Bettina und Goethe

(22) In diesem Jahr 1806 ist Bettina wieder einmal bei der Großmutter in Frankfurt gewesen. Sie kommt auf die Hoftreppe. Sie erkennt den Garten nicht wieder:

Die hohe schwankende Pappelwand, die himmelansteigenden Treppen, die ich alle wie oft hinangestiegen bin, um der Sonne nachzusehen, um die Gewitter zu begrüßen, durchgeschnitten -zwei Drittel davon in grader Linie abgesägt! - Ich weiß nicht, wie mir geschieht, und alles will ich gern begreifen und lernen, was soll mir das schaden, aber diese Pappeln, die Zeugen meiner frühesten Spielstunden, die mich als Kind von drei Jahren mit ihren Blüten begleiteten, in die ich hineinstaunte, als ob ihre Höhe in den Himmel reichte. Ach, was soll ich dazu sagen, daß die als Stümpfe mit wenigen Ästen noch versehen nebeneinander stehen, gemeinsam Schimpf und Leid tragen. Ach ihr Baumseelen, wer konnte euch das tun?

Als sie mit der Großmutter zusammentrifft, sieht sie noch ganz blaß und verstört aus. Die Großmutter merkt sofort, was sie erschreckt hat. »Du warst im Garten?«
Sie drückt Bettina die Hand. Dann sagt sie: »Ich werde wohl nicht mehr lange leben.«
Bettina behält ihre Klage für sich, und die Großmutter fährt fort: »Das Rauschen im Abendwind war meine Freude, ich werd's nicht mehr hören. Ich hätt' mir's gefallen lassen, wenn ich unter ihrem Rauschen am letzten Abend wär' eingeschlafen. Du hast sie auch geliebt, es war dein liebster Aufenthalt. Ich habe dich oft vom Fenster in ihre Wipfeln abends steigen sehen, und du glaubtest, es sah es niemand... Nimm meinen Segen, liebes Kind. Ich habe an dich gedacht, wie man sie trotz schmerzlicher Verletzung meiner Gefühle verstümmelte.«
Bettina fragt nicht, wer denn angeordnet habe, daß die Pappeln so verschandelt worden sind. Was würde das ändern. Wichtiger ist ihr, sich in diesem Augenblick mit der Großmutter eins zu wissen, eins in der Empfindung, daß Bäume lebende Wesen sind, die man lieben kann.
Die Episode mit den abgehauenen Pappeln in Offenbach zeigt auch Bettinas Vorliebe, ja ihr Bedürfnis, mit alten Menschen umzugehen. Vielleicht hat sie erfahren, daß alte Menschen auf Grund ihrer langen Lebenserfahrung und ihrer Nähe zum Tod eine Sensibilität entwickeln können, die der ihren verwandt ist. Und dann: Bettina braucht immer ein Ziel, auf das hin sie ihre Liebe verströmen kann. Liebe, sie wird das später auch verstandesmäßig begreifen und formulieren können, einem Menschen unbedingte Zuneigung entgegenbringen, ihn so kennenzulernen, wie man ein anderes Land kennenlernt, das ist für sie Kunst, ein kreativer Vorgang.
Nicht zuletzt, weil sie, nun schon Anfang zwanzig und noch nicht verheiratet, sich, angebunden an den Haushalt des Stiefbruders oder des Schwagers, häufig wie das fünfte Rad am Wagen vorkommt, sucht sie nach Menschen, die sie mit Haut und Haar lieben kann. Sie entwickelt dabei eine Intensität, über die andere sich lustig machen, die viele auch verschreckt.
Auf dem Dachboden im Haus der Großmutter findet Bettina ein Bündel Briefe des jungen Goethe an Maximiliane, Bettinas Mutter. In diesen Briefen des jungen Goethe stößt sie auf Sätze, die sie deswegen so sehr betroffen machen, weil sie von ihr selbst sein könnten:

Ich begreife die Menschen nicht, ich muß mich noch so oft über sie wundern und daran spür ich, wie jung ich bin.
In der Welt ist's wirklich nicht so schlimm, es ist nur anders, als wir's uns vorstellen.

Und dann ist da jener Brief an die Großmutter, in dem es über die Mutter heißt:

Die liebe Maxe sehe ich selten, doch wenn sie mir begegnet, ist's immer eine Erscheinung vom Himmel... Von Ihrer Maxe kann ich nicht lassen, so lange ich lebe, und ich werde sie immer lieben dürfen.

Oder auch:

Das Geliebte besitzen wollen... ist nicht der ewigen Liebe würdig.

Bettina, die, wie sie es selbst sieht, »durch den Verlust der besten Freundin an Mut und Wahrheit gewonnen« hat, sucht nun die Mutter Goethes auf, die Frau Rat, eine alte Frau, die recht isoliert lebt, jedenfalls vernachlässigt von dem berühmten Sohn, der sie über Jahre hin nicht besuchen kommt.
Diese Frau Aja ist eine ganz besondere Frau.
Sie stammt aus der Juristenfamilie der Textors. Der Vater hat es im Alter zum Schultheiß, also zum Leiter des städtischen Justizwesens von Frankfurt gebracht. Für die Erziehung seiner Töchter hat er nicht viel ausgeben wollen. Sie haben nur notdürftig Lesen und Schreiben gelernt und sind dann, ohne daß viel nach ihren Neigungen gefragt worden wäre, standesgemäß verheiratet worden. Aja eben an den schon etwas ältlichen, aber wohlhabenden Rat Goethe.
Von Ajas Kindern haben nur zwei überlebt: Johann Wolfgang und Cornelia; drei weitere Kinder sind gestorben. Das ist nicht ungewöhnlich. Viele Frauen haben ähnliches erlebt. Sie hat mit einem schwierigen Mann auskommen, einen begabten, aber auch gefährdeten Sohn und eine mißmutige, verklemmte Tochter aufziehen müssen. Dabei ist sie auch noch im Alter von heiterem Naturell, ohne Zimperlichkeit, drastisch aus Lust an Anschaulichkeit. Sie nennt die Frau, mit der ihr Sohn jahrelang unverheiratet zusammenlebt, dessen »Bettschatz« und die griechischen Plastiken, die ihr Mann im Haus am Hirschgraben aufstellt, »Nacktärsche«. Wenn andere in Kriegszeiten bei Siegen dieser oder jener Partei Beifall klatschen, schreibt sie, es werde sich erst am Schluß zeigen, »wer bestuhlgängelt worden ist«. Mit der Zeit ist sie als Mutter Goethes und als Original so etwas wie ein lebendiges Denkmal geworden. Sie nimmt auch Ruhm und Prestige immer mit einer Prise Skepsis. Sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit. Auch dies hat sie einmal an ihren Sohn geschrieben:

  • Da nun ein großer theil deines Ruhmes und Rufes auf mich zurückfällt, und die Menschen sich einbilden, ich hätte was zu dem großen Talent beygetragen, so kommen sie denn, mich zu beschauen - da stelle ich denn mein Licht nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, versichere zwar die Menschen, daß ich zu dem, was dich zum großen Mann und Tichter gemacht nicht das allermindeste beygetragen hätte. Denn das Lob, das mir nicht gebührt, nehme ich nie an, zudem weiß ich ja gar nicht wohl wem das Lob und der Dank gebührt. Denn zu deiner Bildung im Mutterleib, da alles schon im Keim in dich gelegt wurde, dazu habe ich wahrlich nichts gethan ... Vielleicht ein Gran Hirn mehr oder weniger und du wärest ein gantz ordinärer Mensch geworden, und wo nichts drinnen ist da kan nichts raus kommen ...

Zu dieser Frau also kommt Bettina noch während der Krise ihrer Beziehungen zu Karoline.
Vom »Goldenen Kopf« ins Haus am Hirschgraben ist's nicht weit. Natürlich kennt man sich unter den Familien des wohlhabenden Frankfurter Bürgertums. Aber zwischen den Brentanos und den Goethes dürfte seit den frühen Ehejahren der Maxe doch eine gewisse Reserviertheit bestanden haben. Um so etwas kümmert sich Bettina nicht. Im Gegenteil, man kann sich vorstellen, daß es ihr Spaß macht, da wider den Stachel zu löcken. Und wenn die Frau Rat, Goethes Mutter, vielleicht zu Anfang noch angenommen hat, irgendeine x-beliebige Verehrerin ihres Sohnes vor sich zu haben, so wird ihr bald klar geworden sein, daß es sich in diesem Fall damit etwas komplizierter verhält. Dieses Mädchen interessiert der junge Johann Wolfgang, der Goethe von vor dreißig Jahren. Zu ihm und der Maxe empfindet Bettina eine Art Seelenverwandtschaft.
Von dem schönen jungen Mann, von dem umworbenen Frankfurter Patriziersohn, von dem »Sturm und Drang«-Dichter des Werther will dieses Mädchen hören. Und nach allem, was über Goethes Mutter bekannt ist, bei all ihrer mangelnden Schulbildung, ja, vielleicht sogar deswegen, muß sie eine großartige mündliche Erzählerin gewesen sein.
Wie sich die Gespräche zwischen ihr und Bettina abgespielt haben, das hat diese später in Dies Buch gehört dem König [1]wie folgt geschildert:

  • Fr. Rat. Wo kommst du her, Mädchen, so erhitzt?
    Ich war vor dem Bockenheimer Tor und hab Birnen gestohlen in einem Garten.
    Frau Rat. Gestohlen? Die schmecken am besten, da wollen wir gleich eine verzehren, hol ein Messer und schäl die gelbe da. - Was brennst du? Wie bist du gelaufen! Da eß - die kühlt. Die Birn schmeckt prächtig. Das ist eine italienische Art.
    Soll ich Ihr noch mehr schaffen?
    Fr. Rat. Was das eine Frag ist? - Wann du noch mehr kriegen kannst, als her mit.
    Dann muß Sie auch mit mir sprechen, was ich will.
    Frau Rat. Red ich dann nicht immer, was du willst? Du wetterleuchst eim schon in die Seel, was du wissen willst. - Da setz dich auf die Schawell* (Fußbank) und guck mich an! - Weißt du, wie alt die Schawell ist? — Auf der hat der Wolfgang gehockt hinterm Ofen und den Homer auswendig gelernt mit seiner Schwester. Er hat auch immer so gern niedrig gesessen, als er noch klein war, heißt das; wie er so alt war wie du, da hatte er eine stolz Haltung, da war er frisiert und hat einen Haarbeutel getragen!
    Das will ich nicht wissen vom Haarbeutel!
    Fr. Rat. Was willst du dann wissen? - Er wird dir zulieb doch nicht ohne Haarbeutel haben gehn sollen? - So gut der dir jetzt nicht gefällt, so gut hat er damals andern Mädercher gefallen.
    Das will ich auch nicht hören.
    Fr. Rat. Hätt er vielleicht auf dich warten sollen, und keiner andern sollen gefallen wollen, bis du kommen wärst! Gelt, jetzt schweigst du! - jetzt bring was vor! - Was hast du getrieben seit gestern?
    Heut hab ich gelernt, daß in der Physik die Stoffe Wirkungen in die Ferne haben; dann hat gewiß auch der Geist Wirkung in die Ferne.
    Fr. Rat. Sind des die Wissenschaften, an denen du dir den Kopf zerbrichst? - Du wirst mit einem starken Kostenaufwand von Lebenszeit deinen wissenschaftlichen Unsinn bezahlen müssen. Hoffnung und Erinnerung sind auch zwei spiegelnde Fernen, aus denen webt sich der Mensch seine Lebenstage zusammen. Was aber geschehen ist, das kann er nicht wieder herbeizaubern, und was geschehen muß, kann er nicht umwandeln.
    Daran liegt mir auch nichts. Das Geschehen ist mir einerlei, ich sprech vom Zaubern.
    Fr. Rat. So! Das kommt ja ganz apart heraus!
    Wenn ich nun einen Zauberspruch kann, der zu den Geistern durchdringt?
    Fr. Rat. Was hilft dein Zauberspruch, wenn die Geister keine Ohren für dich haben. Aber laß hören, wie du's machen willst, um mit den Geistern zu verkehren?
    Fürs erste hab ich gedacht und bin's auch gewiß, daß eine große Sehnsucht mit einem starken Willen alle Räume durchfliegt - die Zeiten und die Weiten!
    Fr. Rat. So! ...Du meinst, von hier aus könntest du so sanft hinüberschweifen ins nächste Jahrhundert, um auf der linke Erdseit dein Zauberhandwerk zu treiben, weil die recht Seit schon zu verpelzt ist?
    Ja, das mein ich! Meine Gedanken wollen nicht bloß ausgebrütet sein, sie wollen auch durchgefühlt und durchgesetzt sein! - Und im nächsten Jahrhundert wird der Schall durchdringen. Sie wird mich in der Zukunft deutlich widerhallen hören, wenn Sie aufpaßt!
    Fr. Rat. Lebensfeuer hast du dazu! Laß dich nicht einschmelzen in den Alltagsschlendrian. Nehm dich zusammen, komm angeschossen wie eine Bomb, die alles auseinandersprengt, wenn's nicht in diesem Jahrhundert ist, dann im nächsten...

Von der Überwindung von Zeit ist hier die Rede, von dem Wunsch, sich den Zwängen der Dimension »Zeit« zu entziehen. Daß die Träume nicht nur in die Zeit voraus schweifen, in ein anderes Jahrhundert, sondern auch rückwärts in die Zeit der noch jungen Maxe und des jungen Goethe, beweist eine Bemerkung in jenem Abschiedsbrief Bettinas an Karoline von Günderrode:

Ich habe mir statt Deiner die Rätin Goethe zur Freundin gewählt, es ist freilich was ganz anderes, aber es liegt was im Hintergrund dabei, was mich seelig macht. Die Jugendgeschichte ihres Sohnes fließt wie kühlender Tau von ihren mütterlichen Lippen in mein brennend Herz, und hierdurch lern ich die Jugend anschauen und hierdurch lern ich, daß seine Jugend allein mich erfüllen sollte.

Es ist ein gefährliches Spiel, das da beginnt. Ein realer Mensch, ein Mann, der siebenundfünfzigjährige Johann Wolfgang Goethe, Staatsminister zu Weimar, wird in diesen Erzählungen zu Frankfurt wieder in einen Zwanzigjährigen zurückverwandelt, sehr deutlich, mit Liebe gezeichnet, aus der Erinnerung der Mutter - für ein junges Mädchen, das sich in diesen Menschen, den es in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt, verliebt. Und schließlich ermuntert die alte Frau das junge Ding auch noch, zu dem Siebenundfünfzigjährigen zu fahren. Diese Reise zu Goethe wird für Bettina zum wichtigsten Wunsch, zum zentralen Lebensziel dieser Jahre.

(23) Achim von Arnim ist im Frühjahr 1806 beim Zureiten eines Pferdes gestürzt. Er hat lange das Bett hüten müssen und während der Rekonvaleszenz auch an Goethe geschrieben. In diesem Brief zeigt sich seine kritische Haltung gegenüber den eigenen Standesgenossen. Er findet es empörend, wie selbstsüchtig der märkische Adel dahinlebt, das Wichtigste sei den meisten die Jagd, von sozialem Verantwortungsbewußtsein könne keine Rede sein. Einmal mehr wird deutlich, daß Achim zu jenen Männern in Preußen gehört, die sehr wohl um eine heraufziehende Gefahr wissen, die warnen, aber auch das Gefühl haben, ihre Warnungen seien in den Wind gesprochen.
Friedrich Wilhelm III. ist ein eher unsicherer, zaudernder Mensch, pflichtgetreu, nüchtern und mit einer »pedantischen Scheu« vor Reformen. In diesem Jahr 1806 geht es vor allem um Steuerfragen. Im Heer ist der Sold um 25% erhöht worden. Trotzdem haben viele Soldaten und Offiziere noch einen Nebenberuf. Die Zünfte beschweren sich, daß Personen aus dem niederen Adel, die von Steuern befreit sind, ihren Mitgliedern in der Stadt Konkurrenz machen. Eine königliche Finanzkommission, die der neue Finanz- und Wirtschaftsminister, Freiherr von Stein, einsetzen lassen will, soll sich mit diesem Problem befassen. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sollen verschwinden. Der Handel zwischen den einzelnen Provinzen Preußens soll durch Aufhebung der sogenannten inneren Zoll-Linien angekurbelt werden. Sogar eine allgemeine Einkommenssteuer, bei der dann auch der Adel zur Kasse gebeten würde, ist im Gespräch. Kompliziert sind die Fragen der Heeresreform. Das Heer jenes Landes, mit dem ein Krieg droht, das französische, besteht aus Bürgern in Uniform. Solche Soldaten kann man in Schützenlinie ausschwärmen lassen, ohne befürchten zu müssen, sie würden desertieren.
Die Hälfte der preußischen Armee hingegen sind Söldner, die sich nur durch brutale Disziplin zusammenhalten lassen. Es gibt einige wenige junge Offiziere, die sich darüber im klaren sind, daß sich durch sture Disziplinierung allein nie und nimmer eine schlagkräftige Truppe schaffen läßt. Also befürworten sie, daß Soldaten vorwiegend aus der Reihe der Bürger des eigenen Landes und in größerem Umfang auch aus der Gruppe der städtischen Bevölkerung rekrutiert werden sollten. Dies aber würde wiederum zu einer Schwächung von Gewerbe und Handwerk und zu einem Rückgang des Steuereinkommens aus dieser Schicht führen. Plötzlich stellt sich heraus, in wie starkem Maße in diesem Staat alles vom Heer abhängt. Ändert man etwas an dessen Aufbau und Zusammensetzung, so hat das seine Auswirkungen auf das gesamte soziale Gefüge. Also läßt man doch wohl besser alles beim alten. Rekruten holt man sich aus den polnischen Provinzen im Osten. Uralte Generäle schickt man nur deswegen nicht in Pension, weil sie schon unter Friedrich II gedient haben und damit die Unbesiegbarkeit der preußischen Monarchie zu verbürgen scheinen.
Nach seiner Genesung ist Achim zu Clemens nach Heidelberg gereist. Ende Juni ist er in Giebichenstein bei den Reichardts, den alten Freunden. Noch einmal scheint die Kriegsfurcht, die durch Deutschland geistert, wie fortgewischt. Man unternimmt Ausflüge auf die Inseln in der Saale, musiziert, fährt nach Lauchstädt, wo eine Theatertruppe aus Weimar mit der bekannten Schauspielerin Karoline Jagemann auftritt. Inzwischen spitzt sich die politische Lage immer weiter zu.
Seit Frühjahr 1803, da der Krieg zwischen Frankreich und England wieder aufgelebt ist und Napoleon Truppen nach Hannover entsandt hat, steht ein französisches Heer zwischen den westlichen und östlichen Provinzen der preußischen Monarchie. Noch immer versucht es Wilhelm III. mit einer Politik der Neutralität. Schließlich verletzen die Franzosen beim Aufmarsch gegen Österreich preußisches Territorium in Süddeutschland. Preußen soll auf seine Besitzungen im Süden und auf Cleve verzichten. Dafür bietet Napoleon Hannover an. Dies aber würde einen Konflikt mit England bedeuten.
Im August 1806 treten sechzehn süd- und westdeutsche Fürsten aus dem Deutschen Reich aus und gründen in Paris unter dem Protektorat Napoleons den Rheinbund. Napoleon, der mit Österreich Frieden geschlossen hat, sind die Hände nicht länger gebunden. Der Druck Frankreichs auf Preußen verstärkt sich. Es wird bekannt, daß Napoleon Hannover nun England angeboten hat, um sich auch mit diesem unbequemen Gegner zu verständigen. Gleichzeitig werden immer größere französische Heeresverbände an den Grenzen Preußens zusammengezogen. Im Volk, in der Beamtenschaft, selbst in der königlichen Familie wird offene Kritik an der Beschwichtigungspolitik des preußischen Königs laut. Endlich sieht sich Friedrich Wilhelm III. gedrängt, Napoleon ultimativ aufzufordern, seine Truppen von der Grenze abzuziehen. Napoleon verlangt im Gegenzug die Abrüstung Preußens. Am 9. Oktober 1806 erklärt Preußen Frankreich den Krieg. Seit Juli hält sich Achim in Göttingen auf, in der Stadt, in der er seine glücklichste Studienzeit verbracht hat. An Clemens schreibt er:

Es ist noch derselbe Ort, der Wall, wo ich Goethe sah, mein Gärtchen, wo aus Winkeln heraus noch rote Ebereschen in die Welt hängen. Ich sehe alle Gänge, alle Gassen, wo ich taumelnd um-[her]wandelte, ein glücklich gequälter Geist. Die Berge hängen voll tiefer Wolken, der Heymberg ist grüner, die Büsche größer, die kleinen Mädchen erwachsen, der saure Wein süß gealtert und doch will mich das alles nicht füllen; das neue Kriegswesen, was mich unerwartet in Hannover wie Schnee in den Hundstagen überfiel, hat mich so erkältet.

Briefe gehen zwischen den Freunden hin und her. Aus Achims Zeilen spürt man die Gewissenhaftigkeit, das Verantwortungsbewußtsein dieses jungen Mannes. Er möchte etwas tun. Er sieht, wie der König Opfer der Machtpolitik Napoleons zu werden droht, wie Preußen immer mehr isoliert wird.

