Eine deutsche Kindheit

Riesenburg heißt das Städtchen, in dem ich geboren wurde, doch es trägt seinen Namen zu Unrecht. In dieser 4000 Seelen-Gemeinde gab es nur zwei wirkliche Anziehungspunkte: den Großen und den Kleinen Markt. Zum letzteren gelangte man durch das Riesenburger Tor, eine mittelalterliche Ruine - Überrest einer ruhmreichen Vergangenheit; durch seinen Bogen betrat man die Altstadt. Doch weder die Anlage der Stadt noch die Architektur ihrer Gebäude verwiesen auf irgend etwas Altehrwürdiges oder Bemerkenswertes. Nichts konnte darüber hinwegtäuschen: Riesenburg war nur eine langweilige Kleinstadt. Um das Städtchen herum lagen Wiesen und Felder. Doch wanderte man etwa acht Kilometer weiter nach Süden, dann betrat man einen ausgedehnten, unberührten Wald, den Großen Wald; und drei Kilometer weiter nördlich befand sich ein kleiner Nadelwald auf sandigem Boden, der Kleine Wald. Der Große Wald besaß die Attraktion eines reichhaltigen Tier- und Pflanzenlebens, während der Kleine Wald als beliebtes Ausflugsziel galt.
In meiner Erinnerung hat Riesenburg heute noch eine romantische Anziehungskraft. In seiner Nähe fließt die Liebe, ein Nebenfluß der Weichsel, die vor dem Ersten Weltkrieg die Grenze zwischen West- und Ostdeutschland bildete. In die Liebe mündet der Sorgensee, ein Name, der geeignet ist, die Phantasie mit Sehnsuchtsgedanken anzuregen. Sowohl der Fluß als auch der See spielten in meiner Kindheit eine wichtige Rolle.
Riesenburg, diese so ganz und gar deutsche Stadt, lag inmitten polnischen Landgebietes, wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Äußeres und Charakter seiner Bewohner waren geprägt vom deutschen »Wesen«, das niemals durch ausländische Einflüsse verändert worden war.
Im Westen der Weichsel lag die Provinz Westpreußen mit ihrer Hauptstadt Danzig. Die Stadt, die ein wechselhaftes Schicksal erlebt hat, gehörte im Mittelalter zum festen Besitztum des mächtigen Deutschen Ritterordens, später war sie einmal preußisches, dann wieder polnisches Territorium. Sie erhielt ihre einzigartige, internationale Bedeutung als Hansestadt und Handelszentrum. Danzig war unsere Metropole, und als ich neun Jahre alt war, wurde die Stadt zu meiner zweiten Heimat.
Westpreußen war deutsch, obwohl in unserer Mitte viele Polen lebten. Doch sie schienen eher nur dem Namen nach vorhanden zu sein. Die »Polnische Frage« wurde vor 1918 nie öffentlich diskutiert, und die Polen waren sich nicht bewußt, daß sie mit der Unsicherheit ethnischer und politischer Probleme lebten.
So war die wichtigste Person meiner Säuglingszeit eine polnische Frau. Sie war meine Amme, und mit ihrer Milch wurde ich länger als ein Jahr ernährt. Sie blieb bei uns bis ich zwei Jahre alt war, und später sagte meine Mutter, ich hätte mich seit ihrem Weggang grundlegend verändert. Diese früheste Zeit meiner Kindheit hat in meinem Gedächtnis keine Spuren hinterlassen, doch ein Photo, das ich wie einen Schatz hütete, zeigte ein glückliches, entspanntes Baby in den Armen einer dunkelhäutigen, stämmigen Polin, die es mit zärtlichem Ausdruck ansah. Alles, was ich von ihr weiß, hat mir meine Mutter erzählt: daß sie mit ihrem kleinen Jungen zu uns gekommen war, mit dem ich wohl die Milch teilen mußte. Die einzige Erinnerung an sie war dieses Photo, das mir so viel bedeutete, daß ich es später einer russischen Frau, die ich liebte, schenkte. Ich sah es niemals wieder.
Es mag in Westpreußen zwar unterschwellig schwelende Antipathien den Polen gegenüber gegeben haben, aber kein Anzeichen meiner frühen Umgebung deutete darauf hin, daß ähnliche Vorbehalte gegenüber den Juden bestanden. Eine Handvoll jüdischer Familien und einige unverheiratete Frauen verbrachten hier ein friedliches Leben als deutsche »Staatsbürger jüdischen Glaubens«, ohne irgendeine spürbare Diskriminierung. Die Geschichtsschreibung spricht von einem angeborenen deutschen Antisemitismus, der im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert bösartig wieder aufgelebt sei. Tatsächlich waren der Pfarrer E. Stöcker und K. Jahn, ein fanatischer Christ, diejenigen, die am stärksten gegen die Juden hetzten, aber ihr Einfluß war noch nicht bis in unser friedliches Städtchen vorgedrungen. Vor Beginn der 30er Jahre habe ich weder einen öffentlichen Antisemitismus bemerkt, noch eine persönliche Herabsetzung erfahren.
Ich war das zweite Kind jüdischer Eltern der damaligen Mittelschicht. Ihr erstes Kind war ebenfalls ein Mädchen, und mit dieser Tatsache mag teilweise der komische Irrtum zu erklären sein, der meine Geburt begleitete. Mein Vater kündigte das freudige Ereignis seinem Bruder am Telefon mit den Worten an: »Mein kleiner Junge ist angekommen«. Möglicherweise war hier der Wunsch der Vater des Gedankens, denn die Hebamme hatte mich eindeutig als Mädchen identifiziert. Ich hörte diese Geschichte erst als Teenager. Mein Onkel Josef erzählte sie mir mit nachdenklichem Gesichtsausdruck und den Worten: »Du warst immer schon ein getarnter Junge«.
Was auch immer meine Eltern sich gewünscht haben mögen-das »falsche Geschlecht« tat ihrer Fürsorge und Liebe keinen Abbruch. Sie waren stolz auf ihre Kinder, und mein Vater führte mich mit offensichtlicher Zufriedenheit seinen Freunden und Kunden vor. Ich war mir sicher, daß er mich gern um sich hatte, denn er nahm mich mit auf seinen Ausritten, wenn er Bauern und Großgrundbesitzer aufsuchte, um Weizen einzukaufen. Ich liebte es, mit ihm im offenen Einspänner zu fahren. Ich schmiegte mich an ihn, er legte seinen Arm um mich, und ich schlüpfte mit dem Kopf unter das Cape seines braunen Herrenmantels. Er redete mit mir wie mit einer Erwachsenen und verbreitete überall, daß ich ihm geschäftlich gute Ratschläge erteilen würde - im Alter von vier Jahren. Sein Vater war wie er Getreidehändler gewesen und hatte ihm Haus und Geschäft überlassen. Noch aus dieser Zeit stammte ein Emailleschild neben dem Hauseingang: »C. Wolff, Getreide«. Mein Großvater, Caspar Wolff, hatte nach der Heirat seines Sohnes die Stadt verlassen und zwar nach Zoppot an die Ostsee gezogen.
Unser Haus stand in der Hauptstraße, der Lange Straße, die in unserer unmittelbaren Nähe eine scharfe, abschüssige Kurve machte. Deshalb sah das Haus ein wenig schief aus, denn die eine Seite stand höher als die andere. Neben uns wohnte ein Metzger. Dann kam der Bäcker, der in einem Eckhaus zu einer schmalen Seitenstraße hin lebte, aus der ein starker Kloakengeruch zu uns herüberwehte. Dahinter kam der Lebensmittelhändler. Eine Seite seines Ladens war in unserer Straße, während die Vorderfront auf den Großen Markt hinausging. Wie in allen Kleinstädten, verlieh der Marktplatz Riesenburg Seele und Leben, mit seinen großen Geschäften, einer Apotheke, einer Kurzwaren- und einer Eisenwarenhandlung. Alle zwei bis drei Wochen wurde der Große Markt zusätzlich belebt durch die Bauern der Umgebung, die hier ihre Tiere - Pferde, Rinder und Schweine - zum Verkauf anboten. Sie brachten Geld und fremde Gerüche mit, was nicht nur Käufer und Verkäufer, sondern auch Kinder wie mich anzog. Wir schlichen vorsichtig um Bauern und Tiere herum und belauschten die Gespräche und Verhandlungen.
Auch Klatsch und Gerüche kennzeichneten unsere Stadt. Ein kleiner Schwatz mit den Nachbarn diente als Entspannung nach einem harten Arbeitstag, und wenn das Wetter schön war, saßen meine Eltern abends im Eingang unseres Hauses, beobachteten, wer vorüberging, grüßten und tauschten Neuigkeiten aus. Sie verhielten sich dabei genauso wie unsere Nachbarn und die Leute gegenüber. Bei schlechtem Wetter mußten die Fenster als Ersatz für den kommunikationsfreundlicheren Hauseingang herhalten. Ein kleiner Nähtisch aus Mahagoni mit bunten Wollknäueln, Scheren und anderen Utensilien stand am Fenster unseres Wohnzimmers; von dort aus hatte man einen guten Blick auf die Straße. Meine Eltern saßen sich an diesem Tisch gegenüber, sahen nach draußen und plauderten über das Geschäft und die Nachbarn. Diese hübschen Nähtischchen waren ein unentbehrliches Requisit in bürgerlichen Häusern. Für meine Mutter oder gelegentlich eine Näherin war es ein vorzüglicher Vorwand, dort nähend oder mit dem Stopfzeug in der Hand zu sitzen und die Welt an sich vorbeiflanieren zu lassen. Ich starrte auf die Straße und beobachtete die Leute ohne die Entschuldigung einer Arbeit. Ich konnte mich nicht von dem kleinen Tisch losreißen. Doch mein Interesse galt weniger den Leuten auf der Straße, als dem Garten gegenüber. Er war verlassen und verwildert, als stünde er unter einem bösen Fluch. Doch in einer scharfen Biegung, genau in meinem Blickfeld, stand eine Akazie, die mich begeisterte. Ich weiß nicht genau, warum sie mich so magisch anzog, außer daß sie, wenn sie in Blüte stand, wie ein Weihnachtsbaum im Sommer aussah. Der Garten fiel schräg ab und gehörte zu einem größeren und repräsentativeren Haus, als sie in unserer Straße standen. Es gehörte dem Besitzer einer Sägemühle. Ein schmaler Weg trennte das Haus von dem verlassenen Garten, ein Pfad, der zum Sorgensee führte. An kalten Wintertagen war der See zugefroren und wir konnten auf ihm Schlittschuh laufen. Meiner Schwester und mir machte es großen Spaß, allein oder Hand in Hand über die eisige Fläche zu gleiten. Mit der Zeit erwarben wir darin einiges Geschick, liefen schon einmal einen Halbkreis oder versuchten uns in ein paar ungeschickten Tanzschritten. Wir waren nahe genug an der Ostsee, um in den Genuß eines gesunden Klimas - kalte Winter und heiße Sommer - zu kommen. Die belebende Winterluft machte das Leben außerhalb und innerhalb des Hauses zu zwei verschiedenen Welten.
Wer aus der Kälte ins Haus kam, den erwartete die Wärme des Kachelofens. Er war vom Boden bis zur Decke in eine Wand eingelassen und heizte gleichzeitig zwei Zimmer. Man wärmte sich auf, indem man sich mit dem Rücken an den Ofen lehnte. In einigen deutschen Altbauten findet man heute noch diese vielleicht gesündeste Form der Heizung. Der Kachelofen wurde mit Anthrazit, Steinkohle oder Torf beheizt, und es wurde darauf geachtet, daß er nie ausging. Die behagliche Wärme der Wintermonate zu Hause, die herrlichen Sommer mit ihrem endlosen Himmel und dem warmen Wind, klingen in meiner Erinnerung nach wie ein Kinderlied. Ob es sich dabei wohl nur um ein Trugbild vergangenen Glücks handelt, das die Kindheit so schön erscheinen läßt wie einen aus der Asche erstandenen Phönix? Ich glaube nicht, daß diese Erinnerungen eine Art Fata Morgana sind, sondern vielmehr, daß es sich um unverdorbene Wirklichkeit handelt, unberührt vom trügerischen Schein der Erwachsenenwelt.
Der Hof unseres Hauses verwies auf den Beruf meines Vaters. Im Hintergrund stand ein großer Kornspeicher, der fest zusammengebundene Säcke mit Weizen, Roggen und Gerste enthielt. Chemische Düngemittel, die sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Landwirtschaft durchgesetzt hatten, waren in einem anderen Teil des Speichers gelagert. Entlang der Mauer, die unseren Hof vom Grundstück des Nachbarn trennte, befanden sich drei interessante »Gebäude«: Neben dem Speicher ein Stall, in dem vier schwere Zugpferde Platz hatten; dann ein ummauerter Misthaufen aus Pferdedung und Hühnermist. Holzbretter mit Eisengriffen bedeckten ihn und bewahrten uns vor dem unangenehmen Gestank. Daran angrenzend kam ein Hühnerhaus aus engem Maschendraht, in dem etwa ein Dutzend Hühner und ein schöner Hahn gehalten wurden. Ich habe keine Ahnung, ob der Grund für die Hühnerhaltung ökonomischer Natur war oder einfach die Freude an Hühnern. Dem Stall gegenüber stand ein Plumpsklo, das im wesentlichen aus einer schmalen Bank mit einem Loch in der Mitte bestand. In kleine Vierecke geschnittenes Zeitungspapier befand sich an beiden Seiten daneben.
Der mit Kopfstein gepflasterte Hof und seine Nebengebäude waren typisch für das Anwesen eines Getreidehändlers in einer damaligen Kleinstadt. Das Kinderzimmer lag zum Hof hinaus, der für meine Schwester und mich eine Art privater Spielplatz war. Wir beobachteten Hühner und Pferde und spielten hinter den Säcken im großen Speicher Versteck. Arbeiter luden Korn ein und aus und jagten uns hinaus. Der Kutscher aber hob uns manchmal auf ein Pferd, wenn er gute Laune hatte.
Ich hatte noch einen zweiten Spielplatz - die Straße. Dort knüpfte ich meine ersten sozialen Kontakte und spielte mit den Kindern von nebenan. Ihr Vater war Maler und Dekorateur; die Familie wohnte in einem bescheidenen einstöckigen Haus. Der Junge war in meinem Alter, das Mädchen ein Jahr älter. Zu uns Dreien gesellten sich manchmal die Söhne eines Obersten der Kürassiere: Adalbert, Manfred und Rüdiger. Die Eltern hatten ihnen jedoch verboten, in der »Gosse« zu spielen, und so wurden wir eingeladen, zu ihnen in den Garten zu kommen. Ich hatte einen besonders guten Kontakt zu Adalbert, dem ältesten, der ein offensichtliches Vergnügen daran hatte, mich auf der Schaukel anzustoßen. Er war auch mein Lieblingspartner auf der Wippe in der Mitte des Gartens. Sein Vater - in seiner leuchtend weißen Uniform und den schwarzen Reitstiefeln mit silbernen Sporen -strich uns über den Kopf, wenn er ins Haus ging, doch seine Frau würdigte uns keines Blickes. Wir wurden auch niemals nach »Drinnen« eingeladen. Und doch gab es keine offenkundigen Klassenschranken zwischen den Einwohnern unserer Stadt. Alle verhielten sich grundsätzlich freundlich gegenüber ihren Nachbarn, unabhängig von Reichtum, Klasse, Rasse oder Religion. Verklärte Kindheitserinnerungen? Keineswegs. Das Deutschland zu Beginn unseres Jahrhunderts war ein tolerantes Land, denn es gab Arbeit für jeden. Es hatte eine stark vereinfachte soziale Ordnung, verstärkt durch die Gebote der Bibel. Die Menschen akzeptierten ihre Stellung in der Gesellschaft noch als eine Art göttlicher Wille. Die Religion hatte ihre Macht über die Armen noch nicht verloren, und leise Stimmen der Rebellion änderten bis zum Ersten Weltkrieg nichts an dieser Sachlage. Juden konnten ungestört und in Frieden leben. Sie waren in ihren Berufen und als Geschäftsleute wohlangesehen.
Das beste Geschäft der Stadt gehörte den Eltern meiner Schulfreundin Netty. Bei ihr zu Hause wurde ich mit Wärme, Herzlichkeit und gutem Essen empfangen, was mich für eine gewisse Kälte im Temperament meiner Mutter entschädigte. Aus einem ganz anderen Grund hatte ein weiteres Geschäft, das einem Freund meiner Eltern gehörte, für mich eine besondere Bedeutung. Dort gab es Knaben-Bekleidung im Schaufenster, die ich immer sehnsüchtig betrachtete. Ich bat meinen Vater, mir einen solchen Anzug zu kaufen, weil ich lieber wie ein Junge aussehen wollte. Ich hatte zwar nie eine Bevorzugung von Jungen oder Männern in meiner Familie wahrgenommen, doch ich hatte das Gefühl, daß Kleider nicht das Richtige für mich waren. Erst als ich um die 20 war, wünschte ich, ich wäre als Junge auf die Welt gekommen, aber nur, weil die Mädchen und Frauen, die ich liebte, sich zu Männern hingezogen fühlten.
Eine Familie bildet einen engen Kreis, und das läßt oft wenig Zeit für Freundschaften. Eine jüdische Familie war damals ein Musterbild eines dichtgewebten sozialen Netzes, eine Gemeinschaft, die zusammengehalten wurde durch gegenseitige Zuneigung und Hilfe. Selten ließ man seine Verwandten im Stich, auch wenn widersprüchliche Gefühle, Eifersucht oder gar Feindseligkeiten die Beziehung erschwerten. Freundschaften mit anderen Juden ähnelten positiven Familienbanden, waren aber eher flüchtig, und Kontakte mit Nicht-Juden gingen über Bekanntschaften nicht hinaus.
