Vorbemerkung und Einleitung

Diese weiblichen Autobiographien sind geschrieben von Frauen, deren Beruf nicht das Schreiben ist. Es sind Lebensgeschichten, die inzwischen Geschichte sind. Wir lesen vom weiblichen Alltag der dreißiger und vierziger Jahre, über den wir sehr wenig wissen, wir, die Generation der Studentenbewegung, von der die spezifische Färbung der Frauenbewegung heute bestimmt ist. Während unsere und die nächste Generation sehr viel zu Wort kommen, ist diese Generation (soweit es sich nicht um berufsmäßige Schriftstellerinnen handelt) stumm.
Sie ist stumm und kaum jemand ermuntert sie zum Reden und zum Schreiben, obwohl sie uns soviel zu sagen hätte! Dieser Band soll auch (und darauf reflektieren Christine Woesler und Xiane Germain mit ihrer Interviewerfahrung im Anhang) dazu aufmuntern, diese Frauen zum Sprechen und zum Schreiben zu bringen. Und zwar nicht unter dem ausschließlich ideologiekritischen Aspekt (Entlarvungen haben wir genug), sondern unter dem Aspekt: Was bedeutete es damals, Mädchen oder Frau zu sein? Welche Träume verbanden sich mit der faschistischen Idealisierung der >Frau und Mutter<? Wäre darüber mehr bekannt, dann könnte es heute weniger naive Rückfälle in den Glauben an die Frau als Naturwesen geben. (Rückfälle, die in der Frauenbewegung passieren und leider nur zu gut der politischen Restauration sich einfügen, gegen die sie offiziell kämpft.)

Gisela Dischner

Einleitung

»Me-ti sagte: jeder möge sein eigener Geschichtschreiber sein, dann wird er sorgfältiger und anspruchsvoller leben.«
Bertolt Brecht

>Die Nähe hinter und vor uns regt uns gleich stark an. Was wir vergessen, das töten wir, wessen wir gedenken, das beleben wir. Was uns vergißt, das tötet uns. Jede Sehnsucht ist Begierde zu bilden, zu gebären, jede Erinnerung ist eine Wiedergeburt.<
Clemens Brentano an seine Schwester Bettina

»Alle diese beziehungen zwischen frauen, dachte ich ... sind zu simpel. So viel ist ausgelassen worden, unversucht geblieben. Und ich versuchte, mich an jeden fall meiner bisherigen lektüre zu erinnern, in dem zwei frauen als freundinnen dargestellt werden ... Hier und da sind sie mutter und tochter. Aber fast ausnahmslos werden sie in ihrer beziehung zu männern dargestellt. Es war seltsam zu denken, daß bis zur zeit von Jane Austen all die großen frauen in fiction nicht nur ausschließlich mit den augen des anderen geschlechts gesehen wurden,sondern auch ausschließlich in ihrer beziehung zum anderen geschlecht...«
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein

»Das wunderbarste, das ewige Phänomen, ist das eigene Dasein. Das größeste Geheimnis ist der Mensch sich selbst - Die Auflösung der unendlichen Aufgabe in der Tat ist die Weltgeschichte. Begreifen werden wir uns also nie ganz; aber wir werden und können uns selbst weit mehr als begreifen.«
Novalis, Blütenstaubfragment