Du gehörst der Welt an, ein Herz kann nur sterben für den Staat (was sich nicht lohnt!) für die Welt ist Jesus gestorben, halte Dich um Gotteswillen frei vom Gräßlichen in Deinem Leben. Werde kein Soldat in einer Zeit, wo es keine gibt; bleibe der unsichtbaren Kirche der Kunst angehörig, damit ich nicht verliere, worum ich so unsäglich gern lebe, Dein Dasein ...«

Achim und Clemens wissen um die Möglichkeit, daß zwei junge Männer aus Deutschland vielleicht gezwungen werden könnten, gegeneinander zu kämpfen: der eine auf seiten Napoleons, in einem Heer des Rheinbundes, der andere in der preußischen Armee.
Wir lernen Clemens plötzlich als einen ebenso poetisch gestimmten wie vernünftigen Hasser des Krieges kennen.

Ich bin nicht feig, aber ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn Du Krieg gegen mich führst - Weib und Kind verlassen? Arnim! meine paar Heller fielen Deinen Feinden in die Kriegskasse, kein Untertan des (Rhein-)Bundes darf außer dem Bund dienen. Du weißt nicht, wie es mich erschreckte, wärst Du Soldat, o sei keiner, der untergeht, keiner, der siegt; sei ein Mensch hoch über der Zeit und falle nicht in diesem elenden Streit um Hufen Landes.

In diesem Brief berichtet Clemens auch von dem Selbstmord der Günderrode.
Was das politische, das staatsbürgerliche Engagement angeht, so ist Achim der Meinung: »Wer des Vaterlandes Not vergißt, den wird Gott auch vergessen in seiner Not.« Aber er beruhigt den Freund:

Soldat fürchtest Du, daß ich werden möchte? Es wäre freilich das einfachste, aber wahrscheinlich auch das nutzloseste bei meiner Unkenntnis und Ungewohntheit in tausend notwendigen Dingen.

Und dann diese Sätze:

Kommt es zum Krieg, so ist unser Vaterland nicht Berlin, nicht die Mark, nicht hie und da, sondern in den Menschen; das übrige mag in Flammen aufgehen, diese werden sich daran wärmen.

Achim ist nun entschlossen, mit literarischen Waffen gegen Napoleon zu kämpfen. Er plant die Herausgabe eines patriotischen Volksblattes.
Am 26. August hat Napoleon in Braunau am Inn den Buchändler Palm als Verfasser der Flugschrift Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung standrechtlich erschießen lassen. Jetzt sieht sich Achim in der Nachfolge dieses Mannes. Interessanter als die Kriegslieder, die Achim in diesen Wochen in Göttingen drucken läßt und als Flugblätter verteilt, ist seine Schrift Was soll geschehen?, die in den Tagen kurz vor der Kriegserklärung Preußens an Frankreich geschrieben worden sein dürfte und in der sich seine Sichtweise der politischen Situation spiegelt. Napoleon, heißt es da, verdanke seinen großen Erfolg der Tatsache, daß er sich des Geistes der größten Volksbewegung der Zeit, der Französischen Revolution, zu bedienen gewußt habe. Achim sieht Napoleon als den Vollstrecker einer geschichtlichen Entwicklung, die zum Zusammenbruch der absoluten Herrschaft von Adel und Kirche führen wird. Die Zukunft werde sich nicht gemäß den Gesetzen von Stand und Herkunft regeln, in ihr würden vielmehr »Vernunft und weise Gerechtigkeit« entscheidend sein. Napoleon nehme zwar für sich in Anspruch, im Geist des Fortschritts zu handeln, tatsächlich aber bediene er sich der Mittel und Taktiken des alten Systems. Wer also Napoleon entgegentreten wolle, müsse den Geist wahren Fortschritts fördern und die revolutionären Grundsätze von Freiheit und Gleichheit verwirklichen. Achims Forderungen: »Was die [Französische] Revolution wollte, muß allgemein werden.« Der alten Adelsherrschaft müsse man nicht nachtrauern. Wohin es in einem Land durch sie komme, erlebe man ja gerade eben.
»Es muß die individuelle eingeborene Kraft jedes Einzelnen frei werden, ohne die Familienbildung (Gemeinschaft) zu vernichten«, schreibt Achim von Arnim an anderer Stelle. Und als Karl Marx und Friedrich Engels 1848, also über vierzig Jahre später, das Kommunistische Manifest verfassen, schreiben sie, was man anstrebe, sei »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller« sein müsse. Achim von Arnim - ein Frühsozialist? Das soll mit dem Hinweis auf die Ähnlichkeit der beiden Zitate durchaus nicht behauptet werden. Aber es wird daraus doch ersichtlich, daß Achim keineswegs nur ein weltfremder, versponnener Träumer von einer besseren Zeit im deutschen Mittelalter gewesen ist, sondern durchaus in der Lage war, die soziale und politische Situation seiner Zeit scharf zu analysieren. Vor allem hoffte Achim, ein aufgeklärtes, ein fortschrittliches Preußen möge »die Zügel des Fortschrittes aus den Händen Napoleons an sich reißen.« Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ganze sechs Tage benötigt das französische Heer, um Preußen an den Rand des völligen Zusammenbruchs zu bringen. Die preußische Armee hat noch nicht einmal all ihre Korps zusammengezogen, da schneidet Napoleon schon die Verbindungslinie nach Berlin ab.
Am 14. Oktober greift er die Armee unter dem Kommando des Fürsten Hohenlohe bei Jena an. Die Schlacht wird von den Franzosen gewonnen, ehe sie noch recht begonnen hat. Sie haben die günstigeren Stellungen, sind auch zahlenmäßig überlegen. Am selben Tag stößt der französische Marschall Davout weiter nördlich bei Auerstädt auf die Hauptmacht des preußischen Heeres unter dem 71jährigen Herzog von Braunschweig. Diesmal sind die Franzosen zahlenmäßig eindeutig unterlegen, aber der preußische Heerführer wird gleich zu Beginn der Schlacht verwundet, und die Einmischung des Königs stiftet mehr Verwirrung als daß sich die Soldaten mitgerissen fühlten. Auch hier siegen die Franzosen.
Achim sieht nach der Doppelschlacht eine gespenstisch bleiche Königin Luise in einer Kutsche durch Göttingen fliehen.
Als sich die Gerüchte von der katastrophalen Niederlage Preußens bestätigen, gibt Achim seinen ursprünglichen Plan auf, nach Heidelberg, Kassel oder Frankfurt zu gehen und dort Clemens und Bettina zu treffen. Er muß heim. In Berlin wartet die alte Großmutter. Um sie sollte er sich kümmern. Schon bei Duderstadt gerät er unter versprengte preußische Truppen. In der Nähe wird gekämpft. Die Hauptwege, auf denen die napoleonischen Armeen nun Preußen überrollen, meidend, ist Achim am 18. Oktober in Braunschweig, drei Tage später in Berlin. Es gelingt ihm nicht, die Großmutter Labes davon zu überzeugen, daß sie in so unruhigen Zeiten auf dem Land besser aufgehoben wäre.
Beim Ritt auf die Güter der Familie, wo er nach dem Rechten sehen will, kommt er am 23. Oktober nach Prenzlau. Hierhin haben sich Reste des bei Jena geschlagenen Korps Hohenlohe geflüchtet. Die Franzosen setzen nach. Achim erkundigt sich beim Landrat nach den Befehlen des Königs. »Den Haber dreschen!« ist die für die allgemeine Verwirrung und Ratlosigkeit bezeichnende Antwort.
Alle scheinen schon zu resignieren. Niemand fühlt sich jetzt mehr für etwas verantwortlich. Eine gespenstische Lebensgier greift um sich. Während vor den Toren der Stadt schon die ersten Scharmützel im Gange sind und Verwundete hereingebracht werden, betrinken sich die Bürger und tanzen.
In Stettin wird Achim Zeuge der Kapitulation, zusammen mit flüchtenden Soldaten und Zivilisten drängt er mit aus der Stadt. Flucht durch Pommern, zunächst nach Danzig, wo ein Verwandter, Johannes Labes, wohnt. Dann weiter nach Königsberg, wohin sich auch der Hof und die Regierung geflüchtet haben. Ende des Jahres wird die Lage in Königsberg immer bedrückender. Napoleon hat Preußen zunächst einen Friedensschluß angeboten. Als er aber gesehen hat, wie demoralisiert das Land ist, hat er nur einen Waffenstillstand geschlossen.
Am 21. November beschließt der preußische König, entgegen dem Rat der meisten seiner Minister und Generäle, den Krieg gegen Frankreich an der Seite Rußlands fortzusetzen. Der preußische Hof ist jetzt in Memel. Bei einem Zusammenwirken des russischen und des preußischen Heeres scheint es möglich, die Franzosen zurückzudrängen. Da bringt am 14. Juni 1807 Napoleon in der Schlacht von Friedland den russischen Verbündeten eine schwere Niederlage bei. Die Russen ziehen sich hinter den Njemen zurück.
In Kreisen des russischen Hofes werden kritische Stimmen laut. Warum s(22) In diesem Jahr 1806 ist Bettina wieder einmal bei der Großmutter in Frankfurt gewesen. Sie kommt auf die Hoftreppe. Sie erkennt den Garten nicht wieder:

Die hohe schwankende Pappelwand, die himmelansteigenden Treppen, die ich alle wie oft hinangestiegen bin, um der Sonne nachzusehen, um die Gewitter zu begrüßen, durchgeschnitten -zwei Drittel davon in grader Linie abgesägt! - Ich weiß nicht, wie mir geschieht, und alles will ich gern begreifen und lernen, was soll mir das schaden, aber diese Pappeln, die Zeugen meiner frühesten Spielstunden, die mich als Kind von drei Jahren mit ihren Blüten begleiteten, in die ich hineinstaunte, als ob ihre Höhe in den Himmel reichte. Ach, was soll ich dazu sagen, daß die als Stümpfe mit wenigen Ästen noch versehen nebeneinander stehen, gemeinsam Schimpf und Leid tragen. Ach ihr Baumseelen, wer konnte euch das tun?

Als sie mit der Großmutter zusammentrifft, sieht sie noch ganz blaß und verstört aus. Die Großmutter merkt sofort, was sie erschreckt hat. »Du warst im Garten?«
Sie drückt Bettina die Hand. Dann sagt sie: »Ich werde wohl nicht mehr lange leben.«
Bettina behält ihre Klage für sich, und die Großmutter fährt fort: »Das Rauschen im Abendwind war meine Freude, ich werd's nicht mehr hören. Ich hätt' mir's gefallen lassen, wenn ich unter ihrem Rauschen am letzten Abend wär' eingeschlafen. Du hast sie auch geliebt, es war dein liebster Aufenthalt. Ich habe dich oft vom Fenster in ihre Wipfeln abends steigen sehen, und du glaubtest, es sah es niemand... Nimm meinen Segen, liebes Kind. Ich habe an dich gedacht, wie man sie trotz schmerzlicher Verletzung meiner Gefühle verstümmelte.«
Bettina fragt nicht, wer denn angeordnet habe, daß die Pappeln so verschandelt worden sind. Was würde das ändern. Wichtiger ist ihr, sich in diesem Augenblick mit der Großmutter eins zu wissen, eins in der Empfindung, daß Bäume lebende Wesen sind, die man lieben kann.
Die Episode mit den abgehauenen Pappeln in Offenbach zeigt auch Bettinas Vorliebe, ja ihr Bedürfnis, mit alten Menschen umzugehen. Vielleicht hat sie erfahren, daß alte Menschen auf Grund ihrer langen Lebenserfahrung und ihrer Nähe zum Tod eine Sensibilität entwickeln können, die der ihren verwandt ist. Und dann: Bettina braucht immer ein Ziel, auf das hin sie ihre Liebe verströmen kann. Liebe, sie wird das später auch verstandesmäßig begreifen und formulieren können, einem Menschen unbedingte Zuneigung entgegenbringen, ihn so kennenzulernen, wie man ein anderes Land kennenlernt, das ist für sie Kunst, ein kreativer Vorgang.
Nicht zuletzt, weil sie, nun schon Anfang zwanzig und noch nicht verheiratet, sich, angebunden an den Haushalt des Stiefbruders oder des Schwagers, häufig wie das fünfte Rad am Wagen vorkommt, sucht sie nach Menschen, die sie mit Haut und Haar lieben kann. Sie entwickelt dabei eine Intensität, über die andere sich lustig machen, die viele auch verschreckt.
Auf dem Dachboden im Haus der Großmutter findet Bettina ein Bündel Briefe des jungen Goethe an Maximiliane, Bettinas Mutter. In diesen Briefen des jungen Goethe stößt sie auf Sätze, die sie deswegen so sehr betroffen machen, weil sie von ihr selbst sein könnten:

Ich begreife die Menschen nicht, ich muß mich noch so oft über sie wundern und daran spür ich, wie jung ich bin.
In der Welt ist's wirklich nicht so schlimm, es ist nur anders, als wir's uns vorstellen.

Und dann ist da jener Brief an die Großmutter, in dem es über die Mutter heißt:

Die liebe Maxe sehe ich selten, doch wenn sie mir begegnet, ist's immer eine Erscheinung vom Himmel... Von Ihrer Maxe kann ich nicht lassen, so lange ich lebe, und ich werde sie immer lieben dürfen.

Oder auch:

Das Geliebte besitzen wollen... ist nicht der ewigen Liebe würdig.

Bettina, die, wie sie es selbst sieht, »durch den Verlust der besten Freundin an Mut und Wahrheit gewonnen« hat, sucht nun die Mutter Goethes auf, die Frau Rat, eine alte Frau, die recht isoliert lebt, jedenfalls vernachlässigt von dem berühmten Sohn, der sie über Jahre hin nicht besuchen kommt.
Diese Frau Aja ist eine ganz besondere Frau.
Sie stammt aus der Juristenfamilie der Textors. Der Vater hat es im Alter zum Schultheiß, also zum Leiter des städtischen Justizwesens von Frankfurt gebracht. Für die Erziehung seiner Töchter hat er nicht viel ausgeben wollen. Sie haben nur notdürftig Lesen und Schreiben gelernt und sind dann, ohne daß viel nach ihren Neigungen gefragt worden wäre, standesgemäß verheiratet worden. Aja eben an den schon etwas ältlichen, aber wohlhabenden Rat Goethe.
Von Ajas Kindern haben nur zwei überlebt: Johann Wolf gang und Cornelia; drei weitere Kinder sind gestorben. Das ist nicht ungewöhnlich. Viele Frauen haben ähnliches erlebt. Sie hat mit einem schwierigen Mann auskommen, einen begabten, aber auch gefährdeten Sohn und eine mißmutige, verklemmte Tochter aufziehen müssen. Dabei ist sie auch noch im Alter von heiterem Naturell, ohne Zimperlichkeit, drastisch aus Lust an Anschaulichkeit. Sie nennt die Frau, mit der ihr Sohn jahrelang unverheiratet zusammenlebt, dessen »Bettschatz« und die griechischen Plastiken, die ihr Mann im Haus am Hirschgraben aufstellt, »Nacktärsche«. Wenn andere in Kriegszeiten bei Siegen dieser oder jener Partei Beifall klatschen, schreibt sie, es werde sich erst am Schluß zeigen, »wer bestuhlgängelt worden ist«. Mit der Zeit ist sie als Mutter Goethes und als Original so etwas wie ein lebendiges Denkmal geworden. Sie nimmt auch Ruhmund Prestige immer mit einer Prise Skepsis. Sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit. Auch dies hat sie einmal an ihren Sohn geschrieben:

Da nun ein großer theil deines Ruhmes und Rufes auf mich zurückfällt, und die Menschen sich einbilden, ich hätte was zu dem großen Talent beygetragen, so kommen sie denn, mich zu beschauen-da stelle ich denn mein Licht nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, versichere zwar die Menschen, daß ich zu dem, was dich zum großen Mann und Tichter gemacht nicht das allermindeste beygetragen hätte. Denn das Lob, das mir nicht gebührt, nehme ich nie an, zudem weiß ich ja gar nicht wohl wem das Lob und der Dank gebührt. Denn zu deiner Bildung im Mutterleib, da alles schon im Keim in dich gelegt wurde, dazu habe ich wahrlich nichts gethan ... Vielleicht ein Gran Hirn mehr oder weniger und du wärest ein gantz ordinärer Mensch geworden, und wo nichts drinnen ist da kan nichts raus kommen ...

Zu dieser Frau also kommt Bettina noch während der Krise ihrer Beziehungen zu Karoline.
Vom »Goldenen Kopf« ins Haus am Hirschgraben ist's nicht weit. Natürlich kennt man sich unter den Familien des wohlhabenden Frankfurter Bürgertums. Aber zwischen den Brentanos und den Goethes dürfte seit den frühen Ehe jähren der Maxe doch eine gewisse Reserviertheit bestanden haben. Um so etwas kümmert sich Bettina nicht. Im Gegenteil, man kann sich vorstellen, daß es ihr Spaß macht, da wider den Stachel zu locken. Und wenn die Frau Rat, Goethes Mutter, vielleicht zu Anfang noch angenommen hat, irgendeine x-beliebige Verehrerin ihres Sohnes vor sich zu haben, so wird ihr bald klar geworden sein, daß es sich in diesem Fall damit etwas komplizierter verhält. Dieses Mädchen interessiert der junge Johann Wolfgang, der Goethe von vor dreißig Jahren. Zu ihm und der Maxe empfindet Bettina eine Art Seelenverwandtschaft.
Von dem schönen jungen Mann, von dem umworbenen Frankfurter Patriziersohn, von dem »Sturm und Drang«-Dichter des Werther will dieses Mädchen hören. Und nach allem, was über Goethes Mutter bekannt ist, bei all ihrer mangelnden Schulbildung, ja, vielleicht sogar deswegen, muß sie eine großartige mündliche Erzählerin gewesen sein.
Wie sich die Gespräche zwischen ihr und Bettina abgespielt haben, das hat diese später in Dies Buch gehört dem König wie folgt geschildert:

Fr. Rat. Wo kommst du her, Mädchen, so erhitzt?
Ich war vor dem Bockenheimer Tor und hab Birnen gestohlen in
einem Garten.
Frau Rat. Gestohlen? Die schmecken am besten, da wollen wir
gleich eine verzehren, hol ein Messer und schäl die gelbe da.-Was
brennst du? Wie bist du gelaufen! Da eß - die kühlt. Die Birn
schmeckt prächtig. Das ist eine italienische Art.
Soll ich Ihr noch mehr schaffen?
Fr. Rat. Was das eine Frag ist?-Wann du noch mehr kriegen kannst,
als her mit.
Dann muß Sie auch mit mir sprechen, was ich will.
Frau Rat. Red ich dann nicht immer, was du willst? Du wetterleuchst
eim schon in die Seel, was du wissen willst. - Da setz dich auf die
Schawell* (Fußbank) und guck mich an!-Weißt du, wiealtdieSchawell ist? —
Auf der hat der Wolfgang gehockt hinterm Ofen und den Homer
auswendig gelernt mit seiner Schwester. Er hat auch immer so gern
niedrig gesessen, als er noch klein war, heißt das; wie er so alt war
wie du, da hatte er eine stolz Haltung, da war er frisiert und hat einen
Haarbeutel getragen!
Das will ich nicht wissen vom Haarbeutel!
Fr. Rat. Was willst du dann wissen? - Er wird dir zulieb doch nicht ohne Haarbeutel haben gehn sollen? - So gut der dir jetzt nicht gefällt, so gut hat er damals andern Mädercher gefallen. Das will ich auch nicht hören.
Fr. Rat. Hätt er vielleicht auf dich warten sollen, und keiner andern sollen gefallen wollen, bis du kommen wärst! Gelt, jetzt schweigst du! - jetzt bring was vor! - Was hast du getrieben seit gestern? Heut hab ich gelernt, daß in der Physik die Stoffe Wirkungen in die Ferne haben; dann hat gewiß auch der Geist Wirkung in die Ferne.
Fr. Rat. Sind des die Wissenschaften, an denen du dir den Kopf zerbrichst? - Du wirst mit einem starken Kostenaufwand von Lebenszeit deinen wissenschaftlichen Unsinn bezahlen müssen. Hoffnung und Erinnerung sind auch zwei spiegelnde Fernen, aus denen webt sich der Mensch seine Lebenstage zusammen. Was aber geschehen ist, das kann er nicht wieder herbeizaubern, und was geschehen muß, kann er nicht umwandeln. Daran liegt mir auch nichts. Das Geschehen ist mir einerlei, ich sprech vom Zaubern.
Fr. Rat. So! Das kommt ja ganz apart heraus! Wenn ich nun einen Zauberspruch kann, der zu den Geistern durchdringt?
Fr. Rat. Was hilft dein Zauberspruch, wenn die Geister keine Ohren für dich haben. Aber laß hören, wie du's machen willst, um mit den Geistern zu verkehren?
Fürs erste hab ich gedacht und bin's auch gewiß, daß eine große Sehnsucht mit einem starken Willen alle Räume durchfliegt - die Zeiten und die Weiten!
Fr. Rat. So! ...Du meinst, von hier aus könntest du so sanft hinüberschweifen ins nächste Jahrhundert, um auf der linke Erdseit dein Zauberhandwerk zu treiben, weil die recht Seit schon zu verpelzt ist?
Ja, das mein ich! Meine Gedanken wollen nicht bloß ausgebrütet sein, sie wollen auch durchgefühlt und durchgesetzt sein! - Und im nächsten Jahrhundert wird der Schall durchdringen. Sie wird mich in der Zukunft deutlich widerhallen hören, wenn Sie aufpaßt! Fr. Rat. Lebensfeuer hast du dazu! Laß dich nicht einschmelzen in den Alltagsschlendrian. Nehm dich zusammen, komm angeschossen wie eine Bomb, die alles auseinandersprengt, wenn's nicht in diesem Jahrhundert ist, dann im nächsten...