Diese gewisse Isolation der Juden war selbstgewählt, der Antisemitismus hatte sein häßliches Gesicht in meiner Kindheit nicht einmal andeutungsweise gezeigt. Im Gegenteil: Ich bemerkte eine Art gönnerhafte Herablassung auf Seiten der Juden gegenüber den Nichtjuden. So hörte ich zum Beispiel einmal meinen Vater zu meiner Mutter sagen: »Er ist schon ein recht anständiger >Goy<, aber naiv wie sie gewöhnlich sind.« Solche feinen Unterscheidungen unter Erwachsenen betrafen uns Kinder glücklicherweise nicht. Die Wahrheit ist: Deutsche Juden hatten eine emotionale Affinität zueinander, sie fühlten sich zueinander hingezogen und das schloß tendenziell Nicht Juden aus.
Lange Zeit dachte ich, daß dieses Verhaltensmuster auf rassischen Bindungen beruhte. Mehr als 1800 Jahre lang lebten Juden überall auf der Welt in Gettos, verfolgt und verachtet. Sie hatten keine andere Wahl, als innerhalb ihrer kleinen Gemeinschaften zu heiraten, und immer mehr Familien waren untereinander verwandt. Im Grunde genommen waren es inzestuöse Bindungen, die eine Rassenidentität aufrecht erhielten. Die Merkmale des Jüdischseins wurden von Generation zu Generation weitergegeben, solange Mischehen eher die Ausnahme als die Regel waren. Juden sind und bleiben in erster Linie Juden, ob sie nun in einem Gastland als gleichberechtigte Bürger gelten oder nicht. Diejenigen Juden, die behaupteten, so deutsch wie andere Deutsche zu sein, weigerten sich, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Nur die Zionisten, die ihre jüdische Identität an die erste Stelle setzten und sich der Integration in eine fremde Gemeinschaft verweigerten, erkannten die Tatsachen. Sie handelten in Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen und bereiteten sich auf ihren Exodus nach Palästina vor. All das blieb glücklicherweise einem Kind verborgen, dessen Eltern sich niemals für etwas anderes als deutsche Juden gehalten hatten, und die in Frieden mit ihren Nachbarn lebten. Vielleicht war es ihre Haltung, die mich dies erst einsehen ließ, als ich erwachsen war.
Obwohl ich mich in der Schule mit allen meinen Klassenkameraden gut verstand, fühlte ich mich besonders zu jüdischen Mädchen hingezogen. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich entspannter, vor allem bei Netty, deren Mutter mir sehr gut gefiel. Die Wärme und Gastfreundlichkeit, die in ihrem Hause herrschte, fehlte mir in den Elternhäusern meiner christlichen Klassenkameraden. Nur ein christliches Mädchen ist mir im Gedächtnis geblieben und das aus gutem Grund: Lieschen Senkbeil. Sie wohnte am unteren Ende unserer Straße, kurz bevor diese in einer Wiese endete. Lieschen ging auf ihrem Schulweg immer an unserem Haus vorbei, und ich kam dann herunter und schloß mich ihr an. Meistens gingen wir zusammen zurück, und manchmal begleitete ich sie nach Hause. Sie war anders als die anderen Mädchen, denn sie hatte rote Haare, eine blasse Haut und wasserblaue Augen. Lieschen war ein lebhaftes und kluges Mädchen, aber ich war weniger an ihr interessiert als vielmehr an der Schmiede ihres Vaters. Wenn wir an ihrem Haus angekommen waren, fanden wir die Tür der Gießerei weit offen. Dort blieb ich meist stehen und sah zu, was da vor sich ging: Ihr Vater hämmerte Eisen auf einem Amboß, und seine Lehrlinge zogen die Eisenstücke in seltsame Formen. Der Lärm machte einen fast taub, Funken flogen. Dies war eine Männer-Küche, die Höhle eines Zauberers. Mir war noch niemals etwas Derartiges begegnet, der Anblick hypnotisierte mich, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich bewunderte Lieschens Vater und seine Arbeit. Unter den Juden gab es keinen Schmied, überhaupt keine Handwerker, die ihr Geld mit ihrer Muskelkraft verdienten.
Ich bemerkte noch einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen Juden und Christen, der mir in meinem zweiten oder dritten Schuljahr schwer zu schaffen machte: der Religionsunterricht. Ich fühlte mich ausgeschlossen und bat meine Klassenkameraden, mir von ihrem Unterricht zu erzählen. Und so lernte ich aus zweiter Hand etwas über das Christentum. Ich erfuhr von Jesus und seinen Wundern, und daß Er der Retter der Welt war, der alle Menschen liebte, besonders Kinder. Ich beneidete meine christlichen Mitschüler und bekam den Eindruck, daß mir als Jüdin etwas fehlte. Warum sollte ich nicht mit den Christen das Glück teilen, einen kinderliebenden und Wunderwerke vollbringenden Jesus zu haben? Ich kann mich daran erinnern, daß ich insgeheim und intensiv Nacht für Nacht zu Jesus betete. Wie lange ich mich dieser Übung hingab, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kam sie meiner anderen unbefriedigten Sehnsucht gleich und übertraf sie sogar noch: Jungenkleider tragen zu dürfen. Doch keine der beiden Frustrationen war stark genug, mir meine Lebensfreude zu nehmen. Ich fühlte mich von meinen Eltern geliebt und hatte eine Vertraute in meiner Schwester Thea, die ich liebte und haßte, wie es Geschwister tun.
Während der Jahre, die ich die Höhere Töchterschule in Riesenburg - eine Privatschule für Kinder wohlhabender Eltern -besuchte, wurde ich von meiner Schuldirektorin bevorzugt. Fräulein Lange machte keinen Hehl aus ihrer Vorliebe für mich. Sie erlaubte mir, Klassenarbeitshefte zu tragen, die sie zu korrigieren hatte, und sie auf ihrem Heimweg zu begleiten. Ich sah zu ihr auf mit einer Mischung aus Liebe und Selbstzufriedenheit; denn triumphierend stelle ich fest, daß ich in ihren Augen meine Klassenkameraden ausgestochen hatte.
Bevor ich zur Schule ging, war mein Vater für mich der Mittelpunkt meiner kleinen Welt. Meine Mutter dagegen erweckte sowohl Zuneigung als auch Angstgefühle in mir. Eines Tages - ich schlief damals noch im elterlichen Schlafzimmer - sah ich sie nackt. Ich war etwa drei Jahre alt und eingesperrt in ein kleines Kinderbett aus Eisen mit hohen seitlichen Gittern, die man herunterklappen konnte. Der Anblick dieser mir gigantisch erscheinenden Person mit riesigen Brüsten und schlaffer Haut entsetzte mich. Die Tatsache, daß ich aus der Rückenlage zu ihr aufsah, muß diesen Eindruck verstärkt haben. Über diese Erfahrung habe ich nie gesprochen, sie aber auch niemals vergessen. Ein paar Monate später versetzte sie mir den nächsten Schock. Ich hatte eine böse Erkältung und konnte eines Nachts nicht mehr aufhören zu husten. Plötzlich beugte sie sich über mein Bett und sagte ärgerlich: »Hör< auf zu husten, ich kann nicht schlafen«. Ich versuchte, den Hustenreiz zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht. Auch dieses Ereignis hinterließ in mir einen nachhaltigen Eindruck. Es konditionierte mich darauf, mich schon bei der Vorstellung zu ducken, daß irgendein Geräusch von mir einen anderen aufregen könnte.
Und doch wußte ich, daß meine Mutter mich liebte. Sie redete mich mit zärtlichen Worten an und ließ sich auf meine eigenartigen Eßgewohnheiten ein. Da ich keine Milch mochte, belohnte sie mich mit Schokoladenwaffeln, wenn ich ein halbes Glas davon hinuntergewürgt hatte. Spinat, den ich - wie viele Kinder - nicht ausstehen konnte, wurde ein Hochgenuß, wenn sie ihn mit Erdbeeren dekorierte. Manchmal hing ich an ihrem Schürzenzipfel, manchmal entzog ich mich ihr. Meine Ambivalenz, die sie bemerkt haben mußte, machte sie diplomatisch: Sie kaufte mir Süßigkeiten als eine besondere Vergünstigung, wenn sie etwas von mir wollte. Sie hatte Gewichtsprobleme, gegen die sie bewußt anging. Eine ihrer Maßnahmen war eine Quelle größter Heiterkeit für uns Kinder. Eines Tages stellten wir mit Erstaunen fest, daß ein Ruderboot im Kinderzimmer installiert wurde. Mutter, spärlich bekleidet, kletterte hinein und ruderte von da an jeden Tag exakt 30 Minuten auf der Stelle. Meine Schwester und ich versuchten, ihr nachzueifern, aber wir stellten fest, daß es wesentlich lustiger war, sie zu beobachten, als es ihr nachzumachen. Auch die Medizin hat ihre zyklisch wiederkehrenden Moden. Etwa 70 Jahre nach der Ruderkur meiner Mutter in ihrem orthopädischen Boot sind diese Exerzitien wieder eine beliebte Methode, sich fit zu halten.
Das Bewegungsbedürfnis meiner Mutter beschränkte sich jedoch nicht nur auf das Haus. Sie erlegte sich lange Spaziergänge auf, und um sich diese ungeliebte Pflichtübung zu erleichtern, verlangte sie nach einer Begleitung. Ihre Wahl fiel auf mich. Ich muß wohl dagegen protestiert haben, gegen meinen Willen benutzt zu werden. Jedenfalls kaufte sie mir Sahnekuchen, um mich gefügig zu machen. Erst dann willigte ich ein, mit ihr zum Großen Wald zu marschieren, immerhin ein Weg von acht Kilometern. Der Spaziergang war lang und langweilig, die Straße staubig von den uns überholenden Frachtkarren und bedeckt mit Pferdemist. Aber die Ankunft war jedesmal ein Triumph. Unsere Wangen glühten nach dem langen Weg. Wir waren beide zu müde, um tiefer in den Wald hineinzugehen und ließen uns in einem nahe am Waldrand gelegenen Biergarten nieder. Ich aß meine Tortenstücke und trank Limonade, während meine Mutter sich mit Kaffee erfrischte. Da ich zu erschöpft war, um noch weiter herumzulaufen, verbrachte ich meine Zeit damit, den Klängen eines Musikautomaten zu lauschen. Meine Mutter versorgte mich mit Pfennigen, die ich in den riesigen, im viktorianischen Stil gehaltenen Apparat, aus dem die Schlager der Saison tönten, einwarf. Ich liebte den sentimentalen Rhythmus, und bis heute hege ich eine heimliche Liebe für Schlagermusik.
Die Rückkehr war für uns beide eine Qual. Ich war müde und mürrisch, meine Mutter zwar zufrieden mit der absolvierten Pflichtübung, aber schuldbewußt, weil sie mich so übermäßig beansprucht hatte.
Der Große Wald erstreckte sich etwa 80 Kilometer bis nach Marienwerder. Dort hatten wir Freunde, und an klaren Wintertagen kamen wir nach einer vierstündigen Schlittenfahrt, warm in Pelzdecken eingehüllt, bei ihnen an, um sie für ein paar Tage zu besuchen. Der Große Wald war Teil eines ausgedehnten Waldgebietes, das sich von der baltischen Senke nach West- und Ostpreußen erstreckte. Er öffnete mir die Augen für die Schönheiten der Natur, und ich lernte eine Menge über die Bäume und Tiere, die er in sich barg. An Sommertagen fuhr die ganze Familie in einer Kutsche in den Wald, um an einer abgelegenen Stelle zu picknicken. Der Duft des sonnendurchfluteten Waldes, die wilden Erdbeeren, die Rehe und Hasen waren für mich ein wirkliches Bilderbuch, das ich einem gemalten vorzog.
Aber die Wälder waren nicht die einzige Attraktion der äußeren Welt für mich. Auch der Fluß Liebe enthielt aufregende Versprechungen. Auf den Wiesen an seinen Ufern blühten Gänseblümchen, Butterblumen und Veilchen. Aber unser Interesse galt vor allem den Schmetterlingen: Kohlweißlinge, rote Admirale, Schildpatt-Falter und andere. Wir liefen ihnen nach, um sie mit unseren Schmetterlingsnetzen zu fangen. Manchmal suchten wir ein kleines Badehäuschen auf und zogen uns unbequeme Badekleider an, um in der Liebe zu schwimmen.
Zeit scheint in der Kindheit endlos zu sein, ihre »goldenen« Tage sollten nicht als Mythos belächelt werden. Kinder sind der Wirklichkeit nahe, nach der wir das ganze Leben lang suchen und die wir niemals erreichen. Es ist das Vorrecht des Kindes, jeden Eindruck auf eine neue Art und Weise zu gewinnen. Dies ist das Vorspiel zu einem Leben aus erster Hand - wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, alle Spontaneität zu unterdrücken.
Mir ist bewußt, daß Amors Pfeile ihr Ziel schon bei sehr jungen Menschen erreichen können, allerdings nicht so früh, wie es die Psychoanalytiker gerne hätten. Ich kann mich erinnern, daß ich mich das erste Mal im Alter von drei Jahren verliebte. Es geschah, als meine Mutter und ich Verwandte in einer Kleinstadt unweit Berlins besuchten. Man führte uns durch die Hintertür ins Haus, wobei wir einen großen Hof überqueren mußten. Dort sah ich einige Pfauen, sie schlugen Rad und präsentierten uns dabei ihre Federn in voller Pracht. In diesem Augenblick kam uns die 16jährige Cousine meiner Mutter aus dem Haus entgegen, die bei unserer Ankunft nicht am Bahnhof gewesen war. Sie ging lächelnd an den prächtigen Pfauen vorbei und begrüßte uns - ein liebenswürdiges schwarzhaariges Mädchen mit dunklen Augen in einem blassen, runden Gesicht. Sie hatte eine frauliche Figur, sah älter aus als sie war, und ihr kurzer Hals ließ sie kleiner erscheinen. Meine Erinnerung an diese Situation ist wie eine gestochen scharfe Momentaufnahme. Es war Liebe auf den ersten Blick. Die Gewalt eines neuen Gefühls traf mich wie ein Schlag. Ich erinnere mich nicht nur an ihr Gesicht, ihren Gang und ihr Lächeln, sondern an die gesamte Szenerie dieser Begegnung. Während unseres Besuches hatte ich nur Augen für sie. Ich brachte es immer fertig, bei Tisch neben ihr zu sitzen und schmiegte mich an sie. Nirgendwo wollte ich ohne sie hingehen, ich folgte ihr überallhin. Meiner ersten Liebe ging ein emotionales Ereignis voraus, das damals mein Verständnis überstieg. Ich war noch nicht ganz drei Jahre alt und lag ganz still in meinem Bett. Plötzlich fühlte ich in mir den Zwang aufzustehen. Ich stellte mich hin und berührte meinen Körper überall. Ein immenses Glücksgefühl, das ich kaum ertragen konnte, durchströmte mich, so daß ich tief und schnell atmen mußte. Heute betrachte ich dieses Erlebnis als einen Geburtsvorgang ohne die damit sonst verbundenen Qualen und Schmerzen. Es war die Geburt meines Selbst. Von diesem Augenblick an fühlte ich mich getrennt von meinem geliebten Vater und meiner mich manchmal beängstigenden Mutter. Ich war Ich, ich war das Zentrum meines Lebens. Das gab mir die Macht, mein Augenmerk auf all das zu richten, was ich sehen wollte. Es war die Geburt meiner Identität, und von da an reagierte ich auf äußere Eindrücke auf meine ganz eigene Art und Weise. Mein Bezugspunkt wurde dieses neugeborene Selbst.
Liebe ist inzwischen ein häufig mißbrauchtes Wort geworden. Sie hat zu viele Facetten, um eine klare Kontur zu besitzen. Für meine Eltern empfand ich eine emotionale Liebe, die mich mit Dankbarkeit für ihre Fürsorglichkeit erfüllte. Die Stärke dieser Liebe wurde mir bewußt, als ich im Alter von fünf Jahren an einer schweren Grippe erkrankte und eine ganze Weile das Bett hüten mußte. Meine Eltern wurden niemals müde, zu mir in das Krankenzimmer zu kommen und mich zu fragen: »Fühlst Du Dich jetzt ein wenig besser? Möchtest Du irgendetwas zum Spielen, etwas zu essen?« Ich kann mich nicht an meine Antworten erinnern, nur an ihre liebevollen Gesten und Worte. Als ich mich fast erholt hatte, überreichte mir mein Vater ein großes Päckchen, das mit der Post gekommen war. »Das ist für Dich«, sagte er. Ich war sehr aufgeregt, öffnete das Päckchen und fand ein Tweedkleid im Schottenmuster mit einem roten Gürtel. Meine Eltern hatten es aus Berlin bestellt, um meine Genesung zu feiern. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein so schönes Kleid gesehen, und ich war restlos begeistert. Ich trug es die ganzen nächsten Jahre und vergaß darüber meine Vorliebe für Jungenkleidung. Immer wieder bewunderte ich mich darin im Spiegel und stolzierte an meinen Eltern und Freunden vorbei wie ein Pfau. Ich hatte es zu einem Teil meines Selbst gemacht, und ich werde nie vergessen, wie wohl ich mich darin fühlte.
Meine Eltern verhätschelten, verwöhnten und beschützten ihre Kinder zu sehr. In ihrer Erziehung gab es keinen rechten Platz für Disziplin. Aber das hatte auch Vorteile: Es verlieh mir ein grundlegendes Vertrauen in andere Menschen und auch ein beträchtliches Selbstvertrauen. Andererseits kann ein verwöhntes Kind später im Leben große Enttäuschungen erleiden, wenn andere seine Gefühle nicht erwidern. Ich hatte die naive Vorstellung, daß alle Leute mich mochten. Viele Jahre später, während meines Aufenthaltes in Frankreich, sagte die Rote Emma (Goldmann) einmal zu mir, indem sie meine fehlgeleiteten Bedürfnisse auf den Punkt brachte: »Sie leben von Hoffnungen und Erwartungen«.