»Wann wird Fraulichsein endlich herrlich sein?«
Angela Gleiberg, Nachtseufzer

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen: der erste, größere Teil besteht aus autobiografischen Lebensberichten, die von fünf Frauen geschrieben wurden, drei davon anonym, zwei (die Berichte der Emigrantinnen Erna Nelki und Ira kischowski) unter dem wirklichen Namen der Autorinnen.
Der zweite Teil besteht aus einer Auswahl eines großangelegten Interviewprojekts von Christine Woesler und Xiane Germain und greift auf die Generation der Großmütter zurück, während es sich beim ersten Teil um die Generation meiner Mutter handelt (ich selbst gehöre zur selben Generation wie Christine Woesler und Xiane Germain).
An der Verschiedenheit der Teile wird man den Unterschied der Methode bemerken: Es ist etwas ganz anderes, jemanden (mit einem Tonbandgerät zur Aufzeichnung) zum Sprechen als jemanden zum Schreiben zu bringen. Gegen das eigene Aufschreiben, so meine Erfahrung mit dem Projekt, gibt es sehr viel mehr Widerstand als gegen das Sprechen, vor allem, wenn es darum geht, zum ersten Mal von sich etwas aufzuschreiben, und zwar öffentlich.
Daß drei der fünf Frauen ihr Pseudonym wahren wollen, zeigt die Richtung dieser Schwierigkeit: Die Generation unserer Mütter, ausgenommen beruflich schreibende Frauen, hat es nicht gelernt, das eigene Leben für wichtig genug zu halten, daß es sich lohnen könnte, für andere (vom verschlossenen Tagebuch abgesehen) dieses Leben aufzuschreiben. Sie hat auch nicht gelernt, über Beziehungen und private Probleme öffentlich zu sprechen, wie es für uns immer selbstverständlicher wird; nein, im Gegenteil, über solche Probleme wurde nicht einmal im privaten Rahmen der Familie gesprochen, außer im äußersten Konfliktf all (dafür ist der Bericht der Eva Maria Abigall am aufschlußreichsten). Sexualität und Beziehungsfragen waren für diese Generation immer noch, wie Christine Woesler und Xiane Germain von der Generation der Großmütter schreiben, tabuisierte Themen. Eine Ausnahme bildet Erna Nelki, die an der Karl-Marx-Schule in Berlin eine sexuell freie Erziehung genoß, was allerdings, wie sie schreibt, sich praktisch noch nicht ganz auswirkte (das tabuisierte Gesamtklima spielt eben doch eine große Rolle).
Daß Miro Schönberg in der gleichen Großstadt Berlin zur gleichen Zeit völlig anders erzogen wurde, wirkte sich bei ihrer homoerotischen Neigung tragisch aus (im Kreis der Karl-Marx-Schule wäre mit dieser Tatsache anders umgegangen worden). So aber war Miro Schönberg ein Opfer der gleichen bürgerlichen Doppelmoral (die sie besonders deutlich beschreiben kann, weil sie dauernd damit konfrontiert war), die schon Eva-Maria Abigail die Familie fliehen ließ; allerdings in verschiedene Richtungen: Eva Maria floh aus der Familie zum BDM, zum nationalsozialistischen Bund deutscher Mädchen (wo sich jedoch die ganze Famillenheuchelei
wiederholte), von wo sozusagen ein Geruch von Freiheit und Abenteuer ausging für wohlbehütete Töchter, während Miro Schönberg, frühreif geschärft auch gegen jede Form politischer Repression, aus dieser Richtung existenzielle Bedrohung erlebte: Bei einer nationalsozialistischen Razzia in einem Lesbenlokal wurde sie festgenommen und in entwürdigender Weise nach ihren homoerotischen Beziehungen ausgefragt. In diesem Zusammenhang hörte sie von Homosexuehenlagern - so empfand sie die neuen Machthaber eher als lebensbedrohend denn als attraktiv. Sie erlebte verstärkt ihre psychische Randexistenz und hatte nur im Vorspiegeln falscher Tatsachen, im Spielen einer bürgerlichen Rolle die Chance, in Ruhe gelassen zu werden. Wie traumatisch ein solches Leben sein muß, zeigt die Tatsache, daß sie noch heuteanonymbleibenwill; dasAnonymbleiben-Wollenvon Frau Beßmann und Eva Maria Abigall hat andere Gründe: sie wollen die noch lebenden Mitglieder der Familien schonen, über die sie sehr offen und kritisch nur schreiben können, wenn sie nicht genannt werden.
Wie schwer es fällt, über die eigene Beziehungsproblematik unabgedeckt zu sprechen, zeigt die Tatsache, daß ich mit Erna Nelki (die ich gut kenne) nach ihrem ersten Bericht nochmals sprach, um sie zu bewegen, persönlicher zu schreiben. Die politischen Ereignisse (fraglos sehr wichtig), deren Mittelpunkt sie teilweise wurde, erlaubten ihr gute Rationalisierungen, das Persönliche (das »ja nicht so wichtig ist«) in den Hintergrund treten zu lassen. »Wie hast du das erlebt, was hat dir das bedeutet«, fragte ich sehr eindringlich, bevor Erna überhaupt anfing, sich selbst wichtig zu nehmen. Sie hatte es gelernt, sich über den Mann und die Familie zu definieren. Da war es schon ein großer Schritt zur Befreiung, sich über die politische Arbeit und den Beruf zu definieren, wie das Ira Rischowski am deutlichsten tut. Aber den Schritt, das Persönliche als etwas Politisches zu begreifen, tat im größeren Umfang erst meine Generation, die Generation der Studentenbewegung, aus der die jetzige Frauenbewegung entstanden ist; daß Erna Nelki in der Karl-Marx-Schule die Voraussetzungen davon erlebte, ist eine große Ausnahme. Wie erstaunt war sie auch, als Wilhelm Reichs Sexuelle Revolution von unserer Generation aus den Bibliotheksfächern der Vergessenheit entrissen wurde, jener Reich, den die Kommunistische Partei aus ihren Reihen geworfen hatte, nach dem Erscheinen seiner Massenpsychologie des Faschismus, in der er die psychischen Voraussetzungen des Faschismus in der kleinbürgerlichen Sexualunterdrückung untersuchte. Das Ehepaar Nelki kannte Willhelm Reich und hielt ihn doch für ein wenig abwegig, trotz der Debatten über sexuelle Emanzipation innerhalb ihrer weniger dogmatischen Kreise. Für Erna Nelki ist es ein neuer Schritt zur Befreiung gewesen, über ihre Ehekrise, Trennungsängste, emotionalen Verunsicherungen öffentlich (ohne Pseudonym) zu schreiben. Ihre Kinder nehmen sie neu wahr, näher, als selbständige Frau mit einem politisch und emotional interessanten und aufregenden Leben und weniger in der Rolle und Funktion als sorgende Mutter. Ich denke, diese Methode könnte exemplarisch wirken und den Dialog zwischen den Generationen lebendiger machen.
Dieser Dialog ist in der BRD eher durch die faschistische Vergangenheit ausgeblieben als durch theoretische Differenzen in der Auffassung über Sexualität, Ehe, Kinderkriegen oder das Leben in Wohngemeinschaften. Wir sollten die Fragen nach dem faschistischen Alltag heute stellen.
Heute wissen unsere Mütter, daß die faschistischen Ideale der Frau im Heim am Herd und als Mutter kräftiger Soldaten durchaus gekoppelt wurden mit der Wirklichkeit der Frau als billiger Arbeitskraft, die aus qualifizierten Berufen verdrängt wurde, die sie gerade im Begriff war, sich zu erkämpfen: Irn Rahmen der gesetzlichen Kampagne zur Bekämpfung des Doppelverdienertums wurde es Frauen nach der Machtübernahme verboten, als Richterinnen zu amtieren, verheiratete Beamtinnen wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt, viele Ärztinnen konnten nicht mehr praktizieren, die Zahl der Studentinnen wurde 1936 auf 10% gedrückt, die Frauenbewegung, in der Weimarer Republik zu einer nicht mehr zu übersehenden Macht angewachsen, wurde zersplittert und den nationalsozialistischen Frauenorganisationen (FrauenSchaf t, Frauenfront) einverleibt. Kate Millett betont, daß die feministischen Organisationen eine Gefahr für den NationalSozialismus bedeuteten, denn sie waren zu einem großen Teil »pazifistisch, international und sozialistisch« (Millett, S. 214), weshalb ihre Liquidierung oder Einverleibung in die Nazibewegung ein Hauptanliegen Hitlers war.