Von der Überwindung von Zeit ist hier die Rede, von dem Wunsch, sich den Zwängen der Dimension »Zeit« zu entziehen. Daß die Träume nicht nur in die Zeit voraus schweifen, in ein anderes Jahrhundert, sondern auch rückwärts in die Zeit der noch jungen Maxe und des jungen Goethe, beweist eine Bemerkung in jenem Abschiedsbrief Bettinas an Karoline von Günderrode:

Ich habe mir statt Deiner die Rätin Goethe zur Freundin gewählt, es ist freilich was ganz anderes, aber es liegt was im Hintergrund dabei, was mich seelig macht. Die Jugendgeschichte ihres Sohnes fließt wie kühlender Tau von ihren mütterlichen Lippen in mein brennend Herz, und hierdurch lern ich die Jugend anschauen und hierdurch lern ich, daß seine Jugend allein mich erfüllen sollte.

Es ist ein gefährliches Spiel, das da beginnt. Ein realer Mensch, ein Mann, der siebenundfünfzigjährige Johann Wolfgang Goethe, Staatsminister zu Weimar, wird in diesen Erzählungen zu Frankfurt wieder in einen Zwanzigjährigen zurückverwandelt, sehr deutlich, mit Liebe gezeichnet, aus der Erinnerung der Mutter - für ein junges Mädchen, das sich in diesen Menschen, den es in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt, verliebt. Und schließlich ermuntert die alte Frau das junge Ding auch noch, zu dem Siebenundfünfzigjährigen zu fahren. Diese Reise zu Goethe wird für Bettina zum wichtigsten Wunsch, zum zentralen Lebensziel dieser Jahre.

(23) Achim von Arnim ist im Frühjahr 1806 beim Zureiten eines Pferdes gestürzt. Er hat lange das Bett hüten müssen und während der Rekonvaleszenz auch an Goethe geschrieben. In diesem Brief zeigt sich seine kritische Haltung gegenüber den eigenen Standesgenossen. Er findet es empörend, wie selbstsüchtig der märkische Adel dahinlebt, das Wichtigste sei den meisten die Jagd, von sozialem Verantwortungsbewußtsein könne keine Rede sein. Einmal mehr wird deutlich, daß Achim zu jenen Männern in Preußen gehört, die sehr wohl um eine heraufziehende Gefahr wissen, die warnen, aber auch das Gefühl haben, ihre Warnungen seien in den Wind gesprochen.
Friedrich Wilhelm III. ist ein eher unsicherer, zaudernder Mensch, pflichtgetreu, nüchtern und mit einer »pedantischen Scheu« vor Reformen. In diesem Jahr 1806 geht es vor allem um Steuerfragen. Im Heer ist der Sold um 25% erhöht worden. Trotzdem haben viele Soldaten und Offiziere noch einen Nebenberuf. Die Zünfte beschweren sich, daß Personen aus dem niederen Adel, die von Steuern befreit sind, ihren Mitgliedern in der Stadt Konkurrenz machen. Eine königliche Finanzkommission, die der neue Finanz- und Wirtschaftsminister, Freiherr von Stein, einsetzen lassen will, soll sich mit diesem Problem befassen. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sollen verschwinden. Der Handel zwischen den einzelnen Provinzen Preußens soll durch Aufhebung der sogenannten inneren Zoll-Linien angekurbelt werden. Sogar eine allgemeine Einkommenssteuer, bei der dann auch der Adel zur Kasse gebeten würde, ist im Gespräch. Kompliziert sind die Fragen der Heeresreform. Das Heer jenes Landes, mit dem ein Krieg droht, das französische, besteht aus Bürgern in Uniform. Solche Soldaten kann man in Schützenlinie ausschwärmen lassen, ohne befürchten zu müssen, sie würden desertieren.
Die Hälfte der preußischen Armee hingegen sind Söldner, die sich nur durch brutale Disziplin zusammenhalten lassen. Es gibt einige wenige junge Offiziere, die sich darüber im klaren sind, daß sich durch sture Disziplinierung allein nie und nimmer eine schlagkräftige Truppe schaffen läßt. Also befürworten sie, daß Soldaten vorwiegend aus der Reihe der Bürger des eigenen Landes und in größerem Umfang auch aus der Gruppe der städtischen Bevölkerung rekrutiert werden sollten. Dies aber würde wiederum zu einer Schwächung von Gewerbe und Handwerk und zu einem Rückgang des Steuereinkommens aus dieser Schicht führen. Plötzlich stellt sich heraus, in wie starkem Maße in diesem Staat alles vom Heer abhängt. Ändert man etwas an dessen Aufbau und Zusammensetzung, so hat das seine Auswirkungen auf das gesamte soziale Gefüge. Also läßt man doch wohl besser alles beim alten. Rekruten holt man sich aus den polnischen Provinzen im Osten. Uralte Generäle schickt man nur deswegen nicht in Pension, weil sie schon unter Friedrich II gedient haben und damit die Unbesiegbarkeit der preußischen Monarchie zu verbürgen scheinen.
Nach seiner Genesung ist Achim zu Clemens nach Heidelberg gereist. Ende Juni ist er in Giebichenstein bei den Reichardts, den alten Freunden. Noch einmal scheint die Kriegsfurcht, die durch Deutschland geistert, wie fortgewischt. Man unternimmt Ausflüge auf die Inseln in der Saale, musiziert, fährt nach Lauchstädt, wo eine Theatertruppe aus Weimar mit der bekannten Schauspielerin Karoline Jagemann auftritt. Inzwischen spitzt sich die politische Lage immer weiter zu.
Seit Frühjahr 1803, da der Krieg zwischen Frankreich und England wieder aufgelebt ist und Napoleon Truppen nach Hannover entsandt hat, steht ein französisches Heer zwischen den westlichen und östlichen Provinzen der preußischen Monarchie. Noch immer versucht es Wilhelm III. mit einer Politik der Neutralität. Schließlich verletzen die Franzosen beim Aufmarsch gegen Österreich preußisches Territorium in Süddeutschland. Preußen soll auf seine Besitzungen im Süden und auf Cleve verzichten. Dafür bietet Napoleon Hannover an. Dies aber würde einen Konflikt mit England bedeuten.
Im August 1806 treten sechzehn süd- und westdeutsche Fürsten aus dem Deutschen Reich aus und gründen in Paris unter dem Protektorat Napoleons den Rheinbund. Napoleon, der mit Österreich Frieden geschlossen hat, sind die Hände nicht länger gebunden. Der Druck Frankreichs auf Preußen verstärkt sich. Es wird bekannt, daß Napoleon Hannover nun England angeboten hat, um sich auch mit diesem unbequemen Gegner zu verständigen. Gleichzeitig werden immer größere französische Heeresverbände an den Grenzen Preußens zusammengezogen. Im Volk, in der Beamtenschaft, selbst in der königlichen Familie wird offene Kritik an der Beschwichtigungspolitik des preußischen Königs laut. Endlich sieht sich Friedrich Wilhelm III. gedrängt, Napoleon ultimativ aufzufordern, seine Truppen von der Grenze abzuziehen. Napoleon verlangt im Gegenzug die Abrüstung Preußens. Am 9. Oktober 1806 erklärt Preußen Frankreich den Krieg. Seit Juli hält sich Achim in Göttingen auf, in der Stadt, in der er seine glücklichste Studienzeit verbracht hat. An Clemens schreibt er:

Es ist noch derselbe Ort, der Wall, wo ich Goethe sah, mein Gärtchen, wo aus Winkeln heraus noch rote Ebereschen in die Welt hängen. Ich sehe alle Gänge, alle Gassen, wo ich taumelnd um-[her]wandelte, ein glücklich gequälter Geist. Die Berge hängen voll tiefer Wolken, der Heymberg ist grüner, die Büsche größer, die kleinen Mädchen erwachsen, der saure Wein süß gealtert und doch will mich das alles nicht füllen; das neue Kriegswesen, was mich unerwartet in Hannover wie Schnee in den Hundstagen überfiel, hat mich so erkältet.

Briefe gehen zwischen den Freunden hin und her. Aus Achims Zeilen spürt man die Gewissenhaftigkeit, das Verantwortungsbewußtsein dieses jungen Mannes. Er möchte etwas tun. Er sieht, wie der König Opfer der Machtpolitik Napoleons zu werden droht, wie Preußen immer mehr isoliert wird.

Du gehörst der Welt an, ein Herz kann nur sterben für den Staat (was sich nicht lohnt!) für die Welt ist Jesus gestorben, halte Dich um Gotteswillen frei vom Gräßlichen in Deinem Leben. Werde kein Soldat in einer Zeit, wo es keine gibt; bleibe der unsichtbaren Kirche der Kunst angehörig, damit ich nicht verliere, worum ich so unsäglich gern lebe, Dein Dasein ...«

Achim und Clemens wissen um die Möglichkeit, daß zwei junge Männer aus Deutschland vielleicht gezwungen werden könnten, gegeneinander zu kämpfen: der eine auf seiten Napoleons, in einem Heer des Rheinbundes, der andere in der preußischen Armee.
Wir lernen Clemens plötzlich als einen ebenso poetisch gestimmten wie vernünftigen Hasser des Krieges kennen.

Ich bin nicht feig, aber ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn Du Krieg gegen mich führst - Weib und Kind verlassen? Arnim! meine paar Heller fielen Deinen Feinden in die Kriegskasse, kein Untertan des (Rhein-)Bundes darf außer dem Bund dienen. Du weißt nicht, wie es mich erschreckte, wärst Du Soldat, o sei keiner, der untergeht, keiner, der siegt; sei ein Mensch hoch über der Zeit und falle nicht in diesem elenden Streit um Hufen Landes.

In diesem Brief berichtet Clemens auch von dem Selbstmord der Günderrode.
Was das politische, das staatsbürgerliche Engagement angeht, so ist Achim der Meinung: »Wer des Vaterlandes Not vergißt, den wird Gott auch vergessen in seiner Not.« Aber er beruhigt den Freund:

Soldat fürchtest Du, daß ich werden möchte? Es wäre freilich das einfachste, aber wahrscheinlich auch das nutzloseste bei meiner Unkenntnis und Ungewohntheit in tausend notwendigen Dingen.

Und dann diese Sätze:

Kommt es zum Krieg, so ist unser Vaterland nicht Berlin, nicht die Mark, nicht hie und da, sondern in den Menschen; das übrige mag in Flammen aufgehen, diese werden sich daran wärmen.

Achim ist nun entschlossen, mit literarischen Waffen gegen Napoleon zu kämpfen. Er plant die Herausgabe eines patriotischen Volksblattes.
Am 26. August hat Napoleon in Braunau am Inn den Buchändler Palm als Verfasser der Flugschrift Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung standrechtlich erschießen lassen. Jetzt sieht sich Achim in der Nachfolge dieses Mannes. Interessanter als die Kriegslieder, die Achim in diesen Wochen in Göttingen drucken läßt und als Flugblätter verteilt, ist seine Schrift Was soll geschehen?, die in den Tagen kurz vor der Kriegserklärung Preußens an Frankreich geschrieben worden sein dürfte und in der sich seine Sichtweise der politischen Situation spiegelt. Napoleon, heißt es da, verdanke seinen großen Erfolg der Tatsache, daß er sich des Geistes der größten Volksbewegung der Zeit, der Französischen Revolution, zu bedienen gewußt habe. Achim sieht Napoleon als den Vollstrecker einer geschichtlichen Entwicklung, die zum Zusammenbruch der absoluten Herrschaft von Adel und Kirche führen wird. Die Zukunft werde sich nicht gemäß den Gesetzen von Stand und Herkunft regeln, in ihr würden vielmehr »Vernunft und weise Gerechtigkeit« entscheidend sein. Napoleon nehme zwar für sich in Anspruch, im Geist des Fortschritts zu handeln, tatsächlich aber bediene er sich der Mittel und Taktiken des alten Systems. Wer also Napoleon entgegentreten wolle, müsse den Geist wahren Fortschritts fördern und die revolutionären Grundsätze von Freiheit und Gleichheit verwirklichen. Achims Forderungen: »Was die [Französische] Revolution wollte, muß allgemein werden.« Der alten Adelsherrschaft müsse man nicht nachtrauern. Wohin es in einem Land durch sie komme, erlebe man ja gerade eben.
»Es muß die individuelle eingeborene Kraft jedes Einzelnen frei werden, ohne die Familienbildung (Gemeinschaft) zu vernichten«, schreibt Achim von Arnim an anderer Stelle. Und als Karl Marx und Friedrich Engels 1848, also über vierzig Jahre später, das Kommunistische Manifest verfassen, schreiben sie, was man anstrebe, sei »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller« sein müsse. Achim von Arnim - ein Frühsozialist? Das soll mit dem Hinweis auf die Ähnlichkeit der beiden Zitate durchaus nicht behauptet werden. Aber es wird daraus doch ersichtlich, daß Achim keineswegs nur ein weltfremder, versponnener Träumer von einer besseren Zeit im deutschen Mittelalter gewesen ist, sondern durchaus in der Lage war, die soziale und politische Situation seiner Zeit scharf zu analysieren. Vor allem hoffte Achim, ein aufgeklärtes, ein fortschrittliches Preußen möge »die Zügel des Fortschrittes aus den Händen Napoleons an sich reißen.« Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ganze sechs Tage benötigt das französische Heer, um Preußen an den Rand des völligen Zusammenbruchs zu bringen. Die preußische Armee hat noch nicht einmal all ihre Korps zusammengezogen, da schneidet Napoleon schon die Verbindungslinie nach Berlin ab.
Am 14. Oktober greift er die Armee unter dem Kommando des Fürsten Hohenlohe bei Jena an. Die Schlacht wird von den Franzosen gewonnen, ehe sie noch recht begonnen hat. Sie haben die günstigeren Stellungen, sind auch zahlenmäßig überlegen. Am selben Tag stößt der französische Marschall Davout weiter nördlich bei Auerstädt auf die Hauptmacht des preußischen Heeres unter dem 71jährigen Herzog von Braunschweig. Diesmal sind die Franzosen zahlenmäßig eindeutig unterlegen, aber der preußische Heerführer wird gleich zu Beginn der Schlacht verwundet, und die Einmischung des Königs stiftet mehr Verwirrung als daß sich die Soldaten mitgerissen fühlten. Auch hier siegen die Franzosen.
Achim sieht nach der Doppelschlacht eine gespenstisch bleiche Königin Luise in einer Kutsche durch Göttingen fliehen.
Als sich die Gerüchte von der katastrophalen Niederlage Preußens bestätigen, gibt Achim seinen ursprünglichen Plan auf, nach Heidelberg, Kassel oder Frankfurt zu gehen und dort Clemens und Bettina zu treffen. Er muß heim. In Berlin wartet die alte Großmutter. Um sie sollte er sich kümmern. Schon bei Duderstadt gerät er unter versprengte preußische Truppen. In der Nähe wird gekämpft. Die Hauptwege, auf denen die napoleonischen Armeen nun Preußen überrollen, meidend, ist Achim am 18. Oktober in Braunschweig, drei Tage später in Berlin. Es gelingt ihm nicht, die Großmutter Labes davon zu überzeugen, daß sie in so unruhigen Zeiten auf dem Land besser aufgehoben wäre.
Beim Ritt auf die Güter der Familie, wo er nach dem Rechten sehen will, kommt er am 23. Oktober nach Prenzlau. Hierhin haben sich Reste des bei Jena geschlagenen Korps Hohenlohe geflüchtet. Die Franzosen setzen nach. Achim erkundigt sich beim Landrat nach den Befehlen des Königs. »Den Haber dreschen!« ist die für die allgemeine Verwirrung und Ratlosigkeit bezeichnende Antwort.
Alle scheinen schon zu resignieren. Niemand fühlt sich jetzt mehr für etwas verantwortlich. Eine gespenstische Lebensgier greift um sich. Während vor den Toren der Stadt schon die ersten Scharmützel im Gange sind und Verwundete hereingebracht werden, betrinken sich die Bürger und tanzen.
In Stettin wird Achim Zeuge der Kapitulation, zusammen mit flüchtenden Soldaten und Zivilisten drängt er mit aus der Stadt. Flucht durch Pommern, zunächst nach Danzig, wo ein Verwandter, Johannes Labes, wohnt. Dann weiter nach Königsberg, wohin sich auch der Hof und die Regierung geflüchtet haben. Ende des Jahres wird die Lage in Königsberg immer bedrückender. Napoleon hat Preußen zunächst einen Friedensschluß angeboten. Als er aber gesehen hat, wie demoralisiert das Land ist, hat er nur einen Waffenstillstand geschlossen.
Am 21. November beschließt der preußische König, entgegen dem Rat der meisten seiner Minister und Generäle, den Krieg gegen Frankreich an der Seite Rußlands fortzusetzen. Der preußische Hof ist jetzt in Memel. Bei einem Zusammenwirken des russischen und des preußischen Heeres scheint es möglich, die Franzosen zurückzudrängen. Da bringt am 14. Juni 1807 Napoleon in der Schlacht von Friedland den russischen Verbündeten eine schwere Niederlage bei. Die Russen ziehen sich hinter den Njemen zurück.
In Kreisen des russischen Hofes werden kritische Stimmen laut. Warum soll man sich in Westeuropa einmischen? Der Zar läßt sich von diesen Überlegungen beeinflussen und verständigt sich mit Napoleon. Es kommt am 7. Juli 1807 zum Frieden von Tilsit. Preußen muß in die Abtretung aller Territorien westlich der Elbe einwilligen, die Lausitz an Sachsen abtreten. In die Festungen an der Oder ziehen französische Truppen ein. Danzig wird Freie Stadt mit französischer Besatzung. Der Abzug der französischen Truppen aus den Provinzen Preußens östlich der Elbe wird von der Zahlung einer hohen Entschädigungssumme abhängig gemacht. Ein Bittgang der Königin zu Napoleon bleibt ohne Erfolg, hat aber eine große moralische Wirkung. Napoleon ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. Innerhalb eines Jahres ist Preußen zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. In diesen Monaten der Niederlage beginnt in Königsberg in einem Kreis von Männern, zu dem Achim von Arnim rasch Kontakt aufnimmt, so etwas wie eine kritische Bestandsaufnahme, ein Nachdenken darüber, was zu geschehen habe, damit Preußen nicht völlig untergehe. Es ist die Chance des Nullpunktes, die Männer wie Scharnhorst, Freiherr von Stein und Heinrich von Kleist zu nutzen trachten.
Bezeichnend für die Gesinnung dieses Kreises ist ein (übrigens nie veröffentlichter) Aufsatz Achim von Arnims mit dem Titel: Vom einzigen Rettungsweg unseres Staates.
Achim analysiert darin die Gründe für die Niederlage und den Sturz Preußens. Er sieht die Ursachen vor allem »in der mangelnden Verbindung zwischen Volk und Staat, zwischen Soldat und Offizier, zwischen oben und unten.« Er weiß, daß es da Vorurteile gibt, die zählebig sind, aber von ihrer Überwindung hängt, so meint er, die Zukunft des Gemeinwesens ab. Er fordert, daß der König das ganze Volk für adlig erkläre. Talent solle entscheiden, nicht Geburtsrecht. Es ist bezeichnend für die Verhältnisse im Preußen dieser Jahre, daß solche Gedanken zwar niedergeschrieben werden konnten, aber nicht gedruckt wurden.
Viel Enttäuschung spricht aus dem Satz Achims: »Ich fühle es, daß der Staat mich jetzt nicht eigentlich gebrauchen kann.« Auch seine persönliche Situation ist in Königsberg alles andere als einfach. Er hat sich in Auguste Schwinck, die Tochter seines Hauswirts verliebt. Obwohl er täglich mit ihr zusammen ist und sonst durchaus nicht gehemmt ist im Umgang mit Mädchen und Frauen, wagt er nicht, ihr seine Liebe zu gestehen. Das Bild, das er von ihr in Briefen entwirft, bleibt merkwürdig blaß. Die Schwincks sind eine der alten Königsberger Familien. Eine Tochter aus gutem Haus hat viele Verehrer, ist eine gute Partie. Auguste scheint kühl und kokett gewesen zu sein. Sie flirtet gern, liebt rasche, geistreiche Antworten. Für Achim, der es gewöhnt ist, Frauen zu gefallen, hat sie kaum einen Blick. Er dehnt seinen Aufenthalt in Königsberg immer weiter aus - mit der Entschuldigung vor sich selbst, er müsse sie beschützen. Beschützen wovor? - Wenn die Russen kommen! Wenn die Franzosen kommen. Und dann sind die Franzosen da. Am 16. Juni 1807 rücken sie ein. Es kommt zu einer Kanonade. Bomben fallen auf die Stadt. Der Militärgouverneur und der kommandierende General der Preußen streiten sich, ob die unbefestigte Stadt verteidigt oder vor Einmarsch der Franzosen in Brand gesteckt werden solle. Schließlich reitet General von Rüchel wütend davon, und »die öde Burg von Troja bleibt stehen« - so Achim in einem Brief.
Der Krieg hat die Postverbindung von West nach Ost und in umgekehrter Richtung unterbrochen. Selbst Briefe aus Berlin kommen nach Königsberg nicht mehr durch. Sie werden auf der Post nicht einmal mehr angenommen, wie die Großmutter erfahren muß. Seine Freunde in Frankfurt und Heidelberg - oder wo immer Bettina und Clemens jetzt sein mögen - weist Achim an, alle Post über Kopenhagen laufen zu lassen.
In einem Spital in Königsberg stirbt ein Doktor Schlosser, ein Sohn des Mannes der Goethe-Schwester Cornelia, aus dessen zweiter Ehe. Auf dem Totenbett erzählt er Achim, er habe in der Zeitung eine Todesanzeige von Sophie Brentano gelesen. Ein anderer eifriger Zeitungsleser, den Achim zur Überprüfung befragt, weiß nichts davon. Vier Monate lang bleibt die Verbindung zwischen dem Territorium des Rheinbundes und Ostpreußen unterbrochen. Dann endlich kommt der erste Brief von Bettina, aus Kassel. Sie schreibt, sie sei vor acht Wochen vor Achims Wohnung in Berlin vorbeigetrippelt, auf der Reise nach Weimar, wo sie den bewunderten Goethe zum ersten Mal besucht hat.
Es ist ein sehr liebenswerter Brief, wenn man bedenkt, daß er die Antwort auf Achims Klagen über seine unerwiderte Liebe zu Auguste Schwinck darstellt:

O Arnim! Wenn Sie wüßten, wieviel Liebe auch für Sie in mein Leben eingewebt ist! Alle Rosen, die der Frühling noch übrig gelassen hat, die hier an meinem Fenster heraufblühen und verblühen, ich möchte sie losreißen und Sie mit Ihrer Wehmut darin begraben... o was tat ich nicht, um Euch still zu machen.

