Großmütter - ein Kapitel für sich

Was verbinden Sie mit dem Wort »Großmutter«? Eine nette, grauhaarige, alte Dame, die lächelnd im Schaukelstuhl sitzt, oder eine aufreizende Blonde von 42 mit einem Wuschelkopf und der Energie einer Fünfzehnjährigen, die bewirkt, daß sich eine erschöpfte, frisch gebackene Mutter wie hundert Jahre alt vorkommt? Und was tut eine Großmutter? Singt sie Ihrem Kind alte Volksweisen vor und vermittelt ihm die Weisheit und Gelassenheit der Älteren, Erfahreneren, oder sitzt sie auf dem Sofa mit dem Ginglas in der Hand und erzählt Ihnen, was Sie gerade wieder falsch machen? Strickt sie? Rümpft sie die Nase über Ihren schlampigen Haushalt? Großeltern - das ganze Thema wird immer verwirrender. Vor hundert Jahren, als die Menschen mit fünfzig unvorstellbar alt waren, waren auch die Generationen deutlicher getrennt. Die Familien lebten enger zusammen, und die Rolle der Großeltern war klar festgelegt.
Heutzutage leben drei Generationen kaum einmal für längere Zeit unter einem Dach, und durch die höhere Lebenserwartung und den besseren Gesundheitszustand verschiebt sich ohnehin alles. Wenn Mutter und Tochter als Teenager oder Anfang zwanzig ihre Babys bekommen, beziehungsweise bekommen haben" dann Vorhang auf für eine jener aufregenden Großmütter Anfang vierzig, die gerade in ihrer aktivsten Lebensphase steht, während ihre Tochter sich durch die Wochenbettdepressionen kämpft. »Ich muß los, Liebes - zuerst eine Gerichtssitzung, dann zurück in die Boutique und dann schnell nach Hause umziehen für das Theater heute abend. Hoffentlich findest du einen Babysitter ja, wo isser denn, unser kleiner Liebling ciao, ihr beiden!« Wenn andererseits beide Frauengenerationen spät heiraten und erst mit über dreißig oder über vierzig Kinder bekommen, haben wir den gegenteiligen Fall: eine Frau, die um die siebzig ist, wenn sie ihr erstes Enkelkind in den Armen hält, und die unter Umständen noch sehr viel strammes Gedankengut aus ihren vierziger Jahren einbringen möchte. »Du solltest ihn nicht jedesmal auf den Arm nehmen, wenn er schreit. Du schnitzt dir selber die Rute, meine Liebe.
Ein strikter Vierstundenrhythmus beim Füttern ist am gesündesten. Du überreizt das Kind mit dem ständigen Herumtragen. Warum hast du dir nicht einen ordentlichen Kinderwagen gekauft anstelle dieses schrecklichen wackeligen Gefährts hier? Halte ihn nicht so, das ist schlecht für seinen Rücken.« Natürlich gibt es da auch wieder Ausnahmen. Es gibt flotte Großmamas, die Kinder auch gerne mal für vierzehn Tage nehmen. Dann gibt es gemütliche, alte Großmamas, die nie kritisieren, aber für Mutter und Kind wie ein Fels in der Brandung wirken. Und es gibt Großväter, die die Kleinen stundenlang und mit Engelsgeduld an der Werkbank oder mit der Ruderpinne spielen lassen. Ein harmonisches Familienleben ist eine immer wiederkehrende Idylle, Glück und Geborgenheit werden von Generation zu Generation weitergegeben. Vergessen Sie ein unharmonisches Familienleben. Optimismus ist angesagt. Im Interesse der familiären Harmonie und eines sanften Dampfablassens folgt nun der offizielle, ultimative Leitfaden für den Umgang mit Großmüttern:

Die arme alte Großmama:

Sie ist vielleicht nicht älter als 62, aber hat sich entschlossen, der anstrengenden Seite des Lebens den Rücken zu kehren. Zwar ist sie von ihrem neuen Enkelkind begeistert, aber Windelwechseln kommt für sie nicht in Frage. Das gleiche gilt für Baden, Herumtollen auf dem Boden, Hochheben oder Lernen, wie man mit den neuen Verschlüssen an den Oshkosh-Latzhosen zurechtkommt. Wahrscheinlich hat sie Sie während der ersten drei hektischen Jahre, als es nur um solche praktischen Verrichtungen ging, schier zur Verzweiflung gebracht. Aber fassen Sie Mut. Mit ihrem fast unheimlichen Talent, absolut ruhig dazusitzen und darauf zu warten, daß man ihr Dinge zuträgt, ist sie der ideale Ansprechpartner für aktive Kinder. Vor allem wird sie ein langmütiges Publikum für unverständliche Theaterspiele sein, sich zum hundertsten Mal geduldig den Feentanz vortanzen lassen, eine einstündige Purzelbaumvorstellung über sich ergehen lassen und sich in langwierige Diskussionen über die Entscheidungen des Lehrers in der Schule einlassen.