Ich hatte das Glück, in den Genuß der positiven Seiten des Kapitalismus in der friedlichen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu kommen. Unter einer toleranten Monarchie galt der individuelle Kampf ums Dasein als legitim, und kollektiv solidarisches Verhalten steckte noch in den Kinderschuhen. Die jüdischen Familien waren sich sicherlich nicht bewußt, daß ihre deutsche Staatsangehörigkeit niemals voll von den Nicht-Juden anerkannt werden und sie auch nicht für immer schützen würde. Sie verhielten sich wie andere Deutsche auch. An Kaisers Geburtstag stellte man Kerzen ins Fenster, und die jüdischen Häuser bildeten da keine Ausnahme. In der Weihnachtszeit hatten sie eine ebenso liebevoll dekorierte Tanne im Wohnzimmer stehen wie ihre christlichen Nachbarn. Weihnachtslieder wurden gesungen, Geschenke an die Lieben unter den Tannenbaum oder auf einen beigestellten Gabentisch gelegt. »Stille Nacht, Heilige Nacht« klang es aus unserem Haus wie aus allen anderen, und die aufgeregte Spannung stieg, bis es am Heiligen Abend endlich dunkel war und wir die Geschenke auspacken durften. Danach gab es das Festtagsessen: Weihnachtsgans mit Rotkohl und hinterher einen schweren Weihnachtspudding.
Ein anderes, denkwürdiges Ereignis waren die Besuche des Kaisers in den entlegenen preußischen Gegenden. Die Leute kamen von weither, um einen Blick auf ihn zu werfen, und so machten wir es gelegentlich auch. Wilhelm IL liebte die Jagd und kam häufig zum Gut des Grafen Finck von Finckenstein in der Nähe von Christburg. Wir fuhren die weite Strecke dorthin in unserem Landauer, um den Kaiser zu sehen und bei dieser Gelegenheit unsere Verwandten aus Saalfeld (Ostpreußen) zu treffen, eine sechsköpfige, sehr wohlhabende Familie. Mein Onkel Bernhard, Getreidehändler wie mein Vater, hatte geschäftlich wohl großen Erfolg. Tante Emma war eine anmutige, fröhliche Frau mit blauen Augen; sie gab in ihrer Familie den Ton an. Und meine beiden Cousinen, hübsch wie die Mutter, konnten ihren Vater um den Finger wickeln. Mein Onkel sah aus wie ein Boxer, schielte und sprach kaum ein Wort. Seine Söhne machten ihm keine besondere Freude, denn sie hatten seine körperliche Vitalität nicht geerbt. Man versicherte uns, er habe ein Herz aus Gold, aber den Beweis dafür blieb er mir schuldig. Tante Emma, die 90 Jahre alt wurde, gab hin und wieder einige Weisheiten von sich, über die sich meine Eltern lustig machten. Ich aber war sehr beeindruckt, besonders von ihrem Ausspruch: »Es zerkömmt sich alles«. Wie oft wünschte ich, sie möge recht haben: »Alles geht am Ende gut aus!«
Für uns Kinder war es immer ein ganz besonderer Festtag, in die Wälder um Christburg zu fahren, um unsere Verwandten anläßlich des kaiserlichen Besuches zu treffen. Nach einem Picknick im Wald fuhren wir zum Gut Finckenstein. Eingezäunt und von der Straße ein gutes Stück zurückgesetzt, lag der Jagdsitz des Grafen. Durch ein besonderes Hupen kündigte sich die Ankunft des kaiserlichen Wagens an, und bei diesem Klang begannen unsere Herzen höher zu schlagen. Die Leute reckten die Hälse und neigten sich nach vorn, um besser sehen zu können, wobei sie fast die Hecke niedertrampelten. Da war er! Man sah nur einen glitzernden Helm und einen schwarzen Schnurrbart. Er nahm die Hurra-Rufe seiner Untertanen lächelnd und mit einem leichten, würdevollen Winken entgegen, und jeder hatte seinen kleinen großen Augenblick der Ekstase. Danach fuhren wir nach Hause, erschöpft aber freudig erregt über unseren flüchtigen Blick auf den Herrscher.
Solange ich klein war, habe ich nie jemanden sterben sehen, aber ich erfuhr, was es heißt, lebendig begraben zu sein. Zwei Tanten meines Vaters, die einzigen unverheirateten jüdischen Frauen, die ich kannte, lebten in einem alten, feuchten Haus nicht weit von uns. Ich brachte ihnen oft etwas zu essen oder Geschenke von meinen Eltern. Um zu ihnen zu kommen, mußte man einen übelriechenden Weg entlanggehen. Diese unangenehme Begleiterscheinung verstärkte den Eindruck, daß sich die beiden Frauen bereits jenseits des Lebens befanden. Sie trugen immer Schwarz, hatten weiße Gesichter, erschreckte Augen und gestikulierten wild mit ihren dünnen Händen. Sie schwatzten ohne Unterlaß über Trivialitäten. Diese Vogelscheuchen im Garten meiner Kindheit waren Menschen mit dem ungeheuren Mut, den äußeren Schein aufrechtzuerhalten, ohne die finanziellen Mittel dazu zu besitzen. Sie erschreckten und faszinierten mich zugleich, denn es waren gute Menschen, die man wie Ausgestoßene behandelte. Sie hatten das Ende ihres Lebens erreicht, ohne jemals gelebt zu haben. Als wir später einmal in den Ferien nach Riesenburg kamen, wurden Thea und ich nicht mehr dazu angehalten, sie zu besuchen, sondern erfuhren, daß sie gestorben waren.
Der Tod war kein Thema für Unterhaltungen, doch wurde er wie ein Fest gefeiert. Ich konnte nicht begreifen, warum meine Mutter und ihre Brüder so fröhlich waren, nachdem wir gerade gesehen hatten, wie ihre Mutter auf dem jüdischen Friedhof begraben worden war. Speisen und Getränke gab es so gut und reichlich wie bei einer Hochzeitsfeier. Die lebhafte Gemeinde hätte genausogut tanzen können, anstatt sich über »sie« zu unterhalten und darüber, wieviel »sie« allen bedeutet hatte. Ich konnte diese vergnügte Heiterkeit ebensowenig begreifen wie die Tatsache, daß sich die Gespräche ständig ums Geld drehten. Meine Großmutter war immer gut zu mir gewesen, und ich wünschte mir, daß sie noch am Leben wäre.
Das Tabu des Todes ist das Gegenstück zum kapitalistischen Tabu. Man sprach auch nicht von seinem »Kapital«, man hielt seine finanzielle Situation geheim wie eine außereheliche Liebesaffäre. Und doch hatten die zärtlichsten Ausdrücke in jüdischen Familien kapitalistische Nebentöne. Meine Eltern nannten mich »Goldchen«, wenn sie besonders zärtlich zu mir waren. Doch obwohl Geld ihnen ebensoviel bedeutete wie allen Kapitalisten, hatten Gesundheit und Ausbildung ihrer Kinder Priorität - auch auf Kosten finanzieller Opfer. Meine Eltern wollten, daß wir eine gute Figur und eine gute Ausbildung bekamen. »Es kann sein, daß ihr auf eigenen Füßen stehen müßt«, sagten sie zu uns. Und so wurden wir zu Tante Auguste nach Danzig in »Pension« gegeben, als meine Schwester zwölf und ich neun Jahre alt war.
Es scheint merkwürdig, daß ich mir meiner Schwester zu Hause wenig bewußt war; sie wurde für mich erst wichtig, als wir zusammen in eine neue Umgebung verpflanzt wurden. Ich machte eine zweite Trennung durch von Menschen, die ich liebte. Die erste, verdrängt und vergessen, war die Trennung von meiner polnischen Amme, die zweite kam jetzt: Trennung von meinen Eltern und ihrer Welt, die auch die meine gewesen war. Jetzt nahm ich meine Schwester wahr. Sie war hübsch und hatte die gleiche Himmelfahrts-Nase wie meine Mutter, braune Locken und vergißmeinnichtblaue Augen. Auch bemerkte ich, daß Tante Augustes Sohn, ein 18jähriger Lümmel, ein Auge auf sie geworfen hatte, mich aber keines Blickes würdigte. Ich war sehr froh darum, denn seine klobige Gestalt und die riesigen, schielenden Augen erschreckten mich. Das gleiche galt für die eingedrückte Boxernase in seinem fleischigen Gesicht. Ich sah von ihm weg und meine Tante an, als ob ich bei ihr Zuflucht suchte, und bald begann ich, sehr an ihr zu hängen. Sie war eine bildschöne Jüdin des sephardischen Typs. Schon früh war sie Witwe geworden; sie litt unter der Meniereschen Krankheit, zu der möglicherweise der Verlust ihres geliebten Mannes beigetragen hatte. Bald nach seinem Tod war sie fast taub geworden und entwickelte eine große Geschicklichkeit darin, von den Lippen zu lesen; manchmal benutzte sie auch ein Hörrohr in Form einer Trompete. Ich fühlte mich sehr zu ihr hingezogen. Wahrscheinlich hatte ich Heimweh und war verwirrt von der neuen Umgebung, jedenfalls wanderte ich nachts oft in einem tranceähnlichen Zustand in ihr Schlafzimmer. Dann öffnete sie wortlos die Arme, und ich schlief an ihrem Busen ein. Sie hielt es für vernünftig, mich wegen meiner nächtlichen Ruhelosigkeit und meinem Herzklopfen einem berühmten Arzt vorzustellen. Dieser versicherte ihr, ich sei körperlich gesund, und erklärte meine Beschwerden mit akuter Nervosität.
Ich war in Riesenburg drei Jahre zur Schule gegangen, bevor ich mein Leben in Danzig begann. Der erste Schultag wurde fast so gefeiert wie mein Geburtstag. Die neuen Schüler wurden einzeln photographiert, und man machte viel Aufhebens um sie. Ich war sehr gespannt darauf, zur Schule zu gehen und meinen Lehrern zu gefallen. Ich wurde eine gute Schülerin, allerdings niemals die Erste, sondern immer die Zweite in der Klasse. Vielleicht ahnte ich schon in diesem Alter die Nachteile, die es mit sich bringt, Erste zu sein. Wer an zweiter Stelle steht, verspricht immer, noch Besseres leisten zu können.
Mir war nicht bewußt, wie sehr mich das Verlassen meines Elternhauses traf, doch meine Wurzeln waren in Riesenburg. Obwohl ich mich mit der Zeit an die große Stadt Danzig und meine neue Umgebung gewöhnte, sehnte ich mich stets nach den Ferien, in denen meine Schwester und ich zu unseren Eltern nach Hause fuhren. Ich kannte jede Bahnstation, durch die der Zug fuhr, wo er hielt und wo wir umsteigen mußten. Jedesmal, wenn wir kurz vor Dirschau waren, stand ich auf und betrachtete die große Brücke über die Weichsel, mit ihren massiven Stahlträgern an jeder Seite. Nach der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles im Jahre 1918 wurde Dirschau ein bedeutender Umsteigebahnhof, Ausgangspunkt des Polnischen Korridors. Jeder Zug wurde hier angehalten, und alle Passagiere mußten aussteigen. Einige Züge wurden von dort aus zu den ostpreußischen Städten weitergeleitet, etwa nach Königsberg oder Memel, andere nach Marienburg. Aber in meiner Kindheit war Dirschau eine ganz normale Bahnstation, und unser Zug hielt hier nicht, sondern fuhr geradewegs nach Marienburg. Dort mußten wir umsteigen und auf einer Nebenstrecke weiter in Richtung polnische Grenze fahren. Nach längerer Zeit erreichten wir endlich unser Ziel. Der Zug war durch ein ausgedehntes Ackerland gefahren, und einige Stationen hatten polnische Namen. Heute erscheint es mir seltsam, daß wir sie passierten als existierten sie gar nicht, aber ich erinnere mich, daß ich die eintönigen, grauen Häuser und vernachlässigten Gärten nahe der Bahnstation traurig betrachtete. Die Menschen, die hier leben mußten, konnten unmöglich wie wir sein, dachte ich. Deutschland war für mich das Herzstück der Welt, und andere Länder und Völker konnte man nur bedauern. Wie früh sich doch ein solch unangebrachter Nationalismus gefühlsmäßig ausdrückt! Kindliche Unschuld weiß es nicht besser. Die kleine Welt eines Kindes erscheint ihm wie die gesamte Welt, fremde Länder und Menschen existieren kaum. Nationalismus ist ihm so natürlich, wie er bei einem Erwachsenen kindisch ist.
Abgesehen von Netty hatte ich in der Höheren Töchterschule meiner Heimatstadt keine wirklichen Freunde gefunden, aber während der Ferien gewann ich einige Spielgefährten. Dazu gehörten Lieschen Senkbeil und einige Jungen, die so alt waren wie ich oder sogar älter. Der liebste von ihnen war mir Arthur, ein großer, schlaksiger Junge mit einer langen jüdischen Nase und einem ausgeprägten Sinn für Humor. Aber die Hauptattraktion an ihm war, daß er uns Zugang zu verbotenen Früchten in Form von Zigaretten verschaffen konnte. Sein Vater besaß einen Tabakladen am Großen Markt, und Arthur gelang es, hier und da ein paar Päckchen mitgehen zu lassen. Mit dieser Beute in der Hand begaben wir uns zu einem geheimen Ort, um dort unserem »Laster« gemeinsam mit drei oder vier »sicheren« Gefährten zu frönen. Meistens setzten wir uns hinter eine große Scheune am Rande der Stadt und rauchten in gespielter Tapferkeit und aufregend-ängstlicher Geheimnistuerei. Das Abenteuer band uns aneinander, denn wir bildeten eine Art Geheimbund. Seine Mitglieder mußten Karamelbonbons und Schokolade abliefern, die wir nach dem Rauchen aßen, um unsere »Sünden« den Eltern nicht preiszugeben. Während wir diese kleinen Betrügereien geheimhalten konnten, kamen wir bei einem anderen Abenteuer nicht so leicht davon.
Es verlockte uns, auch sexuelle Spiele auszuprobieren, und vier von uns ergriffen die Gelegenheit für ein solches Experiment, als Arthurs Eltern in die Ferien gefahren waren. Auf Zehenspitzen schlichen wir in ihr Schlafzimmer und sprangen in das Doppelbett. Wir zogen uns halb aus, behielten aber unsere Unterwäsche an. Wir dachten, das Richtige wäre jetzt, sich anzufassen, aber wir waren verlegen und wußten nicht, wie und wo wir damit anfangen sollten. Das Ganze war eine Übung im Fummeln, mit leisen Gesprächen und viel Gekicher. Es passierte am hellichten Tag, während in dem Geschäft unter uns die Kunden bedient wurden. Wir fühlten uns ganz sicher, weil die Verkäuferin unten beschäftigt war, aber sie muß uns doch gehört haben. Urplötzlich kam sie die Treppe herauf und jagte uns aus den Betten, wobei sie gräßlich fluchte und drohte, unseren Eltern zu erzählen, wie schrecklich wir uns benommen hatten. Glücklicherweise waren wir nicht nackt und kamen so leicht aus dem Haus. Ich weiß nicht, wie es Arthur mit seinen Eltern erging, meine haben unser Geheimnis nie erfahren. Für mich war damit alles in Ordnung. Aber nachdem wir durch diese Entdeckung einen Dämpfer erhalten hatten, gehörten unsere Sexspiele ein für allemal der Vergangenheit an. Ich bedauerte es nicht, mir hatte das Rauchen ohnehin besser gefallen.
Die Reisen zwischen Danzig und Riesenburg und die Ferien mit Eltern und Freunden wurden zu einem Lebensrhythmus, den ich mir nicht wegdenken konnte. Der wichtigste Grund, warum meine Eltern mich und meine Schwester nach Danzig schickten, war unsere Gesundheit. Wir hatten beide eine Wirbelsäulenverkrümmung, die nach Angaben unseres Hausarztes durch eine orthopädische Behandlung korrigiert werden konnte. Meine Eltern stellten uns in Danzig einem orthopädischen Spezialisten vor, Dr. Wolff, der uns zu einer Behandlung in seinem Institut riet, und meine Eltern stimmten zu. Es war keine Zeit zu verlieren. Wir begannen sofort mit den Übungen an orthopädischen Apparaten, die zu dem Zweck konstruiert worden waren, daß man darauf lernen sollte, seinen Körper wieder richtig zu gebrauchen. Einer davon war eine Art Fahrrad. Wir wurden auf dem Sitz festgebunden und sollten Kopf und Rücken aufrecht halten. Dann radelten wir auf der Stelle, während unsere Arme sich entlang zweier Holzbretter auf und ab bewegen mußten, die am Rückenteil unseres Sitzes befestigt waren. Und mitten zwischen anderen Apparaten entdeckten wir Mutters Ruderboot! Die genial konstruierten Maschinen sahen zum Fürchten aus, aber sie erfüllten ihren Zweck: mangelhaft ausgebildete Muskelpartien zu kräftigen, Wirbelsäulenverkrümmungen zu korrigieren und den ganzen Organismus zu beleben. Die Tretmaschine war dafür ein gutes Beispiel. Man mußte sich darauf konzentrieren, jeweils nur mit einem Fuß zu arbeiten. Beide Füße waren mit Lederriemen an ein schweres Eisenpedal gebunden, und es war keine leichte Aufgabe, sie hinunterzudrücken. Dr. Wolffs Institut war stadtbekannt und hatte einen ausgezeichneten Ruf. Ausgebildete Krankenschwestern leiteten uns an und beobachteten das Training, und nach einer Stunde Übungen wurde jeder Patient mit einer 20minütigen Massage belohnt, die zugleich Behandlung wie Entspannung bedeutete.
Wir gingen vormittags von acht bis ein Uhr in die Schule und fuhren dann mit der Straßenbahn zum Mittagessen nach Hause. Nach dem Essen machten wir uns auf den Weg zum Orthopädischen Institut. Es lag zufällig in derselben Straße, dem Poggenpfuhl, wie unsere Schule. Das war ein gutes Stück von der Pfefferstadt entfernt, wo meine Tante eine Fünfzimmer-Wohnung hatte. Spät am Nachmittag kamen wir zurück, und bis zum Abendessen machten wir unsere Hausaufgaben. Das war ein ausgefülltes und anstrengendes Leben, und es blieb uns nicht viel Zeit für Spiele und andere Vergnügungen.