Es stellt sich heraus, daß die Rollen nun vertauscht sind. War sie sonst zumeist die Bittende, die ungeduldig Wartende, so ist's jetzt er:

...schreiben Sie, ich bitte, ich flehe, und wenn Sie mich auch ganz vergessen hätten ... Sie leben in so glücklicher Gegend: nur ein Wort daher in diese verwüstete, ausgehungerte, abgebrannte Welt.

So Achim.
Und wie sieht Bettina seine Liebe zu der anderen? Nach Trost zu Anfang wird entschieden darauf verwiesen, daß eine solche Erfahrung ganz heilsam sei.

Wie ist das, Achim? Sie haben das Mädchen so lieb, diese weiß es nicht, und ist auch nicht wie Sie? - Das schadet nichts, war mir doch auch so mit Ihnen und mit allem, was ich begehrte in meinem Leben.

Und wieder Achim:

...Ihr Brief war eine Leuchtkugel, welche die Öde meiner Gegend mir erhellte, wo ich kaum ein Ohr finde, das meine Worte anhören mag ... mit welcher Freude habe ich immer wieder gelesen, daß Sie von meinem Wesen etwas halten, das mir selbst überdrüssig wird ... Vielleicht bin ich bald bei Ihnen, und mit welcher Freude denke ich an dieses. Vielleicht, weil ich vieles leicht zu denken* (*leichtzunehmen) habe lernen müssen. Tagtäglich werde ich hier fremder, und ich verwundere mich, daß die Häuser noch aussehen wie sonst, daß mich die Wellen noch tragen wie sonst.

In Achims Briefen werden Szenen beschrieben, in denen das Quälende seiner Beziehung zu Auguste sehr lebendig wird:

...heute ging ich hin zu ihr mit meinem Stammbuch und bat sie, sich einzuschreiben und zu vergessen, wenn ich ihr unangenehm gewesen, mir schnitt das durch die Seele, sie lächelte und fragte, wie man so reden könnte. Ich löse diese Rätsel nicht. Ich weiß nur, daß ich etwas in der Welt bedarf, was ich lieben muß.

Mit Augustes Mutter hat Achim eine Aussprache. Sie sagt, ihr Mann und sie würden eine Verbindung zwischen ihm und ihrer Tochter gern sehen, aber sie habe den Eindruck, daß Auguste ihn nicht liebe. Und sie fährt fort:

  • »Nur müssen Sie, mein lieber von Arnim, auch nicht gleich an Liebe denken, wenn sie einmal einem anderen schöne Augen macht. Das hat bei ihr wenig zu bedeuten. Sie ist eine Kokette. Sie hat es gern, die Männer anzuzünden.«
    »Es ist recht unglücklich mit uns zugegangen.« »Ei freilich, woran Sie selbst aber auch nicht ohne Schuld sind, weil Sie sich ...das habe ich wohl beobachtet ...gegenüber Auguste nie von Ihrer guten Seite zeigen, sondern ihr gegenüber Ihre Schroffheiten herauskehren. Ich will Ihnen etwas sagen, Herr von Arnim. Es mag Sie jetzt kränken, und doch sollten Sie es sich einmal von jemandem sagen lassen. Sie haben eine so aufrechte Gesinnung, ein so sicheres Urteil in allen entscheidenden Dingen des Lebens. Aber auf die tausend kleinen Verhältnisse mögen Sie sich nicht einlassen ... und gerade das ist es, was für Auguste zählt. Nennen Sie sie jetzt nicht oberflächlich, zupfen Sie sich lieber selbst am Ohr wegen eines gewissen Hochmuts.«

Er hat über dieses Gespräch mit der Mutter viel nachgedacht. Freilich ist er betroffen gewesen. Aber da seine Mutter schon bei seiner Geburt gestorben ist, hält er immer ein wenig nach Mütterlichkeit Ausschau. Er weiß, daß diese Frau es tatsächlich gut mit ihm meint, und schätzt ihren Rat. An Bettina schreibt er im Nachtrag zu dieser Aussprache:

...hier fiel mir Napoleon ein, der in allem Großen seinem Schicksal traute, in allen kleineren Verhältnissen seiner Klugheit, und mein Leben ist nicht groß genug, um die Ehe als etwas Kleines zu behandeln, und sie soll mir ruhig vom Himmel kommen, ohne Nebenweg, oder ich werde als Einsiedler sterben!

Mit der schmerzlichen Ablösung von Auguste, die, wie die Briefzitate beweisen, auch dazu beiträgt, daß er sich selbst genauer kennenlernt, vollzieht sich eine Annäherung an Bettina. Er hat ihr gegenüber eine Ehrlichkeit erreicht, die ohne sichere Gewißheit von Vertrauen undenkbar wäre. Und Bettina ist froh darum.
Es ist, als hätten sie beide erst erfahren müssen, was sie aneinander haben, als wäre die Einzigartigkeit des Partners ihnen erst während dieser Trennung so recht klar geworden. Bettina drückt das so aus:

Nein, wahrlich, die Zeit war nicht verloren in Ihrer Liebe; werden Sie es lächerlich oder übermütig finden, wenn ich sage, daß auch um meinetwillen diese Liebe sein mußte? Ehmals wußte ich nicht recht, was es in mir war, daß ich Ihrem Schicksal nachziehen mußte und doch nie zur Erkenntnis kam, jetzt, in letzter Zeit... die letzten Briefe ... [sie sind] ein wahrer Hintergrund, von dem Ihr Gemüt wie das meinige gleich hell zurückstrahlt; ich war oft entzweit mit mir, daß ich nichts anderes ins Aug fassen konnte, während Sie vor mir wie im Nebel standen, den ich bei aller Sehnsucht, um der Welt willen, nie durchdrungen hätte; zu kalt wars mir, wenn ich nur die Hand danach ausstreckte... Ach, wenn wir uns wiedersehen, wird alles anders sein.

(24) Wir wissen nicht, was sich zwischen Bettina, Mitte zwanzig nun und alles andere als ein Kind, und jenem Herrn, der auf die sechzig zugeht, ein in ganz Europa berühmter Dichter und Staatsminister eines deutschen Kleinstaates, in der Hauptstadt Weimar wirklich zugetragen hat. Wir wissen nur, was Bettina darüber in jenem Buch mit dem Titel Goethes Briefwechsel mit einem Kinde schreibt, das 1835 erscheinen wird, in jenem Jahr, in dem ihr künstlerisch begabter Sohn, Kühnemund, im Alter von achtzehn Jahren beim Schwimmen tödlich verunglückt. Wir kennen die Originale von Briefen, auch einige Eintragungen über Bettina aus dem Tagebuch Goethes und Briefstellen, in denen er Urteile über Bettina fällt.
Diese Urteile, vor allem dann, wenn sie in Briefen an seine Ehefrau stehen, müssen nicht unbedingt Goethes tatsächliche Meinung ausdrücken. Sie könnten auch in der Absicht gemacht worden sein, einen ihm nicht unlieben Flirt mit einer jungen Frau, auf die die Ehefrau eifersüchtig ist, zu kaschieren. Einen Flirt, oder sagen wir besser: eine Beziehung, die einerseits unkonventionell genug verläuft, bei der andererseits ein lebens- und liebeserfahrener Mann, der zeit seines Lebens nie bereit gewesen ist, um der Liebe willen, die er letztlich als eine zerstörerische Kraft ansieht, seine Seelenruhe zu gefährden, einmal mehr dort Grenzen zu ziehen wußte, wo es gefährlich zu werden drohte. Daß Bettina in ihrer Rolle der Werbenden und Fordernden, in ihrem Sich-Aussetzen tragisch bis komisch wirkt, trifft ebenso zu wie der Hinweis vieler Philologen, man dürfe bei einer Schwätzerin wie dieser Bettina nicht jedes Wort in ihren Berichten über den Verlauf der drei, vier Begegnungen mit Goethe auf die Goldwaage legen. Aber es hat auch seine Berechtigung, daß sich Rainer Maria Rilke darüber empört, wie wenig ein erfahrener Mann und großer Dichter davon verstanden habe, worum es dieser jungen Frau in dieser Begegnung ging. Rilke schreibt in einem Brief an seine Frau:

  • Wie herrlich ist diese Bettina Arnim; einmal bin ich einer Frau begegnet, die ein Stück weit so war. Damals geriet ich in eine unbeschreibliche Bewunderung und merkte das Wort von der sensualité de l'âme* (*Sinnlichkeit der Seele) vor, die seit Sappho eine von den großen Verwandlungen war, durch die die Welt langsam wirklicher wird. Und nun sehe ich in der Bettina, daß es das schon ganz und gar gegeben hat, während Goethe es anstaunte und nicht glaubte und sich erschreckt fühlte dadurch. Was ist sie für ein Element; was für ein Umgestalter, was für ein Ansturm in der Luft ihrer Zeit. Wie hätte man sich geliebt, face en face*.(*Angesicht zu Angesicht) Ich hätte wohl ihre Briefe beantworten mögen; das wäre wie eine Himmelfahrt geworden, ohne Scham, vor aller Augen.

So ein Mann, auch ein Dichter, über hundert Jahre später. Aber den meisten, die über diese Episode im Leben Goethes und Bettinas geschrieben haben, geht es offenbar um eine Schlüssellochgeschichte: Ein älterer Mann, eine schwärmerische junge Frau, unverheiratet, temperamentvoll. Was ist da gelaufen? Wie weit ist das gegangen?
Dabei zeigt sich, wie in einer von Männern bestimmten Gesellschaft die Frau, wenn sie die Grenzen der Konvention überschreitet, zumeist die Verliererin, das Opfer ist. Sogar noch in der Überlieferung durch die Nachwelt, zumeist von Männern niedergelegt, ist dieser Zug zu erkennen: eine junge Frau, die es sich herausnimmt, zu dem größten Dichter ihrer Zeit in intimen Kontakt zu treten, muß größenwahnsinnig oder verrückt sein. Im Februar 1807 stirbt in Offenbach Bettinas Großmutter, Sophie Laroche. Schon am 24. Februar reist Bettina nach Kassel zu ihrer Schwester Lulu und deren Mann, Karl Jordis, der schon seit 1805 in dieser Stadt Bankgeschäfte betreibt und jetzt zum Hofbankier des Königs Jeröme, eines Brudes Napoleons, avanciert ist. Im April 1807 gelingt es ihr, ihren Schwager zu überreden, Lulu und sie auf eine Geschäftsreise nach Berlin mitzunehmen. Wegen der unsicheren Zeiten werden die Frauen in Männerkleider gesteckt. Auf der Rückreise macht man den Umweg über Weimar. Dort besucht Bettina am 23. April Goethe. Dessen Tagebuch enthält unter diesem Datum den Eintrag »Mamsell Brentano«. Nicht mehr. Wie sehr hingegen Bettina dieser erste Besuch beschäftigt, geht nicht zuletzt aus ihren zahlreichen Berichten an Freunde hervor. Sie schreibt an Clemens, der sich in Frankfurt aufhält. Sie schreibt darüber an Arnim, an ihre Schwester Meline, auch an die Frau Rat, die sie nun auffordert, sie »Mutter« zu nennen.
Nach Kassel bzw. nach Frankfurt zurückgekehrt, beginnt Bettina einen Briefwechsel mit Goethe, genauer gesagt: Sie bestürmt den Dichterfürsten mit Briefen und Geschenken. Er läßt sich dazu herab, gelegentlich zu antworten, sehr gesetzt und distanziert, sich in der Anrede lange nicht des »Du«, wie sie es tut, sondern des »Sie« bedienend.
Mit Recht schreibt Dieter Kühn, man könne nur staunen, wenn man erkenne, mit welcher Härte und Kälte »Goethe diese junge Frau gegen die Wand laufen ließ, eine Wand der Konventionen, eine Wand formellen Verhaltens. All ihre Sätze der Zuneigung und Liebe fanden über die Jahre hin nicht das geringste Echo.« Demzufolge müssen wir Bettinas Bericht über ihren ersten Besuch bei Goethe als die Beschreibung eines Tagtraums, als Wunschvorstellung ansehen, die allerdings in vielen Punkten mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmen mag. Wo die Wirklichkeit in Fiktion übergeht, wird sich mit letzter Verläßlichkeit nicht herausfinden lassen.
Bettina hat einmal gesagt: »So außerordentlich war ich gar nicht in Goethe verliebt; ich mußte nur jemanden haben, an dem ich meine Gedanken usw. auslassen konnte.« Das deutet auf den Wunsch nach einem Idol hin. Gewiß gibt es bei ihr diesen Wunsch, gewiß gab es Liebessehnsucht, Unbefriedigtsein, gewiß gab es schließlich die Sehnsucht nach einem Mann, der im Vater-Alter war, der Sicherheit und Souveränität ausstrahlte und sich gleichzeitig erotischen Herausforderungen gegenüber nicht abgeneigt zeigt. All dies vermag ja in der Seele eines Menschen nebeneinander zu existieren.
Es gibt da eine Bemerkung, die Bettina gegenüber Tieck, den man auf der Reise von Berlin nach Weimar auch noch besuchte, gemacht haben soll. Da soll sie gesagt haben: »Weißt du, Tieck, von Goethe muß ich um jeden Preis ein Kind haben... das muß ein Halbgott werden.«
Goethes Biograph Richard Friedenthal bezeichnet diesen Ausspruch als Anekdote.
Aber was hier zugespitzt und übertrieben als Klatsch unter intellektuellen Zeitgenossen herumerzählt worden ist, steht auch zwischen den Zeilen von Bettinas eigenem Bericht. Schon die Reise zu Goethe wird als ausgesprochen gefährlich geschildert. Das beginnt damit, daß die beiden Schwestern Männerkleider anlegen. Bettina schreibt weiter:

Die ganze Reise hab ich auf dem Bock gemacht; ich hatte eine Mütze auf von Fuchspelz, der Fuchsschwanz hing hinten herunter. Wenn wir auf die Station kamen, schirrte ich die Pferde ab und half auch wieder anspannen. Mit den Postillons sprach ich gebrochen deutsch, als wenn ich ein Franzose wäre ...

Sie fahren bei Nacht

durch einen Wald von ungeheuren Fichten und Tannen, alles war bereift, untadelhaft, nicht eine Menschenseele war des Weges gefahren, der ganz weiß war; noch obendrein schien der Mond in dieses verödete Silberparadies, eine Totenstille - nur die Räder pfiffen von der Kälte. Ich saß auf dem Kutschersitz und hatte gar nicht kalt: die Winterkälte schlägt Funken aus mir; - wie's nahe an Mitternacht rückte, da hörten wir pfeifen im Walde; mein Schwager reichte mir eine Pistole aus dem Wagen und fragte, ob ich Mut habe loszuschießen, wenn die Spitzbuben kommen, ich sagte »ja«. Er sagte: »Schießen Sie nur nicht zu früh.« Die Lulu hatte große Angst im Wagen, ich aber unter freiem Himmel, mit der angespannten Pistole, den Säbel umgeschnallt, unzählige funkelnde Sterne über mir, die blitzenden Bäume, die ihren Riesenschatten auf den breiten mondbeschienenen Weg warfen - das alles machte mich kühn auf meinem erhabenen Sitz.

Das klingt nach romantischem Märchenton, erinnert an Eichendorff oder an Hauff. Festzuhalten wäre: eine junge Frau, die es nach Abenteuern verlangt, was aber Frauen nur gestattet ist, wenn sie - die Kriegssituation macht's möglich - Männerkleider anlegen.
In diesem nicht unbedingt authentisch die Ereignisse wiedergebenden Brief an die Frau Rat wird auch die Ankunft in Weimar beschrieben. Das klingt nun wieder recht wirklichkeitsgetreu: Bettina ist müde nach angeblich drei durchwachten Nächten. Der Schwager sagt zu ihr:

  • »Ich rate Ihnen, auch auszuruhen; der Goethe wird sich nicht viel draus machen, ob Sie zu ihm kommen oder nicht, und was Besonderes wird auch nicht an ihm zu sehen sein.«

So könnte der Bankier sehr wohl geredet haben, um ihre überschwengliche Schwärmerei zu dämpfen.
Als es drei Uhr schlägt, springt Bettina auf. Sie muß zu Goethe. Sie kleidet sich an, findet unten auf der Straße keinen Wagen, muß durch den Morast der unbefestigten Straßen waten. Das Weimar dieser Jahre war ein ziemlich armseliges Nest. Sie läuft zu Wieland, dem Jugendfreund ihrer Großmutter. Der alte Herr sagt:

  • »Ja, ein lieber bekannter Engel sind Sie gewiß, aber ich kann mich nur nicht besinnen, wann und wo ich Sie gesehen habe.«

Darauf recht kokett sie:

  • »Jetzt hab ich herausgekriegt, daß Sie von mir träumen, denn anderswo können Sie mich unmöglich gesehen haben.«

Soviel Keckheit ist weniger wahrscheinlich, da sie ja von dem immerhin ebenfalls prominenten alten Herrn etwas haben will, nämlich ein paar Worte der Empfehlung an Goethe. Angeblich schreibt dann Wieland an Goethe das folgende Billet:

  • Bettina Brentano, Sophiens Schwester, Maximilianens Tochter, Sophie Laroches Enkelin wünscht Dich zu sehen, lieber Bruder, und gibt vor, sie fürchte sich vor Dir und ein Zettelchen, das ich ihr mitgebe, würde ein Talisman sein, der ihr Mut gäbe. Wiewohl ich ziemlich gewiß bin, daß sie nur ihren Spaß mit mir treibt, so muß ich doch tun, was sie haben will, und es soll mich wundern, wenn's Dir nicht eben so geht.

Das klingt nun wieder sehr nach Wunschtraum, nach Fiktion, nach Ausgedachtem. Bettina, die unbekannte kleine Bettina, zwingt die großen alten Männer, heißen sie nun Wieland oder Goethe, das zu tun, was sie will.
Und dann also die Begegnung selbst.
Bettina kommt in das Haus. Sie springt eine Treppe hinauf, an Statuen aus Gips vorbei, von einem >heiligen< Hausflur ist die Rede und dann davon, daß alles freundlich und feierlich gewesen sei.

