Wie ich Ingenieur wurde

Die Neigung zum Ingenieurwesen scheint in der Familie gelegen zu haben. Meine beiden Brüder wurden Ingenieure, 2 Vettern von meiner Mutterseite auch, und selbst meine Schwester, die Kunstgeschichtlerin und Kunstgewerblerin war, konstruierte einen Färbereiofen, als sie als Lehrerin an der Kunstgewerbeschule arbeitete und den Ofen aus Geldmangel nicht erhalten konnte. Mein Vater selbst war kein Ingenieur, erwarb aber solch hohe Verdienste um speziell das Wasserverkehrswesen - er war einer der ersten und aktivsten Befürworter des Donau-Oder-Kanals -, daß ihm die Würde eines Dr. Ing. E. h. verliehen wurde.
Er heiratete mit 50 Jahren. Meine Mutter war 20 Jahre jünger. Ich war das älteste von vier Kindern. Etwa gleichzeitig mit der Gründung der Familie unternahm mein Vater sein Lebenswerk. Er war damals zu Jahrhundertbeginn Direktor der Reederei eines der größten deutschen Kohle- und Erz-Ein-und Ausfuhr-Unternehmen. Die Firma besaß Schleppdampfer und Kähne, die Kohle und Erz von Oberschlesien und aus Schweden auf der Oder beförderten. Mein Vater faßte den Plan, eine Reparatur-Werft in Cosel bei Breslau zu bauen, und dieser Plan erwies sich als so erfolgreich, daß in Kürze die Werft sich zur größten Binnenwerft der Welt entwickelte, die Kähne und Schlepper für die ganze Welt baute. Ich entstand somit etwa gleichzeitig wie die Werft, und dies mag wohl auch einen Einfluß auf mich gehabt haben. Als ich etwa 5 Jahre alt war, wurde ich zum erstenmal zu Besuch auf die Werft mitgenommen, und was ich da sah, machte einen ungeheuren Eindruck auf mich. Preßluftnieten war ein ganz neuer Prozeß, und wir sahen, wie Schiffskessel mit Preßluft  genietet wurden.  Die rotglühenden Nieten flogen durch die Luft, wurden von, wie mir schien, Riesenmännern eingefangen, in die vorgebohrten Löcher geworfen und mit Preßlufthämmern eingeschlagen. Es machte einen ungeheuren Lärm. Ich war überwältigt und beschloß auf der Stelle, daß ich Ingenieur werden würde. Meine Eltern lächelten - wie eben Eltern lächeln, wenn ihre kleinen Kinder Lokomotivführer oder Ballettänzer werden wollen. Aber niemals wurde eingewendet: »Du bist ein Mädchen, und Mädchen werden nicht Ingenieure.«
Mein Vater, der dem Alter nach hätte mein Großvater sein können, war sehr fortschrittlich und bestand darauf, daß auch seine beiden Töchter sich auf einen Beruf vorbereiten müßten. Meine Mutter wäre selbst gerne Lehrerin geworden und hatte auch ihr Lehrerexamen gemacht, aber der Großvater erlaubte ihr nicht, den Beruf auszuüben. Teilweise war das wohl eine Konzession an das bürgerliche Vorurteil, aber teilweise auch, »weil man nicht das Brot aus den Händen wirklich bedürftiger Mädchen nehmen sollte«. Ich begann mich sehr für Naturwissenschaften zu interessieren, insbesondere für Physik. Ich muß wohl 9 oder 10 Jahre alt gewesen sein, als mir meine Mutter ein Buch zu lesen gab, das mich sehr begeisterte. Es war Faradays Die Naturgeschichte einer Kerze. Ich wurde bestärkt in meinem Entschluß, Ingenieur zu werden. Ich weiß nicht, ob meine Eltern dies nun schon ernst nahmen - jedenfalls schenkte mir ein Onkel wenig später ein Abonnement auf eine Zeitschrift, Der junge Ingenieur, die natürlich für Knaben gemeint war. Wenn ich meinen Klassenkameradinnen gegenüber meine Berufspläne erwähnte, so wurden sie zwar als etwas exzentrisch angesehen, aber einen wirklichen Widerstand fand ich weder bei Lehrern noch Mitschülern. Natürlich war ich eine der besten in Mathematik und Physik. Wir hatten ausgezeichneten Unterricht in beiden Fächern.
Ich war eng befreundet mit einem meiner Vettern, der beinahe ein Ingenieur-Genie war. Schon als 8 jähriger war sein Zimmer voller elektrischer Geräte, und es erschien mir wundervoll, daß automatisch ein Licht anging, wenn man eine Schranktür öffnete. Ich las Bücher über Elektrizität, die für Jugendliche geschrieben waren, längst bevor wir darüber in der Schule hörten.
Ein anderes starkes Erlebnis war der erste Wettflug Berlin-Wien - ich glaube, es war 1911 -, wo Breslau Zwischenlandeplatz war. Dies war natürlich ein Volksfest. Wir fuhren in einer großen Kutsche mit Verwandten und Freunden auf das große Feld vor der Stadt - auf dem auch die großen Paraden
bei den Kaiser-Manövern stattfanden -, es gab ein Picknick, und wir erwarteten mit Spannung die Flugzeuge. Die Aufregung und Begeisterung waren groß, als endlich der kleine schwarze Punkt am Himmel zu sehen war und Hellmuth Hirth seine Rumpler-Taube als erster landete. Kurz darauf erschien sein Buch Meine Flugerlebnisse, in dem nicht nur die Steuerung eines Flugzeugs genau beschrieben war, mit ausgezeichneten Illustrationen, sondern auch der Verbrennungsmotor mit klaren Diagrammen erklärt wurde. Ich hatte lange Korrespondenzen mit meinem Vetter darüber, und abends im Bett steuerte ich Flugzeuge, bis ich jeden Handgriff kannte. Einer meiner Helden war zu der Zeit Lilienthal, der Luftfahrtpionier.
Obwohl meine Eltern zu akzeptieren schienen, daß ich Ingenieur werden würde, wollten sie mir keinen Werkzeugkasten schenken. Mehrere Jahre lang stand ein Werkzeugkasten an der Spitze meiner Wunschliste für Geburtstage und Weihnachten, aber erst, als ich bereits 16 Jahre alt war, bekam ich ihn endlich. Da war es längst Krieg und kein Holz mehr zu bekommen.
Trotz dieser Liberalität seitens meiner Eltern darf nicht der Eindruck entstehen, als ob die Behandlung, die wir Mädchen erfuhren, die gleiche gewesen wäre, die meine Brüder erhielten. Trotz allen modernen Denkens waren meine Eltern doch durchaus konventionell, und besonders mein Vater hätte uns am liebsten nicht ohne Chaperon [6] auf die Straße gelassen. Wir sollten halt doch zu Damen erzogen werden. Meiner Schwester schien das zu liegen, aber ich hatte lauter Jungens-Neigungen - obwohl ich eigentlich ein Feigling war. Das ist mir aber erst sehr viel später bewußt geworden. Ich war nicht schwindelfrei, konnte nicht einen kleinen Bach auf einem Baumstamm überqueren, konnte nicht auf Bäume klettern und hatte große Schwierigkeiten schwimmen zu lernen, selbst kleine Wellen machten mir Angst. Aber trotzdem erschien es mir ein Unsinn, daß gewisse Dinge und gewisse Einstellungen auf Mädchen gerichtet waren und andere auf Knaben. Ich machte mir selbst Theorien, basiert auf sehr geringe Kenntnisse der Tier- und Pflanzenwelt, und kam zu dem Ergebnis, daß keine fundamentalen Unterschiede im männlichen und weiblichen Wesen bestehen könnten und daß heute bestehende die Folge soziologischer Umstände und der geschichtlichen Entwicklung seien. Als ich später Engels' Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats las, war ich freudig überrascht, meine Theorie, besser begründet, vorzufinden.