Scherlers Höhere Töchterschule hatte den Ruf, eine gründliche Vorbereitung für eine höhere Ausbildung zu liefern. Waren meine sehnsüchtigen Erinnerungen an Riesenburg und die Schwierigkeiten der Umgewöhnung daran schuld, daß weder Lehrer noch Schüler in meinem Gedächtnis eine Spur hinterlassen haben? Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß ich eifrig darauf bedacht war, alles zu lernen, was ich nur konnte, denn ich wollte später auf die Viktoria Schule gehen, ein Realgymnasium für Mädchen. Ich hatte mich innerlich darauf eingestellt, später einmal zu studieren.
Unsere täglichen Straßenbahnfahrten führten uns durch sehr schöne Stadtteile von Danzig. Jeden Morgen um 7.30 Uhr bestiegen meine Schwester und ich die Straßenbahn am Hauptbahnhof, fuhren den Stadtgraben entlang, überquerten den alten Holz- und Kohlenmarkt, und weiter ging es entlang der eleganten Langgasse, die am Rathaus mit seinem außergewöhnlich schönen Turm endete. Dieser Turm war das erlesenste Beispiel mittelalterlicher Architektur dieser Art. Am Rathaus stiegen wir aus und gingen zu Fuß weiter durch die enge Töpfergasse bis zu unserer Schule im Poggenpfuhl. Und um 14.30 ging die Reise dann den gleichen Weg wieder zurück. Doch damals beeindruckte mich Danzigs Schönheit noch nicht besonders. Sie wurde mir erst viel später bewußt.
Der einzige Bruder meines Vaters bewohnte ein altes Patrizierhaus in der Frauengasse, die überall in Deutschland wegen ihrer einzigartigen Architektur bekannt war. Die Frauengasse lag im Schatten der mächtigen Marienkirche, einem hervorragenden Beispiel gotischer Architektur, das ein eindrucksvolles Monument und zugleich ein Ort der Anbetung war. Ihr kostbarster Besitz war das »Jüngste Gericht« von Hans Memling. Diese größte protestantische Kirche der Welt bedrückte mich, so wie mich hohe Berge immer bedrückt haben, solange ich mich erinnern kann. Aber das Haus meines Onkels zog mich schon an, bevor ich um seine besondere Bedeutung wußte. Über der Veranda konnte man lesen, daß es 1632 erbaut worden war. Eine schwere Tür mit Holzschnitzereien gab den Weg frei zur Eingangshalle, mit der Treppe an einer Seite und dem Comptoir - den Geschäftsräumen meines Onkels - auf der anderen. Wir Kinder durften diesen Tempel des Mammon nicht betreten. Er befand sich am Ende eines langen, dunklen Korridors, der mich ebenso mit einer Art Ehrfurcht erfüllte wie die langen, schmalen Räume mit ihren hohen Decken. Die erste Etage war die größte, dort wohnten die Jungen aus Saalfeld. Mein Onkel hatte sie aufgenommen, um ihrer Mutter, seiner Lieblingsschwester, einen Gefallen zu tun und ihnen eine gute Ausbildung zukommen zu lassen.
Samstags und sonntags besuchten meine Schwester und ich die Jungen, die etwa in unserem Alter waren. Unsere Verwandten meinten wohl, daß wir die geeignete Gesellschaft füreinander wären. Stundenlang saßen wir in ihrem großen Zimmer und fühlten uns ungemütlich, denn wir konnten wenig miteinander anfangen. Ich kann mich erinnern, daß unsere Stimmung sich immer schlagartig aufhellte, wenn die Erwachsenen sich zu uns gesellten und wir eine Laterna magica-Vorführung miterlebten, in der sich die Bilder auf wundersame Weise bewegten; ein Vorgang, der unser Begriffsvermögen überstieg. Das waren die ersten bewegten Bilder, die wir jemals zu sehen bekamen.
Unsere aufgezwungenen Besuche wurden regelmäßig von unseren Cousins in der Wohnung unserer Tante in der Pfefferstadt erwidert; diese ungeliebten Zusammenkünfte hielten uns davon ab, mit irgendwelchen anderen Leuten Kontakt aufzunehmen. Doch die Langeweile verschwand, wenn wir vier die Straßenbahn nach Langfuhr bestiegen, um die jüngste Schwester meines Vaters und ihre Familie zu besuchen. Ihr Mann war ein Beamter mit allen Kennzeichen und Eigenarten eines dekadenten deutschen Staatsdieners der damaligen Zeit. Er trug den entsprechenden Anzug und Stehkragen seiner Klasse, ein Kneifer balancierte auf seiner Nase, und zu allem Überdruß hatte er auch noch einen Mittelscheitel. Meine Tante war hübsch, hatte aber einen Buckel. Aus ihren lebhaften Augen betrachtete sie ihren Mann mit Zurückhaltung und ihre Kinder voller Hingabe. Ihr Sohn, Cousin Leo, hätte ein Findelkind sein können. Er schien weder in seiner Erscheinung, noch in seinem Charakter irgend etwas von seinen Eltern geerbt zu haben. Er hatte eine zarte und gespannte Gesichtshaut, und seine braunen Augen sahen eher von den Menschen weg, als sie anzusehen. Seine »musikalische Nase« war scharf und feingeschnitten, und schon von frühester Kindheit zeigte sich sein musisches Talent. Er wurde ein Schüler Joseph Joachims, eines der besten Violinisten im damaligen Deutschland. Was das Temperament anging, waren wir uns sehr ähnlich, und so schlossen wir enge Freundschaft. Seine Schwester wiederum kam mit der meinen gut zurecht, und beide Mädchen hatten einen besseren Kontakt zu den Saalfeld-Jungen als Leo und ich.
Langfuhr, ein hübscher Vorort von Danzig, hatte einen Wald vor seiner »Haustür«, durch den wir sechs entweder als Gruppe oder paarweise spazierengingen oder herumrannten. Besondere Ereignisse auf diesen Spaziergängen sind mir nicht in Erinnerung geblieben, außer daß die Erwachsenen unser Kommen und Gehen nicht kontrollierten. Wir waren entweder zu jung oder zu unschuldig, um diese Freiheit auszunutzen. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben das Bedürfnis, sich in Gruppen zusammenzuschließen und einen oder zwei Menschen für eine enge Freundschaft auszuwählen. Ich war bis zum Alter von 13 Jahren keine Ausnahme von dieser Regel. Von da an brauchte ich das Alleinsein, ein Bedürfnis, das mit den Jahren zunahm.
Meine Zeit bei Tante Auguste und die Ferien in Riesenburg gingen zu Ende, als meine Eltern Haus und Geschäft verkauften, um nach Danzig zu ziehen. Sie waren immer noch jung, mein Vater gerade über 40, meine Mutter zehn Jahre jünger. Schon von Kind an war es der Wunsch meines Vaters gewesen, eine kurze Zeit lang hart zu arbeiten und genug Geld zu verdienen, um in Danzig von seinen Dividenden zu leben. Er stellte sich ein Leben in Muße als erstrebenswerte Existenz vor, und es kam ihm niemals die Idee, er könnte in ein langweiliges Leben hineingeraten. Das aber ging meiner Mutter durch den Sinn, die diesem folgenreichen Schritt nur unter der Bedingung zustimmte, daß er dem Großhandelsgeschäft ihres Bruders in Danzig beitrat. Er kam ihrer Bitte nach, hoffte aber auf eine stille Teilhaberschaft, die ihm Zeit genug lassen würde für die Vergnügungen, die eine solche Stadt zu bieten hatte. In seinem Innersten war er kein Kapitalist, sondern ein Träumer auf der Flucht vor der Realität. Von allen Menschen sind die eigenen Eltern am schwierigsten zu verstehen aufgrund der Tatsache, daß ihr Sexualleben tabu ist, und die Kinder ihre Eltern nicht als körperliche Wesen betrachten, sondern als ältere Leute, von denen sie geliebt und beschützt werden. In meiner frühen Jugend habe ich sie nie kritisiert. Mein Vater hatte gearbeitet, um jetzt die Freizeit genießen zu können, meine Mutter - niemals zufrieden mit dem, was sie hatte - verlangte nach immer mehr materiellen Gütern. Sie hatte eine »Sisyphus«-Mentalität, und er war ein Romantiker. Beide aber waren Menschen mit ehernen Prinzipien. »Ehrlich währt am längsten« und »Tue recht und scheue niemand« waren ihre beliebtesten Redensarten.
Solche ehernen Regeln gab man niemals preis, wie ein unvergeßliches Ereignis mich lehrte, als ich ungefähr vier Jahre alt war. Unser Dienstmädchen hatte mich und meine Schwester auf einen Spaziergang rund um den Großen Markt mitgenommen. Plötzlich blieb ich immer weiter zurück, denn ein großes Faß voll Plätzchen mit rosa Zuckerguß zog mich magisch an. Ich konnte nicht widerstehen, und nahm eines mit. Das Dienstmädchen hatte es nicht gesehen; sie ging mit meiner Schwester weiter, ohne auf mich zu achten. Ich hielt das Plätzchen einige Sekunden in meiner Hand - dann legte ich es zurück. Niemand wußte von dem Konflikt, den ich erlebt hatte, und von meiner Erleichterung, der Versuchung widerstanden zu haben. Es muß mich einen schweren inneren Kampf gekostet haben, denn ich kann noch heute vor meinem geistigen Auge meine verstohlene Handlung und die Stelle, wo das Ganze geschah, erstehen lassen. Der moralische Kodex meiner Eltern war mir Befehl.
Die Trennung von meinen Eltern und das Zusammensein mit ihnen in den Ferien hatte unsere gegenseitige Zuneigung verstärkt. Zwischen meinem neunten und 13. Lebensjahr barg mein Leben alle Elemente, um aufregend und erfüllt zu sein: die Chance einer höheren Ausbildung, die erfolgreiche Behandlung meines Wirbelsäulenschadens und insgesamt eine gute Gesundheit. Wenn die Kinder wissen, daß sie alles für ihre Eltern bedeuten, unterdrücken sie Widersprüche und Kritik. Und ich befand mich mit den meinen in perfekter Harmonie. Die Ferien wurden gefeiert wie ein großes Fest, alte und neue Freunde kamen zu uns, spielten und unterhielten sich mit uns. Meine Eltern waren so froh, uns zu Hause zu haben, daß sie es uns besonders schön machten: Sie fuhren mit uns nach Christburg oder Salfeld, zum Großen Wald oder zu Freunden, den Rosens, die im nahegelegenen Rosenberg wohnten.
Um nach Saalfeld zu gelangen, mußten wir sieben oder acht Stunden mit dem Landauer fahren, was bedeutete, daß wir dort übernachten mußten. Meine Verwandten faszinierten mich. Sie lebten in einer von einem großen Garten umgebenen Villa; auf der Rückseite befand sich ein Obstgarten, und vor dem Haus hatten sie Blumenbeete angelegt. Meine hübschen Cousinen beeindruckten mich mit ihren schönen Kleidern und den sportlichen Leistungen, die sie vorweisen konnten. Die Erwachsenen sprachen übers Essen und ihre Geschäfte, wir Kinder redeten über die Schule, spielten Tischtennis und gingen spazieren oder schwimmen. Eine Sägemühle in der Nähe war unser beliebtes »Jagdrevier« für Versteckspiele mit den Söhnen des Besitzers. Der Duft von frisch gesägtem Holz hat eine belebende Wirkung. In der Nähe der Sägemühle hob sich meine Stimmung, und ich fühlte mich kräftiger, und noch heute erinnere ich mich sehnsüchtig an den Duft von frischgeschnittenem Holz.
Nach Rosenberg zu fahren, bedeutete dagegen für uns nur einen Tagesausflug. Die Rosens hatten ein Geschäft am Marktplatz. Ihr einziges Kind, Günther, war so alt wie ich und mein besonderer Freund. Die wenigen Stunden, die wir mit seiner Familie verbrachten, saßen wir meist bei einer guten Mahlzeit und unterhielten uns. Anschließend wurde Karten gespielt, im allgemeinen Poker, aber um uns Kindern einen Gefallen zu tun, gaben die Erwachsenen schon einmal nach, und wir spielten »Gottessegen bei Cohn«, ein stupides Glücksspiel. Aus mir hätte ein leidenschaftlicher Spieler werden können, denn mein Interesse am Spiel war vor allem: zu gewinnen.
Diese fröhlichen Ausflüge hatten ein Ende, als meine Eltern von Riesenburg nach Danzig umgezogen waren. Ich brauchte nicht lange, um zu merken, daß der Verlust meiner Heimatstadt größer war als der Gewinn durch unser neuerliches Zusammenwohnen. Der erste Schauplatz meines Lebens, wesentlich verbunden mit einem idealisierten Bild meiner Eltern und einer glücklichen Kindheit, war unwiederbringlich dahin. Die Eindrücke und Erfahrungen in meiner Geburtsstadt hatten mein Leben ausgemacht. Vom eigenen Ursprung entwurzelt zu werden, bedeutet einen Schock, dessen Auswirkungen sich sofort zeigen können, aber in der Regel durch Umstände verzögert werden, die einem eigenen Zeitplan folgen.
In der Welt unserer kleinen Stadt konnte ich überall allein hingehen - auf die großen Straßen ebenso wie in die kleinen Seitenwege mit ihrem Gestank nach Abfall und Kloake. Meinem Bedürfnis, das Leben um mich herum zu erfahren, waren keine Grenzen gesetzt. Und es gab einen besonderen Tag in der Woche, auf den man sich freuen konnte - den Sabbat, der von meinen Eltern begangen wurde. Freitags abends stellte meine Mutter zwei Silberleuchter auf den Tisch; es gab besonders gutes und reichliches Essen und hinterher ein kleines Glas Portwein. Obwohl wir uns an diesen jüdischen Brauch hielten, betrachteten wir uns als Deutsche und Deutschland als unser Heimatland. Erst nach einem Besuch in Paris, als ich etwas über zwanzig war, bekam ich eine dunkle Ahnung, daß andere Menschen, andere Länder, nicht nur erheblich verschieden von meinem Geburtsland, sondern auch um einiges zivilisierter sein konnten.
Ich war ein kluges Kind, vielleicht bei weitem zu klug, doch es tat mir nicht besonders gut, daß mein Vater mich seinen Freunden als Wunderkind vorführte. Zu jener Zeit betrachteten Eltern ihre Kinder als kleine Erwachsene. Die Psychologie hatte sich im Denken der Öffentlichkeit noch nicht durchgesetzt. Nur die intellektuelle Avantgarde in Österreich, Deutschland und vielleicht in Amerika kannte so einen merkwürdigen Menschen wie Sigmund Freud. Meine Eltern hatten jedenfalls noch nie von ihm gehört. Und vielleicht hätte es auch keinen Unterschied gemacht, wenn sie von der Psychoanalyse gewußt hätten. Das Etikett eines klugen Kindes haftete mir so oder so an. Sicherlich führte das dazu, daß aus mir ein ehrgeiziger Mensch wurde, der dazu neigte, Ziele anzustreben, die außerhalb seiner Reichweite lagen.
Meine Eltern paßten eigentlich nicht zusammen. Sie unterschieden sich ganz wesentlich in allem, vom Aussehen bis zur Weltanschauung. Aber bevor sie nach Danzig umzogen, hatte die Unvereinbarkeit ihrer Charaktere keinen Einfluß auf mich. Sie waren wohlhabend genug, um ihren Kindern allen Komfort zu bieten, den wir uns nur wünschen konnten. Die Familie meines Vaters hatte ein mediterranes Aussehen und gehörte wahrscheinlich der sephardischen Linie der Juden an. Die Familie meiner Mutter, blond und zu Übergewicht neigend, kam ursprünglich aus Polen. Die beiden »Stämme« unterschieden sich wie Feuer und Wasser. Seit den entsetzlichen 30er Jahren ist mir bewußt geworden, daß Juden eine Rasse sind. Ich erkenne einen Juden, gleichgültig aus welchem Land er kommen mag. Meine Mutter, blond, blauäugig, mollig, mit ihrer Himmelfahrtsnase, konnte man auf den ersten Blick für eine typisch deutsche Hausfrau halten, aber Körperhaltung und Ausdruck waren jüdisch. Mein Vater mit seinen dunklen Augen, dunklem Haar und einem Bauch sah aus wie eine Mischung zwischen einem spanischen und einem deutschen Juden. Die Unbestimmtheit seiner Erscheinung galt auch für seinen Charakter. Man konnte ihn nicht durchschauen; schnell ging er auf jeden Vorschlag ein, mit einer Mischung aus Freundlichkeit und dem Wunsch zu gefallen. Doch seine Mutter und zwei seiner Schwestern hätten aus Goyas Bildern stammen können. Sie waren schöne, virile Frauen.
Die lange Zeit der Akklimatisierung an ihre Gastländer hinterließ bei den Juden der verschiedenen Ursprungsländer ihre Spuren und beeinflußte ihre Erscheinung und ihre Handlungen. Sie bewirkte, daß einige Juden unjüdisch aussahen und sich auch so verhielten. Mein Onkel, der Beamte, den ich schon erwähnte, war hierfür ein treffendes Beispiel. Er sah aus wie ein altmodischer Deutscher und benahm sich auch so. Und doch war er ein bemerkenswertes Mitglied seiner Rasse. Als er in Auschwitz interniert wurde, zeigte er sich außerordentlich mutig und war seinen Mitgefangenen im Konzentrationslager Trost und Hilfe.
