Eine gefährliche Bescherung und veränderte Tatsachen

Am Nachmittag desselben Tages führte uns Papa in sein Arbeitszimmer. Mama sah blaß aus. Wir waren aufgeregt, wie von ihr angesteckt. Der Augenblick schien feierlich, denn nur bei besonderen Anlässen war es uns erlaubt, diesen Raum zu betreten. Einige Papiere, mit vielen Stempeln und Hakenkreuzen versehen, lagen bedrohend, wie es mir schien auf dem Schreibtisch. Wir standen stumm und ratlos davor. Papa sagte:
»Irgendwann werdet ihr damit konfrontiert; es ist also besser, wenn ihr genau informiert seid, bevor man euch darauf anspricht.«
»Was ist los?« fragte Colette ungeduldig.
»Warte doch!«, und mit einer gewollt unpersönlichen Stimme wie bei einem Zitat: »Die Fabrik von Le Molay ist verpflichtet, einen Teil ihrer laufenden Produktion der deutschen Wehrmacht zur Verfügung zu stellen.« »Verpflichtet? Steht das da?« »Ja, eindeutig. Dies hier ist eine Beschlagnahmeverfügung der Heeresverpflegungsstelle in Paris .. . Und hier steht: >Die Untersuchungen haben gezeigt, daß die Butter und der Käse von Le Molay keinerlei Anlaß zur Beanstandung geben und daher für die Versorgung der Wehrmacht in Frankreich geeignet sind.<«
»Warum gerade wir? Können die Deutschen ihre Lebensmittel nicht aus Deutschland kommen lassen?« »Frischprodukte nicht. Im übrigen tun sie das überhaupt nicht. Wir haben eben den Krieg verloren. Schöne Worte ändern leider nichts daran. Daß wir es sein müssen, die dafür geradestehen, ist allerdings schlimm.«
»Nur weil ihr zu gut arbeitet!«
»Daran werden wir nichts ändern. Wir dürfen es auch nicht. Schaut! Hier ist geschrieben: >Es werden laufend Qualitätsuntersuchungen durchgeführt. Warenproben werden bei jeder Lieferung entnommene«
»Und wohin geschickt? Auf dem Briefkopf steht es ganz groß >Laboratoire Central de la Ville de Paris<!« »Ja, Rue de Danzig sogar. Sie müssen sich im Zentrallaboratorium der Stadt Paris glatt zu Hause fühlen, die Chemiker der Heeresverpflegungsstelle!«
»Roger!«
Meistens sagte Mama »Cheri«. Wir hörten selten den Vornamen unseres Vaters. Das machte uns hellhörig.
»Du hast recht«, sagte er prompt. »Es hat keinen Sinn. Bisher haben wir sogar weniger Scherereien, als ich dachte. Die Deutschen halten sich an die vorgeschriebenen Mengen, und die Produktion für die Zivilbevölkerung läuft damit gut. Wichtig ist, daß der Betrieb ohne Einschränkung weitergeführt werden kann. Ob es uns auf die Dauer gelingt? Es wird immer schwieriger, Ersatzteile zu beschaffen, ebenso manche Chemikalien... Sogar die Holzkohle, mit der wir den Mangel an Benzin zu beheben hofften, wird knapp. Dabei ist das Milchsammeln entscheidend für uns!«