Vor dem Ersten Weltkrieg lebten meine Eltern auf großem Fuße, wir bewohnten ein großes Haus mit einem herrlichen Garten, und selbstverständlich hatten wir viele Dienstboten. Alle 3 Wochen kam die Waschfrau, um die große Wäsche zu machen, und eines Tages war ich dabei, als meine Mutter ihr einige abgelegte Kleidungsstücke meines Bruders für ihren Sohn schenkte. Die Dankbarkeit der Frau war groß, sie beugte sich, um - in etwas polnischer Form - den Rocksaum meiner Mutter zu küssen. Ich war schockiert! Es schien mir nicht recht zu sein, daß jemand derartig dankbar sein mußte für etwas, was, wie mir schien, eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Irgendwo mußte irgend etwas falsch sein. Andere kleine Erlebnisse kamen dazu. Warum brauchte ich keinen Knicks vor der Hausgehilfin einer befreundeten Dame zu machen ? Da waren unverständliche Ungleichheiten, und ich wollte sie nicht akzeptieren. Wie ich eben auch die Ungleichheiten zwischen Jungen und Mädchen nicht akzeptieren wollte. Wir wurden völlig unpolitisch erzogen und durften keine Zeitung lesen,  so daß ich also wirklich von politischen Gegebenheiten,  überhaupt von der Realität des Lebens, keine Ahnung hatte. Als der 1. Weltkrieg ausbrach, ließ sich dieses In-Watte-Eingewickeltsein nicht mehr aufrechterhalten. Man mußte einfach die Zeitung lesen und Notiz nehmen von den Gefallenenlisten, von den Kriegerfrauen, Witwen und Waisen. Meine Mutter machte Sozialarbeit und nahm uns - meine Schwester und mich - gelegentlich auf Besuche zu Kriegerfrauen mit. Ich war ungeheuer patriotisch und wollte das Meine für die Kriegsanstrengungen geben. Aber es wurde mir auseinandergesetzt, daß brav in der Schule sein das Meine sei, und ich war noch jung genug, das zu schlukken. Als der Krieg sich hinauszog, einige etwas ältere Freunde sich entweder zum Militärdienst meldeten oder eingezogen wurden, als selbst mein Vetter dienstpflichtig wurde, und, vor allen Dingen, ich selbst älter und reifer wurde und begann, kritische Fähigkeiten zu entwickeln - änderte sich meine Einstellung zum Krieg, zur gesamten Weltordnung -ich wurde, wie ich glaubte, Sozialistin. Mein Vater war nicht sehr glücklich darüber, er liebte die Weltverbesserer nicht. Ein Freund meiner Eltern, der liberaler Stadtverordneter war, wurde zu Hilfe gerufen und empfahl mir, eine lange Reihe von Büchern zu lesen. Delbrück, Kautsky, aber auch Bebel - natürlich war Die Frau und der Sozialismus ein gefundenes Fressen für mich. Es war ja so einfach! Mit der Einführung des Sozialismus löste sich die Frauenfrage von selbst. Alle Ungleichheiten würden automatisch verschwinden!
Die Revolution von 1918 erschütterte mich daher nicht, ich erwartete viel davon - und das wurde natürlich auf die Dauer eine große Enttäuschung. Es änderte sich ja im Grunde genommen sehr wenig, nur daß wir viel ärmer waren als vorher. Die Technische Hochschule mußte mich, ein Mädchen, den neuen Gesetzen gemäß, als Studentin akzeptieren. Das war ein Vorteil!
Aber zunächst mußte ich Abitur machen. Das letzte Schuljahr, 1918/19, war gesellig. Zwar war einer meiner Vettern, mit dem ich eng befreundet war, noch kurz vor den letzten Feindseligkeiten gefallen, und verschiedene andere Freunde kehrten nicht zurück - aber viele waren da, und man tanzte mindestens einmal jede Woche, trank Ersatztee, und die Köchin verrichtete Wunder an Gebäck aus wer weiß was für Zutaten. Gleichzeitig gründeten ein paar etwas ältere Freundinnen ein Settlement in einer Arbeiter-Vorstadt nach dem Muster von Jane Addams in Chicago. Wir organisierten Klassen in allen möglichen Fächern für Jungarbeiter - ich gab Unterricht in Physik und Chemie -, wir diskutierten untereinander und mit unseren Schülern über Gott und die Welt. Die Bewegung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft war keineswegs lokal beschränkt, ihr Hauptsitz war in Berlin. Manche unserer jungen Schüler waren sehr radikal, und ich kam zum ersten Mal mit wirklich politischen Problemen in Berührung.
Im Frühjahr bestand ich das Abitur, und nun gab es das Problem, einen Arbeitsplatz für die praktische Lehrzeit in einer Fabrik zu finden. Ich hatte angenommen, daß es für meinen Vater ein leichtes sein müßte, für seine Tochter eine Lehrstelle zu finden. Aber hier zeigte sich das Ausmaß des Vorurteils gegen Frauen, die einen Weg in das Lager der männlichen Berufe suchten. Der Direktor einer der größten Maschinenfabriken besuchte meinen Vater und leugnete ganz einfach, daß sein Werk eine Lehrlings-Schule unterhielt. Und ich war zu gut erzogen, um ihn in meines Vaters Haus einen Lügner zu heißen! Hier zeigte sich zum ersten Mal der Nachteil einer guten Erziehung. Es ist nicht leicht, seine Ellbogen zu gebrauchen, wenn man dazu erzogen worden ist, rücksichtsvoll zu sein!
Ich war ziemlich verzweifelt, aber schließlich gelang es einem anderen Freund meines Vaters, dessen Beziehungen sich auf kleine Werkstätten erstreckten, mir einen Platz als Volontär zu beschaffen. Es war eine kleine Spezial-Werkstatt, die nur 5 Arbeiter und einen Meister beschäftigte, dafür aber 20 Lehrlinge und 5 Volontäre, darunter den Sohn des Besitzers. Die Werkstatt machte, soweit ich das beurteilen konnte, hauptsächlich Reparaturen und Ersatzteile für landwirtschaftliche Maschinen. Die Lehrlinge begannen mit etwa 13 Jahren -direkt von der Volksschule -, die Lehrzeit dauerte 4 Jahre, und während der letzten 2 Jahre führten die Lehrlinge bereits vollwertige Arbeit aus. Der Maschinenpark war ziemlich vollständig, mit Ausnahme von Fräsmaschinen. Wir Volontäre - alle Gymnasiasten oder wenigstens Realschul-Absolventen - konnten selbstverständlich nicht mit den älteren Lehrlingen in Wettbewerb treten. Wir fingen alle mit Feilen an. Jahrelang hatte ich den Feilklotz als Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch liegen. Es ist ganz und gar nicht einfach, eine Fläche wirklich flach und gleichzeitig rechtwinklig zu feilen. Wir Volontäre vertrugen uns  gut,   und auch das Verhältnis zu den älteren Lehrlingen war freundschaftlich. In der Arbeit hatte ich keinerlei Schwierigkeiten als Mädchen. Schwierig war nur, daß keine Damentoilette da war. Die Hände durfte ich mir am Waschstand im Büro waschen. Dies war ein Problem, das immer wieder auftauchte. Da aber die Werkstatt nur 5 Minuten von meinem Elternhaus entfernt war, so ging es in diesem Fall.
Unter meinen Freunden und mehr noch unter den Freunden meiner Eltern begegnete ich oft der besorgten Frage, ob die Arbeit nicht zu schwer für ein Mädchen sei. Dem konnte ich leicht entgegenhalten, daß, was ein schmächtiger 13jähriger Bube tun kann, wohl leicht von einem wohlgenährten und kräftigen Mädchen von 19 Jahren getan werden kann. Außerdem war keine Arbeit in der Werkstatt schwerer als in jenen Jahren die Arbeit einer Waschfrau!