Mein Vater hatte eine Schwäche für schöne Dinge, für Bildung und Reisen und betrachtete Geld vor allem als Mittel zum Zweck. Meine Mutter dagegen bewunderte gebildete Leute und fühlte sich wahrscheinlich von Anfang an in ihrer Ehe frustriert, denn ihre erste Liebe war einer ihrer intellektuellen Cousins gewesen, ein Medizin-Professor. Ihre ursprüngliche Natur war möglicherweise recht verschieden von der Person, die sie später wurde. Sie machte einen depressiven Eindruck und lebte ständig in Angst, besonders nachdem ihre beiden Brüder während des Ersten Weltkrieges Selbstmord begangen hatten. Kein Wunder, daß sie von ihrer Erscheinung her als ein in sich zurückgezogener Mensch wirkte und nur sehr selten ihre Zuneigung für uns Kinder nach außen zeigte. Ihre ewigen Sorgen, das Geld könnte nicht reichen, ließ sie gierig darauf bedacht sein, mehr und mehr anzuhäufen. Sie konnte niemals ausruhen und wollte auch nicht, daß mein Vater sein Leben »vertrödelte«. Beständig trieb sie ihn zur Geschäftigkeit an und dazu, sein Ansehen zu verbessern. Während er sich nicht darum scherte, ob andere Mitglieder der Familie erfolgreicher waren als er, haßte sie es, die ärmere Verwandte zu sein. Der jüngere Bruder meines Vaters war ein reicher Mann geworden, und das verübelte meine Mutter ihm gründlich.
Im März 1913 zogen meine Eltern nach Danzig und mieteten eine Sechszimmerwohnung in der Fleischergasse 60. Mein Herz hüpfte vor Freude. Wie wenig wußte ich damals über den unwiederbringlichen Verlust, den die endgültige Trennung von meiner früheren Heimat bedeutete! Ungefähr zur selben Zeit gab es eine weitere Veränderung für mich. Ich wurde in der Viktoria Schule angemeldet, die für ihren hohen Ausbildungsstandard bekannt war. Ihr abstoßendes Äußeres ging zurück auf das frühe 19. Jahrhundert, als öffentliche Gebäude wie eine Mischung aus Kirche und Arbeitshaus aussahen. Aber der Innenhof, auf dem die Schüler während der großen Pause ihr Frühstück verzehrten, war hell und freundlich; umso düsterer sahen die Klassenräume aus. Mein neuer Wohnsitz in der Fleischergasse war nur ein Steinwurf von der Schule entfernt. Alles paßte gut zusammen, und es schien vorherbestimmt zu sein, daß ich zur gleichen Zeit, als meine Eltern ihren Wohnsitz änderten, Schülerin des berühmten Gymnasiums wurde.
Die Würfel waren gefallen, und alles sah so aus, als wären mir die Sterne wohlgesonnen. Doch das stimmte nur zum Teil. So gut es mir in der Schule ging, zu Hause fühlte ich mich mehr und mehr unwohl. Ich vermißte Riesenburg schrecklich. Wir verbrachten jetzt alle Sommerferien in Bad Flinsberg in Schlesien. Das waren gesunde und aufregende Ferien, aber die Lücke, die Riesenburg hinterließ, konnte durch nichts gefüllt werden. Flinsberg war ein bekannter Kurort; er lag in 600 Meter Höhe nahe der böhmischen Grenze. Die Stadt war umgeben von Kiefernwäldern, die die Luft mit ihrem Duft tränkten. Die meisten Kurgäste, wir eingeschlossen, wohnten dort in Villen inmitten undurchdringlicher Gärten. Vermietet wurden sie von älteren Damen, die damit ihr schmales Einkommen aufbesserten. Jeden Morgen gingen wir den leicht ansteigenden Kurpark hinauf und spazierten die überdachten Kolonaden auf und ab, wobei wir durch einen Strohhalm Wasser aus der berühmten Flinsbergquelle tranken. Dieses Wasser wurde empfohlen als Heilmittel gegen Rheumatismus, Anämie, Leberschäden und andere Beschwerden. Um die »Kur« abzurunden, nahmen wir zweimal in der Woche ein Fichtennadelbad. Diese wohlduftende Vergnügen half vielleicht nicht, aber auf alle Fälle erhöhte es unsere Lebensfreude. Meine Mutter wurde während dieser Ferienaufenthalte ein anderer Mensch. Sie begann zu leben. Sie hatte den Kampf um ihr Gewicht nicht aufgegeben und kletterte unter der Begleitung neuer Bekannter auf die umliegenden Berge. Diesmal mußte sie mich nicht überreden mitzugehen. Ich liebte diese Klettertouren über Bergwiesen mit Blumen von unverdorbener Reinheit und durch den Paß, der nach Böhmen führte. Ich erlebte die Aufregung, eine Grenze zu überqueren und genoß die seltsame Atmosphäre eines Cafés in einer kleinen böhmischen Stadt, wo wir uns einen starken Kaffee und Kirschtorte mit Sahne gönnten. Die Kellnerinnen, die im Café bedienten, bewegten ihre korpulenten Körper gelassen und graziös. Sie trugen Trachtenkleider in hellen Farben, in denen sie noch dicker aussahen als sie waren. Ihre schwarzen Augen leuchteten freundlich, und ich starrte sie an, als wären sie übergroße Puppen.
Aber jedesmal vor der langen Reise von Danzig nach Flinsberg wurde ich krank vor Aufregung, und dasselbe geschah vor der Heimreise. Und doch brachte mich das meiner Mutter näher, die zu diesen Zeitpunkten in Hochform war und meiner Schwester und mir gegenüber rückhaltlose Zuneigung an den Tag legte. Die nervliche Anspannung, die sie in mir hervorrief, war vergessen, aber sie kam in der alten Umgebung zurück. Die Streitereien über geschäftliche Dinge zwischen meinen Eltern, die meist von ihr entfacht wurden, waren mir zuwider. Dieses Thema dominierte in ihren Unterhaltungen, besonders während der Mahlzeiten. Ich verhielt mich still, sah zu, daß ich so schnell wie möglich mit dem Essen fertig wurde und flüchtete in mein Zimmer. Ich wünschte mich weit weg, wo ich »sie« nicht mehr hören oder sehen mußte. Sie hatten sich verändert. Ihr Horizont hatte sich verengt, alle ihre Gedanken kreisten um den Verlust ihres blühenden Geschäftes, um Heim und Herd. Sie müssen große Umstellungsschwierigkeiten gehabt haben; mein Vater wurde nicht mit der Situation fertig, daß er plötzlich wirklich soviel Freizeit hatte, meine Mutter nicht mit ihren eingeschränkten Lebensbedingungen. Sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, finanziell schlechter dazustehen als vorher. Die Differenzen zwischen meinen Eltern wurden jetzt unüberbrückbar. Der Stolz meiner Mutter war verletzt, nicht nur, weil sie sich jetzt einschränken mußte, sondern auch, weil sie in Danzig »niemand« war, während sie in Riesenburg als wohlangesehene Bürgerin gelebt hatte.
Mein ausgefülltes Leben bei meiner Tante in Danzig hatte mir nicht viel Zeit für Freundschaften gelassen. Doch nach der Ankunft meiner Eltern und unserem Umzug in eine Wohnung in der Nähe meiner Schule wurde das anders. Vor dieser Zeit hatte ich kaum Kontakte zu anderen Schülern gehabt; das erhöhte mein Heimweh nach Riesenburg noch, was mich vielleicht davon abhielt, neue Freunde kennenzulernen. Jetzt aber orientierte ich mich nach außen. Kurz nach meiner Einschulung in die Viktoria Schule fühlte ich mich sehr zu einem jüdischen Mädchen meiner Klasse hingezogen, und ich sehnte mich danach, in ihrer Nähe zu sein. Sie hatte eine schlanke und elegante Figur, war aber ärmlich gekleidet. Weder ihr Benehmen noch ihre Erscheinung waren irgendwie unkonventionell, mit Ausnahme ihrer erwachsen wirkenden Zurückhaltung. Sie sprach nie von sich selbst und schien auch sonst wenig zu sagen zu haben. Entweder konnte sie nicht Nein sagen oder sie wollte es nicht, wenn ich sie fragte, ob wir uns nach der Schule treffen könnten. Und so lernte ich auch ihre Familie kennen. Die Mutter meiner Freundin - eine intelligente Frau - war kurz nach der Geburt des Kindes Witwe geworden. Die Dreizimmerwohnung in einem baufälligen Haus im Altstädtischen Graben, einem Armenviertel von Danzig, unterstrich die deprimierende Atmosphäre ihrer Existenz. Doch beide, Mutter und Tochter, zeigten die Gelassenheit von Menschen, die bessere Tage gesehen hatten. Die Mutter arbeitete als Sekretärin, und ein älterer Bruder lebte bei einem Onkel in Berlin. Lotte E. und ich verbrachten viele Nachmittage in ihrer Wohnung. Ich wollte ihre Hand halten und sie küssen. Sie sagte nichts, gab aber nach. Warum hatte ich mich in sie verliebt? Sie war keine Schönheit, eher eine graue Maus, mit ihren ausdruckslosen grünen Augen und ihrem dünnen Mund, der das Lachen vergessen hatte. Ihr fliehendes Kinn verstärkte den Gesamteindruck eines schwachen Menschen. Und doch vergaß ich sie nie, auch nicht, als ich mich ein oder zwei Jahre später in Ida verliebte, eine russische Jüdin mit der empfindlichen Sommersprossenhaut der Rothaarigen und dem Gang einer siamesischen Katze.
Was für ein Unterschied zwischen diesen beiden Mädchen! Idas hohe Backenknochen und große, graue Augen waren charakteristisch für eine Russin, das Gleiche galt für ihren Mund, dessen aufgeworfene Lippen die Worte gründlicher zu formen schienen als die der Deutschen, und die das Auge des Betrachters auf ihre untere Gesichtshälfte lenkten. Dieser Mund war wie der Punkt am Ende eines Satzes, eine definitive Aussage. Ich wollte in ihren Armen liegen, sie küssen, mit ihr schlafen, ohne auch nur eine geringste Ahnung zu haben, wie ich das anstellen sollte. Zur selben Zeit betörte mich ein anderes jüngeres Mädchen in der Schule, mit dem ich während der großen Pause auf dem Schulhof am liebsten zusammen war. Nicht älter als 13, hatte sie schon das Gesicht einer Musikerin, eine straffe Haut und eine feingeschnittene Nase. Die hohe Stirn dominierte ihr Gesicht, das insgesamt ein durchsichtiges Aussehen hatte. Ihr Vater war ein bekannter Arzt, und ihr Interesse umfaßte sowohl Medizin als auch Musik. Ich hielt nach ihr Ausschau, ging oft an ihrem Haus vorbei, in der Hoffnung, sie zu treffen, wagte aber nie, ihr meine Gefühle einzugestehen. Zufall oder nicht - alle meine frühen Lieben waren Jüdinnen. Ich sehe dies in einem größeren Kontext; wahrscheinlich handelt es sich um eine natürliche Geistesverwandtschaft. Doch der Mittelpunkt meines Lebens war Ida, 16 Jahre alt, drei Jahre älter als ich. Während des Sommers mieteten ihre Eltern in Zoppot eine Wohnung und luden mich ein, sie an den Wochenenden zu besuchen.
Ida war das Ebenbild ihrer Mutter, die ich bewunderte, nicht nur weil sie und ihre Tochter sich so ähnlich sahen, sondern weil sie die Großzügigkeit besaß, uns alles zu erlauben, was wir wollten, und für uns köstliche russische Gerichte kochte. Vielleicht mochte ich sie auch, weil sie so ganz anders war als meine Mutter, immer gleichmäßig gut gelaunt, immer lächelnd und zudem noch geschmackvoll gekleidet. In ihrem Hause gab es niemals Streit. Der Vater sprach nie ein Wort und schien auch nicht zuzuhören - er hätte taubstumm sein können. Seine Hauptbeschäftigung war, von morgens bis abends Patiencen zu legen. Gelegentlich lächelte er uns an und aß den köstlichen »gerillte Fisch«, den seine Frau servierte und den es mittags als warme, abends als kalte Mahlzeit gab.
Die Frage, warum man sich zu einem Menschen oder einer Familie hingezogen fühlt, läßt sich niemals schlüssig beantworten. In diesem Fall mag es die Wärme und Menschlichkeit des Familienlebens russischer Juden gewesen sein, die auch auf die Freunde der Kinder übertragen wurde. Alle russischen Juden, die ich kennenlernte, hatten ein starkes Selbstbewußtsein, denn sie hatten ihre jüdische Identität nicht verloren. Ich empfand das positiv und sah den Gegensatz zu meinen Verwandten und jüdischen Bekannten, die sich selbst als Deutsche betrachteten.
Weder Ida noch ich hatten jemals den Begriff Homosexualität gehört, noch wußten wir irgend etwas über gleichgeschlechtliche Liebe. Wir erlebten unsere Zuneigung ohne Angst, ohne Etikett, ohne Liebesvorbilder. Wir liebten uns ganz einfach. Uns zu küssen, bedeutete die größte Lust, und wir küßten uns zu jeder Stunde. Wenn wir miteinander schliefen, lagen wir mit engumschlungenen Beinen da und unser beider Münder verschmolzen zu einem. Das waren die glücklichsten Nachte, die ich je erlebt hatte. Wir hatten keine Angst, kein Schuldgefühl, und unsere Eltern, denen unsere Zuneigung wohl bewußt war, sahen entweder nichts Außergewöhnliches darin, oder wenn, ließen sie es uns nicht merken. Vielleicht waren sie so naiv wie wir. Später stellte ich fest, daß meine Eltern um meine Liebe zu Frauen wußten. Sie stellten mir keine Fragen, sondern akzeptierten mich so, wie ich war. Ihre Einstellung war konträr zu allem, was das Alte Testament und der Talmud in Sachen unorthodoxes Geschlechtsleben zu sagen haben.
Bis auf den heutigen Tag danken männliche Juden Gott in Gebeten, daß sie als Mann und nicht als Frau auf die Welt kamen. Damit läßt sich der männliche Chauvinismus orthodoxer Juden in wenigen Worten zusammenfassen. Emotional leben sie im Mittelalter und glauben immer noch, daß das alte Gebet die wahre Stellung von Mann und Frau widerspiegelt. Doch liberale Juden hatten schon damals eine ganz andere Einstellung. Meine Eltern und Verwandten hätten solche altmodischen Überzeugungen als widernatürlich angesehen. Im wilhelminischen Deutschland lebten die Juden ein freies Leben, erwarben eine gute Ausbildung, und viele folgten kulturellen Ambitionen und machten sich in Kunst und Wissenschaft einen Namen. Der altmodische, orthodoxe Jude hatte für sie den Geruch des Gettos an sich; sie betrachteten ihn als Fremden. Meine Eltern machten sich keine Gedanken um das Geschlecht ihrer Kinder. Es kam ihnen niemals in den Sinn, für Jungen und Mädchen eine unterschiedliche Ausbildung vorzusehen. Sie wollten, daß wir die beste Schulausbildung bekamen und zur Universität gehen konnten, wenn wir es wollten. Viele jüdische Familien waren gleicher Ansicht, und so ist es nicht überraschend, daß damals Jüdinnen einen Großteil aller Studentinnen ausmachten.
Mein Glück mit Ida half mir jedoch nicht, das Leben zu akzeptieren, das ich bei meinen Eltern führen mußte. So sehr ich um ihre Zuneigung und ihr Verständnis für mich wußte, so abstoßend fand ich ihren Materialismus. Ich verachtete die Geschäftswelt, die ich für eine Form des Diebstahls hielt. Die Familie meiner russischen Freundin war so ganz anders. Sie bestand für mich aus Idealisten, Menschen, die verfolgt worden waren, ohne moralischen Schaden zu nehmen. Im Gegenteil, sie waren daran gewachsen. Sie hatten in meinen Augen die »richtigen« Werte. Wie wenig materieller Besitz wert ist, wußten sie, denn sie hatten schon einmal alles verloren. Sie waren Pogromen in Rußland und Polen entkommen, und ihr Leid hatte ihnen eine sanfte Melancholie und eine Freigiebigkeit verliehen, die in ihrem Gesicht, ihren Gesten und Handlungen erkennbar war. Menschlichkeit stand bei ihnen an erster Stelle. Sie verbeugten sich nicht vor dem Gott des Mammon, und doch florierte ihr Geschäft. Sie besaßen eine überraschende Gabe, sich einem neuen Leben anzupassen und schienen immer auf die Füße zu fallen und glückliche Umstände anzutreffen.
Eines Tages zeigte mir Ida ein Photoalbum und deutete auf das Bild eines faszinierend aussehenden Mädchens, das ihre beste Freundin in Odessa, ihrer alten Heimat, gewesen war. Das Gesicht dieses Mädchens beeindruckte mich. Sie hatte dunkles Haar, ungewöhnlich hoch angesetzte Augenbrauen, große schwarze Augen ein Mona Lisa-Lächeln und den sinnlichen Mund einer orientalischen Frau. Ich fragte Ida, ob die Familie ihrer Freundin asiatisches Blut in sich hätte. »Nein, es sind russische Juden. Lisas Vater ist in Rußland geblieben, aber sie lebt in Berlin mit ihrer Mutter einem Bruder und einer Schwester. Sie ist sehr klug.«
Die Photographie ließ vor meinem inneren Auge das Bild von Dostojewskis Nastasia Filippowna erstehen, einer Frau zum Träumen. Ich hatte bis dahin die meisten seiner Romane gelesen; geradezu verschlungen, und immer wieder aufs Neue gelesen hatte ich »Der Idiot«. Ich hatte mich in die Figur der Nastasia verliebt, eine der attraktivsten Frauen, die jemals in einem Roman dargestellt worden waren. Ich verheimlichte meiner Freundin die Gefühle, die das Photo in mir ausgelöst hatte. Lisa war die Reinkarnation meines weiblichen Ideals. Doch sie war keine Romangestalt, sie lebte eine nur zehnstündige Zugfahrt von Danzig entfernt, und ich würde ihr vielleicht eines Tages begegnen. Diese Vorstellung erregte mich
sehr. Von dem Tag an begann ich ein Doppelleben. Ich »existierte« nur in meiner alltäglichen Umgebung. Mechanisch lebte ich als Schulmädchen in Danzig, während mein wirkliches Leben in meiner Phantasie stattfand. In meinen Tagträumen traf ich Lisa und führte Gespräche mit ihr. Ich phantasierte Tag und Nacht über sie und glühte dabei vor Aufregung. Mehr als je zuvor suchte ich die Einsamkeit, denn ich wollte allein sein mit der Frau meiner Träume. Doch ich besuchte Ida weiterhin und gab mir Mühe, sie die Veränderung meiner Gefühle nicht merken zu lassen. Mit der Zeit machten mich meine leidenschaftlichen Träume krank. Ich litt an Magenverstimmungen, Herzklopfen und Migräne, den psychosomatischen Symptomen emotionaler Verstörung. Meine Eltern stellten sich nie gegen die Wünsche ihrer Kinder und zeigten Verständnis für mein besonderes Bedürfnis nach Einsamkeit. Sie erlaubten mir, in ein kleines Zimmer umzuziehen, das zur Straße hinausging und mir die größtmögliche Distanz zu den anderen Familienmitgliedern verschaffte. Die Tür zu diesem Zimmer war mein »Sesam öffne Dich«. Ich beendete meine Hausaufgaben immer so schnell wie möglich, um Zeit zu haben für meine Träume, für das Lesen philosophischer und poetischer Texte und für das Schreiben eigener Gedichte.