  • »Die Rolle, die den Frauen im Deutschland Hitlers zugeschrieben wurde, beschränkte sich auf äußerste Hingabe an Mutterschaft und Familie, und doch... mußten die Frauen später als Fabrikarbeiterinnen die deutsche Kriegsmaschinerie in Gang halten... Trotz all der dröhnenden Propaganda für Ehe, heilige Mutterschaft und Heim, stieg die Zahl der arbeitenden Frauen und sogar der arbeitenden Mütter seit 1933 ständig an.« (Millett: 214f).

Im faschistischen Italien verkündete Mussolini die Frau- und Mutterschaftsideologie und ging dabei von den natürlichen Eigenschaften der Frau aus (passiv, hingebungsvoll, dienend, unkreativ-rezeptiv, mütterlich, weich etc.), von denen aus er ihre Stellung am heimischen Herd begründete, außerhalb jeder Berufssphäre:

  • »Man muß sich davon überzeugen, daß die Arbeit, die bei der Frau den Verlust ihrer weiblichen Eigenschaften herbeiführt, beim Mann eine sehr starke körperliche und moralische Manneskraft zur Folge hat. Eine Manneskraft, der die Maschine beispringen sollte.« (zit. n. Macciocchi, S. 44 f).

In Italien fällt die Mutterschaftsideologie heute noch auf fruchtbaren Boden - Mama und Mutter Erde, Ödipus und Vater Maschine. In die Politik gehörten Frauen schon gar nicht, aber für politische Propaganda brauchte sie der Führer wie der Duce Mussolini:

  • »Doch die Frauen durften keine Politik machen; sie sollten das Megaphon des Duce sein, basta. Ihre Militanz sollte eine absolute geistige Selbstaufgabe sein« (Macciocchi, S. 71).