Ich wurde einem alten Dreher zugewiesen, der mir mit großer Geduld die Teile der Drehbank beibrachte und mich an seiner Bank drehen ließ. Später wurde mir eine alte Drehbank übergeben, die aber recht kaputt war, und ich mußte ein neues Ritzel herstellen, was nicht ganz einfach war, denn wir hatten keine Getriebe-Drehbänke. Aber man lernte es, sich zu behelfen. Ich wollte natürlich alles tun, auch in der Schmiede arbeiten. Hier konnte die Arbeit wirklich physisch sehr schwer sein. Einen 5 Pfund schweren Hammer zu schwingen ist kein Kinderspiel, und als ich kurz und schnell zuschlagen sollte, schienen mir die Arme abzubrechen. Ich ließ den Hammer sinken und sagte: »Ich kann nicht mehr.« Der 17jährige Lehrling, der schmiedete, sah mich ruhig an und sagte: »Was glauben Sie, würde der Meister sagen, wenn ich das sagte?« Natürlich nahm ich meinen Hammer wieder auf und vollendete das Werk.
Es war eine glückliche Zeit! Niemand schien irgend etwas dagegen einzuwenden zu haben, daß ein Mädchen da mitarbeitete. Der alte Herr, dem die Werkstatt gehörte, behandelte mich ganz so wie seinen Sohn und die anderen Volontäre. Eines Tages organisierte er für uns 5 einen technischen Tagesausflug zu einem Kraftwerk in den Bergen. Wir nahmen Essen zu einem Picknick mit und hatten einen schönen und interessanten Tag. Im Kraftwerk gab es auch keinerlei Schwierigkeiten mit dem Fräulein.
Ich arbeitete ein halbes Jahr in dieser Werkstatt. Als ich wegging, um auf die Technische Hochschule zu gehen, waren alle Lehrlinge traurig. Sie behaupteten, daß in meiner Gegenwart der Meister nicht so faule Reden führte und sie nicht an den Haaren zog!
Noch ein paar schöne Herbsttage in den Bergen mit meiner Schwester, und dann war ich also in Darmstadt. Zum ersten Mal in meinem Leben sollte ich auf eigenen Füßen stehen und nur mir selbst verantwortlich sein, und es gab niemand, der mir Hilfestellung geben würde. Meine Eltern hatten noch dafür gesorgt, daß ich in einer Pension unterkam, aber die anderen Pensionäre waren alle männliche Studenten. Ich war 20 Jahre alt, aber doch völlig unerfahren, und es war mir schon etwas schummerig zumute. War das nun der Ernst des Lebens?
Am ersten Morgen war ich sehr früh am Tor der Technischen Hochschule und fand es noch geschlossen. Da war noch ein Kommilitone, und wir beide suchten und fanden ein offenes Hintertor und unseren Hörsaal, der größte der TH, der 300 Sitzplätze hatte. Ich belegte einen Platz in der Mitte der 3 Reihe, aber mein Gefährte setzte sich nicht neben mich sondern ließ einige Sitze zwischen uns frei. Langsam füllte sich der Saal, aber die Plätze rechts und links neben mir blieben frei, bis der Hörsaal schon übervoll war und mein Gefährte vom Hauptportal doch endlich neben mir saß -und wir natürlich ins Gespräch kamen. Diese Prozedur wiederholte sich eine ganze Weile jeden Morgen. Keiner wollte es wagen, sich neben das Fräulein zu setzen. Und ich habe dasselbe mehr als 20 Jahre später wieder erlebt, als ich an einem wissenschaftlichen Kursus an einer englischen Universität teilnahm. Es war das erste volle Nachkriegs-Semester und die Mehrzahl der Studenten kam aus den Schützengräben, hatte meist nur Notabitur und längst alle Wissenschaft vergessen.  Ich kam direkt von  der Schulbank und war wenigstens in Mathematik und Physik meinen Kommilitonen weit überlegen. Das machte mich nicht beliebt und außerdem und überhaupt, ein Mädchen! Die TH war an so etwas nicht gewöhnt, ungleich Universitäten wie München, die schon seit Jahren Frauen angenommen hatten. Es dauerte eine ganze Weile, bis man mich nicht mehr besonders beachtete und die Sitze neben mir automatisch von neu erworbenen Freunden eingenommen wurden. Da ich Elektrotechnik studierte so war es wohl unvermeidlich, daß ich den Spitznamen Elektro, erhielt. Die Hochschule war völlig überfüllt, was die Arbeit in den Laboratorien erschwerte. Um jedes Experiment, das normalerweise von 2 bis 3 Studenten gemacht worden wäre drängten sich 10 bis 12 herum. In den Zeichensälen mußte man das Reißbrett mit mindestens 3 Kommilitonen teilen. Es war kalt, die Hörsäle ungeheizt, das Essen in Kantinen und kleinen Restaurants nicht besonders gut oder reichlich. Aber die Arbeit machte Spaß, ich hatte bald einen netten Freundeskreis und befreundete mich auch sehr eng mit meinem Gefährten vom ersten Tag. Er wurde-nicht viel später-mein Mann. Von den Professoren wurde ich schnell akzeptiert mit Ausnahme von einem, der bis zum letzten Tage das Auditorium mit Meine Herren anredete. Auch das ist mir viele Jahre später in England wieder passiert.
In den darauf folgenden Sommerferien konnte ich wieder praktisch arbeiten. Diesmal hatte ich mir eine Arbeitsstelle auf der von meinem Vater gegründeten Werft verschafft. Ich arbeitete zunächst 6 Wochen in der Modell-Schreinerei. Die Arbeit gefiel mir, ich arbeite gerne mit Holz., aber der Meister war unfreundlich, die Mitarbeiter, alles ältliche Leute, auch. Die ganze Atmosphäre war nicht besonders freundlich, und ich war ganz froh, als ich wechseln konnte und in die Gießerei kam. Es war nur eine kleine Gießerei mit einem Kupolofen, der zweimal die Woche abgestochen wurde, und wir konnten nur die Hochdruckzylinder gießen und natürlich alle gußeisernen Kleinteile für Schiffe. Zwei ältere Arbeiter machten das alles. Beide hatten noch unter meinem Vater gearbeitet und waren bereit, mich, seine Tochter, zu akzeptieren - aber nicht ohne weiteres. In jenen Tagen wurde dem grünen Sand Pferdemist beigemischt - wenn das flüssige Eisen in die Form läuft, so entzündet sich der Spelz, aus dem der Mist zum großen Teil besteht, und verbrennt und macht so die Sandform porös. - Jeden Morgen wurden die Lehrlinge auf die Straßen geschickt, um Pferdemist einzusammeln. Gleich am ersten Tag wurde mir gesagt, ich solle eine Handvoll Pferdemist herbringen. Ich schauderte innerlich, aber es war mir sofort klar, daß, wenn ich meinen Ekel zeigen sollte, ich bei diesen Männern unten durch wäre. Also ging ich hin und holte eine Handvoll Pferdemist, natürlich in meinen bloßen Händen. Von dem Augenblick an war ich angenommen, sie nannten mich Herzchen und Liebchen und erzählten mir Anekdoten über meinen Vater, den sie sehr verehrt hatten. Ich hatte wieder eine sehr befriedigende praktische Arbeitszeit. Zurück nach Darmstadt, zur Vorprüfung und zu meinem Freund. Ich hatte keine Schwierigkeiten mehr mit den Kommilitonen. Trotzdem durfte ich nicht vergessen, daß ich kein Normalfall war. Eine Besichtigung einer Fabrik wurde geplant, aber als ich daran teilnehmen wollte, wurde mir die Erlaubnis verweigert mit der Begründung, daß das Erscheinen einer Frau die Arbeiter von ihrer Arbeit ablenken würde! Auch dies war kein Ausnahmefall. Mit der steigenden Inflation fing das Leben an, schwierig zu werden. Wir begannen mit Nationalsozialisten zu diskutieren. Es entstand eine Sozialistische Arbeitsgemeinschaft Darmstädter Studenten, ein etwas seltsames Gebilde ohne wirkliche politische Basis. Aber man diskutierte bis in die späte Nacht hinein. Keiner von uns hatte eine wirkliche Kenntnis vom Marxismus. Im Grunde sahen wir nur, daß etwas falsch war in der Gesellschaftsordnung und daß die nationalsozialistische Lösung nicht akzeptabel war, zum Teil, weil sie auf Rassentheorien basierte, die wir nicht anerkennen konnten.