Außerdem verbrachte ich viel Zeit mit meiner russischen Freundin. Die schwierige Situation zwischen uns wurde jedoch durch ihre Abreise aus Danzig gelöst. Ihre Familie zog während des Ersten Weltkrieges nach Stockholm. Wieso sie sich ausgerechnet diese Zeit dazu ausgesucht hatten und auch tatsächlich in Schweden ankamen, war mir und. vielen anderen ein Rätsel. Obwohl ihre Abreise in mir ein emotionales Vakuum erzeugte, fühlte ich mich gleichzeitig wie befreit. Ich weiß nicht, wie es mir gelang, das Eigenleben meiner Phantasie mit der schulischen und häuslichen Routine zu vereinbaren. Doch ich hatte eine gewisse Geschicklichkeit entwickelt, meinen Eltern meine jeweiligen Absichten und Ziele plausibel zu machen. Sie stellten keine Fragen und ließen mich meinen Weg gehen, wo immer er auch hinführen mochte. Es rührte mich, daß sie mir so vertrauten, und ich war dankbar dafür. Vielleicht war es die Einsamkeit, die der Schule für mich zu diesem Zeitpunkt eine neue Bedeutung verlieh. Ich war begierig, Wissen zu erwerben, und ich lernte schnell. Meine Lehrer sahen in mir eine vielversprechende Schülerin. Zu zweien von ihnen entwickelte ich eine besondere Beziehung, die deren Fächer für mich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken ließ. Mein Lateinlehrer, Dr. Maynard, muß angenehm überrascht gewesen sein festzustellen, daß ich einen besonderen Eifer im Erlernen dieser Sprache an den Tag legte, während meine Mitschüler sich gräßlich langweilten. Er schien mich auf eine recht unbeholfene Weise besonders zu mögen. Die Klasse pflegte sich über sein merkwürdig exzentrisches Verhalten lustig zu machen, doch in mir weckte gerade seine linkische Art Sympathie und Bewunderung. Als er mich eines Tages zu sich nach Hause einlud, stand für mich zweifelsfrei fest, daß ich ihm mehr bedeutete als andere Schüler. Ich hatte den Eindruck, daß wir uns ähnlich waren, verbunden durch ein unsichtbares Band. Er redete mit mir wie mit einer Erwachsenen, und wir diskutierten über Philosophie und Erziehung. Ich war stolz auf das Interesse, das er an mir fand, aber gefühlsmäßig blieb ich von ihm unberührt. Dagegen weckte Romana Haberfeld, meine Deutschlehrerin, in mir ganz andere Emotionen. Ich bewunderte ihre Intelligenz und Phantasie, mit der sie ihren Schülern ein Verständnis deutscher und ausländischer Literatur beibrachte. Sie war eine ziemlich korpulente Frau, breitschultrig und kraftvoll, mit dem Gang einer sich bewegenden Statue. Die Klasse stand sofort auf, wenn sie eintrat. Ihre Körperhaltung und Autorität ließen uns mit absoluter Aufmerksamkeit und vor Staunen geöffneten Mündern zuhören. Nicht nur ich, fast alle Schüler bemühten sich, ihr zu gefallen. Wenn sie mit ihrer heiseren Stimme zu sprechen begann und ihre blauen Augen aufleuchteten, versank die eintönige Umgebung um mich herum. Ich war nicht nur darin vertieft, ihren Worten zuzuhören, sondern auch eifrig damit beschäftigt, die seltsame Schönheit ihres Gesichtes zu betrachten. Das schwarze Haar wuchs ihr üppig über eine eher niedrige Stirn, und ihr voller roter Mund bebte vor sinnlichem Entzücken, wenn sie uns von Lenau, Brentano, der Günderode oder den Liedern der Minnesänger erzählte. Sie war eine kreative Lehrerin. Jedes ihrer Worte hatte den Beigeschmack von etwas noch nie Gehörtem. Sie übte eine ähnlich magische Anziehungskraft auf mich aus wie Konrad Lorenz auf seine Graugänse, die ihm überall hin folgten, als wäre er ihre Mutter. Ich lief nachmittags oder abends durch die Straßen wo sie wohnte, in der stillen Hoffnung, sie zu sehen. War es nur die Backfischschwärmerei einer Schülerin für ihre Lehrerin? Stereotype Interpretationen aller Art sind ebenso falsch wie herablassend. Sie gehen völlig am Kern der Sache vorbei.
Die erotische Liebe eines Schülers für einen Lehrer gleichen Geschlechts ist eine natürliche Leidenschaft, auf die ein Großteil nicht nur der antiken griechischen Kultur zurückzuführen ist. Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte waren Jungen und Mädchen, die diese Sehnsucht nach einem älteren und weiseren Menschen durchlebten, Lieblinge der Götter. Solch eine Erfahrung kann ihr soziales Verhalten, ihre moralischen Werte und ihren Sinn für Schönheit entscheidend beeinflussen. Ich habe Romana Haberfeld nie vergessen: ihr Gesicht, ihre niedrigen Brauen, ihre stolze Haltung. Und als ich in dem Roman von Günter Grass »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« über sie las, kehrten alte Gefühle zurück. Grass beschreibt sie als eine dieser ungewöhnlichen Frauen, die niemals ihren Posten verlassen. Wie jeder andere im Staatsdienst beschäftigte Jude wurde Romana Haberfeld 1933 von den Nazis entlassen und verlor ihre Stellung an der Viktoria Schule. Aber sie unterrichtete weiter in Danzig, das zu diesem Zeitpunkt bereits zu Nazi-Deutschland gehörte. Sie hatte sich mit einer anderen Lehrerin ihrer Rasse, Ruth Rosenbaum, zusammengetan, die 1934 eine private jüdische Oberschule in einem Vorort der Stadt gegründet hatte. Die Schule wurde 1939 von den Nazis geschlossen. Ruth Rosenbaum gelang es, außer Landes zu fliehen und nach Israel zu emigrieren. Sie fand ihre neue Heimat in Haifa, wo Grass sie besuchte. Doch sein Roman erzählt nichts darüber, wie es Romana Haberfeld erging. Man muß das Schlimmste befürchten.
Meine Liebe zu Romana Haberfeld und meine Zuneigung zu Dr. Maynard, so unterschiedlich sie waren, hatten eine gemeinsame Auswirkung: Ich vergaß sie nicht. Erinnerungen werden durch starke Emotionen stimuliert. Deshalb habe ich diese Lehrer im Gedächtnis behalten und nicht meine Klassenkameraden, die mich kalt ließen. Doch da gab es noch eine andere Lehrerin, Fräulein Böse, die mich derart befremdete, daß ich mich auch an sie noch gut erinnern kann. Sie unterrichtete Französisch, und zwar so gut, daß ich später in der Lage war, Baudelaires »Les Fleurs du Mal« ins Deutsche zu übersetzen. Fräulein Böses Gesichtsausdruck rechtfertigte ihren Namen. Sie sah aus wie eine Kriegerin, jederzeit bereit, einen Feind zu erschlagen. Ich sah sie niemals auch nur lächeln. Ihre fest zusammengepreßten Lippen und ihre buschigen Augenbrauen verwiesen darauf, daß sie unter Belastungen litt und unfähig war, unangenehme Gedanken abzuschütteln. Sie vermied persönliche Kontakte zu den Schülern, und doch war sie einer der besten Lehrer an der Viktoria Schule. Ihre Rätselhaftigkeit, ihre Reserve, ihre offensichtliche Isolation, beeindruckten mich ebenso wie ihre Art zu lehren. Manchmal schienen ihre Augen einen Moment lang auf mir zu ruhen, aber sobald ich den Eindruck hatte, ich könnte ihren Blick festhalten, schaute sie weg.
Nicht lange, nachdem meine russische Freundin Danzig verlassen hatte, zogen wir von der Fleischergasse in den Langgarten, und diese Veränderung bedeutete für mich den Verlust meines schönen, ruhigen Zimmers, das mein geliebter Elfenbeinturm gewesen war. Unsere neue Wohnung in einem modernen Haus hatte einen Aufzug und andere Annehmlichkeiten, die einen Vorteil für meine Eltern bedeuteten, für mich aber überhaupt nicht von Interesse waren. Langgarten war eine breite und belebte Straße am Rande der Stadt. Eine Straßenbahnlinie, die das Werder Tor mit dem Danziger Hauptbahnhof verband, führte durch unsere Straße. Wir lebten nahe den Weiden von Werder, ein Landstrich mit fruchtbaren Äckern, Obstbäumen und gutgenährtem Vieh. Für den Verlust der Fleischergasse gab es hier jedoch einen gewissen Ausgleich. Mein neues Zimmer war wiederum so weit wie möglich von den Räumen meiner Schwester und meiner Eltern entfernt. Und meine neue Umgebung bot mir auch ein neues Erfahrungsfeld. Wir wohnten nahe der Langebrücke, eine von Danzigs ältesten Straßen. Sie führte entlang der Motlau und wurde der attraktive Mittelpunkt vieler einsamer Spaziergänge, die zu dieser Zeit anfingen, mir Freude zu machen. Auf der einen Seite der Langebrücke standen alte Gebäude, stolze Machtsymbole der alten Hansestadt. Die andere Seite wurde beherrscht von großen Kaianlagen und Kornspeichern, wie sie für Danzig als bedeutendem Handelszentrum charakteristisch waren. Auch andere Schätze enthüllten sich mir durch unseren Umzug. Auf meinem Weg zur Schule überquerte ich die Langebrücke und ging durch den Langemarkt mit seiner Börse aus der Zeit der Renaissance und anderen berühmten Gebäuden des 16. Jahrhunderts. Der Langemarkt war ein architektonisches Juwel von historischer Bedeutung. Seine Patrizierhäuser gehörten zu den feinsten Beispielen für Danzigs alte Gebäude. Einige waren im Privatbesitz, andere in Geschäftsgebäude umgewandelt worden.
Ich war 16 Jahre alt, als wir in den Langgarten umzogen, und erst jetzt begann ich zu sehen, während ich mich vorher darauf konzentriert hatte, Distanzen zu überbrücken. Daß mir »die Augen aufgingen«, mag mit einem seltsamen Erlebnis zusammenhängen, das ich zu dieser Zeit hatte. Man mag sich wundern, wie es mir möglich war, gleichzeitig in eine Lehrerin verliebt zu sein, leidenschaftlich von einer Frau zu träumen, die ich noch nie gesehen hatte und mich körperlich zu jüngeren Mädchen in der Schule hingezogen zu fühlen. Die Fähigkeit emotionaler Gleichzeitigkeit ist Privileg und Pein der Jugend. Jugend und Alter sind zwei Zeitabschnitte, in denen man sich darüber wundern kann, wie sehr unsere Emotionen von unseren Hormonen abhängen. Doch sie können nicht alles erklären, und ich glaube nicht, daß mein »Erlebnis« auf meine damalige hormonelle Ausstattung zurückzuführen ist, obwohl es etwas damit zu tun haben mochte. Es war auf meinem Schulweg, aber an diesem Tag ging ich wie ein Roboter durch die Stadt und war mir meiner Umgebung nicht bewußt. Plötzlich mußte ich aus keinem mir ersichtlichen Grund stehenbleiben. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Eine noch niemals empfundene, ungeheure innere Kraft überwältigte mich und erfüllte mich mit einem Gefühl unermeßlichen Glücks. Ich mußte schwer und tief atmen, und währenddessen schien sich mein Körper zu verändern. Ich wurde größer als ich in Wirklichkeit war, meine Hände - auch sie erschienen mir größer als je zuvor - öffneten sich mit den Handflächen nach oben. Doch die merkwürdigste Empfindung war: Ich fühlte einen bläulichen Kristall direkt zwischen den Augen an meiner Nasenwurzel. Ich nannte ihn den Amethyst. Ich habe einen Amethyst in meinem Kopf, flüsterte ich fast verrückt vor Glück. Was war über mich gekommen? Wo kam diese Kraft her, die von mir Besitz ergriffen hatte? Ich fühlte das ganze Universum in meinem Kopf. Ich hatte die Empfindung, daß ich alles wußte, was jemals geschehen war und was sich in Zukunft abspielen würde. Mein Geist war allwissend.
Während der ganzen Zeit stand ich wie angewurzelt auf der rechten Seite der Rosengasse hinter dem Postamt. Ich bemerkte eine Reihe von Frachtkarren mit nach oben ragender Deichsel im Hof. Die Einzelheiten meiner damaligen Umgebung erstehen heute so lebhaft vor meinem geistigen Auge wie an dem Tag, als das alles geschah. Ich stand in der Nähe eines Juwelierladens und bemerkte die glitzernden Steine in seinem Schaufenster. Ich hatte mich weit von meinem früheren Selbst entfernt. Und doch war ich eine Schülerin in der Sekunda der Viktoria Schule, und gerade auf meinem Weg dorthin. Vage kann ich mich erinnern, daß ich die nahegelegene Hundgasse erreichte, aber ich habe keine Ahnung, ob oder wann ich in der Schule ankam und wie ich mich dort verhielt. Ich würde vermuten, daß ich mich benahm wie immer und daß niemand die Veränderung an mir bemerkte. Doch alles war anders von diesem Augenblick an. Die Turbulenz in meinem Inneren setzte eine psychische Revolution in Gang. Ich hatte mich nie mit esoterischer Literatur beschäftigt, und der Begriff des »dritten Auges« war mir unbekannt. Auch hatte ich keine Vorstellung von den Veränderungen des Körperbildes, die sich bei Jugendlichen abspielen können. Dies war meine ureigene Erfahrung. Ich hatte kein Vorbild, noch wußte ich von irgendjemandem, der etwas Ähnliches erlebt hatte. Mir bisher unbekannte Kräfte hatten sich zu erkennen gegeben. Man weiß bis heute nichts darüber, welche Menschen eine Sensibilität für die verborgenen Kräfte des Geistes entwickeln und welche nicht. In »Die Pforten der Wahrnehmung« schrieb Aldous Huxley über solche unbekannten geistig-seelischen Fähigkeiten, die ein Schlüssel zum Verständnis meines Erlebnisses sein könnten. Wer sich seiner Umgebung entfremdet fühlt, kompensiert diese Entfremdung nicht selten dadurch, daß er sich in seiner Phantasie selbst erhöht. So kann die Entfremdung ihren physischen Ausdruck in einer Veränderung des Körperbildes finden. Doch psychologische Erklärungen können dem Phänomen nicht gerecht werden. Endokrine Funktionen können einen gewissen Anteil zu einer sinnvollen Erklärung beitragen. Die Hirnanhangdrüse, die das Körperwachstum reguliert, könnte bei dieser Veränderung der Körperwahrnehmung beteiligt sein. Das Glücksgefühl mag auf androgyne Hormone zurückzuführen sein, die durch die Aufregung freigesetzt wurden. Aber diese Versuche einer rationalen Erklärung genügen den Ansprüchen nicht. Mir war etwas Unerklärliches zugestoßen; ich fühlte, wie mich »kosmische« Energie durchflutete. Sie machte mich eins mit dem Universum. Das mag ein wenig pathetisch klingen, aber genau so war es.
Obwohl mir dieses Ereignis völlig unvorbereitet zustieß, hatte es seine Vorboten. Die Pubertät ist ein Lebensabschnitt, in dem sich für einen offenen Geist Wunder ereignen. Das Gleiche gilt für einen Körper, der nach Erfahrungen hungert. Meine vielfältigen Liebesempfindungen und gleichzeitig die Entfremdung von meinen Eltern hat vielleicht diese geistige Implosion hervorgerufen, gerade zu einem Zeitpunkt hormoneller Hyperaktivität. Aber warum ein Wunder zu erklären versuchen und ihm dadurch das Wunderbare rauben?