Der Faschismus, behandelte die Frauen als Agentinnen des Patriarchats. Ihre wahre Aufgabe sollte darin bestehen, ihre Töchter zur Unmündigkeit, das heißt zu Dienerinnen des Mannes zu erziehen und ihnen jede Selbständigkeit als Unweiblichkeit abzugewöhnen. Von daher erklärt sich das besonders ambivalente Verhältnis zwischen diesen beiden Generationen. Mit dem Zusammenbruch des Faschismus war diese Ideologie nicht zusammengebrochen, aber die masochistische Lust der Unterwerfung unter jede Form und Repräsentation der Macht - von Männern und Frauen blieb. So wurde geschichtlich Platz für das, was wir die antiautoritäre Bewegung nennen, auf welche die meisten Mütter (und die meisten Bürger allgemein) verunsichert bis aggressiv reagierten; verunsichert, weil sie nicht mehr ungebrochen die alten Werte dagegensetzen konnten; aggressiv, weil sie alles das heimlich erhofft und vergeblich ersehnt hatten (von der Bewegung), was sich die Kinder ungefragt nun erfüllten.
Insofern ist dieses Buch nicht typisch für die Fragestellung nach der Zugehörigkeit zum Faschismus, denn mit ihm hat sich von den Autorinnen keine langfristig positiv identifiziert (auch Eva-Maria Abigail wurde im BDM bald ernüchtert). Sehr bald fühlten sich die Autorinnen als Opfer dieser Bewegung, und die beiden Emigrantinnen (Erna Nelki/Ira Rischowski) waren aktive Widerstandskämpferinnen.
Die Frauen, mit denen Christine Woesler und Xiane Germain sprachen, lebten und leben in Frankreich, sind entweder Emigrantinnen oder geborene Französinnen, also von daher mehr oder weniger ausgesprochene Antifaschistinnen (eine Anhängerin der Vichyregierung ist nicht unter ihnen).
Aber ebensowenig sind die Autorinnen in den dreißiger und vierziger Jahren aktive Feministinnen gewesen. Eher spürt man jetzt, im Alter, eine aktiv-feministische Kraft (bei den Emigrantinnen vor allem), nachdem die Familie, weil die Kinder erwachsen sind, nicht mehr die Hauptrolle spielt und auch nicht mehr der Beruf, da sie teilweise schon pensioniert sind. Das Verblüffende ist, daß diese Frauen, weil sie ihr Leben lang politisch bewußt waren und sich beruflich in einer von Männern dominierten Welt durchsetzten, diese aktiven Kräfte heute deutlich für ihre eigene Selbstverwirklichung entfalten - dies ist auch aus dem Engagement spürbar, mit dem sie ihre Autobiographie aufschreiben und im Vorgang des Schreibens nochmals auf all das reflektieren, was sie geprägt und was ihren Lebensweg bestimmt hat. Dazu gehört der Faschismus als grausamster Höhepunkt des Patriarchats, das aufgebaut ist auf der Unterdrückung der inneren und äußeren Natur; das faschistische Prinzip absoluter Herrschaft wird hier am deutlichsten.
Der Kampf dagegen kann nicht geschlechtsspezifisch geführt werden, weil er quer durch die Geschlechter geht. Die Krankenschwester in dem Film Einerflog übers Kuckucksnest ist eine schlimmere Agentin des Patriarchats als mancher männliche Vertreter: denn ihrer sorgendmütterlichen Kontrolle ist das Unbewußte des Patienten mehr ausgeliefert als jeder äußeren-gewalttätigen Kontrolle. Wir müssen den Faschismus auch in uns bekämpfen, denn es wäre eine Illusion zu denken, er habe uns nicht mitgeprägt, auch, wenn wir ihn nicht mehr erlebt haben wie unsere Mütter, er steckt in jedem Winkel, in dem die Autorität sich aufrichtet, sei es als Mutter, Vater, Partei, Kirche, Staat, Lehrer, Chef, Meister, philosophisch rundes System. Er steckt in der Partei, die Wilhelm Reich 1934 ausschloß, nicht weniger als in der preußischen Disziplin mancher Antifaschisten. Die genaueste Erinnerung der Geschichte, und zwar vor allem des geschichtlichen Alltags, ist nötig, um die subtilsten Herrschaftsformen des Patriarchats auf allen Ebenen zu erkennen; und um die unsichtbarsten Gesten des Widerstandes dagegen auch im geschichtlichen Alltag und im vergangenen Geschehen zu entdecken und davon zu lernen.
Peter Brückner beschreibt in seiner Autobiographie sehr präzise, wie der faschistische Alltag von ihm Besitz ergriff: jenes Gefühl der Enge, auch im Privaten, das wir aus den Notizen der Autorinnen spüren. Enge und Angst haben dieselbe Wortwurzel. Mit der Enge wuchs die Angst, die Angst zu ersticken.

  • »Im >Medium der Kontrolle< wird die Luft zum Atmen zu knapp« (Brückner, S. 47)

das dauernde Gefühl big brother is watching you (die heutige Rasterfahndung und Computer Kontrolle ist unsichtbarer, nicht etwa ungefährlicher).
Peter Brückner war damals ein halbwüchsiger Junge, 1938 erst sechzehn Jahre alt, die Mischung aus Rebellion und halbbewußter Affirmation mag für manche, die älter waren und emigrierten, dennoch vertraut klingen:

  • »Das Netz von Verhaltenszwängen wurde dichter geknüpft. Meine Geschicklichkeit, Nischen aufzufinden, also zu verschwinden, mich zeitweise unsichtbar zu machen, fand einen kräftigen Gegner in der kriminellen Energie, mit der die Autoritäten versuchten, mich aufzustöbern... Die soziale Kontrolle wurde universal, sie war ein Medium, keine Maßnahme mehr... Der rebellische Gestus, vage wie er war, wurde uns ausgetrieben... Die Hitlerjugend wurde verschult und die Schule zum Dienst... Es gab keine Räume mehr, leer von Macht« (Brückner, S. 44f).