Mein Freund und ich hatten begonnen, zusammen zu leben. Dies entsprach durchaus unserer Einstellung. Wir glaubten an Freie Liebe und waren der Ansicht, daß eine Ehe ein freiwilliges Zusammensein sein müßte, ohne staatlichen oder religiösen Zwang. Andererseits waren wir beide vollständig von unseren Eltern abhängig - nicht nur finanziell, sondern ich wenigstens fühlte mich noch durchaus als Glied der Familie, als Kind. Ich hatte noch nicht die Eierschalen abgeworfen. Und unsere Eltern hätten unsere Ansichten keineswegs gebilligt. Dies war ein Dilemma, für das wir keine befriedigende Lösung finden konnten. Unser Verhältnis blieb geheim, und wir litten, bei allem Glück, unter der Zweideutigkeit.
Die nächsten großen Ferien benutzte ich, um mein praktisches Jahr zu vollenden. Ich fand, durch persönliche Beziehungen, einen Arbeitsplatz bei Siemens-Schuckert in Nürnberg. Obwohl Siemens zu der Zeit Tausende von Frauen beschäftigte, schien doch ein weiblicher Praktikant etwas wie eine Sensation zu sein. Wie auch vorher, genoß ich die Fabrik-Atmosphäre, das Zusammensein mit intelligenten Arbeitern, die Arbeit selbst, die oft interessant war. Außerdem war ich natürlich entzückt von Nürnberg selbst. Bei Siemens sagte mir ein Betriebs-Ingenieur, daß seiner Meinung nach die Industrie dringend weibliche Ingenieure brauche, angesichts der großen Masse von Arbeiterinnen. Siemens selbst beschäftigte zu der Zeit etwa 20 000 Frauen allein in den Meßapparate-Werken. Das war natürlich sehr ermutigend für mich.
Zu Anfang des Winter-Semesters beschlossen mein Freund und ich, den Gordischen Knoten zu durchhauen und doch zu heiraten. Wir waren uns klar darüber, daß dies ein Kompromiß war und daß wir bis zu einem gewissen Grad unsere Grundsätze preisgaben. Da wir aber beide sehr an unseren Eltern hingen, so war der Gedanke, sie tief zu kränken, ein wesentliches Argument gegen die Freie Liebe. Natürlich gab es trotzdem Einwände. Es war doch noch recht unnatürlich, als Studenten ohne eigene Mittel zu heiraten. Aber schließlich wurden wir Anfang Dezember standesamtlich getraut. Meine Eltern konnten eine Geschäftsreise meines Vaters dazu benutzen, nach Darmstadt zu kommen. Die Inflation war schon hoch gestiegen, und selbst meinen begüterten Eltern wäre es bereits schwergefallen, die weite Reise zu bezahlen.
Hier möchte ich erwähnen, daß ich meinen Mädchennamen beibehielt und den Namen meines Mannes nur anhängte. Ich habe es nie begriffen, wie selbst völlig selbständige Frauen mit der Ehe den Teil ihrer Individualität preisgeben, der mit ihrer Herkunft und Jugend verknüpft ist und wofür der Name das stärkste Symbol, wenn nicht noch mehr ist. Wir arbeiteten nun auf die Endexamen zu, mein Mann als Maschinenbauer, ich als Elektrotechnikerin. Die Diskussionen mit den Nationalsozialisten wurden schärfer, waren oft recht häßlich und verloren den Charakter von Auseinandersetzungen. Andererseits verfiel die Sozialistische Arbeitsgemeinschaft Darmstädter Studenten. Es war eine zu heterogene Gemeinschaft ohne wirkliche theoretische Basis. Zu der Zeit trafen mein Mann und ich durch Zufall einen Anhänger von Silvio Gesell, der uns das Buch Freiwirtschaft: Freiland, Freigeld, Festwährung gab, in dem die Geldtheorie Silvio Gesells Idar und verständlich dargelegt ist. Sie beruhte zum Teil auf physiokratischen Theorien. Da diese Theorie - noch heute in der Schweiz sehr stark vertreten - eine Erklärung des Phänomens Inflation zu bieten schien, so wurden wir begeisterte »FFF«ler. Die Freiwirtschaftler waren Anti-Marxisten. Sie erkannten damals schon, daß marxistischer Sozialismus, wie er in Rußland praktiziert wurde, notwendig zum Totalitarismus führen müsse. Wir begannen also, Vorträge zu halten und versuchten, mit wechselndem Erfolg, Proselyten zu machen.
Anfang 1923 bestand ich den ersten Teil der Diplomprüfung - und dann klappte ich zusammen! Warum weiß ich nicht, obgleich viel Arbeit, schlechte Ernährung und dürftige Unterkunft sicher dazu beigetragen haben. Der Arzt sprach den Verdacht aus, es sei TB, empfahl ein Sanatorium im Schwarzwald. Meine Mutter kam aus Breslau und arrangierte alles. Mein Mann hatte zur gleichen Zeit seine Diplomprüfung bestanden und hatte das Glück, eine Stellung in Offenbach zu bekommen, zu der sogar eine kleine Wohnung gehörte. Während ich also im Sanatorium auf der Liegeterrasse lag und Spitzendecken strickte und Spengler las, richtete meine Mutter mit meinem Mann die Wohnung ein - und entsetzte sich über die steigende Inflation.
Der Aufenthalt in dem Sanatorium tat mir gut, mit viel Ruhe, gutem Essen kam ich bald wieder zu Kräften. Später stellte sich heraus, daß ich nie TB gehabt hatte. Ende September revoltierte ich, und da es dann selbst meinem Vater nicht mehr leichtfiel, die großen Summen zu zahlen - wer sich noch an diese Zeit erinnert, der weiß, daß die Preise mindestens zweimal am Tage stiegen und die Löhne und Gehälter in Koffern und Waschkörben zweimal am Tag ausgezahlt wurden und möglichst sofort für Lebensmittel eingetauscht wurden -, so verließ ich das Sanatorium. Mein Mann hatte inzwischen seine Stellung verloren, d. h. er gehörte noch zu der Firma, es war aber keine Arbeit mehr für ihn da, und er versuchte, als Stoker auf einem Schiff anzukommen, hielt sich also in Hamburg auf. Ich kehrte ins Elternhaus zurück, wurde prompt in eine Pension ins Riesengebirge verfrachtet, wo ich die Liegekur beenden sollte.
Dann kam Ende 1923 die Währungsstabilisation, und die Dinge wurden normaler, wenn auch auf einem reduzierten Maßstab. Mein Mann kehrte zu seiner Stellung zurück, und ich folgte ihm in unsere Wohnung, wo wir zum ersten Mal zusammen Weihnachten feierten. Na, und dann hatten wir ein Kind, eine Tochter, die natürlich das schönste Baby war, das je das Licht der Welt erblickt hatte (wirklich wahr, sie ist noch heute eine Schönheit). Dieses Baby hatte einen ungeheuren Einfluß auf mein Denken und mein Gefühlsleben. Zum ersten Mal begriff ich, daß wirklich ein Unterschied zwischen Mann und Frau existiert. Ich war froh, eine Frau zu sein und finde, es gibt kein größeres Glück als sein Baby zu stillen - und das können Männer ja eben nicht. Dieses Glücksgefühl, dieses Überlegenheitsgefühl hat aber nichts zu tun mit dem Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen in allen anderen Sphären des Lebens. Selbst zu Hause nahm mein Mann teil an der Betreuung unserer Tochter. Er war durchaus fähig - und willig -, ihre Windeln zu wechseln und, später, sie zu füttern, und half selbstverständlich beim Abwaschen. Das Feuermachen und Kohleheraufschleppen in den 4. Stock überließ ich ihm ganz gerne.