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Schönheit Danzigs nicht wahrgenommen, obwohl sie mich unbewußt sicher beeinflußt hatte. Ich war durch das Grüne Tor gegangen, das vom Langen Markt zur Langen Brücke führte, und hatte die Erhabenheit dieses Bauwerkes aus dem 16. Jahrhundert nicht bemerkt. Ich hatte ihn oft gesehen, den im Renaissance-Stil erbauten Artushof mit seinem Neptun-Brunnen davor, aber ich hatte nicht in mich aufgenommen, was ich sah. Mit einer Ausnahme. Als ich noch in Tante Augustes Obhut war, mußten meine Schwester und ich immer vor dem Rathaus in eine Straßenbahn einsteigen, die uns zurück in die Pfefferstadt brachte. Der Rathausturm beherbergte ein berühmtes Uhrwerk. Zu jeder vollen Stunde ertönte das Glockenspiel mit einer bekannten Hymne. Gleichzeitig trat eine von insgesamt vier Apostelfiguren aus dem Uhrwerk auf einen schmalen Balkon. Wir liebten diese buntbemalten Figuren und versuchten, immer rechtzeitig von Dr. Wolffs Orthopädischem Institut zurückzusein, um sie zu sehen und dem Glockenspiel zuzuhören. Später in der Straßenbahn, die zur Pfefferstadt fuhr, passierten wir die schönsten Gegenden Danzigs. Dem Fahrer machte es Spaß, durch ein Klingelzeichen anzukündigen, daß er gleich zur Höchstgeschwindigkeit beschleunigen würde, ließ aber durch ein ganz entschiedenes Klingeln erkennen, daß die nächste Haltestelle erreicht wurde. Im Hindurchfahren durch das Langgasser Tor, warfen wir einen Blick auf die angrenzende Passage, in der sich Danzigs feinstes Blumengeschäft befand. Danach passierten wir den Stockturm auf dem Kohlenmarkt, ein grimmiger Bau aus dem 15. Jahrhundert, der einst ein Kerker gewesen war. Die unteren Etagen hatte man inzwischen in eine große Halle verwandelt, die jetzt eine Reihe von Buchantiquariaten beherbergte. Dann fuhren wir an Freymanns Warenhaus vorbei und hielten am häßlichen Danziger Stadttheater. Das alte Arsenal zwischen diesen beiden modernen Scheußlichkeiten lag ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt. Es schien weit weg zu sein in seiner Pracht aus dem 16. Jahrhundert, die es ernst und bedrohlich wirken ließen. Danach stürzte sich die Straßenbahn hinab auf den Holzmarkt, den Schnittpunkt vieler Straßen. An einer Ecke befand sich die beste Apotheke der Stadt, doch die riesigen grünen Flaschen im Schaufenster waren eher ein Symbol der Alchemie als der Medizin. Wir fuhren jedoch nicht direkt an der Apotheke vorbei, denn die Straßenbahnlinie machte eine scharfe Linkskurve in den Stadtgraben hinein, eine neugebaute Straße, in der sich das Hauptquartier des Militärkommandanten von Danzig, General von Mackensen, befand. Er war ein Bild von einem Soldaten, und ich war sehr von ihm beeindruckt, als ich ihn einmal leibhaftig vor mir sah. In seiner Husarenuniform mit goldenen Epauletten, goldenen Streifen und einem riesigen Pelzhut sah er aus wie eine Märchenfigur; sein weißer Schnurrbart paßte gut zu seinen wasserblauen Augen. Er erwarb sich große Verdienste als Hinden-burgs rechte Hand im Ersten Weltkrieg und wurde daraufhin zum Oberkommandierenden des Generalstabs ernannt. Danzig dankte ihm seinen außerordentlichen Dienst in dieser Zeit, indem es ihm die Ehrenbürgerschaft verlieh.
Nach meinem außergewöhnlichen Erlebnis war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, und die alte Architektur Danzigs wurde für mich lebendig. Von jetzt an fand ich die Gegenwart meiner Mitschüler unerträglich. Ich hatte mich ohnehin nicht zu ihnen hingezogen gefühlt und bereits sehr früh eine Abneigung gegen das Gekicher und Getuschel der Mädchen über Lehrer entwickelt. Nun fühlte ich mich wie in einer anderen Welt, eingesperrt in eine falsche Gesellschaft. Nur meine Liebe zu Fräulein Haberfeld und meine Zuneigung zu Dr. Maynard machten es mir möglich, ein junges Mädchen zu mimen, obwohl ich schon längst erwachsen war. Meine Gefühle gegenüber meinen Eltern waren seit unserem Zusammenleben in Danzig ambivalent, und ich fühlte mich nicht in der Lage, mit ihnen oder meiner Schwester irgendeine emotionale Erfahrung zu teilen, geschweige denn über meine Gedichte zu sprechen. Doch die Entfremdung löste Schuldgefühle und Trauer um den Verlust unserer früheren Nähe aus. Meine Schwester hatte einen vergleichsweise schmalen Part in meiner Kindheit gespielt, über lange Zeiträume hinweg nahm ich sie kaum wahr. Doch es gab ein Band zwischen uns, das auf ihrer Seite stärker war als auf meiner. Das bewies sie mir durch großzügiges Verhalten, das sie in Schwierigkeiten mit meinen Eltern hätte bringen können. Es zeigte mir, wie selbstsüchtig ich war und wie sehr sie mich liebte. Von dieser Zeit an schätzte ich sie sehr und vertraute mich ihr an.
Ich entfernte mich allmählich immer weiter von meiner unmittelbaren Umgebung. Ich ging auf rosa Wolken, und meine gehobene Stimmung ließ mich auch solchen Menschen wohlgesonnen sein, die ich nicht besonders mochte, und äußere Umstände halfen dabei, einen besseren Kontakt zu meinen Eltern wiederherzustellen. Das Großhandelsunternehmen, dem mein Vater beigetreten war, nahm einen Großteil seiner Zeit in Anspruch. Auch meine Mutter beteiligte sich an dem Geschäft, zusammen mit der jungen Frau ihres Bruders, Recha. Die beiden Frauen hatten einen größeren Geschäftssinn als ihre Männer, die ihrerseits zugaben, daß ihre guten Umsätze auf Rat und Initiative der Frauen zustande kamen. Recha und meine Mutter verstanden sich so gut, daß sie Freundinnen wurden. Daraufhin entspannte sich die Familienatmosphäre und wurde zeitweise so angenehm wie in früheren Tagen. Nun ging es uns finanziell wieder gut, was meiner Mutter gefiel, doch immer noch konnte sie ihren Groll gegen den jüngeren Bruder meines Vaters nicht überwinden. Sein mit exquisiten Möbeln ausgestattetes Haus und sein großer Reichtum machten sie immer noch verdrießlich.
Es stimmte, daß Onkel Josef meinem Vater, der es nicht ganz »geschafft« hatte, mit Herablassung begegnete. Seine große, dünne Frau amüsierte sich über die arrogante Persönlichkeit ihres Mannes. Sie bemerkte anscheinend die Antipathie meiner Mutter nicht, oder sie machte sich nichts daraus. Ich fand sie attraktiv, nicht nur, weil sie Onkel Josef vom Benehmen her überlegen war, sondern auch wegen ihrer Eleganz, ihrer Zurückhaltung und ihrer literarischen Interessen. Meine Mutter lehnte sie weniger ab als ihren Mann und machte einige ironische Bemerkungen über meinen Onkel, auf den seine Frau herabsehen konnte. Er war klein und kräftig, hatte ein hervorstehendes Kinn, einen großen Mund und eine tiefe Stimme. Seine klugen braunen Augen blitzten seine Umgebung prüfend an. Zurecht behauptete er, Menschen auf den ersten Blick zu durchschauen; seine schnelle Erkenntnis von Charaktermerkmalen war in ihrer Treffsicherheit unheimlich. Obwohl er von Beruf Börsenmakler war, galt sein eigentliches Interesse der Musik. Er besuchte fast jedes Konzert und lernte Flöte spielen, eine Kunst, die er liebte, aber selten ausübte. Er war den Freimaurern beigetreten, was seinen Bekanntenkreis um Angehörige unterschiedlicher Bevölkerungsschichten erweiterte. Es war mir ein Rätsel, wie Tante Bertha mit seinem ausgeprägten Geselligkeitsdrang zurechtkam, doch die beiden machten den Eindruck eines harmonischen Paares, das ein beneidenswertes Leben mit seinen beiden Kindern in einem wunderschönen Haus führte. Auf meinen Spaziergängen durch Danzig, die für mich nach meinem ungewöhnlichen Erlebnis eine Fluchtmöglichkeit darstellten, ging ich oft bei meiner Tante in der Frauengasse vorbei. Sie schien meine Besuche gern zu sehen. Sie begrüßte mich auf ihre ruhige, zurückhaltende Art, aber mit einem Lächeln und einem freundlichen Blick. Wir »plauderten« nicht miteinander, sondern diskutierten über Bücher und die Zukunft. Eines Tages überraschte sie mich, als sie mich wegen eines ihrer Kinder um Rat fragte. Ihr Sohn, vier Jahre jünger als ich, machte ihr große Sorgen. Er grimassierte und war übernervös, außerdem weigerte er sich hartnäckig, zur Schule zu gehen. Ich schlug vor, mit ihm zu Dr. Freyhan zu gehen, der mir geholfen hatte, indem erden psychologischen Ursprung meiner Krankheit erkannt hatte. Sie suchte den Arzt auf, der ihr die Symptome ihres Sohnes nicht erklären konnte, ihr aber versicherte, daß es keine Anzeichen einer geistigen Erkrankung gab. Mein Cousin blieb ein Problemkind bis in sein Erwachsenenalter hinein. Aber die Diagnose des Arztes hatte sie von der Furcht befreit, ihr Sohn könnte psychotisch veranlagt sein.
Der Lebensstil in der Frauengasse regte meine Phantasie an, und ich erlebte eine angenehme Beziehung zu einer älteren Frau, die meine Mutter hätte sein können. Meine Tante ahnte oder kannte meine Gefühle für Romana Haberfeld, entweder intuitiv oder durch eine zufällige Bemerkung, die mir entschlüpft war. Sie hatte von ihr gehört, daß sie eine der besten Lehrerinnen Danzigs war. Als sie mir erzählte, daß auch sie sich in ihrer Jugend emotional zu einer Lehrerin hingezogen gefühlt hatte, sprach ich offener mit ihr als vorher, und auch sie ging lebhafter auf mich ein. Doch konnte ich mich nicht überwinden, ihr zu erzählen, daß ich Gedichte schrieb, vor lauter Angst, auch sie könnte der überall geäußerten Ansicht zustimmen, Dichter wären soziale Exzentriker.
Seit den Anfängen meiner Pubertät war die Poesie meine Welt. Im Alter von etwa zwölf Jahren begann ich Gedichte zu schreiben, wobei ich mir die Romantiker zum Modell nahm: Heine, Lenau, Novalis und Brentano. Wenige Jahre später begann ich, meine eigene Ausdrucksweise zu finden. Inspiriert durch das Alte Testament, schrieb ich Gedichte über Israels Propheten, bevor ich mich mir selbst zuwandte und über meine eigenen Erfahrungen schrieb. Ich brauchte einen spirituellen Rahmen für meine unruhige Jugend, den mir die Liebe sowie Bücher über östliche Religionen und philosophische Schriften lieferten.
Trotz aller meiner Aktivitäten gehörte der größte Teil meiner Zeit meinen Tagträumen. Die Kluft zwischen Wirklichkeit und Phantasie war höchstwahrscheinlich verantwortlich für das labile Gleichgewicht meiner psychischen und physischen Gesundheit. Nachdem Riesenburg aus meinem Gesichtskreis verschwunden war, wuchs in mir das Bedürfnis nach Flucht und Abenteuer, um die entstandene Leere zu füllen. Schließlich ließ meine Sehnsucht nach Lisa den Plan aufkeimen, sie zu besuchen, koste es was es wolle. Eines Tages hatte ich den richtigen Einfall, und plötzlich wußte ich, wie ich das Problem angehen mußte. Seit ich zehn Jahre, alt war, litt ich unter einer chronischen Kiefern- und Stirnhöhlenentzündung, und ich mußte nicht nur häufig deswegen in der Schule fehlen, sondern auch sehr unangenehme Behandlungen über mich ergehen lassen. Ich machte meinen Eltern klar, daß meine Stirnhöhlenentzündung mir solche Schmerzen bereitete und mich derart nervlich belastete, daß mein schulischer Fortschritt ernsthaft gefährdet war. Ich bat sie, noch die Meinung eines zweiten Experten einzuholen. Meine Eltern willigten ein, und eine Konsultation bei Dr. Jansen in Berlin, einem international bekannten Spezialisten, wurde rasch arrangiert. Am zehnten Januar 1917 reisten meine Mutter und ich nach Berlin. Meine Mutter mietete für uns zwei Zimmer in einer Pension in der Tauentzienstraße, während ich zunächst in Dr. Jansens Klinik aufgenommen wurde. Er empfahl zwei alte Hausmittel - Inhalationen mit Kamillentee und Leinsamenumschläge. Das bedeutete, die schmerzhaften Spülungen hatten ein Ende! Schon allein dieses Ergebnis war für mich die Reise wert, und meine Mutter freute sich mit mir.
Ich wußte, daß Lisa in München war, aber am zwölften Januar zurück sein würde. An diesem Tag telefonierte ich mit ihr, und sie sagte zu, am darauf folgenden Tag um fünf Uhr nachmittags zu mir in die Pension zu kommen. Meine Mutter ging vor dieser Zeit aus dem Haus, um eine Tante zu besuchen. Unruhig lief ich in den beiden angrenzenden Zimmern auf und ab. Russen haben einen wenig ausgeprägten Zeitsinn, und ich war darauf vorbereitet, warten zu müssen. Aber ich irrte mich. Lisa kam pünktlich und reichte mir mit einem angedeuteten Lächeln die Hand, wobei sie mir fest in die Augen sah. Sie war drei Jahre älter als ich, zu diesem Zeitpunkt ein großer Unterschied. Ich fühlte mich wie ein schlaksiges Schulmädchen, das einer eleganten russischen Dame begegnet. Sie trug einen schwarzen Sealmantel und eine Pelzmütze. Sie war eine kleine, schmal gebaute Frau, deren Kopf ihren Körper zu dominieren schien. Ich sah nur ihr Gesicht - wie ich es kannte! Diese großen, melancholischen Augen verrieten ihre orientalische Herkunft. Doch woher kamen die beiden hervortretenden Knochen auf der Stirn über ihren Augen? Dies war die Stirn eines Denkers, und sie erinnerte mich an die berühmte Skulptur von Rodin. Ich konnte meine Augen nicht von dieser schönen Frau wenden. Ja, die hohen Backenknochen, ihr großer Mund mit den dunkelroten Lippen und das leicht zurücktretende Kinn stellten einen scharfen Kontrast zu dieser Stirn dar und gleichzeitig eine Bestätigung ihrer Weiblichkeit. Wie russisch sie aussieht, dachte ich. Da stand sie in Fleisch und Blut vor mir, die Frau meiner Phantasie: Nastasia Filippowna leibhaftig. Ich hatte mich vor zwei Jahren in ihre Photographie verliebt- und jetzt liebte ich sie.
Ich weiß nicht, ob ihr bewußt war, was sich in mir in dieser Stunde in der Tauentzienstraße abspielte. Auch habe ich keine Ahnung, was sie mir gegenüber empfand, außer daß sie mich offensichtlich kennenlernen wollte. Unsere gemeinsame Freundin Ida hatte ihr von mir erzählt. Lisa schlug mir vor, daß wir uns schreiben sollten und versprach lachend, immer zuverlässig zu antworten. Wir begegneten uns am Nachmittag vor dem russischen Neujahrstag. Um sechs Uhr mußte sie bereits fort, um ein Fest in ihrem Hause vorzubereiten. Als sie sich verabschiedete, kam sie auf mich zu, nahm meine beiden Hände und küßte mich auf die Stirn. Und fort war sie, lautlos wie ein Geist. War sie überhaupt hier gewesen?
Als meine Mutter wiederkam, sprach ich wenig, war aber außer mir vor Aufregung und Glück. Sie verhielt sich so, wie ich es mir immer von ihr wünschte. Keine Fragen, nur: »Was sollen wir heute Abend machen?« »Laß uns in ein Variete gehen«, sagte ich. »Fein«, war ihre Antwort. Wir gingen in ein Bumslokal in der Nähe des Nollendorfplatzes und blieben dort bis Mitternacht. Keine von uns wollte schlafen gehen. Hatte sie ihren Cousin getroffen, statt ihre Tante zu besuchen? Sie sah liebenswert und glücklich aus, und ich wunderte mich! Wir lauschten der vulgären Musik und den Witzen und aßen Bockwurst mit Sauerkraut. Für mich hätte es genauso gut Lachs oder Kaviar sein können. Der Lärm und die fröhliche Atmosphäre nahmen uns ebenso gefangen wie der Rhythmus der eingängigen Schlagermelodien. So lange ich mich erinnern konnte, hatte ich mich meiner Mutter noch nie so nahe gefühlt. Am nächsten Tag fuhren wir wieder zurück nach Danzig, und ich war froh, wieder allein zu sein, um nachdenken zu können. Der Besuch hatte Konsequenzen. Ich ging zur Schule wie ein Automat, und nur in den Unterrichtsstunden meiner Lieblingslehrer kam Leben in mich. Ich vernachlässigte meine Hausaufgaben.
Lisa und ich tauschten viele Briefe aus, und einige Monate nach unserer Begegnung lud sie mich ein, die Sommerferien mit ihr und ihrer Familie zu verbringen. Ich hätte ein Zimmer bei Freunden in der Nähe, könnte aber mit ihnen die Mahlzeiten einnehmen. Meine Eltern hatten nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden, wenn ich es nur wollte, und an einem heißen Sommertag nahm ich den Schnellzug nach Berlin. Lisa erwartete mich am Bahnhof Zoo.
Jede Ankunft an einem neuen Ort ist für einen nervösen Menschen schwierig. Aber wie sollte ich eine Brücke schlagen zwischen der Welt, die ich verlassen hatte und der, die ich erreichte und die so ganz verschieden war von allem, was ich kannte? Wahrscheinlich gelang mir das nie. Ich wurde bei russischen Freunden von Lisas Familie untergebracht, mit deren Tochter Raja ich mich auf Anhieb gut verstand und die später meine Freundin wurde. Lisa zeigte sich zunächst abwartend und behandelte mich manchmal grausam. Sie zog mich auf wegen meiner provinziellen Kleidung und den langen Haaren. »Du siehst aus wie ein Schulmädchen«, sagte sie zu mir. Diese Haltung verwirrte und verletzte mich. Doch ihre Familie faszinierte mich vom ersten Augenblick an. Sie kamen mir vor wie Romangestalten. Ihre Mutter, eine unergründliche Frau, überließ ihre drei Kinder sich selbst und verfolgte ihre eigenen Ziele. Ihr Bruder Grischa, ein Schüler von Ferruccio Busoni, gehörte einem Zirkel von Künstlern und Literaten an. Einige von ihnen kamen gelegentlich zu Besuch und schienen daran interessiert zu sein, mich kennenzulernen. Grischa stellte mich immer als seine Freundin vor. Einer seiner liebsten Gesprächspartner war Walter Mehring, ein attraktiver junger Mann mit flinken Augen und schwarzem Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er gestikulierte wild um sich und fuhr sich dabei immer wieder mit einer Hand durchs Haar, als ob er dessen Sitz prüfen wollte. Er amüsierte mich mit seiner schnellen Redeweise ebenso wie mit seinen witzigen und ätzenden Bemerkungen. Man konnte nie alle seine Worte verstehen; sie jagten einander, als hätte er Angst, auf halbem Weg unterbrochen zu werden.