  • »Fürchte dich nicht«, sagten mir die bescheidenen Wände, »er wird kommen und wird sein, und nicht mehr sein wollen wie du«,- und da ging die Tür auf, und da stand er feierlich ernst und sah mich unverwandten Blickes an; ich streckte die Hände nach ihm, glaub ich ... bald wüßt ich nichts mehr, Goethe fing mich rasch auf an seinem Herzen. »Armes Kind, hab ich Sie erschreckt«, das waren die ersten Worte, mit denen seine Stimme mir ins Herz drang; er führte mich in sein Zimmer und setzte sich auf dem Sofa gegen sich über*.(*mir gegenüber) Da waren wir beide stumm, endlich unterbrach er das Schweigen: »Sie haben wohl in der Zeitung gelesen, daß wir einen großen Verlust vor wenigen Tagen erlitten haben durch den Tod der Herzogin Amalie.«
    »Ach!« sagte ich, »ich lese die Zeitung nicht.« »So!... Ich habe geglaubt, alles interessiere Sie, was in Weimar vorgehe.«
    »Nein, nichts interessiert mich als nur Sie, und da bin ich viel zu ungeduldig, in der Zeitung zu blättern.« »Sie sind ein freundliches Kind.«
    Lange Pause... ich auf das fatale Sofa gebannt, so ängstlich. Sie** (**Gemeint ist die Frau Rat, die neue Mutter) weiß, daß es mir unmöglich ist, so wohlerzogen dazusitzen. -Ach, Mutter! Kann man sich selbst so überspringen?... Ich sagte plötzlich: »Hier auf dem Sofa kann ich nicht bleiben«, und sprang auf. »Nun«, sagte er, »machen Sie sich's bequem«; nun flog ich ihm an den Hals, er zog mich aufs Knie und schloß mich ans Herz... Ich hatte solange nicht geschlafen. Jahre waren vergangen in Sehnsucht nach ihm. Ich schlief an seiner Brust ein, und da ich aufgewacht war, begann ein neues Leben.

Bei fast jedem Satz dieses Textes ist man geneigt, Zwischenrufe zu machen. Was da gesagt wird, klingt wenig glaubwürdig. Möglich noch, daß die unkonventionelle und impulsive Bettina den Sprung vom Sofa auf Goethes Knie wagt - oder möchte sie ihn nur zu gern wagen und wird in diesem Bericht der Wunsch zur Tat? Wieder recht unwahrscheinlich aber ist, daß sie, trotz aller Müdigkeit nach einer strapaziösen Reise, dort eingeschlafen sein will.
Das ist ein Wunschtraum. Darauf weist auch hin, daß ähnliche Situationen in ihrem Erinnerungsbuch mehrfach geschildert werden. Da ist von einem heimlichen Besuch Goethes in ihrem Zimmer im Gasthof Zum Weißen Elephanten die Rede. Gegen Mitternacht sei es schon gewesen, da sei er die drei Treppen hoch gestiegen. Auf einem Sofa (wieder!) wacht hingekuschelt Bettina. Er schließt sie in seinen Mantel. Glücklicherweise ist Meline dabei. Allerdings schläft die Schwester in einem Alkoven bei vorgezogenen Vorhängen. Sonst... wer weiß! Und schließlich eine zweite Mantelszene. Sie spielt sich vor Goethes Gartenhaus ab.

  • Wir saßen vor der Tür auf der Bank, und der Mond schien hell... es war gar nicht kalt, es war warm und die Luft ganz still, und wir waren auch still. Die reifen Früchte fielen von den Bäumen, er sagte: »Da fällt schon wieder ein Apfel und rollt den Berg hinab.« Da überflog mich ein Frostschauer - der Wolfgang sagte: »Mäuschen, du frierst«, und schlug mir seinen Mantel um, den zog ich dicht um mich, seine Hand hielt ich fest, und so verging die Zeit...

Da stimmt etwas nicht.
Das erste Mal sieht Bettina Goethe im April, das zweite Mal im November des gleichen Jahres. Seit wann fallen im April Äpfel, seit wann ist es im November, wo noch ein paar Äpfel einer sehr späten Sorte an den Bäumen hängen mögen, so gar nicht kalt? Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß die Gartenhausszene Fiktion ist. Aber der Mantel, der immer wiederkehrende Mantel, was hat es mit ihm auf sich? Er bedürfe, schreibt der Goethe-Biograph Friedenthal, keiner Auslegung. Und in der Tat ist der Wunsch, für den er steht, kaum verschlüsselt. Ein Mantel umfängt, hüllt ein - Bettinas Sehnsucht nach Geborgenheit. Es gibt gewiß auch noch andere Wünsche, jene, in denen Sexualität sublimiert wird, Goethe als Idol, Goethe als Denkmal, zu dem sie aufsehen, all ihre angestaute Bewunderung verschwenden kann. Denkmäler braucht man, wenn man keine wirklichen Menschen hat. Denkmäler sind letztlich Ersatz für die Wirklichkeit. Goethe, das wird ein letzter Schritt sein, als Gott. Das macht diese Geschichte traurig: Da ist ein Mädchen, das ist nicht wie alle, das tanzt aus der Reihe, das mißtraut der Ehe. Aber da sie in die bürgerliche Gesellschaft eingebunden ist, heißt der Preis dafür: Einsamkeit. Aus der Einsamkeit versucht Bettina sich zu befreien durch ihre Illusionen, durch ihre Wunschträume.
Und nun zum Herrn Geheimrat, zum Herrn Staatsminister. Was hat er sich eigentlich dabei gedacht? Gewiß wird er diese Frau, die sich als Kind gibt, die so originelle Einfälle hat, zunächst ganz anziehend und amüsant gefunden haben. Ein so unbedingt vorgetragenes Werben schmeichelt gewiß auch seiner Eitelkeit. Aber ob die Erinnerung an alte Frankfurter und Offenbacher Geschichten aus der Jugend ihm so lieb gewesen ist?
Freilich, er ist praktisch, weiß alles immer gleich für sein Werk nutzbar zu machen. Also kann er jene Aufzeichnungen Bettinas nach den Erzählungen seiner Mutter für die eigene Autobiographie benutzen. Und späte Liebe? Das hat es ja gegeben bei ihm; Marianne von Willemer zählt zu diesen Alterslieben. Ulrike von Levetzow, um die der Uralte in Marienbad wirbt, mag der Herzog und Freund auch warnen: »Alter, immer noch ein Mädchen!«, mögen Sohn samt Schwiegertochter rebellieren!
Zu diesen späten Lieben gehört Bettina nicht, oder jedenfalls nur in einem bestimmten Augenblick, von dem noch die Rede sein wird.
Viel eher gehört sie zu jenen Frauen, bei denen sich Goethe sehr bald wieder auf Distanz begibt, deren Zappeln er, teils belustigt, teils melancholisch wahrnimmt.
Als die viel ältere Bettina ihn nach Krach und langer Trennung wieder einmal besucht, seine Frau Christiane ist schon tot, schreibt er barsch in sein Tagebuch: »Frau von Arnims Zudringlichkeiten abgewiesen.«
Man kann sicher sein, daß er da schreibt, was er meint.
So deutlich wird er während der nächsten drei, vier Jahre, über die sich der Briefwechsel hinzieht, noch nicht. Aber immer sind da Bettinas Klagen, daß seine Briefe kalt und kurz seien. Tatsächlich wirken manche Sätze in seinen Briefen wie Nasenstüber. Ihre Überschwenglichkeit mag ihm auf die Nerven gefallen sein. Das gibt er ihr, wenn auch vorsichtig, zu verstehen. Er verlangt Disziplinierung, läßt sich dann aber doch gerade ihren »labyrinthischen Grazientanz« so ungern gefallen. - Wozu, weshalb? Vielleicht als Anregung zu jenen Frauengestalten in dem Roman, den er um diese Zeit schreibt, als Anregung zur Ottilie in den Wahlverwandtschaften? Oder ist es einfach nur seine Neugier auf die Spielarten weiblicher Psyche?
Und doch hat diese Beziehung für Bettina Gewinn. In den Briefen an den »Magnetberg« unter allen Männern, wie sie Goethe einmal nennt, muß sie Balance lernen zwischen Unbekümmertheit und Disziplin, zwischen Phantastischem und Wirklichkeit. Und sie muß gemerkt haben, daß die Vorstellung, die Liebe als Anlaß zum Absprung ins All zu benutzen, auch ihre gefährliche Seite hat. Sie muß eingesehen haben, daß es letztlich wenig erfreulich, ja, unmenschlich, lächerlich und schmerzhaft ist, mit einem Denkmal oder einem Idol von Mann zu leben.
Zwischen der ersten und zweiten Begegnung im Jahre 1807 liegt die Bekanntschaft und die Eheschließung von Clemens mit Auguste Bußmann, Ereignisse, die Bettina manches zu denken geben, zumal man sie während ihres Aufenthalts in Kassel von seiten der Frankfurter Verwandtschaft auch zur Berichterstattung über die ungeliebte neue Verwandte veranlassen will.
Inzwischen bricht Achim mit seinem alten, väterlichen Freund Reichardt zu einer Reise nach Giebichenstein auf. Am 9. November 1807 kommt es zu einem Familien- und Freundestreffen in Weimar bei Goethe. Das Ehepaar Savigny und Meline sind dabei, Clemens, Achim, Bettina. Die Situation ist nicht ohne Pikanterie und Konfliktstoff, wenn man sich vorstellt, daß der geliebte und bewunderte alte Mann und der junge Mann, zu dem sich ihre Bindung nach langer Trennung in diesen Wochen enger gestaltet, hier mit Bettina und miteinander umgehen müssen. Aber offenbar verlaufen diese Tage harmonisch.
Für Achim ist die schlimme Isolation durch den preußischfranzösischen Krieg endlich überwunden. Die Anwesenheit von Freundin und Freund lassen ein Gefühl von Geborgenheit aufkommen, das er lange vermißt hat; man kann wieder gemeinsame Pläne machen. Für ihn, den das Gefühl bedrückt, sein Staat habe keine Verwendung für ihn, und der an Preußens Schande leidet, stellen sich verlockende literarische Aufgaben: Die Herausgabe des dritten Bandes des Wunderhorns, in Kassel, wohin man aus Weimar weiterreist, die Bekanntschaft mit Jacob und Wilhelm Grimm, bei denen er viel Übereinstimmung in Zielen und Bewußtsein wahrnimmt. Der erste Kontakt zu den Brüdern Grimm hat sich 1805 über Clemens Brentano ergeben. Damals war die Vorstellung aufgetaucht, in die schon geplante Fortsetzung des Knaben Wunderhorn neben Liedern auch Sagen und Märchen aufzunehmen.
Jacob Grimm hat ab 1802 in Marburg bei Savigny Jura studiert und ist mit diesem zusammen in Paris gewesen. Als am 22. März 1806 Brentano seinen Schwager Friedrich Karl von Savigny fragt: »Haben Sie in Kassel keinen Freund, der sich dort auf der Bibliothek umtun könnte, ob keine alten Liedlein dort sind, und der mir dieselben kopieren könnte?«, leitet der diese Anfrage an Jacob Grimm weiter, der zu dieser Zeit als Sekretär beim Kriegskollegium in Kassel tätig ist.
Jacob hat damals seine jüngeren Brüder Wilhelm und Ferdinand mit eingespannt. Nicht nur zum Liedersammeln. Sie haben eine Vielzahl von Texten der Volksliteratur aus alten Büchern abgeschrieben, weil sie sich, wie Clemens im Oktober 1807 an Achim geschrieben hat, die Originale »aus Armut nicht kaufen konnten.« Und er hat hinzugefügt:

Sie selbst werden uns alles, was sie besitzen, noch mitteilen, und das ist viel! Du wirst diese trefflichen Menschen, welche ruhig arbeiten, um einst eine tüchtige teutsche poetische Geschichte zu schreiben, sehr lieb gewinnen.

Als Achim von Arnim und Clemens Brentano gegen Ende des Jahres 1807 nach Kassel kommen, finden Gespräche statt, die ganz entscheidend eines der berühmtesten Bücher deutscher Sprache mitgeprägt haben dürften: die dann 1812 erscheinenden Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Was die Grimms zu dieser Zeit schon gesammelt hatten oder sammelten, scheint zunächst als Rohmaterial für eine von Clemens in Aussicht genommene Märchensammlung bestimmt gewesen zu sein. Ihm kommt auch das Verdienst zu, die Anregungen zu den ersten Ansätzen dessen gegeben zu haben, was man später in der Märchenforschung »Feldarbeit« nennen wird, in dem er Zirkularbriefe entwirft und die Grimms auf »Gewährsleute mündlicher Märchentradition« aufmerksam macht.
In Kassel dürften wohl auch schon die ersten Pläne zu jener >Zeitung für Einsiedler< gefaßt worden sein, die Achim dann ab April 1808 von Heidelberg aus herausgegeben hat und zu der auch die Grimms, Bettina und Clemens Texte beisteuern. Im Sommer 1808 ist Achim auf Besuch in Winkel, dem Landhaus von Franz Brentano. Er und Bettina sehen sich ständig. Sie kommen zum »Du«, aber es gibt auch immer wieder Augenblicke, in denen Achim Bettina merkwürdig fremd vorkommt. Er mag es nicht, wenn sie mit dem Baby der Savignys gar zu toll herumspringt. Er mag es auch nicht, daß sich die Leute aus Frankfurt immer gleich küssen. Es gibt deutliche Temperamentsunterschiede zwischen der Frankfurter Bürgerstochter mit italienischen Vorfahren und dem märkischen Landedelmann.
Bettina klagt: »Nun war er da, und es war nichts besser. Der Mensch blieb ein Mensch und kann sich deswegen wieder einen Menschen nicht zu eigen machen.«
In Kassel, Frankfurt, Heidelberg sieht Achim Clemens' Ehemisere. Er ist Clemens immer noch herzlich zugetan und bedauert sehr, daß der Freund sich so ins Unglück verrannt hat. Dann und wann kommen bei ihm aber auch Überlegungen, bei denen er Bettina und Clemens miteinander vergleicht, kommt die Frage, ob all diese Brentanos überhaupt zu dauerhaften menschlichen Bindungen fähig seien.
Bezeichnend für ihre Schwierigkeiten miteinander ist ein Zwischenfall im Juni 1808. Frau von Stael bereist Deutschland und macht in Frankfurt Station. Was sich dort zuträgt, schildert Bettina aus ihrer Sicht in einem Brief an Achim so:

Es ist mir sonderbar ergangen mit Frau von Stael; Sismondi, den Du schon kennen wirst, wenn Du meinen Brief liest, besuchte mich gestern und erzählte mir mit einer festen Stimme, daß sie unendlich gutmütig sei ... ich ging zu ihr, sie nahm mich mit einer Art von Begierde nach Freundlichkeit auf, sie drückte mich mehrmals ans Herz! Das war mir zu arg, ich erzählte ihr, daß ich sie bis auf denselben Augenblick nicht habe leiden können, und verständigte mich mit ihr darüber; sonderbar glaubte sie, es sei aus Eifersucht über - Dich gewesen, welches sie aus allerlei dummen Spaßen von Moritz Bethmann schloß, der ihr unter anderm weiß machte, ich werde immer rot, so oft ich Deinen Namen ausspräche. Sie versicherte mir daher, daß ich nicht eifersüchtig zu sein brauche, indem sie Dich so selten sähe. Dies kam mir nicht wenig possierlich vor; auch bat sie mich dringend Dich zu heiraten, wahrscheinlich um mir meinen Verdacht ganz zu benehmen. Ich setzte ihr auseinander, Du seist ein lieber Vogel in der Luft, dem man die Schwingen nicht rauben dürfe, um ihn in der basse-cour einzusperren usw. Wenn ich jetzt bei Dir wäre, so wollte ich Dirwohl viel erzählen, wie mein Herz in wenig Tagen mehr Unruhe und Klopfen und Poltern erlitten, als seit langem...

Von Frankfurt reist Madame Stael nach Heidelberg weiter und trifft dort mit Achim zusammen. Sie macht eine Bemerkung, die auf Bettina zielt: Wer das Außerordentliche achte, könne das Bizarre nicht lieben. Das ist eine elegante Formulierung, heißt aber darum nicht weniger maliziös, daß ein Mann von Achims Qualitäten sich doch nicht an ein so verrücktes kleines Ding fortwerfen könne.
Achim nimmt Bettina in Schutz. Er erklärt und entschuldigt Bettinas bizarres Verhalten damit, daß sie zeitig ihre Mutter verloren habe und zwischen Brüdern aufgewachsen sei.
Aber dann erfährt er etwas, was ihn sehr empört. Die Stael weiß, daß Achim »in Königsberg einem schönen Kind begegnet« ist, »das sein Angesicht von ihm gewendet hat.«
Das kann ihr nur Bettina erzählt haben. Wütend schreibt Achim: »Und dann forderst Du Treue von
meinem Vertrauen; was kann es Dir wert sein, wenn Du es nicht bewahren magst!«
Er empfiehlt ihr, künftig doch gegenüber »Durchreisenden, die Erinnerungen einer halben Welt, Pläne und Beobachtungen mit sich tragen«, etwas vorsichtiger und zurückhaltender zu sein.
Aber Bettina verteidigt sich. »Diese Frau« habe sie damit reizen wollen, »daß sie selbst ein Weib kenne, die recht liebenswürdig, geistreich und Achim nicht gleichgültig sei«.

Ich wußte nicht, wen sie meinte, und sagte ihr, daß ich in keinem Verhältnis mit Dir sei, das mich eifersüchtig machen könne, und daß die Ungebundenheit Deines Herzens mich eigentlich fester an Dich bände, daß ich Anteil nähme an Deinem Schicksal wie an dem meinigen, und daß es wahrscheinlich immer so bleiben würde: dies fand sie vielleicht bizarr in mir, denn sie wunderte sich darüber und wollte es nicht glauben. Was ich sonst noch sprach, weiß ich durchaus nicht mehr, kann nicht behaupten, daß ich nichts gesprochen, was einer Entschuldigung bedürfe, mithin lasse ich mir's gefallen, daß Du Dein Vertrauen jemand entziehst, bei dem es so leicht in Gefahr kommt, wenn auch nur scheinbar verletzt zu werden. Von Vertraulichkeit mit ihr kann gar keine Rede sein, denn ich war höchstens eine Viertelstunde bei ihr im Haus.

Es geht ihr schlecht zu dieser Zeit. Sie ist in Trages vom Pferd gestürzt und hat sich verletzt. Sie ist traurig, daß er mit ihr böse ist, und dabei erfährt man, daß es noch öfter solche Verstimmungen zwischen ihnen gegeben hat in diesem Sommer:

Ach Arnim, ich kann so nicht schlafen gehen, es ist mir grad, als gingst Du dort in Winkel aus dem Zimmer schlafen, ohne mich vorher angesehen zu haben oder die Hand zu reichen.

Aber sie hat auch ihren Stolz. Im nächsten Brief, er stammt vom 5. Juli 1808, heißt es:

...nenne mich nur auch nicht »liebe Bettine« und schreibe auch nicht »ich küß Dich herzlich«, das tut mir jetzt immer mehr leid, als daß es mich freuen sollte. Ich sehe Dir selbst jetzt in Gedanken nicht eher ins Angesicht, als bis dies kalt und vergessen ist...

So geht es auf und ab mit ihnen in diesem Sommer. Kein Zweifel, jetzt sind sie verliebt, und es sind nicht die Schwierigkeiten von Freunden, sondern die zwischen Liebesleuten, die sie miteinander haben. Und auch dies steht in einem Brief aus diesem Sommer und Herbst, geschrieben in Schlangenbad, gesandt an Achim, der in Heidelberg an einem kalten Fieber erkrankt ist:

Es ist auch jetzt wieder Mitternacht, und alle Leut schlafen und schnarchen sogar; soll ich Dir denn schon gute Nacht sagen? oder soll ich noch bei Dir bleiben? soll ich noch schmeicheln?-warum sagst Du denn heut nicht: es ist genug; warum schickst Du mich nicht fort, es ist schon spät; wenns jemand merkte, daß ich noch bei Dir bin: - Lieber, lieber, geliebter Achim - sag, in welche Periode gehört denn dieser Kuß? und noch einer-! Ich hatte den Kopf auf das Blatt gesenkt und - war ganz bei Dir. Weil Du krank bist, so muß man ja bei Dir wachen, ich bleib noch - ach wie die Zeit so schnell vorübergeht - denn während ich Dir ein Wort schreibe, denk ich zehn Minuten an Dich ... Jetzt noch einen langen Abschied will ich nehmen und dann ins Bett gehen. Gute Nacht, mein lieb Leben, gute Nacht, Arnim! Deine Hand - und Dein Mund - und Dein Herz - ach gelt, es ist zuviel - es ist wohl grad wieder bei Deiner Großmutter? Aber jetzt zum letzten, zum allerletzten mal, schlaf recht wohl!-daß das Fieber nur nicht mehr kommt, ich leg mich vor die Türschwelle und laß es nicht ein -ja ich lieg vor der Türschwelle meiner Freude, aber wenn ich bei Dir bin, dann bin ich aufgenommen in das Haus meiner Glückseligkeit.