Nach einiger Zeit fühlte ich doch den Drang, mein Studium wieder aufzunehmen und, wenn irgend möglich, mein Diplomexamen zu beenden. Das  aber fand ich leider doch unmöglich. Teils, weil eben doch die nötigen Hilfsmittel nicht zur Hand waren, wie Bibliothek, Vorlagen, Ratschlag und Kritik der Professoren und Assistenten, mehr aber noch, weil ich die nötige Konzentration doch nicht aufbringen konnte. Äußere Umstände kamen mir zu Hilfe. Mein Mann wechselte seine Stellung und ging nach Stettin, wo wir keine Wohnung finden konnten - dies war die Zeit der Wohnungsknappheit und des Wohnungselends -, ich ging wieder zurück ins Elternhaus, übergab meine Tochter meiner Mutter und nahm das Studium wieder auf, diesmal an der TH Breslau. Die Verhältnisse hatten sich unglaublich geändert. Im Zeichensaal waren vielleicht 20 Studenten, für jedes Laborexperiment waren höchstens drei zuständig. Die Professoren kannten jeden Studenten beim Namen. Zwar war ich immer noch das einzige weibliche Wesen in meinem Semester, aber Breslau war ja eine alte Universitätsstadt, in der weibliche Studenten keine Seltenheit waren. Ich hörte sogar, daß in der Maschinenbau-Fakultät im ersten Semester ein junges Mädchen sein sollte, und es tut mir heute noch leid, daß ich nicht den Versuch unternahm, sie kennenzulernen. Teils war ich zu beschäftigt mit der täglichen Arbeit an der TH, hatte einen ziemlich weiten Weg und abends meine kleine Tochter-, teils war ich zu schüchtern, mich einem fremden Menschen zu nähern. Das  Studium und die Zusammenarbeit mit den Kommilitonen waren eine große Freude. Es herrschte ein kameradschaftlicher Ton, wir machten allerhand Unsinn. Der Winter war sehr kalt, die TH kaum geheizt, Kohle war sehr knapp, aber wofür waren wir Elektriker? Wir wickelten Drähte um die Beine umgekehrter Stühle und verbanden sie mit den Steckdosen. Es gab eine herrliche Wärme; daß wir das Labor nicht in Brand steckten, war wirklich ein Wunder. Einer der Kommilitonen baute einen Radioempfänger, und ich erinnere mich noch gerne an die Sensation, als wir den Augenzeugenbericht der Landung des Zeppelin-Luftschiffes Hindenburg in Shenectady über dieses Radio empfingen. Im Herbst 1928 beendete ich meine Diplomarbeit, bestand die letzten Fächer der Diplomprüfung und erhielt den Titel Diplom-Ingenieur. War ich nun ein Ingenieur? Zwar hatte ich die Qualifikationen scharz-auf-weiß, aber ich fühlte mich in keiner Weise befähigt, als Ingenieurin mein Brot zu verdienen. Ich war halt doch wieder ins Nest zurückgeflattert und fühlte wieder die Eierschalen. Wie fängt man es an, eine Stellung zu finden? Wie vereinigt man Broterwerb mit Kinderpflege?
Wieder kamen mir äußere Umstände zu Hilfe. Mein Mann wechselte wieder seine Stellung und kam nach Berlin. Zwar hatten wir immer noch keine Wohnung, aber in Berlin war es leichter, zunächst einmal eine möblierte Wohnung zu finden - viele früher vermögende Leute, durch die Inflation verarmt, waren bereit, Teile ihrer schönen Wohnungen zu vermieten. Schließlich gelang es mir dann auch, eine Leerwohnung zu finden, und so beschlossen mein Mann und ich, noch ein Kind zu haben. Im Herbst 1930 wurde unsere zweite Tochter geboren, und ich konnte wieder das Glück genießen, ein Baby zu stillen. Das war eine Kompensiation für vieles. Ich war nun zwar beschäftigt, aber kein Ingenieur. Und ich war finanziell völlig abhängig von meinem Mann. Das war etwas, das ich schlecht vertrug, obgleich es mich nie bedrückt hatte, von meinen Eltern finanziell abhängig zu sein. Mein Mann hatte seine Stellung noch mehrmals gewechselt und war schließlich Direktor einer kleinen, aber bedeutenden Privat-Gesellschaft. Als mein Baby 2 Jahre alt war, beschlossen wir, daß ich halbzeitig in seiner Firma als sein Assistent arbeiten sollte. Zwar war ich ausgebildete Elektrotechnikerin und die Arbeit in der Union Gesellschaft für Wärmetechnik war reine Maschinenbautechnik, aber Frauen als Ingenieure dürfen nicht wählerisch sein, und ich fand bald, daß meine Ausbildung als Ingenieur es mir ermöglichte, Probleme in Angriff zu nehmen und zu lösen, die nicht notwendigerweise in mein Fach schlugen. Die Methodik war die gleiche, und das spezifische Fachwissen kann man sich bei der Arbeit erwerben. Ich war nun also wirklich ein Ingenieur! Zur gleichen Zeit ereigneten sich wichtige Dinge auf dem politischen Feld.
Dies war ja die Zeit des wachsenden Nationalsozialismus, der Zersplitterung der Arbeiterparteien, des Verfalls des Liberalismus. Wir waren beide noch Anhänger der Freiwirtschaftslehre, die aber keinerlei politische Einwirkung hatte. Wir waren kritisch gegenüber beiden Arbeiterparteien, ohne in der Lage zu sein, irgendwelche Alternativen zu erkennen. Da kamen wir - wieder durch Zufall - in Kontakt mit einer politischen Gruppe, deren Leitung ein klares Bild der Situation hatte, eine angemessene Theorie, und eine Strategie entwickeln konnte, um die Situation zu beherrschen. Diese Gruppe wurde später - im Jahre 1933 - unter dem Namen Neu Beginnen bekannt, nach dem Buch von Miles, dem Pseudonym des Leiters der Gruppe. Sie war bereits 1929 in Berlin entstanden, aus der Zusammenarbeit einiger ehemaliger Sozialdemokraten und Kommunisten, die überzeugt waren, eine Strategie zum Aufbau einer wirklich sozialistischen Gesellschaftsordnung gefunden zu haben. Sie waren gewillt, die beiden großen Arbeiterparteien in eine positive Richtung zu lenken. Da in beiden Parteien eine offene Diskussion über politischen Inhalt und Strategie nicht möglich war - dies war einer der Punkte ihrer Kritik -, mußten die Arbeit und der Aufbau der Gruppe konspiratorisch stattfinden. Als wenig später die nationalsozialistische Gefahr drohender wurde und schließlich zum Terror führte, war die Konspiration eine Lebensnotwendigkeit.
Wir kamen mit der Gruppe etwa 1932 in Berührung und nahmen teil an den Bemühungen, eine innere Reform der beiden Arbeiterparteien zum Kampf gegen den Nationalsozialismus herbeizuführen. Gleichzeitig wurde Verbindung mit der internationalen Arbeiterbewegung im Ausland aufgenommen, und nach dem Sieg des Nationalsozialismus wurden Berichte über die Zustände in Deutschland an die Arbeiterparteien und Gewerkschaften in der noch freien Welt gesandt.
Die Kritik besonders des Kommunismus und der Komintern wurden verstärkt durch Berichte meines Mannes über die Zustände in der Sowjetunion, die er geschäftlich mehrere Male besuchte. Die Tendenz zum Totalitarismus war bereits unverkennbar mit allen Folgen: Unfähigkeit, Initiative zu entwickeln, Mangelwirtschaft, Unwirtschaftlichkeit, Bürokratie und Intoleranz.
Die Arbeit war zwar konspiratorisch, aber keineswegs romantisch. Ich kann mich nur an eine einzige Gelegenheit erinnern, die man vielleicht als romantisch hätte bezeichnen können. Das war ein Treffen am späten Abend in einem Glaserladen, wo wir auf hohen Stapeln von Glasscheiben saßen - im Dunkeln, da der Laden von außen einzusehen war -, und mit ein paar Kommunisten diskutierten. Es war nicht sehr gemütlich - aber Romantik ist ja nie gemütlich! Im übrigen mußte jedes Treffen eingeleitet werden mit der Frage: »Woher kennen wir uns?« damit im Falle einer Razzia durch die Gestapo die Aussagen der Anwesenden keine Widersprüche zeigten und das Treffen den Anschein harmloser Geselligkeit bewahrte.