»Mit der Holzkohle ist es eine komische Sache.« Michel, der oft beobachtet hatte, wie die Lastwagen auf das neue Verbrennungssystem umgestellt wurden, fühlte sich berechtigt, seine Meinung kundzutun. »Die Fahrer schimpfen zwar über den schwarzen Staub, aber einer sagte neulich: >Wir müssen zusammenhalten nur so werden wir es schaffen!<« »Seit wann müssen wir die Wehrmacht beliefern?« wollten wir noch wissen. »Als ihr von der Flucht aus Antezant zurückgekommen seid, fingen wir gerade an. Ich sprach nicht davon, um euch nicht zu beunruhigen, aber es war der wirkliche Grund, weshalb wir die Verbotstafeln bei dem Eingang der Fabrik bekommen hatten. Könnt ihr euch daran erinnern? Ihr hattet sie gleich entdeckt. Sie haben sich übrigens als sehr wirksam erwiesen, diese Schilder. Es ist paradox, aber wahr. Wir leben seitdem in einer Enklave, in der die hier ansässigen Besatzungstruppen nichts zu suchen haben.«
»Sind deshalb die Bücher der Lecoulteux du Molay bei uns?«
»Nein, die Bücher sind offiziell hierher gebracht worden. Aber es mag eine Rolle gespielt haben.«
Als wir das Arbeitszimmer von Papa an diesem Weihnachtstag verließen, hatten wir das bange Gefühl, daß von nun an eine undefinierbare Gefahr auf unsere Familie lauerte. Ohne uns vorher darüber verständigt zu haben, würden wir sowohl unter uns wie unseren Kameraden gegenüber die Lieferungen an die Wehrmacht nie erwähnen. Wir würden das konfliktbeladene Thema scheu meiden, während die Eltern uns von den auftauchenden Komplikationen fernhielten. Eine Stunde später war es, als hätten wir das Ganze vergessen. Die neuen Spiele, die wir in der Früh unter dem Christbaum vorgefunden hatten, beschäftigten uns vollends.
»Wie ihr lacht!« sagte Mama, die plötzlich in den Salon kam. In ihrer Stimme klang deutliches Erstaunen. War nicht ein leiser Vorwurf dabei?
»Sehr laut waren wir aber nicht«, sagte Colette prompt. »Stören wir Papa?« »Aber nein, ihr spielt sogar sehr schön.« »Bist du noch traurig, Mama?« Sie strich mir über den Kopf.
»Nein. Wie sollte ich? Ich habe euch drei. Macht euch keine Gedanken. Spielt nur weiter.«
Von der kindlichen Begabung des Vergessens — eigentlich Vertrauen den Eltern gegenüber machten wir monatelang Gebrauch, bis die Ereignisse unsere Sorgen wachriefen. Die Auswirkungen der Beschlagnahmeverfügung der deutschen Heeresverpflegungsstelle sollten nach und nach manche Freunde unserer Eltern verwirren, Papa mit der Gestapo in Berührung bringen und uns sogar in eine lebensgefährliche Lage versetzen.
Vorher mußte jedoch manches in dieser bemerkenswerten Zeit geschehen, in der die Tage Geschichte schrieben. Im Laufe des Jahres 1941 wurde das Schicksal unzähliger Menschen durch die Ereignisse aus der Bahn geworfen. Am 14. Februar 1941 begann der Einsatz deutscher Truppen unter General Erwin Rommel in Afrika. Der Wüstenfuchs, wie man ihn später nannte, hamsterte legendäre Erfolge ein und sicherte sich die Achtung seiner Gegner. An der gleichen Front hatten die Italiener nur eine klägliche Niederlage mit dem Verlust Abessiniens geerntet. Wir fanden dies gerecht. Sieben Monate zuvor, als Frankreich bereits besiegt war, hatten uns im letzten Moment die Italiener den Krieg erklärt. Mussolini hatte seinen Truppen den Befehl gegeben, nach Frankreich zu marschieren. Es war seitdem zu wenig Zeit vergangen, als daß wir das hätten vergessen können. Der am 6. April gestartete deutsche Angriff auf Jugoslawien endete mit der Kapitulation am 17. April.