Diese Innengeschichte des Faschismus ist noch kaum geschrieben worden, weder von Männern noch von Frauen. Auch der Kampf gegen den Faschismus, die Deformationen, Verletzungen, Narben, die er hinterlassen hat, gehört zu dieser inneren Geschichte: das Grausen vor und die Faszination von der Gewalt, einer Gewalt, die sich nach innen verlängert, die Beliebtheit Hitlers bei den Frauen, der sado-masochistische Zirkel, die Herr-Knecht-Dialektik (die Mann-Weib-Dialektik?).
Brückner erkennt in einem hysterischen Anfall, der ihn ergreift, die Krise dieser Machtunterwerfung:

  • »Meine eigene Inszenierung überwältigte mich, sie war total wie der totalitäre Staat... Ohne daß jemand es ahnte, agierte ich >mimetisch<, d. h. im inneren Medium der feindlichen Gewalt; ich sprang vergewaltigend mit mir und mit der Realität um, wie der NS-Staat mit uns« (Brückner, S. 45).

Diese Krise wirkte kathartisch - die Faszination der Macht war vorbei, gleichzeitig die Angst, vom Kollektiv nicht akzeptiert zu werden:

  • »Wenn die Angst vor der Isolierung schwindet, d. h. das >Abseits< wieder als sicherer Ort akzeptiert wird, lernt man rasch« (S. 49).

Ich glaube, die Repression des Faschismus und jedes totalitären Zugriffs besteht im tendenziellen Ausschluß alles Abweichenden, sogar bei sich selbst; (im Ernstfall Liquidierung). Deshalb hat Miro Schönberg den Faschismus früh erspürt, vor aller politischen Ablehnung. Deshalb hat Ira Rischowski, deren Berufsvorstellung von allem Weiblichen abwich, die Auswirkungen früh zu spüren bekommen.
Gleichzeitig wächst das politische Bewußtsein, daß der Faschismus nicht vom Himmel fiel, daß die Gleichschaltungstendenzen und die Klinifizierung alles Abweichenden nur auf den Höhepunkt getrieben wurden. Deshalb erkennt Eva Maria Abigaill daß es im BDM nicht anders ist als in der Familie, daß es in der konventionellen Ehe nicht anders ist als in der Familie, daß der Zirkel geschlossen ist, solange man sich auf normalen, eingefahrenen Bahnen bewegt. Deshalb erlebt Erna Nelki, daß die Partei praktiziert, wogegen sie offiziell kämpft, deshalb erlebt Tamara, deren Schicksal Frau Beßmann beschreibt, daß die bürgerliche Doppelmoral sie skrupellos verurteilt, wenn sie einen geraden, kompromißlosen Weg gehen will. Der Verstoß gegen die gesellschaftlichen Verkehrsregeln, gegen die Normen, gegen die eingefahrenen Rollenerwartungen, wird härter bestraft, wenn Frauen ihn begehen: sie haben zu gehorchen wie Kinder und alle tendenziell Entmündigten!
Deshalb verträgt sich der gegen die patriarchalischen Normen verstoßende Feminismus auf allen Ebenen nicht mit dem Faschismus, dem Höhepunkt des Patriarchalismus. Der Verstoß gegen die Norm ist immer schon politisch, vor allem im Faschismus - er hatte oft in seiner Konsequenz (Bestrafung, Ausschlußdrohung aus dem Kollektiv etc.) politisierende Effekte. Und umgekehrt, die stillschweigende Einreibung in die Norm entpolitisierende, neutralisierende Effekte:

  • »Es gibt... keine harmlose Normalität, der >Normale< ist schon auf dem Weg zum Handlungsgehilfen des politischen Systems. Nur wer zu nichts Bürgerlichem taugt, taugt auch nicht zum Faschisten« (Brückner, S. 64).

Die Chance der Weiblichkeit liegt darin, nicht normal zu sein, denn die Norm ist immer eine männliche in dieser Cesellschaft, und was als weibliche Norm gilt, definiert sich vom Männlichen aus, wird über den Mann definiert, als etwas Defizientes (kein Penis, also Penisneid etc.), als etwas, dem der Mann Bestimmung, Form, Größe, Wichtigkeit verleiht; und die Gesetze, gesetzt von ihm, autorisieren ihn, über sie zu verfügen (die Ehegesetze taten es in vollem Umfang bis 1957!). Oder wie Luce Irigaray in einer Kapitelüberschrift ihres Speculum die Aussagen Freuds ironisch paraphrasiert:

  • »Das Weibliche ist weiblich aufgrund eines gewissen Mangels an Qualitäten« (Irigaray, S. 143).