Die Retro-Großmama:

Sie will helfen. Nein, eigentlich will sie nur jeden Augenblick ihrer eigenen Mutterschaft vor vielen Jahren noch einmal erleben. Sie hat wieder ein Baby, Ihr Baby, und jede Miene des kleinen Pummelchens erinnert sie schmerzhaft und euphorisch zugleich auch an ihre eigenen kleinen Lieblinge. Daraus ergibt sich, daß Sie eine Schmach für die ganze Familie sind, wenn Sie nicht die gleiche Zinksalbe, das gleiche Äl und den gleichen riesigen Kinderwagen nehmen, die Windeln nicht nach der gleichen Methode falten und dem Baby die gesunden Wollhöschen vorenthalten. Mit schrillen Entsetzensschreien wird sie Schultertücher, Tragetücher und Schuhe mit Klettverschluß quittieren. Dagegen kommen Sie nur mit einem ständigen Lächeln auf den Lippen an und indem Sie weiter unbeirrt das tun, was Sie für richtig halten. Denken Sie daran, daß Sie vielleicht in dreißig Jahren Ihre Tochter verrückt machen mit Ihrer Kritik an ihrem solarbetriebenen Kinder-Sportwagen und den sich selbst beseitigenden Nuklearwindeln. Aber es wäre auch eine nette Geste, Retro-Großmama mit einem Paar langer, grauer Shorts für Jungen und einem gesmokten Kleid für Mädchen entgegenzukommen.

Die Flippie-Großmama:

Sie weiß noch nicht so recht, was sie davon halten soll, plötzlich Großmama geworden zu sein. Niemand in ihrem Singles-Club wollte es glauben, als sie es erzählte. Sie kann sich an gar nichts mehr erinnern, weil sie doch selbst noch ein Kind war, als Sie sich ankündigten. Und so kichert sie ständig über alles. Eigentlich erfüllt sie mehr die Funktion eines unverheirateten Onkels oder einer unverheirateten Tante als die einer Großmutter. Finden Sie sich mit ihr ab, atmen Sie tief durch, und erinnern Sie sich daran, daß Kinder unkonventionelle Erwachsene mögen. Und seien Sie auf ein gelindes Entsetzen vorbereitet, wenn Großmama bemerkt, daß ihre Enkelin zu groß geworden ist, um sich noch von ihr die Tränen trocknen zu lassen.

Die dusselige Großmama:

Einige wenige Frauen mittleren Alters haben die Jahre ihrer eigenen Mutterschaft so sehr in den Hintergrund gedrängt, daß Babys in ihrer Obhut offen gestanden nicht sicher sind. Sie lassen Zigarettenasche in die Babytragetasche fallen, verabreichen die Flasche mit kochend heißer Milch, wollen einfach nicht wahrhaben, daß Hundekot im Garten, in dem Kinder spielen, nichts zu suchen hat, und sie sehen in die Glotze, anstatt das Kleinkind im Auge zu behalten. Leider müssen Sie in den frühen Jahren des Kindes realistisch und klug sein, ohne gleich aus der Haut zu fahren. Aber besser eine verletzte Oma als ein verletztes Kind. Wenn die Kinder größer sind, kann sie jedoch eine gute Freundin werden. Es ist durchaus möglich, einem sechsjährigen Kind taktvoll beizubringen, daß Großmama es mit der Vorsicht nicht so genau nimmt, also Hilfe braucht. In einem wirklichen Notfall scheidet sie jedoch als Ansprechpartnerin aus.