Kreta wurde erobert, Griechenland besetzt. Wir kamen überhaupt nicht mehr mit. Unsere Welt zerfiel immer mehr. In der Schule lasen wir gerade Iphigenie in Aulis< von Racine. Wir schrieben Aufsätze über die zarten Gefühle und Ängste der armen Iphigenie, die geopfert werden mußte und doch gerettet wurde. Agamemnon war für uns ein wankelmütiger Held, Achilles stürmisch und ungeschickt, Kalchas grausam. Wir spürten, daß die Tragödie von Racine normalerweise mit dem Opfergang der Iphigenie hätte enden müssen. Iphigenie aber waren wir. Die glückliche Prinzessin, die in einer heilen Welt mit den geliebten Eltern lebt, bis sie entsetzt und doch gefaßt die Tragik ihres Schicksals erfährt, die gütige und enttäuschte Freundin der bösen Eriphile, die romantische Prinzessin, die leidenschaftlich wird bei dem Gedanken, ihren Bräutigam durch den Tod verlieren zu müssen; dies war eine Heldin, mit der wir uns identifizieren konnten! Die Welt der Antike hatte für uns fast mehr Bestand als der Wirrwarr, in dem wir lebten. Und gerade jetzt wurde Griechenland besetzt. Auf welcher Seite standen eigentlich die Helden? Gab es überhaupt noch welche?
Am 22. Juni 1941 erteilte Hitler den Angriffsbefehl gegen die Sowjetunion. Wir hatten uns inzwischen daran gewöhnt, daß es irgendwo immer Krieg gab. Rußland lag weit entfernt.
Als wir für die großen Ferien nach Hause fuhren, freuten wir uns auf den Sommer. In Le Molay angekommen, gingen wir von Zimmer zu Zimmer auf der Suche nach unseren Erinnerungen, alle Details erfassend, die nicht dazu gehörten glücklich, von unserem Reich erneut Besitz zu nehmen.
Dabei fiel uns eine große Landkarte von Rußland auf, die im Eßzimmer in der Nähe des Radiogerätes an der Wand befestigt war. Von dem Krieg in der Sowjetunion waren wir doch mehr betroffen, als wir zunächst gedacht hatten. Colette hatte sich verändert. Sie sperrte sich gelegentlich im Bad ein. Wir trafen uns nackt nicht mehr so unbekümmert wie früher. Wir zogen uns schnell an. Mein Busen wuchs. Ich fand das hübsch und aufregend. Ich war zwölf und trug Zöpfe. Daß die Zärtlichkeit als wichtiger Ausdruck sexueller Verbundenheit eine Ehe trägt, das wußten wir schon längst. Die Eltern hatten es uns mit kleinen alltäglichen Gesten vorgelebt. Über das große Wie wußte ich allerdings wenig. Zugegeben, die Biologie war in dieser Aufklärung bisher sehr kurz gekommen. Ich erfuhr, was Pubertät ist, genau zu dem Zeitpunkt, als ich sie hinter mir 40 ließ. Nachträglich glaube ich, daß es mir manches Kopfzerbrechen erspart hat. Ich bin unbeschwert und nichtsahnend an manchen Problemen vorbeigegangen zu einer Zeit, die ohnehin voller Dramatik steckte.
Die Sommerferien gestalteten sich 1941 sehr einfach: Es gab keine Alternative. Unser normannischer Familienstrand, zwölf Kilometer von uns entfernt, war tabu. Zu den Großeltern nach Vichy durften wir nicht fahren. Wir blieben in unserem geliebten Le Molay.
Die Geographie unseres Landes hatte sich inzwischen grundlegend verändert. Bereits seit dem 22. Juni 1940 war Frankreich durch eine sogenannte Demarkationslinie geteilt: Die nördliche Hälfte und die ganze Atlantikküste standen unter dem Besatzungsregime. Elsaß und Lothringen wurden »integriert«. Der Rest Frankreichs war »Zone libre«. Damit lebten unsere Großeltern in der »freien Zone«, zu der wir keinen Zugang hatten, und was uns aufregend und zugleich verwirrend zu sein schien in der »Hauptstadt« Frankreichs!
Vichy, die friedliche Kurstadt unserer Kinderferien mit ihren verträumten Parks entlang des Flusses konnten wir uns als Schauplatz einer hektischen Betriebsamkeit kaum vorstellen. Und doch war es so. Man sprach bei den Abendnachrichten, in Verbindung mit der Regierung von Marechal Petain und Pierre Laval, dauernd von Vichy. Papa, wenn er die für ihn so vertrauten Namen hörte, erzählte gern von früher. Einige Hotels, die im Ersten Weltkrieg als Lazarett gedient hatten, waren als Amtsgebäude für Ministerien umgebaut worden. Zu diesem Vichy gab unser Vater wenig Kommentare.