(25) Im Herbst des Jahres 1808 geht Bettina mit dem Ehepaar Savigny nach Bayern. Die Gründe für diesen Aufenthalt mit losem Familienanschluß werden verständlich, wenn man die Situation in der Großfamilie Brentano um diese Zeit näher betrachtet.
Savigny hatte sich um einen Lehrstuhl in Heidelberg beworben, war aber dort abgelehnt worden, nicht zuletzt deswegen, weil es in Heidelberg unter den Intellektuellen und Universitätsprofessoren so etwas wie eine Anti-Brentano-Partei gibt. Verärgert hat er einen Ruf an die Universität Landshut angenommen.
Franz Brentano, der Familienchef, hat die väterliche Firma liquidiert. Seine Geschwister und Halbgeschwister sind ausgezahlt worden. Er hat geschäftliche und familiäre Verpflichtungen in Wien, der Heimat seiner Frau. Seine Erfahrungen mit Bettina als Hausgenossin dürften nicht die besten gewesen sein.
Bettinas Bruder Georg, 1775 geboren, hat sich an der neu gegründeten Firma seines Halbbruders Franz in Frankfurt beteiligt. Er besitzt außerdem jenes Gut in Rödelheim, das in Bettinas Schriften unter der Bezeichnung »Grüne Burg« auftaucht. In Frankfurt hat er sich eben ein neues Haus gebaut.
Die Ehe zwischen der 1787 geborenen Lulu Brentano und dem Bankier und kurhessischen Legationsrat Karl Jordis ist problematisch und gilt zu diesem Zeitpunkt schon als gescheitert. Außerdem ist Kassel, wo die Jordis leben, zu dieser Zeit noch der Aufenthaltsort von Clemens' zweiter Frau, Auguste, mit der es ständig neue Schwierigkeiten gibt. Kassel scheidet unter diesen Umständen als Wohnort für Bettina ebenfalls aus. Die Kinder aus der zweiten Ehe des Pietro Brentano kaufen sich nun gemeinsam das Gut Bukowan in Böhmen. Bei der Investition ihres Erbteils in Landbesitz dürfte die ungewisse politische Lage eine Rolle gespielt haben. Immer noch drohten neue Kriege.
Die Bewirtschaftung des Gutes übernimmt das Sorgenkind der Familie, der 1784 geborene Christian, ein junger Mann, ähnlich zerrissen und unbeständig wie Clemens. Christian hat in Marburg Medizin studiert und dort eine gescheiterte Revolte gegen die französische Besatzungsmacht miterlebt.
Er spielt Flöte, statt Medizin zu lernen, und bedeckt die Wände seines Zimmer mit improvisierten Zeichnungen, während sich in seinem Garten Raben, Elstern, Habichte, Hunde, Katzen, Ziegen, Marder und Füchse tummeln.
Nachdem es mit dem Studium nicht so recht hat klappen wollen, schicken ihn die Geschwister zur praktischen Bewährung auf das Gut in Böhmen. Bettina mitzuschicken, hieße zwei Bizarre zusammenspannen. Das kann nicht gut gehen. So bleibt schließlich nur Savigny übrig, an dessen Verantwortungs- und Pflichtgefühl sich gewiß gut appellieren ließ und der es - erinnern wir uns an Bettinas Aufenthalt bei Schwager und Schwester in Marburg - offenbar auch immer noch am besten versteht, Bettina zu zügeln.
Aus Bettinas Sicht gibt es kaum noch etwas, was sie in Frankfurt hielte.
Sophie Laroche, die Großmutter, ist tot. Die Frau Rat, Goethes Mutter, stirbt im September 1808. Achim lebt in Heidelberg und schlägt sich mit den Schwierigkeiten herum, die er als Zeitungsherausgeber hat. Aber auch dort sind seine Tage gezählt. Er wird nach Berlin zurückmüssen, dem Drängen der Großmutter Labes folgend, die einen Schlaganfall erlitten hat. Abschied genommen wird in der Orangerie in Aschaffenburg. Als jetzt abermals eine lange und räumlich weite Trennung zur Gewißheit wird, fühlen sich die beiden trauriger als sie gedacht haben. Bei diesem letzten Spaziergang im herbstlichen Park empfinden sie sich eng verbunden. Und doch scheint ihnen eine Heirat völlig ausgeschlossen. Sie sprechen nicht einmal andeutungsweise davon. Dieser Zwiespalt zwischen Verbundenheit und dem Wunsch, frei zu bleiben, sich offen zu halten, ist schwer zu ertragen.
Am 26. September 1808 kommt Bettina mit den Savignys in Landshut an. Die Möbel sind noch nicht da, und es wird auch noch eine Weile dauern, ehe sich die Familie mehr als nur provisorisch dort eingerichtet hat. Bettina reist nach München weiter und lebt zur Untermiete bei Madame Moy, einer alten Freundin der Familie Brentano-Laroche.
Bei den Moys, die um einen Zuverdienst froh sind, bleiben auch die 1805 in Paris geborene Tochter Savignys, Bettinchen, genannt »Poulette«, und der erst sechs Monate alte Franz Savigny. Bettina soll ein Auge auf die Kinder haben, will aber auch ihr Musikstudium fortsetzen. Sie hat damit begonnen, hin und wieder Gedichte von Achim von Arnim zu vertonen.
Es dauert nicht lange, und sie ist mit einer ganzen Anzahl einflußreicher und interessanter Leute bekannt. Auffallend dabei ist, daß die meisten wesentlich älter sind als sie. Da ist Graf Stadion, Gesandter Österreichs in Bayern, der versuchen soll, das Land zu einer Allianz mit Österreich gegen Napoleon zu bewegen. Schwer zu sagen, ob sich Bettina über das tatsächliche Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Mann im klaren ist. Stadion ist der Enkel jenes kurmainzischen Ministers, dessen natürlicher Sohn, Georg von Laroche, der Ehemann von Sophie und Bettinas Großvater war.
Stadion, jetzt um die fünfzig, ist katholischer Priester. Er weckt in Bettina den Sinn für politische Zusammenhänge. Auf ihn und seine Erklärungen geht es zurück, wenn sie plötzlich an dem Schicksal des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer so lebhaften Anteil nimmt.
Achim müßte sich über dieses bei Bettina neue Interesse an den tagespolitischen Ereignissen eigentlich freuen. Er hat ja all die Jahre das Schicksal Preußens mit heißem Herzen verfolgt. Er hofft, wie so manche, daß durch Aufstände eine Wende herbeigeführt werden könnte. Aber ein katholischer Priester, der dann auch noch so viel Einfluß hat, daß Bettina nun regelmäßig zur Kirche geht und erklären kann, Buße zu tun sei ein himmlisches Labsal, ist nun doch nicht ganz der Mann, den Achim sich als Mentor und Seelenfreund für Bettina wünscht. Auch schon ein alter Herr, »ein schöner Greis von hoher Gestalt und edlen Zügen«, ist Friedrich Heinrich Jacobi, Verfasser philosophischer Romane und seit 1805 Präsident der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. In seiner Jugend hat er im Haus der Laroches in Ehrenbreitstein verkehrt.
Bettina sucht auch in Jacobi einen Mentor, jemanden, zu dem sie bewundernd aufschauen kann, muß aber bald feststellen, daß der alte Herr, der auf Achim von Arnim wegen dessen scharfer Kritik an einer seiner Akademiereden und an den kulturellen Zuständen in Bayern gar nicht gut zu sprechen ist, von seinen Stiefschwestern bewacht und gegenüber kecken jungen Damen abgeschirmt wird. Bettina nennt die Schwester Lene, die Jacobi auch als Sekretärin dient, »eine alte canailleuse Kaffeeschwester«, die ihren Bruder »auf eine unangenehme Weise verpalisiert*.« (*mit Palisaden umgibt) Eine schwärmerische Zuneigung hat Bettina schon im Sommer 1806 für den jetzt in München an Gicht daniederliegenden Dichter Johann Ludwig Tieck gefaßt, den sie regelmäßig besucht und ihm vorliest. Nachdem der erste Enthusiasmus verrauscht ist, hat sie dann sowohl an Jacobi wie auch an Tieck so manches auszusetzen. Auf solche Mäkeleien erwidert Achim aus Berlin im März 1809:

Daß Dir die Leute alle zu nichts werden wie Tieck und Jacobi, die Du erst verehrst, davon miß ihnen nicht unbedingt die Schuld bei; es ist sehr viel wert, etwas ganz und gar in der Reinheit des Verhältnisses zu bewahren, vor allem aber ist göttlich die Achtung vor dem Menschen, nach der sie immer mehr und besser geachtet werden als alles, was wir in sie hineingeträumt haben.

Und als es dann schließlich zwischen ihr und Tieck endgültig zum Bruch kommt, weil dieser es gewagt hat, sich spöttisch über ein Goetherelief auszulassen und Bettina sich abermals bei Achim darüber beklagt, erwidert der:

Liebes Kind, wer sich so auf gut Glück anhängt, nach Überzeugung zurückzieht, der läßt immer einen Teil seines Glücks hängen und fühlt sich endlich sehr zerrissen.

Tieck wiederum äußert sich kritisch über Bettinas »Dreistigkeit«. Von ihren Tollheiten und »Körpersprüngen« berichtet auch Wilhelm von Humboldt, der sie im November 1808 auf der Rückreise von Italien kurz in München gesehen hat. Und Karoline Schelling, zu dieser Zeit Mitte vierzig und verstört vom Tod ihrer Tochter Auguste, äußert sich ebenfalls nicht gerade schmeichelhaft. Bettina sei

  • ein wunderliches kleines Wesen... innerlich verständig, aber äußerlich ganz töricht, anständig und doch über allen Anstand hinaus... Ob sie dabei hübsch und jung ist? Und da ist wieder drollicht, daß sie weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich, weder wie ein Männlein, noch wie ein Fräulein aussieht.«

oll man sich in Westeuropa einmischen? Der Zar läßt sich von diesen Überlegungen beeinflussen und verständigt sich mit Napoleon. Es kommt am 7. Juli 1807 zum Frieden von Tilsit. Preußen muß in die Abtretung aller Territorien westlich der Elbe einwilligen, die Lausitz an Sachsen abtreten. In die Festungen an der Oder ziehen französische Truppen ein. Danzig wird Freie Stadt mit französischer Besatzung. Der Abzug der französischen Truppen aus den Provinzen Preußens östlich der Elbe wird von der Zahlung einer hohen Entschädigungssumme abhängig gemacht. Ein Bittgang der Königin zu Napoleon bleibt ohne Erfolg, hat aber eine große moralische Wirkung. Napoleon ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. Innerhalb eines Jahres ist Preußen zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. In diesen Monaten der Niederlage beginnt in Königsberg in einem Kreis von Männern, zu dem Achim von Arnim rasch Kontakt aufnimmt, so etwas wie eine kritische Bestandsaufnahme, ein Nachdenken darüber, was zu geschehen habe, damit Preußen nicht völlig untergehe. Es ist die Chance des Nullpunktes, die Männer wie Scharnhorst, Freiherr von Stein und Heinrich von Kleist zu nutzen trachten.
Bezeichnend für die Gesinnung dieses Kreises ist ein (übrigens nie veröffentlichter) Aufsatz Achim von Arnims mit dem Titel: Vom einzigen Rettungsweg unseres Staates.
Achim analysiert darin die Gründe für die Niederlage und den Sturz Preußens. Er sieht die Ursachen vor allem »in der mangelnden Verbindung zwischen Volk und Staat, zwischen Soldat und Offizier, zwischen oben und unten.« Er weiß, daß es da Vorurteile gibt, die zählebig sind, aber von ihrer Überwindung hängt, so meint er, die Zukunft des Gemeinwesens ab. Er fordert, daß der König das ganze Volk für adlig erkläre. Talent solle entscheiden, nicht Geburtsrecht. Es ist bezeichnend für die Verhältnisse im Preußen dieser Jahre, daß solche Gedanken zwar niedergeschrieben werden konnten, aber nicht gedruckt wurden.
Viel Enttäuschung spricht aus dem Satz Achims: »Ich fühle es, daß der Staat mich jetzt nicht eigentlich gebrauchen kann.« Auch seine persönliche Situation ist in Königsberg alles andere als einfach. Er hat sich in Auguste Schwinck, die Tochter seines Hauswirts verliebt. Obwohl er täglich mit ihr zusammen ist und sonst durchaus nicht gehemmt ist im Umgang mit Mädchen und Frauen, wagt er nicht, ihr seine Liebe zu gestehen. Das Bild, das er von ihr in Briefen entwirft, bleibt merkwürdig blaß. Die Schwincks sind eine der alten Königsberger Familien. Eine Tochter aus gutem Haus hat viele Verehrer, ist eine gute Partie. Auguste scheint kühl und kokett gewesen zu sein. Sie flirtet gern, liebt rasche, geistreiche Antworten. Für Achim, der es gewöhnt ist, Frauen zu gefallen, hat sie kaum einen Blick. Er dehnt seinen Aufenthalt in Königsberg immer weiter aus - mit der Entschuldigung vor sich selbst, er müsse sie beschützen. Beschützen wovor? - Wenn die Russen kommen! Wenn die Franzosen kommen. Und dann sind die Franzosen da. Am 16. Juni 1807 rücken sie ein. Es kommt zu einer Kanonade. Bomben fallen auf die Stadt. Der Militärgouverneur und der kommandierende General der Preußen streiten sich, ob die unbefestigte Stadt verteidigt oder vor Einmarsch der Franzosen in Brand gesteckt werden solle. Schließlich reitet General von Rüchel wütend davon, und »die öde Burg von Troja bleibt stehen« - so Achim in einem Brief.
Der Krieg hat die Postverbindung von West nach Ost und in umgekehrter Richtung unterbrochen. Selbst Briefe aus Berlin kommen nach Königsberg nicht mehr durch. Sie werden auf der Post nicht einmal mehr angenommen, wie die Großmutter erfahren muß. Seine Freunde in Frankfurt und Heidelberg - oder wo immer Bettina und Clemens jetzt sein mögen - weist Achim an, alle Post über Kopenhagen laufen zu lassen.
In einem Spital in Königsberg stirbt ein Doktor Schlosser, ein Sohn des Mannes der Goethe-Schwester Cornelia, aus dessen zweiter Ehe. Auf dem Totenbett erzählt er Achim, er habe in der Zeitung eine Todesanzeige von Sophie Brentano gelesen. Ein anderer eifriger Zeitungsleser, den Achim zur Überprüfung befragt, weiß nichts davon. Vier Monate lang bleibt die Verbindung zwischen dem Territorium des Rheinbundes und Ostpreußen unterbrochen. Dann endlich kommt der erste Brief von Bettina, aus Kassel. Sie schreibt, sie sei vor acht Wochen vor Achims Wohnung in Berlin vorbeigetrippelt, auf der Reise nach Weimar, wo sie den bewunderten Goethe zum ersten Mal besucht hat.
Es ist ein sehr liebenswerter Brief, wenn man bedenkt, daß er die Antwort auf Achims Klagen über seine unerwiderte Liebe zu Auguste Schwinck darstellt:

O Arnim! Wenn Sie wüßten, wieviel Liebe auch für Sie in mein Leben eingewebt ist! Alle Rosen, die der Frühling noch übrig gelassen hat, die hier an meinem Fenster heraufblühen und verblühen, ich möchte sie losreißen und Sie mit Ihrer Wehmut darin begraben... o was tat ich nicht, um Euch still zu machen.

Es stellt sich heraus, daß die Rollen nun vertauscht sind. War sie sonst zumeist die Bittende, die ungeduldig Wartende, so ist's jetzt er:

...schreiben Sie, ich bitte, ich flehe, und wenn Sie mich auch ganz vergessen hätten ... Sie leben in so glücklicher Gegend: nur ein Wort daher in diese verwüstete, ausgehungerte, abgebrannte Welt.

So Achim.
Und wie sieht Bettina seine Liebe zu der anderen? Nach Trost zu Anfang wird entschieden darauf verwiesen, daß eine solche Erfahrung ganz heilsam sei.

Wie ist das, Achim? Sie haben das Mädchen so lieb, diese weiß es nicht, und ist auch nicht wie Sie? - Das schadet nichts, war mir doch auch so mit Ihnen und mit allem, was ich begehrte in meinem Leben.

Und wieder Achim:

...Ihr Brief war eine Leuchtkugel, welche die Öde meiner Gegend mir erhellte, wo ich kaum ein Ohr finde, das meine Worte anhören mag... mit welcher Freude habe ich immer wieder gelesen, daß Sie von meinem Wesen etwas halten, das mir selbst überdrüssig wird ... Vielleicht bin ich bald bei Ihnen, und mit welcher Freude denke ich an dieses. Vielleicht, weil ich vieles leicht zu denken* (*leichtzunehmen) habe lernen müssen. Tagtäglich werde ich hier fremder, und ich verwundere mich, daß die Häuser noch aussehen wie sonst, daß mich die Wellen noch tragen wie sonst.

In Achims Briefen werden Szenen beschrieben, in denen das Quälende seiner Beziehung zu Auguste sehr lebendig wird:

...heute ging ich hin zu ihr mit meinem Stammbuch und bat sie, sich einzuschreiben und zu vergessen, wenn ich ihr unangenehm gewesen, mir schnitt das durch die Seele, sie lächelte und fragte, wie man so reden könnte. Ich löse diese Rätsel nicht. Ich weiß nur, daß ich etwas in der Welt bedarf, was ich lieben muß.

Mit Augustes Mutter hat Achim eine Aussprache. Sie sagt, ihr Mann und sie würden eine Verbindung zwischen ihm und ihrer Tochter gern sehen, aber sie habe den Eindruck, daß Auguste ihn nicht liebe. Und sie fährt fort:

  • »Nur müssen Sie, mein lieber von Arnim, auch nicht gleich an Liebe denken, wenn sie einmal einem anderen schöne Augen macht. Das hat bei ihr wenig zu bedeuten. Sie ist eine Kokette. Sie hat es gern, die Männer anzuzünden.«
    »Es ist recht unglücklich mit uns zugegangen.« »Ei freilich, woran Sie selbst aber auch nicht ohne Schuld sind, weil Sie sich ...das habe ich wohl beobachtet ...gegenüber Auguste nie von Ihrer guten Seite zeigen, sondern ihr gegenüber Ihre Schroffheiten herauskehren. Ich will Ihnen etwas sagen, Herr von Arnim. Es mag Sie jetzt kränken, und doch sollten Sie es sich einmal von jemandem sagen lassen. Sie haben eine so aufrechte Gesinnung, ein so sicheres Urteil in allen entscheidenden Dingen des Lebens. Aber auf die tausend kleinen Verhältnisse mögen Sie sich nicht einlassen ... und gerade das ist es, was für Auguste zählt. Nennen Sie sie jetzt nicht oberflächlich, zupfen Sie sich lieber selbst am Ohr wegen eines gewissen Hochmuts.«

Er hat über dieses Gespräch mit der Mutter viel nachgedacht. Freilich ist er betroffen gewesen. Aber da seine Mutter schon bei seiner Geburt gestorben ist, hält er immer ein wenig nach Mütterlichkeit Ausschau. Er weiß, daß diese Frau es tatsächlich gut mit ihm meint, und schätzt ihren Rat. An Bettina schreibt er im Nachtrag zu dieser Aussprache:

...hier fiel mir Napoleon ein, der in allem Großen seinem Schicksal traute, in allen kleineren Verhältnissen seiner Klugheit, und mein Leben ist nicht groß genug, um die Ehe als etwas Kleines zu behandeln, und sie soll mir ruhig vom Himmel kommen, ohne Nebenweg, oder ich werde als Einsiedler sterben!

Mit der schmerzlichen Ablösung von Auguste, die, wie die Briefzitate beweisen, auch dazu beiträgt, daß er sich selbst genauer kennenlernt, vollzieht sich eine Annäherung an Bettina. Er hat ihr gegenüber eine Ehrlichkeit erreicht, die ohne sichere Gewißheit von Vertrauen undenkbar wäre. Und Bettina ist froh darum.
Es ist, als hätten sie beide erst erfahren müssen, was sie aneinander haben, als wäre die Einzigartigkeit des Partners ihnen erst während dieser Trennung so recht klar geworden. Bettina drückt das so aus:

Nein, wahrlich, die Zeit war nicht verloren in Ihrer Liebe; werden Sie es lächerlich oder übermütig finden, wenn ich sage, daß auch um meinetwillen diese Liebe sein mußte? Ehmals wußte ich nicht recht, was es in mir war, daß ich Ihrem Schicksal nachziehen mußte und doch nie zur Erkenntnis kam, jetzt, in letzter Zeit... die letzten Briefe ... [sie sind] ein wahrer Hintergrund, von dem Ihr Gemüt wie das meinige gleich hell zurückstrahlt; ich war oft entzweit mit mir, daß ich nichts anderes ins Aug fassen konnte, während Sie vor mir wie im Nebel standen, den ich bei aller Sehnsucht, um der Welt willen, nie durchdrungen hätte; zu kalt wars mir, wenn ich nur die Hand danach ausstreckte... Ach, wenn wir uns wiedersehen, wird alles anders sein.