Durch ihn, den Eva-Maria Abigail immer groß schreibt in ihrer Lebensgeschichte, obwohl er langsam schrumpft und nur noch da ist, indem er sich aufbläht, wird die Frau ihrer Bestimmung zugeführt, ja eigentlich erhält sie, wie die Nixe Undine, durch den Mann, genauer durch die Heirat mit ihm, eine Seele. Dieses jahrhundertealte Selbstverständnis ist zum ersten Mal nach dem kurzen geschichtlichen Augenblick der kulturrevolutionären deutschen Frühromantik jetzt aufgebrochen, wo Männer und Frauen gegen dieses Selbstverständnis anschreiben und eine andere Lebensmöglichkeit artikulieren: jene des Doppelgeschlechtlichen, des Androgynen, das in der subkulturellen Jugend von heute zum ersten Mal zum kaum mehr diskutierten Selbstverständnis wird; die Hoffnung von dort ist noch kaum artikuliert worden. Im Gegenteil, meine Generation tendiert schon wieder dazu, Normschilder (ob linke ob rechte, ob gute ob schlechte) aufzustellen und diesen Neuen Charakter, wie ich ihn nenne, zu klinifizieren. Dabei sollten wir sehen, daß es hier zum ersten Mal Frauen gibt (in einer Minderheit freilich), die keine Probleme mit der Degradierung zu Sexualobjekten haben, weil die Sexualität nichts Verbotenes mehr ist (hinter dem der Mann leistungsgestreßt herrennen muß) und die Geschlechtsrollen nicht mehr wichtig sind. Wir haben das in früher Jugend noch nicht als Selbstverständnis erfahren, wir haben es uns sogar innerhalb spontaner und hedonistischer politischer Gruppen erkämpfen müssen, wir haben diese ambivalenten Gefühle gegenüber unseren im Faschismus erwachsenen Müttern, für die es Emanzipation bedeutete, einen Beruf zu haben, politisch zu sein, für die aber Sexualität ein tabuisierter Bereich blieb; ein potentieller Machtbereich, wenn man, entgegen allem Begehren, energiesparend und geizig damit umging.
Das taktische Verhalten in diesem einzigen weiblichen Bereich der Macht (solange man sich verweigerte) und die Erziehung zum taktischen Verhalten wurde den Müttern vielleicht mehr verübelt als alle Identifikation mit Mutterschaftsideologien und Führeranbetungen. Denn dieser Bereich war zugleich der Bereich der Liebe, der einzige, in dem sich etwas ohne die Gesetze der Macht (und Ohnmacht) hätte entfalten können. Aber die Liebe selbst wurde zur dosierten Ware herabgesetzt, zum Lockvogel für Heiratsangebote, für Tauschgeschäfte. Freilich gab es Ausnahmen. Aber erst unsere Generation kämpfte dafür, ohne Festlegung von Besitzrechten dem erotischen Begehren, der Liebe ohne schlechtes Gewissen, ohne Hinterhalt und Vorbehalt, ohne Geheimnistuerei und Ewigkeitsschwüre zu folgen. Wie wenige wagen sie aber wirklich, diese ersten Gehversuche, diese freien Begegnungen, die den »dark continent der Weiblichkeit« (Irigaray, S. 140) zum offenen Geheimnis werden lassen, wo Frauen Männern oder Frauen frei begegnen? Wovon Miro Schönberg in ihren kühnsten Träumen und Utopien nur zu denken wagte?
Helke Sander, als Filmerin bekannt, Mitbegründerin des Aktionsrates zur Befreiung der Frau und der Gruppe Brot und Rosen, wurde am 10. Februar 1981 von der Tageszeitung interviewt. Sie spricht über das letzte Jahrzehnt als einer für das Selbstverständnis der Frau entscheidenden Zeitepoche, zugleich erschrickt sie darüber, wie sehr der Haß und die Aggression, gegen den sie mit Frauen innerhalb politischer Gruppen kämpfte, heute in Teilen der autonomen Frauengruppen reproduziert wird. Aber die befreienden Elemente überwiegen, seit der Satz »Das Private ist das Politische« die Tabuisierung der Intimsphäre durchbrochen hat. Es ist dies, was unsere Mütter von ihren Töchtern, die selbst oft schon heranwachsende Töchter haben, lernen können. Helke Sander versteht diese Veränderung politisch:

  • »Ich schäme mich nicht mehr so viel. Das finde ich das wichtigste. Ich habe immer weniger Angst, über mich zu reden. Es wird unglaublich viel gelogen. Die nächsten Freunde haben die größten Geheimnisse und das BKA weiß doch alles. Aber wenn du dir zugestehst, daß deine Entwicklungen einzige Verwicklungen sind und es anderen auch nicht anders geht, dann brauchst du auch keine Geheimnisse. Ich meine, dann fragst du dich doch, warum dich Computer dann noch bedrohen sollen. Die bedrohen dich doch auch deswegen, weil du davon ausgehst, daß es Geheimnisse geben muß. Ich will diese Sachen nicht verharmlosen, aber ich möchte sagen, sie haben auch noch einen anderen Aspekt, einen sehr guten, der ist bisher zu kurz gekommen, wenn wir darüber geredet haben. Wenn ich zu dem, was ich mache, stehe, dann können es alle, die wollen, wissen. Ich wäre z. B. völlig ungeeignet als Geheimnisträgerin. Weil ich erstmal Geheimnisse nicht anerkenne. Dadurch bin ich in gewisser Weise aber auch nicht so leicht erpreßbar. Geheimnisse sind ja vielleicht auch Denkfallen.
    Bedroht dich, daß irgendwelche dir unbekannte Leute intime Details aus deinem Leben kennen oder bedroht dich, daß dir bekannte Leute diese Details erfahren? Wenn du zu deinen eigenen Sachen stehst, dann kann sich der Herr Herold mit irgendwelchen persönlichen Daten von dir vergnügen, wenn ihm sowas Spaß macht.« (taz 10. 2.1981)