Vor dem Treffen von Montoire zwischen Hitler und Petain hatten die Eltern den Marechal bewundert, überzeugt davon, daß der 84jährige ehemalige Held Frankreichs so viel wie möglich in unserer miesen Lage rettete. Papa, mit seiner Sympathie für die Amerikaner, war sogar überzeugt, daß der Marechal Geheimverhandlungen mit den Verbündeten Frankreichs aus dem Ersten Weltkrieg führte.
»Die Amerikaner werden uns nicht im Stich lassen«, hatte er damals öfter gesagt.
Auf die Engländer war er dagegen seit Mers-el-Kebir nicht gut zu sprechen. Der Angriff der Royal Navy auf unsere Flotte hatte ihn empört: Es hatte am 3. Juli 1940, bei der sogenannten Operation Katapult/Attila, 1297 Tote gegeben. Diese acht Tage nach   der   Unterzeichnung   des   Waffenstillstands   zwischen Deutschland und Frankreich durchgeführte Aktion war sie wirklich, wie Churchill in seinen Memoiren später meinte, »die notwendigste Handlung für das Leben Englands« gewesen? »Es war eine entsetzliche Entscheidung, die unmenschlichste, die grausamste aller, an denen ich mitgewirkt habe.« So schrieb Churchill nachträglich, indem er diese Entscheidung, ein Geschwader eingesperrter französischer Schlachtschiffe nach einem kurzen Ultimatum zu versenken, zu »einer griechischen Tragödie« erhob. Für die Franzosen war dies eine echte, tieferlebte Tragödie.
Im Oktober 1940 hatten die in den Zeitungen gezeigten Bilder von Montoire, wo Hitler und Marechal Petain händeschüttelnd photographiert worden waren, die Sehweise der Familie verändert. Anschließend wurde im Rundfunk zu oft von »collaboration« gesprochen.
Papa, der früher mit seiner Meinung schnell herausrückte, hatte inzwischen aufgehört, viel zu erzählen. Die Erwachsenen trauten sich scheinbar immer weniger, laut zu denken. Was sollten wir Kinder für Schlüsse daraus ziehen? Irgendwie waren wir froh, überhaupt eine Regierung zu haben. Die Großvaterfigur des Marechal Petain paßte gerade für uns nicht schlecht in das Bild von Vichy. Das Hotel Sevigne, in dem der Marechal wohnte, kannten wir gut; es stand unweit des Hauses unserer Großeltern. Carlton, Ambassadeurs, Hotel Thermal, Hotel Majestic waren uns geläufig. Wir wußten auch, wie das oft erwähnte Hotel du Parc aussah. Was dort beschlossen wurde, konnte nicht so schlimm sein. Oder? Die spärlichen Nachrichten, die wir von den Großeltern erhielten, brachten keine Erleuchtung. Sie bestanden aus einigen Worten auf vorgedruckten, offenen Postkarten.
»Es geht uns gesundheitlich... sehr gut«, schrieben die Großeltern dort, wo die Pünktchen den freien Raum markierten.
»Wir haben... keine... finanziellen Schwierigkeiten«, schrieben sie noch.
Unten, bei den freien Linien fügten sie hinzu:
»Wir denken viel an Euch. Wie geht es den Kindern?«
Bei den ersten Karten freute sich die Familie noch sehr. Es war aber eine magere Ernte, die in ihrer Wiederholung die Eltern aufregte und uns bald nicht mehr interessierte. In Wirklichkeit hatte die schwere und traurige Zeit längst begonnen, in welcher echte Briefe über die Grenze geschmuggelt werden mußten. Ein reger und gefährlicher Verkehr organisierte sich über die Demarkationslinie. Menschen wurden in die »freie Zone« geschleust auch solche, die um ihr Leben bangten und hofften, danach Spanien und mit viel Glück England zu erreichen. In der Normandie ahnten wir von all diesen Tragödien nichts.