Meine eigene Aufgabe war es, die illegale Beförderung von Berichten, Manuskripten und Briefen zu organisieren - das Manuskript des Buches Neu Beginnen kam so nach Prag an die Leitung des Sopade im Exil, die es dann veröffentlichte -, sie wurden eingebunden in Buchdeckel, in das Futter von Mänteln eingenäht, Briefe wurden mit unsichtbarer Tinte geschrieben, Namen und Adressen chiffriert. All dies sind bekannte Tricks jeder Konspiration. Wir waren uns voll bewußt, daß wir in dieser Beziehung nicht mit den überlegenen Mitteln und der Technologie der Gestapo konkurrieren konnten. Unser Ziel mußte es sein, Zufallsentdeckungen zu vermeiden und keinen Verdacht zu erwecken. Jedweder falsche Heroismus war streng untersagt, da er nicht nur die Person selbst gefährdete, sondern Verdacht auf ihre Verbindungen lenken würde. Als sehr schnell die beiden Arbeiterparteien und Gewerkschaften zerschlagen waren - die Nazis hatten ja den italienischen Faschismus als Modell vor Augen -, wurde die Arbeit in Deutschland sinnlos, und die Leitung bereitete die Übersiedlung ins Ausland vor.
Ende September 1935 wurden eine Genossin und ich dabei überrascht, als wir eine marxistische Bibliothek forttransportierten. Wir wurden verhaftet und in das Gestapo-Hauptquartier am Alexanderplatz zur Vernehmung gebracht. Ich gab vor, daß ich die andere Dame ganz durch Zufall auf der Straße getroffen hätte. Ich weiß nicht, wie meine Genossin sich herausredete. Jedenfalls wurden wir freigelassen, wahrscheinlich, um unsere Verbindungen zu überwachen. Die Genossin und ihr Mann verließen noch am selben Abend Berlin, ohne in ihre Wohnung zurückzukehren. Es war ihnen noch möglich, mit ihren legalen Pässen im direkten Zug nach Prag zu fahren. Obgleich die Gestapo anscheinend meine Erklärung eines Zufalltreffens angenommen hatte, wies mich die Gruppenleitung doch an, Deutschland zu verlassen. Es war mir ebenfalls noch durchaus möglich, mit meinem legalen Paß im durchgehenden Zug Berlin zu verlassen und nach Prag zu fahren. Es war der 22. September 1935, der 11. Geburtstag meiner ältesten Tochter. Wir hatten am Nachmittag noch eine kleine Kindergesellschaft gehabt.
Mein Vater war im Jahre 1932 im Alter von 84 Jahren gestorben, und meine Mutter hatte sich entschlossen, nach Berlin zu ziehen, wo auch meine Schwester mit ihrem Mann lebte. Sie war gerade in Berlin und übernahm sofort meine Kinder. Sie hatte nie die geringste Ahnung von meiner politischen Tätigkeit gehabt und war völlig verwirrt über mein plötzliches Verschwinden. Glücklicherweise fand nur eine oberflächliche Haussuchung durch die Gestapo statt, aber mir war der Gedanke furchtbar, meine Mutter und meine Kinder solchen Gefahren ausgesetzt zu haben. Wäre ich aber geblieben und vielleicht doch verhaftet worden, so wäre die Situation noch schlimmer gewesen.
Noch in Deutschland war es zwischen meinem Mann und mir zu einer persönlichen Krise gekommen, und im Sommer 1933 hatten wir beschlossen, uns scheiden zu lassen. Da ich Jüdin bin - ich war zwar als Kind getauft worden, hatte eine christliche Erziehung erhalten und war 1928 aus der Kirche ausgetreten - und mein Mann Nicht-Jude war (ich benütze nicht gerne den Ausdruck Arier) -, so war die Scheidung höchst einfach. Zwar hatten wir zufälligerweise einen Richter, der nicht Nazi war und daher meinen Mann für den schuldigen Teil erklärte, aber unter der Nazi-Gesetzgebung war es ganz selbstverständlich, daß Jüdin und Nicht-Jude nicht verheiratet bleiben konnten. Diese Scheidung bedeutete auch nicht, daß wir nun etwa eingeschworene Feinde waren. Ich war nach wie vor in seinem Büro seine Assistentin, und wir arbeiteten weiter Hand in Hand in der politischen Gruppe. In Prag fand ich eine Reihe Genossen vor, und meine Mutter konnte mir Geld schicken. Es war eine halblegale Existenz, aber in zunehmendem Maße wurde klar, daß früher oder später die deutschen Nazis die Tschechoslowakei übernehmen würden. Als sich daher eine Gelegenheit ergab, eine Dienstmädchen-Stelle in England zu erhalten, nahm ich sie an und kam im Juli 1936 nach England. Der Traum, Ingenieur zu sein, war mal wieder ausgeträumt. Für wie lange? Daß man das nicht weiß und nicht vorhersagen kann, macht eine solche Situation so verzweifelt. Und würde ich je meine Kinder wiedersehen? Und meine Mutter?
Über die nächsten 2 1/2 Jahre ist nicht viel zu sagen. Es war für mich eine unglückliche Zeit. »Bitter ist das Brot der Fremde.« Hausarbeit hatte ich nie gerne getan, und selbst dem Kochen konnte ich nicht viel Reiz abgewinnen. Also die Dienstmädchenarbeit konnte mich nicht ablenken von meiner Angst und Sorge um die Situation, meine Besorgnis und Sehnsucht nach meinen Kindern. Aber schließlich waren meine Bemühungen, die Kinder nach England zu bringen, doch erfolgreich und hatten den Nebeneffekt des Zusammentreffens mit einer Frauenorganisation, The Women's Employment Federation, und deren Leiterin. Mrs. Ray Strachey war eine überzeugte Frauenrechtlerin von großem Charme; sie bemühte sich, mir eine mehr kongeniale Arbeit zu vermitteln. Zunächst erhielt ich durch sie eine Einführung zu The Women's Engineering Society (Verband weiblicher Ingenieure) und deren Präsidentin, Miss Caroline Haslett. Es war für mich eine große Freude festzustellen, daß es in England doch schon genügend weibliche Ingenieure gab, um sich zu einer Gesellschaft zusammenzuschließen. Ich wurde zu den monatlichen Vortragsabenden eingeladen. Ich fühlte mich wie eine arme Seele, der ein kurzer Urlaub aus der Hölle im Paradies gewährt ist. Ich genoß das Beisammensein mit intelligenten und gebildeten Frauen, deren Interessen ich teilte. Ich hatte Freistellen für meine Töchter in einer Klosterschule gefunden, und im Mai 1938 brachte meine Mutter die beiden nach England, und wir konnten ein paar Tage zusammen verleben. Das war das letzte Mal, daß ich meine Mutter sah.
Im Jahre 1936 war auch mein geschiedener Mann nach England gekommen und hatte mit ein paar Freunden - Deutschen sowohl als auch Engländern - eine Ingenieurfirma gegründet, die dasselbe Spezialprodukt herstellte und vertrieb wie seine frühere deutsche Firma. Als diese englische Firma genügend gefestigt und gewachsen war, um weitere
Hilfskräfte zu brauchen, wurde mir die Stellung der Assistentin des Chef-Ingenieurs angeboten - also dieselbe Stellung, die ich in Deutschland gehabt hatte. Nach mehreren Ablehnungen seitens des Home Office (Ministerium des Innern) erhielt ich die Arbeitserlaubnis im Januar 1939. Also, ich war wirklich wieder Ingenieur! Die Women's Engineering Society nahm mich als volles Mitglied an. Meine Töchter waren sicher in England. Es blieb die Angst um meine Mutter und meine Schwester in Nazi-Deutschland - und die furchtbaren politischen Perspektiven.
Natürlich hatte ich ein winziges Gehalt, ich wohnte in einem möblierten Zimmer, ich konnte meine Kinder jeden Sonntag für etwa zwei Stunden sehen. Von irgendwelcher politischen Arbeit konnte keine Rede sein. Aber ich wurde Mitglied einer Gewerkschaft der Konstrukteure und Zeichner - etwas, für das es in Deutschland kein Äquivalent gegeben hatte. Obgleich es eine fast 100%ige Männer-Gewerkschaft war, wurde ich nicht nur sofort angenommen, sondern auch in den Vorstand der Zweigstelle kooptiert.