Über sich zu sprechen, sich selbst ernst zu nehmen, dies haben die Autorinnen im Prozeß des Niederschreibens ihrer eigenen Geschichte realisiert: der Schreibprozeß, der langsam ist mit vielen Unterbrechungen, der Muße fordert, zwingt zu dem Sich-selbst-Ernstnehmen in ganz anderer Weise als ein Gespräch am Tonband, wo bestimmte Interviewfragen vorgegeben sind und damit die Reflexion auf die eigene (Schreib-) Kreativität keine Rolle spielt. Ich möchte damit nichts Wertendes zum 2. Teil dieses Buches sagen, der ja auf Interviewbasis geschrieben wurde. Die beiden Methoden sind nicht alternativ, beide zeigen im Text, wie wichtig die Rekonstruktion der eigenen Geschichte ist, für die Autorinnen und für uns, die sich sonst abgeschnitten fühlen von der eigenen Vorgeschichte. Im Schreibprozeß wird die Rekonstruktion deutlicher zu einer Konstruktion: Indem ich von mir schreibe, entwerfe ich mich neu, als reflektierte Person bin ich eine andere, das Zu-sich-Kommen der eigenen Geschichte verändert mich, löst mich aus den Rollenfestschreibungen (als Mutter, Frau im Beruf, Geliebte, Ehefrau, Hausfrau, Politische etc.), zeigt mich als Synthese dieser Rollen, als Objekt und Subjekt der hinter mir liegenden Geschichte.
Das Sich-selbst-Ernstnehmen, Voraussetzung der Liebe zu sich selbst, ist eigentlich auch die Voraussetzung, den, die andere(n) ernstzunehmen, zu lieben. Denn wenn ich mit mir selbst nachlässig umgehe, oder mich für irgend etwas (die Familie, Partei, das Allgemeine oder die Gemeinschaft, wie es die Ideologie der dreißiger Jahre forderte) opfere, so schafft dies die Voraussetzung, mit anderen nachlässig umzugehen, andere zu opfern oder Opfer zu verlangen. Das Sich-selbst-Ernstnehmen ist deshalb die Voraussetzung, aus dem abendländisch-christlichen Zirkel von Macht und Unterwerfung, aus der Henker-Opfer-Dialektik auszubrechen. Keine Helden mehr und keine Opfer! Wer könnte noch Kriege führen, wenn dies zum Lebensprinzip würde? Was Nietzsche »an die Lehrer der Selbstlosigkeit« richtet, das sollte gegen den christlichen Opfergeist, der uns in allen möglichen säkularisierten Formen in den Köpfen spukt (und jede Form des Dogmatismus kennzeichnet) auch in bezug auf die Frauenbewegung klar werden. Man sei, sagt Nietzsche, im Lob der Tugenden sehr wenig selbstlos gewesen:

  • »Sonst nämlich hätte man sehen müssen, daß die Tugenden (wie Fleiß, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend..., so bist du ihr Opfer!... Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem - das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen« (Nietzsche, S. 234f).

Der Frauenhaß Nietzsches gewinnt von daher einen anderen Aspekt - er haßte in den Frauen auch den verinnerlichten Opfergeist, die SklavenmoraL Aber diese Sklaverei ist es, auf der die Familie als Grundlage des Staates aufbaut. Unsere Mütter haben diese Tugenden als weibliche seit ihrer Kindheit gelernt, als weibliche und natürliche, und gelernt, sie ihren Töchtern weiterzugeben. Insofern ist der Kampf gegen die Männerherrschaft die eine Seite des Befreiungskampfes, die andere Seite ist der Kampf gegen die von uns verinnerlichte und akzeptierte Frauenunterdrückung im Gewand dieser Tugenden, die als Mütterlichkeitsideale und Frauennatur von uns Opfer, letztlich den Verzicht auf unsere Selbstverwirklichung fordern. Im Aufschreiben der eigenen Geschichte wird den Frauen plötzlich klar, worauf sie ihr Leben lang verzichten sollten (auf sich selbst!) und wogegen sie (oft halb bewußt) immer wieder rebellierten.
Das Nebeneinander von Verzicht und Rebellion als gelebtem Widerspruch durchzieht diese Lebensberichte. Auch der Verzicht und die Opferbereitschaft rächen sich: einst wollen wir von unseren Kindern zurückhaben, worauf wir ihretwegen verzichtet haben - das ist der innere Widerstand dagegen, sie mündig werden zu lassen. Der Vorgang der gegenseitigen Entmündigung auf allen Lebensebenen (der Mann entmündigt die Frau, die Frau entmündigt die Kinder) war die psychische Voraussetzung für den Faschismus, die folgenreichste aber von allen ist die freiwillige Selbstentmündigung, die im Verzicht auf Selbstentfaltung liegt. Wenn Peter Brückner rückblickend, wie erwähnt, angesichts seines inneren Kampfes mit dem Faschismus seine jugendliche Neurose beschreibt, so benennt er den politischen Zusammenhang der Opferideologie mit dem Faschismus: »Ich sprang vergewaltigend mit mir und der Realität um, wie der NS-Staat mit uns« (S. 45).
Gerade den Frauen wird immer wieder eingeredet, daß es zur Natur des Weibes (und der Mutter) gehöre, sich zu opfern, zu dienen, für andere da zu sein; auch in linken Ideologien finden sich Momente dieser Ideologie. Die Entlarvung dieser Ideologie bestimmte den undogmatischen Beginn der Studentenbewegung. Daran erinnert Helke Sander in ihrer Reflexion auf die letzten zehn Jahre:

