1456 Die Untersuchung an der lothringischen Grenze

Als der Inquisitionsprozeß wirklich beginnt, wird beschlossen, Nachforschungen anzustellen: in Rouen und Paris über die Mängel des ersten Verfahrens, in Orléans über das Wunder der Befreiung, an der lothringischen Grenze über die Frömmigkeit der Pucelle. Dort haben auf Ersuchen von Jean, genannt du Lys, Johannas Bruder, Vorsteher von Vaucouleurs, zwei Priester des Dorfs anhand der im Dezember 1455 in Rouen aufgestellten Liste von zwölf Fragen im Januar und Februar auf Anordnung des Gerichts die Zeugnisse gesammelt. Das Ziel war, zu prüfen, ob die von Cauchon angeordnete Untersuchung, auf der Johannas Verhör fußte, tatsächlich stattgefunden hatte, und diesen Bericht auf jeden Fall zu korrigieren.
Über den ersten Punkt sagen die meisten, nichts in ihrem Gedächtnis zu finden. Einer erinnert sich undeutlich. Ein anderer sah einen namens Nicolas Bailli aus Andelot, der mit anderen in besagtes Dorf Domrémy kam, um dort auf Ersuchen von Herrn Jean de Torcenay, damals Amtmann von Chaumont, im Namen des Königs von Frankreich und England Erkundigungen über Jeannes Ruf und Betragen einzuholen, wie sie sagten; (...) sie wagten nicht, die Leute zum Schwören zu zwingen wegen derer von Vaucouleurs. Der Zeuge sagt, er glaube, daß Jean Begot aus besagter Stadt verhört wurde, weil sie in seinem Haus wohnten. Er sagt auch, er glaube, daß sie bei der Nachforschung nichts Schlechtes über besagte Jeanne fanden.
Nicolas Bailli bestätigt das. Gérard, genannt Petit, verstorben, damals Propst von Andelot, und er selbst zogen die genannten Erkundigungen über Jeanne ein; dank ihrer Emsigkeit brachten sie etwa zwölf oder fünfzehn Zeugen bei, damit sie die Nachforschungen, die sie angestellt hatten, vor Simon de Thermes, damals Stellvertreter des Hauptmanns von MontClair bestätigten, weil man sie verdächtigte, sie schlecht durchgeführt zu haben. Diese Zeugen sagten vor dem Stellvertreter, daß sie so ausgesagt hätten, wie es in ihrem Verhör enthalten sei. Daraufhin schrieb besagter Stellvertreter an Herrnjean, den Amtmann von Chaumont, daß das, was in jenem von besagtem Notar und Probst durchgef'ührten Verhör stehe, wahr sei. Als der Amtmann den Bericht des Stellvertreters sah, sagte er, daß die Beauftragten falsche Armagnacs seien.

Johannas Kindheit

Über Johannas Kindheit und Betragen erzählen alle vierunddreißig Zeugen das nämliche: läppisches Zeug. Das, was Mengette und Hauviette, ihre Gefährtinnen, berichten: sie war so gut, einfach und fromm, daß die Zeugin und die anderen Mädchen zu ihr sagten, sie sei gar zu fromm. Der neue Pfarrer von Domrémy, der ihr in Vaucouleurs begegnet ist, versichert, daß sie gern und oft beichtete, weil er selbst ihr viermal die Beichte abgenommen hat: dreimal während der Fastenzeit und einmal an einem Festtag. Er sagte, daß sie ein gutes, gottesfürchtiges Mädchen war, denn in der Kirche sah man sie manches Mal vor dem Kruzifix niedergeworfen oder die Hände gefaltet, während sich ihre Augen auf das Kruzifix oder die himmlische Jungfrau Maria hefteten.
Oftmals, wenn sie zusammen spielten, sagt Jean Waterin aus Domrémy, Ackersmann, entfernte sich Jeanne und sprach zu Gott, wie ihm scheint; er und die anderen lachten über sie. Für Jean Moreau aus Greux, einen ihrer Paten, waren ihre Eltern ehrbare, gut beleumundete Bauern, die in guten Umständen lebten, aber nicht sehr reich waren; sie ging hinter dem Pflug und hütete manchmal das Vieh; er sagte bei seinem Eid, daß jeannette, wie er sah, häufig und aus freien Stücken in die Kirche ging oder in die Kapelle der himmlischen Maria von Bermont, nahe bei Domrémy, während ihre Eltern sie auf dem Feld beim Pflügen oder anderswo wähnten. Er sagt auch, daß sie, wenn sie zur Messe läuten hörte und auf dem Feld war, ins Dorf, in die Kirche kam, um die Messe zu hören. Sie konnte das Credo, das Vaterunser und das Ave Maria, wie andere Kinder auch.