Bei Kriegsausbruch wurde die Pensionsschule meiner Kinder aufs Land evakuiert, wo ich sie nur einmal besuchen konnte, aber es war beruhigend, sie in Sicherheit zu wissen. Als im Frühjahr 1940 der Krieg ernst wurde, begannen in England die Internierungen der Fremden. Zunächst wurden die männlichen Leiter der Firma interniert, aber nur kurze Zeit später wurde auch ich abgeholt und in das Frauenlager auf der Isle of Man gebracht. Das war nun die dritte Unterbrechung meiner Ingenieur-Laufbahn! In der Internierung verbrachte ich 1 1/2 Jahre, und obgleich es meine Entwicklung als Ingenieur nicht berührte, so hat diese Zeit mir viele Erfahrungen gegeben, die ich als wertvoll empfinde. Im Lager waren etwa 4500 Frauen, meist Deutsche und  darunter viele Jüdinnen; wir waren  in Hotels und Pensionen einquartiert, hatten Zugang zu den Badestränden und zur schönen näheren Umgebung, und es entwickelte sich schnell ein reges und vielseitiges, organisiertes Leben. Ich wurde eine der vier Haupt-Repräsentantinnen, die mit den Lager-Autoritäten verhandelten, später war ich eine Zeitlang Leiterin der Lagerschule, die von Minna Specht - der gut bekannten Pädagogin und früheren Leiterin der Odenwald-Schule - aufgebaut worden war. Mein Leben war daher interessant und vielseitig ausgefüllt.[7] Das Schlimme war daß man nicht absehen konnte, wie lange man so von der Welt abgeschnitten sein würde. Ein Vorteil hingegen war, daß ich mit meiner Mutter in Berlin korrespondieren konnte. Wir durften Kriegsgefangenen-Briefe schreiben und erhielten Post.
Schließlich wurde ich doch freigelassen, als aktiver Anti-Nazi und kehrte nach London zurück. Es war nicht leicht, eine Stelle als Ingenieur zu finden, obwohl natürlich eine große Nachfrage  nach ausgebildeten  Ingenieuren bestand.  Aber die Arbeitsvermittlungs-Ämter waren  ja besetzt von kleinen Bürokraten - und natürlich bestand keine ausdrückliche Anforderung für weibliche Ingenieure. Es war nicht leicht sie zu überzeugen, daß ein weiblicher Ingenieur die Stelle eines männlichen füllen könnte. Aber schließlich glückte es doch und im Januar 1942 fing ich als Konstrukteur im Zeichenbüro einer Werkzeugmaschinenfirma an. Ich warsogarnichteinmal die einzige Frau. Zwei junge Mädchen wurden als Zeichnerinnen ausgebildet. In den Werkstätten arbeiteten viele Frauen Ich wurde wieder aktiv in der Gewerkschaft. Hier war ich immer noch die einzige Frau in der Zweigstelle, wurde aber trotzdem bereits nach kurzer Zeit erst zum Zweigstellen-Vize-Präsidenten und dann zum Präsidenten gewählt. Ich vertrat die Zweigstelle im Distriktsrat und auch in der Örtlichen Vereinigung der Gewerkschaften. Schließlich wurde ich einer der Gewerkschafts-Vertreter im Erziehungs- und Jugendlichen-Komitee des lokalen Stadtrats.
Die Women's Engineering Society wählte mich in ihren Vorstand. Meine älteste Tochter hatte die Schule beendigt und durch Vermittlung ihres Vaters eine Stelle in einem Laboratorium der Kohlen-Industrie erhalten. Die Jüngere war noch weiter auf der Schule, und da die Schule auf dem Land war, so war sie sicher vor den Bombenangriffen Es glückte mir, eine kleine und recht primitive Wohnung zu finden, die ich langsam einrichtete.
Nach zwei Jahren wechselte ich meine Stellung und kam zu einer Firma, die automatische Kessel-Regelung und Prozeß-Regelungen entwarf und fertigte. Dieses Gebiet fand ich von vornherein faszinierend, und ich bin bis heute noch an automatischer Regelung stark interessiert. Ich arbeitete im Konstruktionsbüro und wurde nach ein paar Jahren Stellvertreter des Chefs des Konstruktionsbüros. Erfolg für eine Frau? Als der Chef die Firma verließ, wurde mir seine Stellung nicht angeboten, sondern einem jüngeren Mann, der unter mir gearbeitet hatte. Es stellte sich heraus, daß ein anderer Mann es abgelehnt hatte, unter einer Frau zu arbeiten, und leider hatten die Direktoren nachgegeben. Ich ließ mich daraufhin in die Projektabteilung versetzen, wo die Kontrollschemen entworfen, die Kosten geschätzt und die Angebote ausgearbeitet wurden. Hier wurde ich nach ein paar weiteren Jahren zum Abteilungsleiter ernannt und hatte 12 Männer, die unter mir arbeiteten.
Ich fühlte mich anerkannt und sicher, und die Tatsache, daß ich eine Frau war, schien keinen Unterschied mehr zu machen.
Aber bald sollte ich erfahren, daß dies immer noch eine Illusion war. Meine Firma vereinigte sich mit einer anderen kapitalstärkeren, die beiden Projektabteilungen wurden zusammengelegt, und selbstverständlich wurde der Leiter der anderen Abteilung Chef der vereinten Abteilung! Dieser Vorgang sollte sich noch verschiedene Male wiederholen. Jedesmal, wenn die Vorgesetzten wechselten, wurden meine männlichen Kollegen ohne weiteres anerkannt, während ich jedesmal erneut meine Fähigkeit als Ingenieur unter Beweis stellen mußte. Zunächst ließ ich mich wieder in eine andere Abteilung versetzen, in die Entwicklungsabteilung, wo die Kontroll- und Regelschemen überprüft, die Berechnungen für die Kontrollelemente gemacht wurden, und die um Rat und Hilfe gebeten wurde, wann und wo immer irgendwelche Schwierigkeiten sich zeigten. Die Abteilung unterstand direkt dem Chef-Ingenieur, mit dem ich mich bald befreundete. Die Arbeit war interessant und vielseitig. Aber wieder war es nicht von langer Dauer. Die Firma wurde von einer anderen, größeren, verschluckt, die Abteilung wurde aufgelöst. Ich hatte wieder neue Vorgesetzte, denen ich erst zeigen mußte, daß eine Frau Ingenieur sein kann. Natürlich setzte ich mich schließlich durch - aber wieviel Energie muß man verschwenden, nur, um anerkannt zu werden, um die eigentliche Arbeit machen zu können.
Ein paar Jahre lang ging so alles einigermaßen gut. Als ich das pensionsfähige Alter erreichte, wurde mir angeboten als sogenannter beratender Ingenieur (Consultant) weiter zu arbeiten, was ich natürlich annahm. Aber die Arbeit wurde allmählich weniger interessant und auch weniger. Schließlich wurden alle Ingenieure, die über
dem pensionsfähigen Alter waren, in den Ruhestand versetzt - und ein paar Monate darauf wurde die ganze Abteilung aufgelöst.
Ich war also im Ruhestand, aber nicht lange. Ich hatte Glück. Die Nachfolgerin der Firma, die einst von meinem früheren Mann und einigen Freunden gegründet worden war, war neu erstanden unter der Leitung eines dieser Freunde. Mein früherer Mann hatte längst eine neue Familie gegründet, war nach Kriegsende nach Deutschland zurückgekehrt und nach einigen Jahren dort gestorben. Dieser Freund bot mir eine Stellung als sein persönlicher Assistent an. Er war selbst nicht Ingenieur, aber ein genialer Erfinder und Konstrukteur, der ein auf neuen Prinzipien beruhendes Produkt anfertigte und vertrieb. In der Entwicklung neuer Produkte konnte ich seinen Ideen ingenieurmäßige Form geben mit Zeichnungen Modellen und Beschreibungen, die geprüft werden konnten. Dies war eine anregende und befriedigende Tätigkeit, mit der ich noch weitere fünf Jahre verbringen konnte. Dann starb mein Boß und Freund im Alter von 81 Jahren, und wenige Monate später zog die Firma von London weg, so daß ich nun wirklich in den Ruhestand treten mußte. Das war im Jahre 1977, und ich war immerhin auch 78 Jahre alt, so daß seither die Aussicht, nochmals eine neue Ingenieur-Tätigkeit zu finden, recht gering ist.