(24) Wir wissen nicht, was sich zwischen Bettina, Mitte zwanzig nun und alles andere als ein Kind, und jenem Herrn, der auf die sechzig zugeht, ein in ganz Europa berühmter Dichter und Staatsminister eines deutschen Kleinstaates, in der Hauptstadt Weimar wirklich zugetragen hat. Wir wissen nur, was Bettina darüber in jenem Buch mit dem Titel Goethes Briefwechsel mit einem Kinde schreibt, das 1835 erscheinen wird, in jenem Jahr, in dem ihr künstlerisch begabter Sohn, Kühnemund, im Alter von achtzehn Jahren beim Schwimmen tödlich verunglückt. Wir kennen die Originale von Briefen, auch einige Eintragungen über Bettina aus dem Tagebuch Goethes und Briefstellen, in denen er Urteile über Bettina fällt.
Diese Urteile, vor allem dann, wenn sie in Briefen an seine Ehefrau stehen, müssen nicht unbedingt Goethes tatsächliche Meinung ausdrücken. Sie könnten auch in der Absicht gemacht worden sein, einen ihm nicht unlieben Flirt mit einer jungen Frau, auf die die Ehefrau eifersüchtig ist, zu kaschieren. Einen Flirt, oder sagen wir besser: eine Beziehung, die einerseits unkonventionell genug verläuft, bei der andererseits ein lebens- und liebeserfahrener Mann, der zeit seines Lebens nie bereit gewesen ist, um der Liebe willen, die er letztlich als eine zerstörerische Kraft ansieht, seine Seelenruhe zu gefährden, einmal mehr dort Grenzen zu ziehen wußte, wo es gefährlich zu werden drohte. Daß Bettina in ihrer Rolle der Werbenden und Fordernden, in ihrem Sich-Aussetzen tragisch bis komisch wirkt, trifft ebenso zu wie der Hinweis vieler Philologen, man dürfe bei einer Schwätzerin wie dieser Bettina nicht jedes Wort in ihren Berichten über den Verlauf der drei, vier Begegnungen mit Goethe auf die Goldwaage legen. Aber es hat auch seine Berechtigung, daß sich Rainer Maria Rilke darüber empört, wie wenig ein erfahrener Mann und großer Dichter davon verstanden habe, worum es dieser jungen Frau in dieser Begegnung ging. Rilke schreibt in einem Brief an seine Frau:

  • Wie herrlich ist diese Bettina Arnim; einmal bin ich einer Frau begegnet, die ein Stück weit so war. Damals geriet ich in eine unbeschreibliche Bewunderung und merkte das Wort von der sensualité de l'âme* (*Sinnlichkeit der Seele) vor, die seit Sappho eine von den großen Verwandlungen war, durch die die Welt langsam wirklicher wird. Und nun sehe ich in der Bettina, daß es das schon ganz und gar gegeben hat, während Goethe es anstaunte und nicht glaubte und sich erschreckt fühlte dadurch. Was ist sie für ein Element; was für ein Umgestalter, was für ein Ansturm in der Luft ihrer Zeit. Wie hätte man sich geliebt, face en face*.(*Angesicht zu Angesicht) Ich hätte wohl ihre Briefe beantworten mögen; das wäre wie eine Himmelfahrt geworden, ohne Scham, vor aller Augen.

So ein Mann, auch ein Dichter, über hundert Jahre später. Aber den meisten, die über diese Episode im Leben Goethes und Bettinas geschrieben haben, geht es offenbar um eine Schlüssellochgeschichte: Ein älterer Mann, eine schwärmerische junge Frau, unverheiratet, temperamentvoll. Was ist da gelaufen? Wie weit ist das gegangen?
Dabei zeigt sich, wie in einer von Männern bestimmten Gesellschaft die Frau, wenn sie die Grenzen der Konvention überschreitet, zumeist die Verliererin, das Opfer ist. Sogar noch in der Überlieferung durch die Nachwelt, zumeist von Männern niedergelegt, ist dieser Zug zu erkennen: eine junge Frau, die es sich herausnimmt, zu dem größten Dichter ihrer Zeit in intimen Kontakt zu treten, muß größenwahnsinnig oder verrückt sein. Im Februar 1807 stirbt in Offenbach Bettinas Großmutter, Sophie Laroche. Schon am 24. Februar reist Bettina nach Kassel zu ihrer Schwester Lulu und deren Mann, Karl Jordis, der schon seit 1805 in dieser Stadt Bankgeschäfte betreibt und jetzt zum Hofbankier des Königs Jeröme, eines Brudes Napoleons, avanciert ist. Im April 1807 gelingt es ihr, ihren Schwager zu überreden, Lulu und sie auf eine Geschäftsreise nach Berlin mitzunehmen. Wegen der unsicheren Zeiten werden die Frauen in Männerkleider gesteckt. Auf der Rückreise macht man den Umweg über Weimar. Dort besucht Bettina am 23. April Goethe. Dessen Tagebuch enthält unter diesem Datum den Eintrag »Mamsell Brentano«. Nicht mehr. Wie sehr hingegen Bettina dieser erste Besuch beschäftigt, geht nicht zuletzt aus ihren zahlreichen Berichten an Freunde hervor. Sie schreibt an Clemens, der sich in Frankfurt aufhält. Sie schreibt darüber an Arnim, an ihre Schwester Meline, auch an die Frau Rat, die sie nun auffordert, sie »Mutter« zu nennen.
Nach Kassel bzw. nach Frankfurt zurückgekehrt, beginnt Bettina einen Briefwechsel mit Goethe, genauer gesagt: Sie bestürmt den Dichterfürsten mit Briefen und Geschenken. Er läßt sich dazu herab, gelegentlich zu antworten, sehr gesetzt und distanziert, sich in der Anrede lange nicht des »Du«, wie sie es tut, sondern des »Sie« bedienend.
Mit Recht schreibt Dieter Kühn, man könne nur staunen, wenn man erkenne, mit welcher Härte und Kälte »Goethe diese junge Frau gegen die Wand laufen ließ, eine Wand der Konventionen, eine Wand formellen Verhaltens. All ihre Sätze der Zuneigung und Liebe fanden über die Jahre hin nicht das geringste Echo.« Demzufolge müssen wir Bettinas Bericht über ihren ersten Besuch bei Goethe als die Beschreibung eines Tagtraums, als Wunschvorstellung ansehen, die allerdings in vielen Punkten mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmen mag. Wo die Wirklichkeit in Fiktion übergeht, wird sich mit letzter Verläßlichkeit nicht herausfinden lassen.
Bettina hat einmal gesagt: »So außerordentlich war ich gar nicht in Goethe verliebt; ich mußte nur jemanden haben, an dem ich meine Gedanken usw. auslassen konnte.« Das deutet auf den Wunsch nach einem Idol hin. Gewiß gibt es bei ihr diesen Wunsch, gewiß gab es Liebessehnsucht, Unbefriedigtsein, gewiß gab es schließlich die Sehnsucht nach einem Mann, der im Vater-Alter war, der Sicherheit und Souveränität ausstrahlte und sich gleichzeitig erotischen Herausforderungen gegenüber nicht abgeneigt zeigt. All dies vermag ja in der Seele eines Menschen nebeneinander zu existieren.
Es gibt da eine Bemerkung, die Bettina gegenüber Tieck, den man auf der Reise von Berlin nach Weimar auch noch besuchte, gemacht haben soll. Da soll sie gesagt haben: »Weißt du, Tieck, von Goethe muß ich um jeden Preis ein Kind haben... das muß ein Halbgott werden.«
Goethes Biograph Richard Friedenthal bezeichnet diesen Ausspruch als Anekdote.
Aber was hier zugespitzt und übertrieben als Klatsch unter intellektuellen Zeitgenossen herumerzählt worden ist, steht auch zwischen den Zeilen von Bettinas eigenem Bericht. Schon die Reise zu Goethe wird als ausgesprochen gefährlich geschildert. Das beginnt damit, daß die beiden Schwestern Männerkleider anlegen. Bettina schreibt weiter

Die ganze Reise hab ich auf dem Bock gemacht; ich hatte eine Mütze auf von Fuchspelz, der Fuchsschwanz hing hinten herunter. Wenn wir auf die Station kamen, schirrte ich die Pferde ab und half auch wieder anspannen. Mit den Postillons sprach ich gebrochen deutsch, als wenn ich ein Franzose wäre ...

Sie fahren bei Nacht durch einen Wald von ungeheuren Fichten und Tannen, alles war bereift, untadelhaft, nicht eine Menschenseele war des Weges gefahren, der ganz weiß war; noch obendrein schien der Mond in dieses verödete Silberparadies, eine Totenstille - nur die Räder pfiffen von der Kälte. Ich saß auf dem Kutschersitz und hatte gar nicht kalt: die Winterkälte schlägt Funken aus mir; - wie's nahe an Mitternacht rückte, da hörten wir pfeifen im Walde; mein Schwager reichte mir eine Pistole aus dem Wagen und fragte, ob ich Mut habe loszuschießen, wenn die Spitzbuben kommen, ich sagte »ja«. Er sagte: »Schießen Sie nur nicht zu früh.« Die Lulu hatte große Angst im Wagen, ich aber unter freiem Himmel, mit der angespannten Pistole, den Säbel umgeschnallt, unzählige funkelnde Sterne über mir, die blitzenden Bäume, die ihren Riesenschatten auf den breiten mondbeschienenen Weg warfen - das alles machte mich kühn auf meinem erhabenen Sitz.

Das klingt nach romantischem Märchenton, erinnert an Eichendorff oder an Hauff. Festzuhalten wäre: eine junge Frau, die es nach Abenteuern verlangt, was aber Frauen nur gestattet ist, wenn sie - die Kriegssituation macht's möglich - Männerkleider anlegen.
In diesem nicht unbedingt authentisch die Ereignisse wiedergebenden Brief an die Frau Rat wird auch die Ankunft in Weimar beschrieben. Das klingt nun wieder recht wirklichkeitsgetreu: Bettina ist müde nach angeblich drei durchwachten Nächten. Der Schwager sagt zu ihr:

  • »Ich rate Ihnen, auch auszuruhen; der Goethe wird sich nicht viel draus machen, ob Sie zu ihm kommen oder nicht, und was Besonderes wird auch nicht an ihm zu sehen sein.«

So könnte der Bankier sehr wohl geredet haben, um ihre überschwengliche Schwärmerei zu dämpfen.
Als es drei Uhr schlägt, springt Bettina auf. Sie muß zu Goethe. Sie kleidet sich an, findet unten auf der Straße keinen Wagen, muß durch den Morast der unbefestigten Straßen waten. Das Weimar dieser Jahre war ein ziemlich armseliges Nest. Sie läuft zu Wieland, dem Jugendfreund ihrer Großmutter. Der alte Herr sagt:

  • »Ja, ein lieber bekannter Engel sind Sie gewiß, aber ich kann mich nur nicht besinnen, wann und wo ich Sie gesehen habe.«

Darauf recht kokett sie:

  • »Jetzt hab ich herausgekriegt, daß Sie von mir träumen, denn anderswo können Sie mich unmöglich gesehen haben.«

Soviel Keckheit ist weniger wahrscheinlich, da sie ja von dem immerhin ebenfalls prominenten alten Herrn etwas haben will, nämlich ein paar Worte der Empfehlung an Goethe. Angeblich schreibt dann Wieland an Goethe das folgende Billet:

  • Bettina Brentano, Sophiens Schwester, Maximilianens Tochter, Sophie Laroches Enkelin wünscht Dich zu sehen, lieber Bruder, und gibt vor, sie fürchte sich vor Dir und ein Zettelchen, das ich ihr mitgebe, würde ein Talisman sein, der ihr Mut gäbe. Wiewohl ich ziemlich gewiß bin, daß sie nur ihren Spaß mit mir treibt, so muß ich doch tun, was sie haben will, und es soll mich wundern, wenns Dir nicht eben so geht.

Das klingt nun wieder sehr nach Wunschtraum, nach Fiktion, nach Ausgedachtem.
Bettina, die unbekannte kleine Bettina, zwingt die großen alten Männer, heißen sie nun Wieland oder Goethe, das zu tun, was sie will.
Und dann also die Begegnung selbst.
Bettina kommt in das Haus. Sie springt eine Treppe hinauf, an Statuen aus Gips vorbei, von einem >heiligen< Hausflur ist die Rede und dann davon, daß alles freundlich und feierlich gewesen sei.

  • »Fürchte dich nicht«, sagten mir die bescheidenen Wände, »er wird kommen und wird sein, und nicht mehr sein wollen wie du«,- und da ging die Tür auf, und da stand er feierlich ernst und sah mich unverwandten Blickes an; ich streckte die Hände nach ihm, glaub ich ... bald wüßt ich nichts mehr, Goethe fing mich rasch auf an seinem Herzen. »Armes Kind, hab ich Sie erschreckt«, das waren die ersten Worte, mit denen seine Stimme mir ins Herz drang; er führte mich in sein Zimmer und setzte sich auf dem Sofa gegen sich über*.(*mir gegenüber) Da waren wir beide stumm, endlich unterbrach er das Schweigen: »Sie haben wohl in der Zeitung gelesen, daß wir einen großen Verlust vor wenigen Tagen erlitten haben durch den Tod der Herzogin Amalie.«
    »Ach!« sagte ich, »ich lese die Zeitung nicht.« »So!... Ich habe geglaubt, alles interessiere Sie, was in Weimar vorgehe.«
    »Nein, nichts interessiert mich als nur Sie, und da bin ich viel zu ungeduldig, in der Zeitung zu blättern.« »Sie sind ein freundliches Kind.«
    Lange Pause... ich auf das fatale Sofa gebannt, so ängstlich. Sie** (**Gemeint ist die Frau Rat, die neue Mutter) weiß, daß es mir unmöglich ist, so wohlerzogen dazusitzen. -Ach, Mutter! Kann man sich selbst so überspringen?... Ich sagte plötzlich: »Hier auf dem Sofa kann ich nicht bleiben«, und sprang auf. »Nun«, sagte er, »machen Sie sich's bequem«; nun flog ich ihm an den Hals, er zog mich aufs Knie und schloß mich ans Herz... Ich hatte solange nicht geschlafen. Jahre waren vergangen in Sehnsucht nach ihm. Ich schlief an seiner Brust ein, und da ich aufgewacht war, begann ein neues Leben.

Bei fast jedem Satz dieses Textes ist man geneigt, Zwischenrufe zu machen. Was da gesagt wird, klingt wenig glaubwürdig. Möglich noch, daß die unkonventionelle und impulsive Bettina den Sprung vom Sofa auf Goethes Knie wagt - oder möchte sie ihn nur zu gern wagen und wird in diesem Bericht der Wunsch zur Tat? Wieder recht unwahrscheinlich aber ist, daß sie, trotz aller Müdigkeit nach einer strapaziösen Reise, dort eingeschlafen sein will.
Das ist ein Wunschtraum. Darauf weist auch hin, daß ähnliche Situationen in ihrem Erinnerungsbuch mehrfach geschildert werden. Da ist von einem heimlichen Besuch Goethes in ihrem Zimmer im Gasthof Zum Weißen Elephanten die Rede. Gegen Mitternacht sei es schon gewesen, da sei er die drei Treppen hoch gestiegen. Auf einem Sofa (wieder!) wacht hingekuschelt Bettina. Er schließt sie in seinen Mantel. Glücklicherweise ist Meline dabei. Allerdings schläft die Schwester in einem Alkoven bei vorgezogenen Vorhängen. Sonst... wer weiß! Und schließlich eine zweite Mantelszene. Sie spielt sich vor Goethes Gartenhaus ab.

  • Wir saßen vor der Tür auf der Bank, und der Mond schien hell... es war gar nicht kalt, es war warm und die Luft ganz still, und wir waren auch still. Die reifen Früchte fielen von den Bäumen, er sagte: »Da fällt schon wieder ein Apfel und rollt den Berg hinab.« Da überflog mich ein Frostschauer - der Wolfgang sagte: »Mäuschen, du frierst«, und schlug mir seinen Mantel um, den zog ich dicht um mich, seine Hand hielt ich fest, und so verging die Zeit...

Da stimmt etwas nicht.
Das erste Mal sieht Bettina Goethe im April, das zweite Mal im November des gleichen Jahres. Seit wann fallen im April Äpfel, seit wann ist es im November, wo noch ein paar Äpfel einer sehr späten Sorte an den Bäumen hängen mögen, so gar nicht kalt? Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß die Gartenhausszene Fiktion ist. Aber der Mantel, der immer wiederkehrende Mantel, was hat es mit ihm auf sich? Er bedürfe, schreibt der Goethe-Biograph Friedenthal, keiner Auslegung. Und in der Tat ist der Wunsch, für den er steht, kaum verschlüsselt. Ein Mantel umfängt, hüllt ein - Bettinas Sehnsucht nach Geborgenheit. Es gibt gewiß auch noch andere Wünsche, jene, in denen Sexualität sublimiert wird, Goethe als Idol, Goethe als Denkmal, zu dem sie aufsehen, all ihre angestaute Bewunderung verschwenden kann. Denkmäler braucht man, wenn man keine wirklichen Menschen hat. Denkmäler sind letztlich Ersatz für die Wirklichkeit. Goethe, das wird ein letzter Schritt sein, als Gott. Das macht diese Geschichte traurig: Da ist ein Mädchen, das ist nicht wie alle, das tanzt aus der Reihe, das mißtraut der Ehe. Aber da sie in die bürgerliche Gesellschaft eingebunden ist, heißt der Preis dafür: Einsamkeit. Aus der Einsamkeit versucht Bettina sich zu befreien durch ihre Illusionen, durch ihre Wunschträume.
Und nun zum Herrn Geheimrat, zum Herrn Staatsminister. Was hat er sich eigentlich dabei gedacht? Gewiß wird er diese Frau, die sich als Kind gibt, die so originelle Einfälle hat, zunächst ganz anziehend und amüsant gefunden haben. Ein so unbedingt vorgetragenes Werben schmeichelt gewiß auch seiner Eitelkeit. Aber ob die Erinnerung an alte Frankfurter und Offenbacher Geschichten aus der Jugend ihm so lieb gewesen ist?
Freilich, er ist praktisch, weiß alles immer gleich für sein Werk nutzbar zu machen. Also kann er jene Aufzeichnungen Bettinas nach den Erzählungen seiner Mutter für die eigene Autobiographie benutzen. Und späte Liebe? Das hat es ja gegeben bei ihm; Marianne von Willemer zählt zu diesen Alterslieben. Ulrike von Levetzow, um die der Uralte in Marienbad wirbt, mag der Herzog und Freund auch warnen: »Alter, immer noch ein Mädchen!«, mögen Sohn samt Schwiegertochter rebellieren!
Zu diesen späten Lieben gehört Bettina nicht, oder jedenfalls nur in einem bestimmten Augenblick, von dem noch die Rede sein wird.
Viel eher gehört sie zu jenen Frauen, bei denen sich Goethe sehr bald wieder auf Distanz begibt, deren Zappeln er, teils belustigt, teils melancholisch wahrnimmt.
Als die viel ältere Bettina ihn nach Krach und langer Trennung wieder einmal besucht, seine Frau Christiane ist schon tot, schreibt er barsch in sein Tagebuch: »Frau von Arnims Zudringlichkeiten abgewiesen.«
Man kann sicher sein, daß er da schreibt, was er meint.
So deutlich wird er während der nächsten drei, vier Jahre, über die sich der Briefwechsel hinzieht, noch nicht. Aber immer sind da Bettinas Klagen, daß seine Briefe kalt und kurz seien. Tatsächlich wirken manche Sätze in seinen Briefen wie Nasenstüber. Ihre Überschwenglichkeit mag ihm auf die Nerven gefallen sein. Das gibt er ihr, wenn auch vorsichtig, zu verstehen. Er verlangt Disziplinierung, läßt sich dann aber doch gerade ihren »labyrinthischen Grazientanz« so ungern gefallen. - Wozu, weshalb? Vielleicht als Anregung zu jenen Frauengestalten in dem Roman, den er um diese Zeit schreibt, als Anregung zur Ottilie in den Wahlverwandtschaften? Oder ist es einfach nur seine Neugier auf die Spielarten weiblicher Psyche?
Und doch hat diese Beziehung für Bettina Gewinn. In den Briefen an den »Magnetberg« unter allen Männern, wie sie Goethe einmal nennt, muß sie Balance lernen zwischen Unbekümmertheit und Disziplin, zwischen Phantastischem und Wirklichkeit. Und sie muß gemerkt haben, daß die Vorstellung, die Liebe als Anlaß zum Absprung ins All zu benutzen, auch ihre gefährliche Seite hat. Sie muß eingesehen haben, daß es letztlich wenig erfreulich, ja, unmenschlich, lächerlich und schmerzhaft ist, mit einem Denkmal oder einem Idol von Mann zu leben.
Zwischen der ersten und zweiten Begegnung im Jahre 1807 liegt die Bekanntschaft und die Eheschließung von Clemens mit Auguste Bußmann, Ereignisse, die Bettina manches zu denken geben, zumal man sie während ihres Aufenthalts in Kassel von seiten der Frankfurter Verwandtschaft auch zur Berichterstattung über die ungeliebte neue Verwandte veranlassen will.
Inzwischen bricht Achim mit seinem alten, väterlichen Freund Reichardt zu einer Reise nach Giebichenstein auf. Am 9. November 1807 kommt es zu einem Familien- und Freundestreffen in Weimar bei Goethe. Das Ehepaar Savigny und Meline sind dabei, Clemens, Achim, Bettina. Die Situation ist nicht ohne Pikanterie und Konfliktstoff, wenn man sich vorstellt, daß der geliebte und bewunderte alte Mann und der junge Mann, zu dem sich ihre Bindung nach langer Trennung in diesen Wochen enger gestaltet, hier mit Bettina und miteinander umgehen müssen. Aber offenbar verlaufen diese Tage harmonisch.
Für Achim ist die schlimme Isolation durch den preußischfranzösischen Krieg endlich überwunden. Die Anwesenheit von Freundin und Freund lassen ein Gefühl von Geborgenheit aufkommen, das er lange vermißt hat; man kann wieder gemeinsame Pläne machen. Für ihn, den das Gefühl bedrückt, sein Staat habe keine Verwendung für ihn, und der an Preußens Schande leidet, stellen sich verlockende literarische Aufgaben: Die Herausgabe des dritten Bandes des Wunderhorns, in Kassel, wohin man aus Weimar weiterreist, die Bekanntschaft mit Jacob und Wilhelm Grimm, bei denen er viel Übereinstimmung in Zielen und Bewußtsein wahrnimmt. Der erste Kontakt zu den Brüdern Grimm hat sich 1805 über Clemens Brentano ergeben. Damals war die Vorstellung aufgetaucht, in die schon geplante Fortsetzung des Knaben Wunderhorn neben Liedern auch Sagen und Märchen aufzunehmen.
Jacob Grimm hat ab 1802 in Marburg bei Savigny Jura studiert und ist mit diesem zusammen in Paris gewesen. Als am 22. März 1806 Brentano seinen Schwager Friedrich Karl von Savigny fragt: »Haben Sie in Kassel keinen Freund, der sich dort auf der Bibliothek umtun könnte, ob keine alten Liedlein dort sind, und der mir dieselben kopieren könnte?«, leitet der diese Anfrage an Jacob Grimm weiter, der zu dieser Zeit als Sekretär beim Kriegskollegium in Kassel tätig ist.
Jacob hat damals seine jüngeren Brüder Wilhelm und Ferdinand mit eingespannt. Nicht nur zum Liedersammeln. Sie haben eine Vielzahl von Texten der Volksliteratur aus alten Büchern abgeschrieben, weil sie sich, wie Clemens im Oktober 1807 an Achim geschrieben hat, die Originale »aus Armut nicht kaufen konnten.« Und er hat hinzugefügt:

Sie selbst werden uns alles, was sie besitzen, noch mitteilen, und das ist viel! Du wirst diese trefflichen Menschen, welche ruhig arbeiten, um einst eine tüchtige teutsche poetische Geschichte zu schreiben, sehr lieb gewinnen.

