein Riesenunterschied. Die Aussagen des lyrischen Monologs gipfeln in der selbstbewußten Vergewisserung: Doch deinem Ruhm, der zwielichtig schimmert / Und der zwanzig Jahr in der Gosse gelegen, / Dem werd ich noch dienen - und wie! / Wir beide - das Poem und Achmatowa - wir werden Feste noch feiern, / Und mit meinem Kuß wie ein König will lohnen / Ich deiner Mitternacht böses Gesicht.[197]
Im Epilog [198] des Poems, beendet 1942 in Taschkent, liegt der Ort der Maskerade schließlich in Trümmern. So weit das Auge reicht schwelende Brände; man hört noch Geschützdonner in der Ferne, sonst herrscht unheimliche Stille. Und in diese Stille kommt aus 7000 Kilometern Entfernung die Stimme des Autor-Ich: Es könne kein Ende des Unglücks verkünden. Bilder von einem sibirischen Lager blenden auf, in ihm taucht ein Doppelgänger des Ich zu einem Verhör auf. Ein Schatten kehrt heim in die Stadt an der Newa, spiegelt sich in den Kanälen, geht durch die Säle der Eremitage und auf den alten Friedhof, um über den schweigenden Gräbern der Brüder zu schluchzen. Die folgende dunkle Vision vollzieht den Weg über Brücken und Flüsse, über den Ural nach Sibirien nach, auf dem man vor mir gegangen / Und der meinen Sohn transportiert. / Lang war der Begräbnisweg, endlos, / Ein feierliches, kristallenes Schweigen I Fesselte rings das SIBIRISCHE LAND. Man sieht einen endlosen Zug von Verbannten, gepackt von tödlicher Furcht, aber auch wissend um die Frist der Vergeltung. Das Ich ruft zugleich mit der Wirklichkeit der Todesmärsche das Gewissen auf, das im Bild vom Hände ringenden Rußland Ohnmacht wie Entsetzen zeigt.[199]
Zu den Eigentümlichkeiten dieses Werkes und seiner Entstehungsgeschichte gehört, daß sich Achmatowa nicht nur im Text ausgiebig der Selbstinterpretation bediente, sondern auch in ausführlichen Zusatztexten zum Poem versuchte, sich ihrer Neuerung zu versichern. Die folgenden Auszüge mögen einige ihrer Überlegungen konkretisieren:
Dieses Poem ist ein eigenartiger Aufstand der Dinge, der Sachen. Olgas Sachen, mit denen ich längere Zeit gelebt habe, verlangten mit einem Male ihren Platz unter der poetischen Sonne. [...] Das Poem erwies sich als aufnahmefähiger, als ich anfangs dachte. Unmerklich nahm es in sich Ereignisse und Gefühle verschiedenster Zeitebenen auf; und nun, wo ich mich seiner schließlich entledigt habe, sehe ich es vollkommen einheitlich und als Ganzes.[200] (1959)
Manchmal strebte es [das Poem] ganz zum Ballett (zweimal), und da war es durch nichts mehr zu halten. Ich dachte auch, daß es dort schließlich für immer bleiben würde. Ich schrieb so etwas wie ein Ballettlibretto, dann aber kehrte es wieder zurück, und alles lief wie zuvor. (1959)
Selbstverständlich kann (und muß) man jedes einigermaßen bedeutende Werk der Kunst auf verschiedene Art interpretieren (um so mehr betrifft das Meisterwerke). «Pique Dame» ist zum Beispiel einfach eine weltliche Novelle der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts und eine gewisse Brücke zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert (bis zu den Zimmern der Gräfin); und dann ist es dieses biblische «Du sollst nicht töten!» (von hier «Schuld und Sühne»); und es ist die Tragödie des Alters und die Geschichte vom neuen Helden (dem sogenannten «Ras-notschinzen »); und es ist die Psychologie des Spielers (eine gnadenlose Selbstbeobachtung); es ist die Problematik der Sprache (jeder spricht auf seine Weise; besonders interessant die russische Sprache der alten Frauen aus der Zeit vor Karamsin; daß sie französisch sprachen, denkt man, aber es war nicht so ...) - aber, verzeihen Sie mir, ich rede daher - natürlich gehöre ich nicht in die Nähe von Puschkin. [...] Aus alter Freundschaft verschweige ich Ihnen auch nicht, daß namhafte Ausländerfragen, ob ich tatsächlich die Autorin dieses Poems bin. Zur Ehre unseres Landes muß ich gestehen, daß es diesseits der Grenze solche Zweifel nicht gibt. Aber Leute kommen einfach von der Straße und beklagen sich, daß sie das Poem quält. Mir geht es nicht aus dem Kopf, daß es mir jemand diktiert hat, wobei er die besten Strophen für den Schluß aufgehoben hat. Darin bestärkt mich besonders die dämonische Leichtigkeit, mit der ich das Poem geschrieben habe: seltenste Reime hingen mir geradezu an der Bleistiftspitze, die schwierigsten Wendungen sprangen von selbst aufs Papier.(1961)
Erst heute ist es mir endlich gelungen, die Besonderheit meiner Methode [im Poem] zu formulieren. Nichts wird direkt ins Gesicht gesagt. Die schwierigsten und gewichtigsten Dinge werden nicht auf Dutzenden Seiten auseinandergelegt, wie man es so gewöhnt ist, sondern auf zwei Zeilen, aber für jeden verständlich. (1961)
Wenn sich Shakespeare-Tragödien oder Puschkin-Poeme [...] in Ballette verwandeln lassen, dann sehe ich keine Hindernisse dafür, warum das mit dem «Poem ohne Held» nicht gehen sollte (natürlich kein klassisches Ballett, aber so etwas wie ein Tanzspiel mit Gesang hinter der Bühne). Daß in ihm Musik ist, höre ich schon seit fünfzehn Jahren und fast von allen Lesern.[201] (1961)