Lisa und ich gingen ziemlich unbeholfen miteinander um. Nach der Intimität der Briefe und Gedichte, die ich ihr geschickt hatte, fühlte ich mich in der neuen Situation verloren. Auch Lisa war vermutlich wie gelähmt, genau wie ich, und wir zwangen uns ein emotionales Versteckspiel auf, das mich erschöpfte. Sie hatte eine hypnotische Kraft, wie viele russische Frauen, ein Mysterium, das sie wie eine Aura umgibt. Ich war jedoch verständig genug, um mich nicht an sie zu hängen. Jeden Morgen ging ich allein oder mit Raja den Kurfürstendamm hinunter zum Café des Westens, einer der beiden berühmten Treffpunkte von Künstlern und Schriftstellern; der andere war das Romanische Café in der Nähe der Gedächtniskirche. Eines Tages setzte sich eine ältere Frau in langen Hosen zu Raja und mir an den Tisch. Sie hatte ein sensibles Gesicht - zerfurcht, aber immer noch schön - und trug ihr schwarzes Haar in einem Pagenschnitt. Ich hatte ihr Gesicht schon einmal gesehen, gezeichnet von ihr selbst, in ihrem Gedichtband. Es war Else Lasker-Schüler. Ich fand sie bezaubernd und sonderbar zugleich, und obwohl es mir schmeichelte, daß sie mich ansprach, empfand ich ihr gegenüber keine Scheu. Ich erzählte ihr, wie sehr ich ihre Gedichte mochte. Hatte sie mir zugehört? Ihre Augen huschten durch das Café, als ob sie immerzu etwas suchte, was sie nie finden würde. Dabei runzelte sie beständig die Stirn.
An den folgenden Tagen ging ich immer allein zum Café des Westens. Jedesmal kam sie an meinen Tisch und erzählte mir von ihrem Sohn. War er die Person, nach der sie so ängstlich Ausschau hielt? Sie machte sich sicher Sorgen um ihn. Eines Tages kam sie auf die seltsame Idee, ich sollte ihm schreiben. »Sie wären gut für ihn«, sagte sie. Ich verstand wirklich nicht, warum und wie sie auf diesen unbegründeten Vorschlag kam und sagte ihr, ich könne nicht einfach jemandem schreiben, den ich noch nie gesehen hätte, außerdem wüßte sie nicht einmal, ob ihr Sohn den gleichen Wunsch hätte wie sie. »Sie müssen ihn treffen«, entschied sie. So geschah es, und wir konnten uns auf den ersten Blick nicht leiden, zumal wir beide den festen Vorsatz hatten, daß wir nichts miteinander zu tun haben wollten. Er muß ihr erzählt haben, daß er mich nicht mochte und nicht in eine Brieffreundschaft einwilligen würde. So ließ sie die Idee fallen, hielt aber einige Jahre einen freundlichen Kontakt zu mir aufrecht. Meine Bekanntschaft mit Elsa Lasker-Schüler brach das Eis zwischen Lisa und mir. Nach etwa einer Woche verbrachten wir den größten Teil des Tages zusammen und pflegten Arm in Arm den Kurfürstendamm hinaufzugehen zum zuständigen Polizeirevier, wo sie sich als Angehörige des »feindlichen Auslandes« täglich zu melden hatte. Häufig nahm sie mich anschließend mit zu Willy Jaeckels Atelier. Dieser übergroße Junge mit dem kleinen Kopf einer dänischen Dogge konnte sich in der Unterhaltung seltsam schlecht ausdrücken. Seine Intelligenz lag in seinen Händen. Er hatte sich bereits als Expressionist einen Namen gemacht. Während er mir einige seiner Gemälde zeigte, ließen seine kleinen, blauen Augen Lisa keine Sekunde los. Er war von ihr besessen. Seine große, platinblonde Frau, die im Gegensatz zu ihm in der Lage war, klug und gewählt zu formulieren, verbreitete die Atmosphäre einer gebildeten Gastgeberin. Auch sie schien unter Lisas Bann zu stehen. Als ich das Portrait sah, das Jaeckel von meiner Freundin gemalt hatte, wurde ich seine Verehrerin. Für mich war es eine seiner schönsten Arbeiten. Er hatte sie als eine orientalische Version der Mona Lisa gemalt, mit einem großen roten Mund, einem dunklen Gesicht und einer weißen Stirn, die durch ihre Höhe und Farbe hervorstach. Später wurde das Bild von der Hamburger Kunsthalle erworben. Ich frage mich, ob es die Vernichtung »entarteter Kunst« in den 30er Jahren überstanden hat. Lisa verhielt sich Jaeckels Frau gegenüber weitaus freundlicher als zu ihm selbst. Ich hatte das Gefühl, daß sie sich vor ihm fürchtete. Nach etwa zwei Wochen hatten wir uns ein Stückweit aufeinander zubewegt, aber nur, wenn wir uns außerhalb ihres Hauses befanden, in dem ständig unterschiedliche Menschen aus und ein gingen. Ich fühlte mich bei ihr zu Hause niemals wohl, und die immerzu wechselnden Besucher irritierten mich. Das ganze Haus war wie ein russisches Märchen: Da war Lisas besondere Freundin und Lehrerin, die Bildhauerin Lis Gleistein, die sich dort mit Schriftstellern, Philosophiestudenten und Journalisten einstellte. Sie alle kamen, um Lisa und Grischa zu besuchen. Andererseits traf ich dort auch häufig deutsche Offiziere, die zum Abendessen geladen wurden. Sie kamen, um Lisas Mutter zu besuchen. Sie verhielten sich höflich und charmant und führten interessante Gespräche mit uns. Warum kamen sie überhaupt? Aber ich hatte aufgehört, überrascht oder durch meine ungewöhnlichen Erlebnisse verstört zu sein.
Nach fünf Wochen außergewöhnlicher Ferien in Berlin fuhr ich nach Danzig zurück, physisch und psychisch erschöpft. Noch lange führte ich ein Doppelleben, die Notwendigkeiten des Alltags erfüllte ich mechanisch. Es war immer noch Krieg; der Kaiser hatte abgedankt, und Deutschland war in Aufruhr. Einige handgeschriebene Notizen an den Holzrahmen von Eckhäusern in bestimmten Straßen erinnerten mich an den Krieg, der mir die meiste Zeit nicht bewußt gewesen war. Er brachte sich mir hauptsächlich durch die
Verschlechterung und Rationierung von Nahrungsmitteln in Erinnerung. Hühner hatten immer einen »haut goût«, Brot enthielt außer Möhren und Steckrüben noch andere, unidentifizierbare Zutaten. Es war unmöglich, richtigen Kaffee zu bekommen, und ein Gebräu aus Pflanzen oder sogar Unkraut wurde als »Ersatz« serviert. Doch der Schwarzmarkt florierte und lieferte Butter, Sahne und Fleisch, wenn man nur genug dafür bezahlen konnte.
Bald nach meiner Rückkehr aus Berlin lud Lisa mich ein, die Weihnachtsferien mit ihr zu verbringen. Am 20. Dezember 1917 fuhr ich zurück, um mich von ihr zu verabschieden, denn kurz darauf würde sie mit ihrer Mutter und Schwester nach Rußland zurückkehren - damals bereits ein kommunistischer Staat. Diesmal waren meine Eltern gegen meine Reise und weigerten sich, ein abenteuerliches Unternehmen zu finanzieren, das mich das erste Mal hatte krank heimkehren lassen. Aber sie konnten mich nicht zurückhalten. Meine Schwester bot mir ihre Ersparnisse an, um meine Reise zu finanzieren. Ich akzeptierte ihr großzügiges Geschenk. Bereits seit einigen Monaten hatte ich meiner Mutter täglich kleine Summen aus dem Portemonaie genommen. Damit war das Problem gelöst, jetzt hatte ich genug Geld, um durchzukommen. Heimlich fuhr ich ab. Lisa erwartete mich wieder einmal am Bahnhof Zoo. Aber diesmal umarmte sie mich heftig. Ich wohnte bei denselben Freunden in der Konstanzer Straße, aber ich ging nicht mehr jeden Tag ins Café des Westens. Lisa und ich trafen uns jeden Morgen in einer kleinen Konditorei, wo wir uns stundenlang unterhielten, lachten und einander ansahen. Der Krieg war noch nicht vorbei, aber Lisa bereitete sich darauf vor, nach Rußland zurückzugehen, trotz der kommunistischen Revolution. Wie ihre Mutter sich in dem neuen Rußland zurechtfinden sollte, war ihr ein größeres Rätsel als ihre eigene Schwierigkeit, sich an einen kommunistischen Staat zu gewöhnen. Weder erwähnte Lisa irgendein Problem, das diese einschneidende Veränderung in ihrem Leben mit sich bringen mußte, noch sprach sie über ihren Vater und seine Zukunftspläne. Ihr Verhalten hatte die aufgeregte Lebhaftigkeit, hinter der sich Verzweiflung verbirgt. »Laß uns in den Tag hinein leben«, rief sie. Sie zog mich an sich und küßte mich immer wieder. Für mich waren diese Küsse der Höhepunkt erotischer Lust, sie durchdrangen den Körper und gruben sich für immer in meine Seele ein.
Ein paar Tage später mußte ich abreisen, weil meine Schulferien zu Ende waren. Lisa und ich konnten uns nicht voneinander verabschieden. Wir betrachteten die Trennung als unwirklich. Ich verließ sie am Bahnhof mit einer merkwürdigen Ruhe und winkte, als der Zug abfuhr. Als ich an einer großen Bahnstation mitten zwischen Berlin und Danzig ankam, sprang ich aus dem Zug und kletterte in den Gegenzug auf der anderen Seite des Bahnsteigs, der mich zu ihr zurückbrachte. Meine unerwartete Rückkehr war eine Sensation. Lisa behandelte mich wie eine kostbare Geliebte. Während der nächsten drei Tage, die mir mein Abenteuer gewährte, waren wir unzertrennlich. Als wir uns schließlich trennen mußten, flüsterte sie mir ins Ohr: »Du bist der Mensch, den ich liebe«. Ich fuhr fort, wie betäubt und empfand keinen Trennungsschmerz -noch nicht. Ich hatte meinen Eltern ein Telegramm geschickt, daß ich wegen einer Erkältung nicht rechtzeitig nach Hause zurückkehren konnte. Mir war sowohl wegen meiner Lüge als auch wegen meines fluchtartigen Aufbruchs nach Berlin unwohl bei der Heimreise. Meine Schwester holte mich vom Bahnhof ab, und als wir im Langgarten ankamen, waren meine Eltern so glücklich, mich wohlbehalten wieder zu Hause zu haben, daß sie meine Eskapade nicht einmal erwähnten. Von diesem Zeitpunkt an bis zu ihrem frühen Tod wurde meine Schwester meine beste Freundin.
Lisa war abgereist, aber ihr Bruder blieb in Berlin. Viele Jahre lang war er meine einzige Verbindung zu ihr. Ich führte weiterhin mein Alltagsleben in Danzig, und meine Tante Bertha half mir. Sie dachte, ich litte unter Lethargie aufgrund von Vitalitätsmangel und schickte mir mehrere Flaschen Portwein, von dem ich täglich ein Glas voll mit einem geschlagenen Ei trinken mußte. Doch Tante Berthas Diagnose war falsch. In Wirklichkeit hatte ich ein neues Leben begonnen, das zu einer gesteigerten lyrischen Produktion führte. Denn ich wußte nicht, wie ich meine emotionale Krise überwinden sollte, die mich zu Hause ruhelos machte, in der Schule unaufmerksam und langweilig in der Gegenwart anderer. Zu diesem Zeitpunkt begann ich Danzig wirklich kennenzulernen.

Meine einsamen Spaziergänge waren eine Art Sicherheitsventil, um mich vor meinem unbefriedigenden Elternhaus zu retten, gleichzeitig waren sie aber auch so etwas wie ein angenehmer Geschichtsunterricht. Ich brauchte sie als Ausgleich für die Anforderungen des täglichen Lebens. Doch trotz der ästhetischen Befriedigung, die mir diese Stadt verschaffte, fühlte ich mich durch Danzig unterdrückt, es war wie ein schönes Gefängnis, das ich in meinem Kopf in eine Märchenwelt verwandeln wollte, ohne daß es mir wirklich gelang. Daher empfand ich ein dringendes Verlangen, so oft wie möglich dieser einengenden Atmosphäre zu entfliehen. Ich machte Ausflüge nach Oliva und Zoppot, traf mich mit »Freunden« in Cafés und genoß den Duft von Kiefernwäldern und der Ostsee. Die Freundschaft mit meinem musikalischen Cousin ging weiter, war aber nicht sehr befriedigend. Denn sie hatte etwas Künstliches: Nur unser Geist, nicht unsere Herzen hatten uns zusammengeführt. Im letzten Schuljahr hob sich eine neue Freundschaft aus dem Einerlei oberflächlicher Alltagsbeziehungen ab. Ich traf Walli auf dem Tennisplatz. Tennis war eine der wenigen Sportarten, in denen ich nicht erfolglos blieb. Walli war groß, hatte gelbblonde Haare über niedrigen Brauen und hohe Backenknochen. Ihre kleinen, fast könnte man sagen: Schlitzaugen waren klar und blau. Ihre Familie hätte aus Finnland oder Lappland kommen können, aber sie waren Deutsche. Walli war nicht nur eine intelligente und talentierte Malerin, sie verstand auch etwas von Lebenskunst. Ihre Beobachtungsgabe und ihr Sinn für Ästhetik waren frappierend. Und noch etwas beeindruckte mich: ihre Sinnlichkeit. Wir fühlten uns sofort zueinander hingezogen. Ihre Figur und ihr ungewöhnliches Gesicht zogen mich an, vor allem aber waren es ihre Hände, die so sanft über mein Gesicht, meinen Hals, meinen ganzen Körper glitten, die mich so erregten, wie ich noch nie zuvor erregt worden war. Doch ich liebte sie nicht, ich war verrückt nach ihr. Und ich war sicher, daß sie mir gegenüber dasselbe empfand. Sie war so vollständig anwesend, wenn wir zusammen waren, und doch war sie für mich »aus den Augen - aus dem Sinn«. Wenn wir durch die Wälder von Oliva und an den Stränden der Ostseeküste entlanggingen, sprachen wir kein Wort. Wir wußten, wo wir verschwiegene Orte finden konnten, die außer uns niemand kannte.
Wir lagen Seite an Seite, berührten uns, umarmten uns, fühlten uns; sie bereitete mir nie vorher erlebte Lustgefühle, denen ich mich frei hingeben konnte, ohne Angst oder quälende Vorstellungen. Sie machte mein letztes Jahr in Danzig zu meinem glücklichsten, und wir setzten unsere Beziehung noch lange fort, nachdem ich die Stadt verlassen hatte.
Der Vorteil eines verwöhnten Kindes bei der Konfrontation mit den Härten des Lebens ist sein Vertrauen darin, bevorzugt zu werden, bevorzugt vom Schicksal und von anderen Menschen. Doch die Gefahr der Enttäuschung durch andere bewirkt eine Verletzbarkeit, die sich auswirkt wie die Nacht auf bestimmte Pflanzen: Sie schließen ihre Blüten. Das Risiko neurotischer Erkrankungen ist immer präsent bei Menschen, die entweder zuviel oder zu wenig umsorgt werden. Depressive Zustände und Angstanfälle warten immer »um die Ecke«. Der Schutzengel des Glücks kann jedoch dabei helfen, eine Anpassung an die Risiken des Lebens zu ermöglichen. Während der letzten Monate vor dem Abitur mußte ich mich äußerst zusammenreißen, um mich auf diese schriftlichen und mündlichen Prüfungen vorzubereiten. Doch ich war mir sicher, daß ich nicht durchfallen würde, denn ich vertraute meinen Lieblingslehrern so weit, daß sie das nicht zulassen würden. Doch ich glaubte nicht, daß ich zu den Glücklichen gehören würde, denen eine mündliche Prüfung erspart blieb. Der große Tag kam, an dem die schriftlichen Ergebnisse verkündet wurden und man die Namen derjenigen erfuhr, die jetzt schon bestanden hatten, ohne noch einmal mündlich geprüft zu werden. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, als ich hörte, daß mein Name dabei war. Ich rannte nach Hause, außer mir vor Stolz und Glück, fing meine Mutter ab, die gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen, umarmte und küßte sie und rief: »Sie haben mich vom Mündlichen befreit!« Sie freute sich mit mir, und wir gingen zusammen in die Stadt, um für mich die rote Mütze zu kaufen, die die Abiturienten an ihrem Ehrentag tragen durften. Das Abitur war ein Ereignis, an dem die ganze Stadt Anteil nahm. Die glücklichen Schulabgänger flanierten stundenlang die Langgasse auf und ab. Die Jungen des Gymnasiums in der Fleischergasse hatten am selben Tag wie die Mädchen der Viktoria Schule ihre Abschlußprüfung. Wer das Glück gehabt hatte, schon vor dem »Mündlichen« bestanden zu haben, war zuerst auf Danzigs Straßen zu sehen. Jungen und Mädchen verbrüderten sich, liefen Arm in Arm durch die Stadt und riefen sich Glückwünsche zu.
Einen Monat später verließ ich Danzig, um an der Freiburger Universität zu studieren. Ursprünglich hatte ich vor, mich in Philosophie und Literaturwissenschaften einzuschreiben, doch meine Eltern überredeten mich, ich solle doch Ärztin werden. »Dann hast du dein Auskommen«, meinte mein Vater, und ich stimmte ihm zu.