Es sollte für uns drei Kinder ein begnadeter Sommer 1941 werden, ein Sommer voller Heiterkeit und Abenteuer, ein für Kinder maßgeschneiderter Sommer... fast!
Gleich zu Beginn wurden wir bei den d'Estels eingeladen, nun nicht mehr in Le Molay, sondern in Saonnet, wo sie jetzt lebten. Wir fuhren mit Aigrette hin. Aigrette war eine hübsche Fuchs-Stute mit einem weißen Streifen auf der Stirn. Daß die Benzinknappheit dazu geführt hatte, einen Pferdewagen anzuschaffen, fanden wir großartig. Wir hatten alle fünf im Wagen Platz und fühlten uns in die Vergangenheit zurückversetzt. Es stellte sich heraus, daß Mama Pferde führen konnte; ihre Eltern hatten es sie gelehrt. Papa konnte es auch, aber was konnte er nicht?
Daß wir in dieser Equipage zu den d'Estels fuhren, fand ich überaus passend; unser Gespann sah sehr gut aus. Es wurde eine lange Reise durch ungeteerte Hohlwege, wie sie damals in der Normandie üblich waren, und wie es sie dort noch heute gibt. Die Zweige der Bäume streiften gelegentlich das Dach unseres Wagens mit einem kratzenden Geräusch. Wenn wir abwärts fuhren, freuten wir uns über die schnellen Schritte von Aigrette, die in Trab fiel. Man hatte — viel besser als mit dem Auto Zeit, alles zu beobachten. Auch konnte man die ganze Landschaft beschnuppern! Blühende Liguster oder Holunder, Moos, Pappeln in einem feuchten Tal, Fliedersträucher in einem Garten, eine einsame Tanne in der prallen Sonne, ein rauchender Kamin in der Nähe..., die Landschaft kündigte sich an oder bestätigte sich mit Gerüchen.
Wir erreichten Saonnet. Es war keine geschlossene Ortschaft, sondern mitten im Grünen waren Höfe versteckt, die man im letzten Moment entdeckte, oder weiße Häuser in verträumten Gärten, die von Hundegebell wach wurden. Wo wohnten die d'Estels? Sie wohnten wie hätte es anders sein können in einem Märchenschloß. Wir hatten befürchtet, sie in einer unpassenden Umgebung wiederzufinden. Als unsere müde Aigrette langsam die Allee hinaufschritt, die so lang war, daß man kein Gebäude erblicken konnte, wußte ich, daß alles in Ordnung war. Das Schloß denn es war wirklich eines stand leicht erhöht in einer Wiese, wo Kühe hätten weiden können. Die Fassade des Gebäudes war in ihren Proportionen schön und doch fehlte irgend etwas.
Als Christiane grüßend auf dem Holzpodest auftauchte, das bei dem Hauptgang aufgestellt war, wußte ich, was fehlte: die Treppe! Wahrscheinlich hatte man vorgehabt, eine monumentale Treppe aus Stein oder aus Marmor zu bauen, und dies wurde nie verwirklicht. Als Provisorium war dieses komische Gestell mit Stufen angebracht worden, dem Anschein nach vor sehr langer Zeit. Auch die weiße Fassade war verwittert, mindestens seit einem halben Jahrhundert dem normannischen Wind ausgesetzt... Alles schien in diesem Haus rätselhaft, unvollendet. Im Salon gab es kaum Möbel, aber die Harfe stand dort, und ich streichelte sie im Vorbeigehen. Große Spiegel verliehen dem Raum ein ungewöhnliches Ausmaß. Wo waren unsere Gastgeber? Christiane, die Anweisungen wegen Aigrette gegeben hatte, kam herein.