Die feindselige Schwieger-Großmama:

Sie waren schon vor Ihrer Hochzeit nicht gut genug, ihren Sohn (oder ihre Tochter) zu bekommen. Das hören Sie heute noch ganz deutlich, wenn sie Ihr Kind mit »armes kleines Würmchen« anspricht. Versuchen Sie keinesfalls , ihr beweisen zu wollen, daß Sie eine gute Mutter oder ein guter Vater sind. Das wäre grundverkehrt, denn nichts fällt ihr schwerer als solche Zugeständnisse. Verärgern Sie sie nicht, denn in ihr haben Sie einen perfekten Babysitter. Sie wird ganz wild darauf sein zu beweisen, daß sie besser ist als Sie. Und lassen Sie sich ruhig Zeit! Je mehr Verspätung Sie haben, desto mehr werden Sie ihre Meinung bestätigen

Die gestrenge Großmama:

Eine von dieser Sorte kommentierte die vierte Schwangerschaft ihrer eigenen Tochter mit den Worten: »Ich weiß nicht, meine Liebe, warum du noch eines bekommen möchtest, wo du jetzt schon mit den anderen nicht zurechtkommst.« √úberprüfen Sie einmal genauer. Gab es in ihrem Haushalt vielleicht Kindermädchen und Hauspersonal, das 24 Stunden am Tag zur Verfügung stand? Wurden die Kinder mit sieben Jahren in ein Internat gesteckt? Wenn dem so ist, dann können Sie es ihr getrost entgegenhalten. Aber wenn sie ein echter Zuchtmeister ist, der kleinen Kindern den Nachtisch entzieht, weil sie das unentschuldbare Verbrechen begangen haben, die Ellenbogen auf dem Tisch aufzustützen, dann sollten Sie das positiv sehen. Entweder werden die Kinder sie anbeten und im Laufe der Zeit auch ein paar wirklich gute Manieren lernen, oder, wenn das nicht klappt, wird die Erwähnung ihres Namens als gelegentliche Drohung sicher auch nicht ihre Wirkung verfehlen.

Die Verwöhn-Großmama:

»Ach Herzchen, ist Mami wieder sooo streng mit dir? Ohohoh, wie schlimm! Sind doch schließlich nur Kinder. Komm, Kleines, Großmama kauft dir Gutties. Ach, sind das nicht die richtigen? Nein, nicht auf den Boden, Herzchen! Ups! Ach, macht nichts. Großmama bezahlt die zerbrochene Flasche, die von dem dummen, wackeligen Regal gefallen ist, schon. jetzt wollen wir aber erst einmal etwas Süßes für dich suchen ... « Die Verwöhn-Großmama  ist erträglich, solange sie selber für die Folgen aufkommt. Der kritische Moment kommt, wenn ein wildes Kind in ihrem Haus wirklich frech, undankbar, einfach unerzogen wird. Dann bringt sie es mit beleidigt gespitzten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen zurück und murmelt etwas von »bösem Blut, das in die Familie gekommen ist«. Ich kenne kein Heilmittel.

Die perfekte Großmama:

Sie kocht wunderbar, ist nie böse, schneidert stundenlang Puppenkleider, erzählt herrliche Geschichten aus früheren Zeiten, liest den Enkeln zum Einschlafen vor und kann alles besser als Sie. Babys schlafen in ihren Armen sofort ein, größere Kinder machen ihr keinerlei Probleme. Mit etwas Glück wird sie auch daran denken, Ihnen zu versichern, was für eine Supermutter Sie sind und wie wohlerzogen Ihre Kinder sind. Sollte sie diese Nebensächlichkeit vergessen,  können Sie sich am besten gleich von der nächsten Brücke stürzen. Alles in allem gesehen sind Großmütter eine feine Sache. Gott schütze sie alle. Und auch die Großväter, die sich merkwürdigerweise nicht so einfach in oben genannte Kategorien pressen lassen. Das muß wohl an einem gerüttelt Maß an männlichem Egoismus und Laissez-faire liegen. Eines Tages wird, so Gott will, unser eigenes Baby ein Baby haben, und wir werden ehrfürchtig den Fortbestand der Schöpfung aus unserem eigenen vergänglichen Fleisch miterleben. Die Freude darüber kann sehr wohl bewirken, daß wir ein wenig wunderlich werden. Aber inzwischen sind wir mit kleinen Freuden zufrieden. Nein ehrlich, sind wir wirklich. Echt dankbar. »Du mußt Stunden dran gesessen haben. Was für eine wunderschöne Farbe! Was ist es eigentlich? Eine Ballettjacke? Wunderschön ... ja, sie ist wirklich ein rechter Wildfang. Wie schön für sie, eine pfirsichfarbene Jacke... «