Der Feenbaum

Lieber spricht man von dem Baum, der Berühmtheit erlangt hat. Derselbe Jean Moreau hat sagen hören, daß Frauen und unheilvolle Wesen, Feen genannt, einst unter diesem Baum tanzten; aber man sagt, sie gingen nicht mehr dorthin, seit man das Johannesevangelium liest. Er sagt auch, daß in unsern Tagen am Sonntag, an dem man im Gotteshaus zum Eingang der Messe Laetare Jerusalem singt, die Mädchen und Knaben aus Domrémy zu diesem Baum gehen, gelegentlich auch im Frühling und Sommer an Festtagen, um zu tanzen, und manchmal essen sie dort und kehren über die Quelle scherzend und singend zurück, sie trinken das Wasser dieser Quelle und pflücken Blumen. Er sagt auch, daß Jeanne, die Pucelle, damals gelegentlich mit den anderen Mädchen ging und tat wie jene; nie hat er sagen hören, daß Jeannette allein zu dem Baum oder zu der Quelle ging, die näher beim Dorf ist als der Baum, oder aus anderen Gründen, als um dort herumzuspazieren und zu spielen wie die anderen Kinder. Mehr hat er nicht auszusagen.
Es war ein sehr schöner Baum, schön wie eine Lilie, eine ganz krumme Buche. Zuweilen machten die jungen Leute dort einen Maienmann, weil Frühling war, das Fest, und man sah nichts Schlechtes darin. Jeannette, Witwe von Ihiesselin de Vittel, zu seinen Lebzeiten Schreiber in Domremy, erklärt: der Baum in dem Artikel heißt »Larbre des Dames«, weil man sagt, daß früher ein Ritter namens Pierre Granier, Herr von Borlemont, und eine Dame, die man Fee nannte, sich unter diesem Baum trafen und miteinander sprachen. Und sie sagt, daß sie gehört hat, man läse diese Dinge in einem Roman. Sie sagt auch, daß die Herren und Damen von Domrémy, zum Beispiel Dame Béatrix, die Gemahlin des Herrn Pierre von Borlemont, mit ihren Fräulein dorthin ging, um dort spazierenzugehen, wie man sagte.
Feststeht, daß das Haus der Rousse in Neufchâteau kein Bordell ist und daß während der vier oder fünf Tage, die sie dort blieben, ihre Eltern Jeannette nicht aus den Augen ließen.

Vaucouleur

Die lebendigste Erinnerung betrifft ihren Aufbruch und ihren kurzen Aufenthalt in Vaucouleurs, worüber man in ihrer Heimat viel gesprochen hat. Wenn man diese Zeugnisse hört - aber sind sie nach fünfundzwanzig Jahren noch zuverlässig?  wird deutlich, daß auch Johanna die Weissagungen von Merlin kannte. Ein Zeuge gesteht, daß er nichts weiß, nur daß Jeanne einmal gesagt hat, es gäbe zwischen Coussey und Vaucouleurs eine Jungfrau, die, noch ehe ein Jahr um ist, den König von Frankreich krönen würde; er sagt, daß innerhalb dieses Jahres der König in Reims gekrönt wurde.
Und Catherine Leroyer, die sie in Vaucouleurs beherbergte, hört sie noch: »Wißt Ihr denn nicht, daß es eine Weissagung gibt, wonach Frankreich durch eine Frau verloren und durch eine Jungfrau gerettet werden wird, durch eine Jungfrau von der lothringischen Grenze?« Drei Aussagen sind von Bedeutung:

Durand, genannt Laxart, aus Burey-le-Petit, Ackersmann, etwa sechzig Jahre alt (Johannas Onkel), in Vaucouleurs vernommen ... (...) Bei seinem Eid sagt er aus, daß er es war, der sie irn Haus ihres Vaters abholte und zu sich nahm; sie sagte dem Zeugen, daß sie nach Frankreich zum Dauphin wollte, um ihn krönen zu lassen; sie sagte: »Gibt es nicht einen alten Ausspruch, daß Frankreich durch eine Frau verwüstet und dann durch eine Jungfrau wiederhergestellt wird?« Und sie sagte dem Zeugen, daß sie zu Robert de Baudricourt gehen und ihn bitten wolle, er möge sie zu dem Ort führen, wo ihr Herr, der Dauphin, sei. Dieser Robert sagte dem Zeugen mehrere Male, er solle sie zu ihrem Vater zurückbringen und ihr Schläge geben. Als die Pucelle sah, daß Robert sie nicht zum Dauphin führen wollte, nahm sie sich Kleider von dem Zeugen und sagte, daß sie aufbrechen wollte. Der Zeuge führte sie nach Saint-Nicolas, und als sie dort war, wurde sie unter sicherem Geleit zu Herrn Karl, dem Herzog von Orleans, geführt. Als der Herzog sie sah, sprach er mit ihr, und derselbe Herr gab ihr vier Francs, die Jeanne dem Zeugen gezeigt hat. Als Jeanne nach Vaucouleurs zurückkam, kauften ihr die Einwohner der Stadt ein Männergewand, Hosen, Beinkleider und alles, was sie brauchte. Der Zeuge und jacques Alain aus Vaucouleurs kauften ihr ein Pferd für zwölf Francs, auf eigene Kosten. Später jedoch hat Robert de Baudricourt sie ihm zurückerstattet. Daraufhin brachten Jean de Metz, Bertrand de Pulengy, Colet de Vienne und Richard, ein Bogenschütze, sie mit zwei Knappen von Jean de Metz und Bertrand zum Dauphin. Und wie der Zeuge sagl sage de dem König all jene Dinge. Mehr weiß er nicht, ausgenommen, daß er sie in Reims bei der Krönung des Königs gesehen hat.