Seither habe ich mich auf die Arbeit in der Frauenbewegung konzentriert. Die Arbeit in der Women's Engineering Society ging die ganze Zeit weiter, ich war Mitglied des Vorstandsrats der Gesellschaft, war mehrere Jahre lang Redakteur der Vierteljahrszeitschrift The Woman Engineer und nahm an allen Aktivitäten der Gesellschaft teil, wie z. B. der Vorbereitung internationaler Konferenzen.
Die Aufgabe dieser Gesellschaft ist es, Frauen zusammenzufassen, die qualifizierte Ingenieure oder Techniker sind, und solchen Frauen beizustehen, die Ingenieure oder Techniker werden wollen. Junge Mädchen sollen ermutigt werden, den Ingenieurberuf als eine mögliche und befriedigende Karriere in Betracht zu ziehen. Daher werden Vorträge in den oberen Klassen von höheren Schulen arrangiert und größere Vortragsreihen organisiert, zu denen sowohl Mädchen- als auch Jungen-Schulen eingeladen werden.
Internationale Konferenzen werden alle vier Jahre veranstaltet und von den jeweiligen Gastländern organisiert. Sie haben in New York, Cambridge/England, Turin, Krakau und Rouen stattgefunden und gaben die Möglichkeit, nicht nur internationale Freundschaften zu schließen, sondern vor allem den Stand der Frauenemanzipation in verschiedenen Ländern zu vergleichen. Zur Zeit ist eine solche Konferenz in Bombay in Vorbereitung.
Die Probleme, die heutzutage den jungen weiblichen Ingenieuren in England begegnen, sind jedoch kaum andere als die vieler berufstätiger Frauen - obgleich den weiblichen Ingenieuren immer noch automatisch der Status des Pioniers verliehen wird. Meine jungen Kolleginnen haben keine besonderen Schwierigkeiten mehr, das Studium aufzunehmen und zu vollenden und dann eine Anstellung zu finden. Dies verleitet viele zu glauben, daß der Kampf für die Gleichberechtigung bereits gewonnen sei. Erst später, wenn sie bei der Beförderung zu höheren und leitenden Stellen an eine Widerstandsbarriere stoßen, wird klar, wie groß die Diskriminierung von Frauen noch ist. Dies trifft nicht nur auf weibliche Ingenieure zu, sondern betrifft durchaus fast alle Berufe, selbst solche, von denen man annimmt, daß sie Frauenberufe geworden sind.
Für die Fabrikarbeiterinnen besteht nur in wenigen Fällen eine wirkliche Gleichberechtigung. Sie erhalten nur selten den gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Und es wird ihnen in keiner Weise die gleiche Möglichkeit für Ausbildung und Beförderung geboten wie Männern. Solange es aber keine Gleichberechtigung an dieser Basis der Pyramide gibt, so lange ist die Gleichberechtigung aller Frauen gefährdet. Seit meine Berufsarbeit aufgehört hat, bin ich daher auch zunehmend tätig in der Fawcett Society. Dies ist eine der ältesten und angesehensten Frauen-Organisationen, die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts für die Gleichberechtigung der Frauen in allen Gebieten des Lebens gestritten hat. Ihre Zielsetzungen sind weiter und allgemeiner als die der weiblichen Ingenieure. Sie arbeiten für gleiche Entlohnung für Arbeit gleichen Wertes, für eine größere Beteiligung von Frauen im öffentlichen Leben - vom Fabrikbetrieb bis zum Parlament -, für die Beteiligung der Männer an der Sorge für Kinder und Haushalt, für gleiche erzieherische Möglichkeiten in Schule und Universität, in der Gesetzgebung, z. B. der Steuergesetzgebung. Die Arbeit geschieht hauptsächlich durch öffentliche Vorträge, Briefe an die Presse, Petitionen an Parlamentarier und Demonstrationen. Und sie versuchen, die vielen verschiedenen Frauengruppen in gemeinsamen Aktionen zu vereinen.
Es ist daher kein Mangel an Arbeit für mich. Vielleicht sollte ich doch noch etwas über mein Jüdischsein sagen. Es hat zwar keinerlei Einfluß auf mein Ingenieurwerden und -sein ausgeübt, ist aber doch nicht aus meinem Leben wegzudenken. Subjektiv ist es für mich immer völlig irrelevant gewesen. Ich habe bereits erwähnt, daß ich als Kind getauft worden bin - alle vier Geschwister zusammen -, und daß unsere Erziehung christlich war. Wir gingen zwar nicht in die Kirche, aber meine Mutter erzählte uns die biblischen Geschichten, mit denen wir ebenso vertraut wurden wie mit Grimms Märchen oder den Sagen des klassischen Altertums.
Die Schule war zwar protestantisch - wie alle städtischen Schulen in Schlesien -, aber die Klassengenossinnen kamen von allen Konfessionen, waren protestantisch, katholisch und jüdisch. Es schien keinen Unterschied zu machen, nur daß die anderen Konfessionen zusätzliche Feiertage hatten! Ich bin nie in der Schule irgendwelchem Antisemitismus begegnet. Meine Eltern hatten sowohl jüdische als auch christliche Freunde, und wieder schien da kein Unterschied zu sein. Ich wußte, daß wir jüdischer Abstammung waren - es wurde kein Hehl daraus gemacht -, aber es war ohne Bedeutung. Was ich über das Judentum erfuhr, kam zum großen Teil von einer meiner besten Schulfreundinnen, die aus einem orthodoxen Haus stammte. Aber sie selbst war suspendiert, so daß sie am Sonnabend mit der elektrischen Bahn zur Schule kommen konnte und auch schreiben durfte. Später wurde sie Zionistin, und da begann auch ich mich für den Zionismus und das Judentum in der Diaspora zu interessieren. Ich las Buber und Scholem Aleichem und andere Bücher über das pogromgefährdete Leben der Juden in Rußland und Polen und den Antisemitismus im österreichischen Galizien, und meine Sympathie wurde erweckt. Da ich nicht jüdisch aussah, konnte es passieren, daß jemand in meiner Gegenwart eine antisemitische Bemerkung machte. Dann reagierte ich heftig - und die Folge war meistens eine Entschuldigung, und es stellte sich fast immer heraus, daß der Sprecher noch nie einem Juden wissentlich begegnet war und höchst seltsame Begriffe von Juden hatte. Derartige Begriffe wurden ja dann später von den Nazis benutzt und verstärkt. Mein Mann war Nicht-Jude und Katholik. Meine Schwiegereltern, die katholisch waren, stammten beide aus katholisch/protestantischen Mischehen und waren daher tolerant, auch Juden gegenüber. Sowohl mein Mann als auch ich wurden verhältnismäßig frühzeitig Atheisten und traten aus unseren Kirchen aus. Er hatte während des Ersten Weltkriegs im russischen Feldzug gedient, war in Russisch-Polen oft beim Rabbi einquartiert gewesen und wußte daher weit mehr über das Judentum als ich.
Auch in der Anti-Nazi-Arbeit waren die Genossen sowohl jüdisch als nichtjüdisch, und keiner fragte danach. Natürlich berührten uns die beginnenden Judenverfolgungen, aber nicht mehr als die gleichzeitigen Verfolgungen der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften. Ich verließ Deutschland nicht als jüdischer, sondern als politischer Flüchtling. Um das Bild abzurunden, kann ich hinzufügen, daß meine beiden Töchter selbstverständlich berufstätig sind, daß sie beide verheiratet sind und daß ich sieben Enkelkinder habe, die beiden ältesten sind bereits verheiratet. Die Enkelinnen finden es ganz selbstverständlich, daß sie einen Beruf haben und daß ihre Männer die Haushaltspflichten mit ihnen teilen. Also ein bißchen vorwärtsgekommen sind wir Frauen - und Männer - doch wohl.
September 1980