Als Achim von Arnim und Clemens Brentano gegen Ende des Jahres 1807 nach Kassel kommen, finden Gespräche statt, die ganz entscheidend eines der berühmtesten Bücher deutscher Sprache mitgeprägt haben dürften: die dann 1812 erscheinenden Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Was die Grimms zu dieser Zeit schon gesammelt hatten oder sammelten, scheint zunächst als Rohmaterial für eine von Clemens in Aussicht genommene Märchensammlung bestimmt gewesen zu sein. Ihm kommt auch das Verdienst zu, die Anregungen zu den ersten Ansätzen dessen gegeben zu haben, was man später in der Märchenforschung »Feldarbeit« nennen wird, in dem er Zirkularbriefe entwirft und die Grimms auf »Gewährsleute mündlicher Märchentradition« aufmerksam macht.
In Kassel dürften wohl auch schon die ersten Pläne zu jener >Zeitung für Einsiedler< gefaßt worden sein, die Achim dann ab April 1808 von Heidelberg aus herausgegeben hat und zu der auch die Grimms, Bettina und Clemens Texte beisteuern. Im Sommer 1808 ist Achim auf Besuch in Winkel, dem Landhaus von Franz Brentano. Er und Bettina sehen sich ständig. Sie kommen zum »Du«, aber es gibt auch immer wieder Augenblicke, in denen Achim Bettina merkwürdig fremd vorkommt. Er mag es nicht, wenn sie mit dem Baby der Savignys gar zu toll herumspringt. Er mag es auch nicht, daß sich die Leute aus Frankfurt immer gleich küssen. Es gibt deutliche Temperamentsunterschiede zwischen der Frankfurter Bürgerstochter mit italienischen Vorfahren und dem märkischen Landedelmann.
Bettina klagt:

»Nun war er da, und es war nichts besser. Der Mensch blieb ein Mensch und kann sich deswegen wieder einen Menschen nicht zu eigen machen.«

In Kassel, Frankfurt, Heidelberg sieht Achim Clemens' Ehemisere. Er ist Clemens immer noch herzlich zugetan und bedauert sehr, daß der Freund sich so ins Unglück verrannt hat. Dann und wann kommen bei ihm aber auch Überlegungen, bei denen er Bettina und Clemens miteinander vergleicht, kommt die Frage, ob all diese Brentanos überhaupt zu dauerhaften menschlichen Bindungen fähig seien.
Bezeichnend für ihre Schwierigkeiten miteinander ist ein Zwischenfall im Juni 1808.
Frau von Stael bereist Deutschland und macht in Frankfurt Station. Was sich dort zuträgt, schildert Bettina aus ihrer Sicht in einem Brief an Achim so:

Es ist mir sonderbar ergangen mit Frau von Stael; Sismondi, den Du schon kennen wirst, wenn Du meinen Brief liest, besuchte mich gestern und erzählte mir mit einer festen Stimme, daß sie unendlich gutmütig sei ... ich ging zu ihr, sie nahm mich mit einer Art von Begierde nach Freundlichkeit auf, sie drückte mich mehrmals ans Herz! Das war mir zu arg, ich erzählte ihr, daß ich sie bis auf denselben Augenblick nicht habe leiden können, und verständigte mich mit ihr darüber; sonderbar glaubte sie, es sei aus Eifersucht über - Dich gewesen, welches sie aus allerlei dummen Spaßen von Moritz Bethmann schloß, der ihr unter anderm weiß machte, ich werde immer rot, so oft ich Deinen Namen ausspräche. Sie versicherte mir daher, daß ich nicht eifersüchtig zu sein brauche, indem sie Dich so selten sähe. Dies kam mir nicht wenig possierlich vor; auch bat sie mich dringend Dich zu heiraten, wahrscheinlich um mir meinen Verdacht ganz zu benehmen. Ich setzte ihr auseinander, Du seist ein lieber Vogel in der Luft, dem man die Schwingen nicht rauben dürfe, um ihn in der basse-cour einzusperren usw. Wenn ich jetzt bei Dir wäre, so wollte ich Dir wohl viel erzählen, wie mein Herz in wenig Tagen mehr Unruhe und Klopfen und Poltern erlitten, als seit langem...

Von Frankfurt reist Madame Stael nach Heidelberg weiter und trifft dort mit Achim zusammen. Sie macht eine Bemerkung, die auf Bettina zielt: Wer das Außerordentliche achte, könne das Bizarre nicht lieben. Das ist eine elegante Formulierung, heißt aber darum nicht weniger maliziös, daß ein Mann von Achims Qualitäten sich doch nicht an ein so verrücktes kleines Ding fortwerfen könne.
Achim nimmt Bettina in Schutz. Er erklärt und entschuldigt Bettinas bizarres Verhalten damit, daß sie zeitig ihre Mutter verloren habe und zwischen Brüdern aufgewachsen sei.
Aber dann erfährt er etwas, was ihn sehr empört. Die Stael weiß, daß Achim »in Königsberg einem schönen Kind begegnet« ist, »das sein Angesicht von ihm gewendet hat.«
Das kann ihr nur Bettina erzählt haben. Wütend schreibt Achim: »Und dann forderst Du Treue von
meinem Vertrauen; was kann es Dir wert sein, wenn Du es nicht bewahren magst!«
Er empfiehlt ihr, künftig doch gegenüber »Durchreisenden, die Erinnerungen einer halben Welt, Pläne und Beobachtungen mit sich tragen«, etwas vorsichtiger und zurückhaltender zu sein.
Aber Bettina verteidigt sich. »Diese Frau« habe sie damit reizen wollen, »daß sie selbst ein Weib kenne, die recht liebenswürdig, geistreich und Achim nicht gleichgültig sei«.

Ich wußte nicht, wen sie meinte, und sagte ihr, daß ich in keinem Verhältnis mit Dir sei, das mich eifersüchtig machen könne, und daß die Ungebundenheit Deines Herzens mich eigentlich fester an Dich bände, daß ich Anteil nähme an Deinem Schicksal wie an dem meinigen, und daß es wahrscheinlich immer so bleiben würde: dies fand sie vielleicht bizarr in mir, denn sie wunderte sich darüber und wollte es nicht glauben. Was ich sonst noch sprach, weiß ich durchaus nicht mehr, kann nicht behaupten, daß ich nichts gesprochen, was einer Entschuldigung bedürfe, mithin lasse ich mir's gefallen, daß Du Dein Vertrauen jemand entziehst, bei dem es so leicht in Gefahr kommt, wenn auch nur scheinbar verletzt zu werden. Von Vertraulichkeit mit ihr kann gar keine Rede sein, denn ich war höchstens eine Viertelstunde bei ihr im Haus.

Es geht ihr schlecht zu dieser Zeit. Sie ist in Trages vom Pferd gestürzt und hat sich verletzt. Sie ist traurig, daß er mit ihr böse ist, und dabei erfährt man, daß es noch öfter solche Verstimmungen zwischen ihnen gegeben hat in diesem Sommer:

Ach Arnim, ich kann so nicht schlafen gehen, es ist mir grad, als gingst Du dort in Winkel aus dem Zimmer schlafen, ohne mich vorher angesehen zu haben oder die Hand zu reichen.

Aber sie hat auch ihren Stolz. Im nächsten Brief, er stammt vom 5. Juli 1808, heißt es:

...nenne mich nur auch nicht »liebe Bettine« und schreibe auch nicht »ich küß Dich herzlich«, das tut mir jetzt immer mehr leid, als daß es mich freuen sollte. Ich sehe Dir selbst jetzt in Gedanken nicht eher ins Angesicht, als bis dies kalt und vergessen ist...

So geht es auf und ab mit ihnen in diesem Sommer. Kein Zweifel, jetzt sind sie verliebt, und es sind nicht die Schwierigkeiten von Freunden, sondern die zwischen Liebesleuten, die sie miteinander haben. Und auch dies steht in einem Brief aus diesem Sommer und Herbst, geschrieben in Schlangenbad, gesandt an Achim, der in Heidelberg an einem kalten Fieber erkrankt ist:

Es ist auch jetzt wieder Mitternacht, und alle Leut schlafen und schnarchen sogar; soll ich Dir denn schon gute Nacht sagen? oder soll ich noch bei Dir bleiben? soll ich noch schmeicheln?-warum sagst Du denn heut nicht: es ist genug; warum schickst Du mich nicht fort, es ist schon spät; wenns jemand merkte, daß ich noch bei Dir bin: - Lieber, lieber, geliebter Achim - sag, in welche Periode gehört denn dieser Kuß? und noch einer-! Ich hatte den Kopf auf das Blatt gesenkt und - war ganz bei Dir. Weil Du krank bist, so muß man ja bei Dir wachen, ich bleib noch - ach wie die Zeit so schnell vorübergeht - denn während ich Dir ein Wort schreibe, denk ich zehn Minuten an Dich ... Jetzt noch einen langen Abschied will ich nehmen und dann ins Bett gehen. Gute Nacht, mein lieb Leben, gute Nacht, Arnim! Deine Hand - und Dein Mund - und Dein Herz - ach gelt, es ist zuviel - es ist wohl grad wieder bei Deiner Großmutter? Aber jetzt zum letzten, zum allerletzten mal, schlaf recht wohl!-daß das Fieber nur nicht mehr kommt, ich leg mich vor die Türschwelle und laß es nicht ein -ja ich lieg vor der Türschwelle meiner Freude, aber wenn ich bei Dir bin, dann bin ich aufgenommen in das Haus meiner Glückseligkeit.

(25) Im Herbst des Jahres 1808 geht Bettina mit dem Ehepaar Savigny nach Bayern. Die Gründe für diesen Aufenthalt mit losem Familienanschluß werden verständlich, wenn man die Situation in der Großfamilie Brentano um diese Zeit näher betrachtet.
Savigny hatte sich um einen Lehrstuhl in Heidelberg beworben, war aber dort abgelehnt worden, nicht zuletzt deswegen, weil es in Heidelberg unter den Intellektuellen und Universitätsprofessoren so etwas wie eine Anti-Brentano-Partei gibt. Verärgert hat er einen Ruf an die Universität Landshut angenommen.
Franz Brentano, der Familienchef, hat die väterliche Firma liquidiert. Seine Geschwister und Halbgeschwister sind ausgezahlt worden. Er hat geschäftliche und familiäre Verpflichtungen in Wien, der Heimat seiner Frau. Seine Erfahrungen mit Bettina als Hausgenossin dürften nicht die besten gewesen sein.
Bettinas Bruder Georg, 1775 geboren, hat sich an der neu gegründeten Firma seines Halbbruders Franz in Frankfurt beteiligt. Er besitzt außerdem jenes Gut in Rödelheim, das in Bettinas Schriften unter der Bezeichnung »Grüne Burg« auftaucht. In Frankfurt hat er sich eben ein neues Haus gebaut.
Die Ehe zwischen der 1787 geborenen Lulu Brentano und dem Bankier und kurhessischen Legationsrat Karl Jordis ist problematisch und gilt zu diesem Zeitpunkt schon als gescheitert. Außerdem ist Kassel, wo die Jordis leben, zu dieser Zeit noch der Aufenthaltsort von Clemens' zweiter Frau, Auguste, mit der es ständig neue Schwierigkeiten gibt. Kassel scheidet unter diesen Umständen als Wohnort für Bettina ebenfalls aus. Die Kinder aus der zweiten Ehe des Pietro Brentano kaufen sich nun gemeinsam das Gut Bukowan in Böhmen. Bei der Investition ihres Erbteils in Landbesitz dürfte die ungewisse politische Lage eine Rolle gespielt haben. Immer noch drohten neue Kriege.
Die Bewirtschaftung des Gutes übernimmt das Sorgenkind der Familie, der 1784 geborene Christian, ein junger Mann, ähnlich zerrissen und unbeständig wie Clemens. Christian hat in Marburg Medizin studiert und dort eine gescheiterte Revolte gegen die französische Besatzungsmacht miterlebt.
Er spielt Flöte, statt Medizin zu lernen, und bedeckt die Wände seines Zimmer mit improvisierten Zeichnungen, während sich in seinem Garten Raben, Elstern, Habichte, Hunde, Katzen, Ziegen, Marder und Füchse tummeln.
Nachdem es mit dem Studium nicht so recht hat klappen wollen, schicken ihn die Geschwister zur praktischen Bewährung auf das Gut in Böhmen. Bettina mitzuschicken, hieße zwei Bizarre zusammenspannen. Das kann nicht gut gehen. So bleibt schließlich nur Savigny übrig, an dessen Verantwortungs- und Pflichtgefühl sich gewiß gut appellieren ließ und der es - erinnern wir uns an Bettinas Aufenthalt bei Schwager und Schwester in Marburg - offenbar auch immer noch am besten versteht, Bettina zu zügeln.
Aus Bettinas Sicht gibt es kaum noch etwas, was sie in Frankfurt hielte.
Sophie Laroche, die Großmutter, ist tot. Die Frau Rat, Goethes Mutter, stirbt im September 1808. Achim lebt in Heidelberg und schlägt sich mit den Schwierigkeiten herum, die er als Zeitungsherausgeber hat. Aber auch dort sind seine Tage gezählt. Er wird nach Berlin zurückmüssen, dem Drängen der Großmutter Labes folgend, die einen Schlaganfall erlitten hat. Abschied genommen wird in der Orangerie in Aschaffenburg. Als jetzt abermals eine lange und räumlich weite Trennung zur Gewißheit wird, fühlen sich die beiden trauriger als sie gedacht haben. Bei diesem letzten Spaziergang im herbstlichen Park empfinden sie sich eng verbunden. Und doch scheint ihnen eine Heirat völlig ausgeschlossen. Sie sprechen nicht einmal andeutungsweise davon. Dieser Zwiespalt zwischen Verbundenheit und dem Wunsch, frei zu bleiben, sich offen zu halten, ist schwer zu ertragen.
Am 26. September 1808 kommt Bettina mit den Savignys in Landshut an. Die Möbel sind noch nicht da, und es wird auch noch eine Weile dauern, ehe sich die Familie mehr als nur provisorisch dort eingerichtet hat. Bettina reist nach München weiter und lebt zur Untermiete bei Madame Moy, einer alten Freundin der Familie Brentano-Laroche.
Bei den Moys, die um einen Zuverdienst froh sind, bleiben auch die 1805 in Paris geborene Tochter Savignys, Bettinchen, genannt »Poulette«, und der erst sechs Monate alte Franz Savigny. Bettina soll ein Auge auf die Kinder haben, will aber auch ihr Musikstudium fortsetzen. Sie hat damit begonnen, hin und wieder Gedichte von Achim von Arnim zu vertonen.
Es dauert nicht lange, und sie ist mit einer ganzen Anzahl einflußreicher und interessanter Leute bekannt. Auffallend dabei ist, daß die meisten wesentlich älter sind als sie. Da ist Graf Stadion, Gesandter Österreichs in Bayern, der versuchen soll, das Land zu einer Allianz mit Österreich gegen Napoleon zu bewegen. Schwer zu sagen, ob sich Bettina über das tatsächliche Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Mann im klaren ist. Stadion ist der Enkel jenes kurmainzischen Ministers, dessen natürlicher Sohn, Georg von Laroche, der Ehemann von Sophie und Bettinas Großvater war.
Stadion, jetzt um die fünfzig, ist katholischer Priester. Er weckt in Bettina den Sinn für politische Zusammenhänge. Auf ihn und seine Erklärungen geht es zurück, wenn sie plötzlich an dem Schicksal des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer so lebhaften Anteil nimmt.
Achim müßte sich über dieses bei Bettina neue Interesse an den tagespolitischen Ereignissen eigentlich freuen. Er hat ja all die Jahre das Schicksal Preußens mit heißem Herzen verfolgt. Er hofft, wie so manche, daß durch Aufstände eine Wende herbeigeführt werden könnte. Aber ein katholischer Priester, der dann auch noch so viel Einfluß hat, daß Bettina nun regelmäßig zur Kirche geht und erklären kann, Buße zu tun sei ein himmlisches Labsal, ist nun doch nicht ganz der Mann, den Achim sich als Mentor und Seelenfreund für Bettina wünscht. Auch schon ein alter Herr, »ein schöner Greis von hoher Gestalt und edlen Zügen«, ist Friedrich Heinrich Jacobi, Verfasser philosophischer Romane und seit 1805 Präsident der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. In seiner Jugend hat er im Haus der Laroches in Ehrenbreitstein verkehrt.
Bettina sucht auch in Jacobi einen Mentor, jemanden, zu dem sie bewundernd aufschauen kann, muß aber bald feststellen, daß der alte Herr, der auf Achim von Arnim wegen dessen scharfer Kritik an einer seiner Akademiereden und an den kulturellen Zuständen in Bayern gar nicht gut zu sprechen ist, von seinen Stiefschwestern bewacht und gegenüber kecken jungen Damen abgeschirmt wird. Bettina nennt die Schwester Lene, die Jacobi auch als Sekretärin dient, »eine alte canailleuse Kaffeeschwester«, die ihren Bruder »auf eine unangenehme Weise verpalisiert*.« (*mit Palisaden umgibt) Eine schwärmerische Zuneigung hat Bettina schon im Sommer 1806 für den jetzt in München an Gicht daniederliegenden Dichter Johann Ludwig Tieck gefaßt, den sie regelmäßig besucht und ihm vorliest. Nachdem der erste Enthusiasmus verrauscht ist, hat sie dann sowohl an Jacobi wie auch an Tieck so manches auszusetzen. Auf solche Mäkeleien erwidert Achim aus Berlin im März 1809:

Daß Dir die Leute alle zu nichts werden wie Tieck und Jacobi, die Du erst verehrst, davon miß ihnen nicht unbedingt die Schuld bei; es ist sehr viel wert, etwas ganz und gar in der Reinheit des Verhältnisses zu bewahren, vor allem aber ist göttlich die Achtung vor dem Menschen, nach der sie immer mehr und besser geachtet werden als alles, was wir in sie hineingeträumt haben.

Und als es dann schließlich zwischen ihr und Tieck endgültig zum Bruch kommt, weil dieser es gewagt hat, sich spöttisch über ein Goetherelief auszulassen und Bettina sich abermals bei Achim darüber beklagt, erwidert der:

Liebes Kind, wer sich so auf gut Glück anhängt, nach Überzeugung zurückzieht, der läßt immer einen Teil seines Glücks hängen und fühlt sich endlich sehr zerrissen.

Tieck wiederum äußert sich kritisch über Bettinas »Dreistigkeit«. Von ihren Tollheiten und »Körpersprüngen« berichtet auch Wilhelm von Humboldt, der sie im November 1808 auf der Rückreise von Italien kurz in München gesehen hat. Und Karoline Schelling, zu dieser Zeit Mitte vierzig und verstört vom Tod ihrer Tochter Auguste, äußert sich ebenfalls nicht gerade schmeichelhaft. Bettina sei

  • ein wunderliches kleines Wesen... innerlich verständig, aber äußerlich ganz töricht, anständig und doch über allen Anstand hinaus... Ob sie dabei hübsch und jung ist? Und da ist wieder drollicht, daß sie weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich, weder wie ein Männlein, noch wie ein Fräulein aussieht.«