Catherine, Ehefrau von Henry Leroyer sagt, daß sie eines Tages Herrn Robert de Baudricourt, der damals Hauptmann der Stadt Vaucouleurs war, mit Herrn Jean Fournier in ihr Haus treten sah. Und sie hörte Jeanne sagen, daß dieser Priester eine Stola mitgebracht und sie vor besagtem Hauptmann beschworen hatte, indem er sagte, wenn sie etwas Böses sei, solle sie sich entfernen, wenn sie etwas Gutes sei, solle sie zu ihnen kommen. Jeanne sagte, daß sie sich dem Priester auf Knien näherte. Jeanne sagte auch, daß der Priester nicht recht getan hätte, da er ihre Beichte gehört habe...

Und der Edle Jean de Nouillon, genannt de Metz, wohnhaft in Vaucouleurs, etwa siebenundfünfzig Jahre alt (...), sagt bei seinem Eid folgendes. Als Jeanne, die Pucelle, in Vaucouleurs ankam, sah der Zeuge sie in einem ärmlichen roten Kleid; sie wohnte im Haus von Henri Leroyer aus Vaucouleurs; er sagte zu ihr: »Liebe Freundin, was macht Ihr hier? Soll der König aus seinem Reich vertrieben werden, und sollen wir Engländer sein?« Worauf die Jungfrau antwortete: »Ich bin in diese königliche Stadt gekommen, um Robert de Baudricourt zu sprechen, damit er mich zum König führe oder führen lasse; er aber kümmert sich weder um mich noch um meine Worte; doch noch vor Mittfasten muß ich beim König sein, und müßte ich auf Knien hingehen. Denn niemand auf der Welt, kein König, kein Herzog, keine schottische Königstochter oder andere können das Königreich Frankreich wiedererlangen; es gibt keine Hilfe für ihn als durch mich, obgleich ich lieber bei meiner armen Mutter spinnen würde, denn das hier ist nichts für mich. Aber ich muß gehen und es tun, weil mein Herr es will.« Als der Zeuge sie fragte, wer ihr Herr sei, sagte jene Jungfrau: Gott. Und da hat Jean, der Zeuge, ihr mit Handschlag versprochen, daß er sie mit Gottes Hilfe zum König führen würde. Er fragte sie, ob sie die Reise in ihren Kleidern antreten wolle; sie antwortete, daß sie gern Männerkleider tragen würde. Und da gab ihr der Zeuge Kleider seines Dieners. Danach ließen die Einwohner von Vaucouleurs Männerkleider anfertigen und alles, was sie brauchte ...
(...) Aus Furcht vor den Engländern und Burgundern, die in der Umgebung waren, ritten sie manchmal des Nachts und brauchten elf Tage für den Ritt nach Chinon. Unterwegs fragte er sie, ob sie tun würde, was sie sage; und die Jungfrau sagte ihm immer, daß sie nichts f'ürchte und einen Auftrag dazu habe, weil ihre Brüder des Paradieses ihr sagten, was sie zu tun hätte, und schon vor vier oder fünf Jahren die Brüder des Paradieses und ihr Herr ihr gesagt hätten, daß sie in den Krieg ziehen müsse, um das Königreich Frankreich wiederzuerlangen. Er sagte auch, daß er selbst und Bertrand jede Nacht neben ihr schliefen, aber die Jungfrau lag neben dem Zeugen in Wams und Hosen, und er achtete sie so hoch, daß er nicht gewagt hätte, sie zu begehren; und bei seinem Eid sagte er, daß er ihr gegenüber nie ein Verlangen oder eine fleischliche Regung verspürt hätte.[2]

(...) In ihrer Heimat hat niemand von Stimmen gesprochen. Wenn dieses Schweigen keine Vorsichtsmaßnahme ist, darf man annehmen, daß Johanna sich zum erstenmal unterwegs vor ihren Gefährten, um sie zu beruhigen - über den Rat geäußert hat, den sie seit vier oder fünf Jahren von ihren >Brüdern des Paradieses< erhielt.