  • »Ich habe mich eigentlich wenig geändert, die Richtung jedenfalls nicht. Ich könnte mit Bloch sagen, ich habe mich zur Kenntlichkeit verändert. Im Grunde mache ich das weiter, was ich damals in der oder durch die Studentenbewegung begriffen habe, das finde ich etwas sehr Kostbares. Das ist, daß ich damals gelernt habe, mich selber ernst zu nehmen und Leute getroffen habe, die sich ernst nehmen. Heute bin ich mutiger abe auch verzweifelter. Sich als Person ernst nehmen war wohl der springende Punkt für mich. Das hieß, daß ich mich mit meiner Situation befaßt habe, intellektuell und gefühlsmäßig, mich als Frau gesehen habe, als Künstlerin, als Mutter, als Europäerin, als Weiße, als Lohnabhängige usw. Das heißt, diese Kraut und Rüben wurde mir damals bewußt. Und es schien mir eben das neue zu sein bei der Studentenbewegung, daß sie dir ermöglichte, nicht nur über dein Verhältnis zum SDS oder zur Revolution, sondern auch zur Galaxis nachzudenken. - Aus diesem neuen möglichen Austausch und meinem Mich-ernst-Nehmen entstanden dann ja auch aufregende Sachen und Ansätze zu Veränderungen. Z. B. die Frauenbewegung, die Kinderläden. Dazu habe ich ja einen Teil beigetragen, zu der Idee davon. Das war nichts >Revolutionäres< im damaligen Sinn, aber inzwischen haben Hunderte oder Tausende von Leuten ihr Leben dadurch anders organisieren können, und das finde ich wichtig. Es hatte also eine praktische Folge, daß ich mich ernst genommen habe. Nur, in dem Maß, indem du mehr weißt, wächst auch das Wissen darüber, was du nicht weißt, wie schon der alte Sokrates sagte. Nun, das spüre ich...« (taz 10. 2. 81)

In allem resignativen Klagen über den gräßlichen Zustand der Welt, über die nicht zu übersehende Tatsache, daß wir zum ersten Mal in der Geschichte von der TotalzerstÖrung dieses Planeten Erde durch uns selbst konkret bedroht sind, sollten wir uns doch auch klarmachen, daß wir uns zum ersten Mal in einem schon sichtbaren Ausmaß (also nicht als individuelle Ausnahme) jenseits der uns immer noch zugeschriebenen Rollen begegnen können; daß wir damit ansteckend wirken; daß mit der Zunahme von Technokratie und Kontrolle in allen Lebensbereichen auch der Widerstand dagegen wächst, aber auch die Angst, die uns regredieren läßt auf entpolitisierte Überlebensstrategien.
Wir erleben das erste Verlassen der Vorgeschichte der Frau, das identisch ist mit dem Verlassen der Vorgeschichte der Menschheit! Doch schon wieder bedroht von Parodien jenen der Promiskultät, der entsublimierten Sexualität (Marcuse), der liebesunfähigen Sexualhygiene, aber auch dem besitzängstlichen Festhalten am einmal Erlebten, das in seiner kleinbürgerlichen Enge doch auch Angst macht, Angst zu ersticken, wie in der Kontrolle des autoritären Staates, dessen Sozialvermittler immer noch die Familie (oder wieder) ist.
Aber manche Frauen bewegen sich zwischen diesen Fallen, lächelnd einander zuwinkend, vielleicht auch ihren Müttern: von ihnen haben sie, wenn sie Glück hatten, gelernt, hinter ein bestimmtes Selbstverständnis nicht mehr zurückzufallen: das des eigenen Berufes, vielleicht auch des eigenen politischen Standpunkts, erste Schritte, sich nicht mehr über den Mann zu definieren, und damit erst, jenseits der Geschlechtsattraktion, dem Mann wirklich begegnen zu können.

Gisela Dischner

Autor(en)

Texttyp

Einleitung