»Meine Eltern sind mit der Familie Morice auf der anderen Seite des Gartens. Wollen Sie bitte kommen?«
Wir freuten uns, die Familie Morice wieder zu treffen: Veronique, Pierre, Sophie und Jacky waren unsere besten Freunde. Die Mädchen, wie wir Schülerinnen der Ursulinen in Caen, besuchten als Externe das Gymnasium. Der Vater war Chirurg und Professor an der Universität. Nur während der Ferien kamen sie alle nach Le Molay und bewohnten dort ein gemütliches Haus vis-a-vis vom nun besetzten Haus der Familie d'Estel. Veronique war so alt wie Colette, Pierre so alt wie ich, Sophie so alt wie Michel: ein Glücksfall!
Bei der Begrüßung gab es ein freudiges Durcheinander. Damit die Eltern ruhig sprechen konnten, schickten sie uns aus dem Haus. Wir rannten los und waren bald nicht mehr zu sehen. Wir wollten zum Bach. Später entdeckten wir den Taubenturm. Er war sehr hoch, rund gebaut, mächtig und verschlossen wie eine alte Burg, und stand abseits in der Wiese. Kein einziges Fenster! Unter dem konischen Dach gab es unzählige Offnungen im Mauerwerk. Wir wußten nicht, wozu sie dienten zumindest waren wir nicht sicher. Vorsichtig machten wir die schwere Tür auf. Mäuse huschten davon, dann wurde es still. Die ganze Höhe war bis zum Dach frei, unten glatt, über unseren Köpfen bis nach oben mit kleinen Nischen gespickt. Es gab, wie es uns schien, Hunderte und Hunderte davon. Überall Spinngewebe. Eine unheimliche Stille. An der Wand war eine Leiter angelehnt, ein Monstrum von einer Leiter. Sollten wir hinaufklettern? Pierre war dafür. Im selben Moment erschien Christiane:
»Kinder, was wollt ihr im alten Taubenschlag?«
»Haben Sie alle Tauben töten müssen?«
»Nein. Ich glaube, seit 100 Jahren hat es hier keine Tauben mehr gegeben«, erwiderte Christiane gutgelaunt. »Ihr hattet doch nicht vorgehabt, auf die alte Leiter zu klettern?«
Wir schauten uns an und schwiegen. Sie lachte nur.
»Kommt zum Tee, bevor euch noch mehr Dummheiten einfallen!«
Wir kamen zu den Nebengebäuden.
»Ist der Delahaye da drin?« fragte Pierre.
»Ja, in den alten Stallungen, aber schaut her!«
Aigrette stand im Schatten angebunden und bewegte ihre Ohren, als wir ihren Namen riefen. Wir waren stolz, sie unseren Freunden zu zeigen. Christiane führte uns weiter, an uralten Fliedersträuchern in allen Farbschattierungen vorbei.
»Seit wann gehört dieser Besitz eurer Familie?« fragte Veronique.
»Erst seit fünf Jahren. Die Eltern kauften ihn, als kein Mensch an einen Krieg dachte. Man müßte im Haupthaus viel investieren: Sanitäranlagen sind kaum vorhanden. In der Barockzeit wurden hier, in diesem Garten-Pavillon, Toiletten eingerichtet. «
Neugierig betraten wir das hübsche Haus und staunten über die Delfter-Kacheln an der Wand: Windmühlen in blauen Tönen wechselten mit Blumenmotiven ab. Auch das Täfelwerk zeugte von besseren Zeiten. Wir stellten uns vor, wie die Schloßbewohner abends, mit Kerzen in der Hand, durch den Park gewandert waren, um hier sitzend gepflegte Konversation zu führen. »Der Schloßherr trug sicher eine Waffe bei sich«, sagte Pierre, der gern ritterlich dachte.
»Ungewöhnlich und abenteuerlich war das Leben früher schon«, meinte Christiane, »und jetzt? Wir sind jedenfalls sehr froh, daß wir in Saonnet wohnen können. Ich liebe das große Haus, so unfertig es ist.«
Nach dem Tee fuhren wir nach Le Molay zurück. Es hatte keine Hausmusik gegeben. Mit Aigrette hatten wir wieder einen langen Heimweg vor uns.
Am Ende der Ferien wurden wir noch einmal eingeladen. Das Schloß von Saonnet war inzwischen ebenfalls von der Wehrmacht besetzt. Lediglich über zwei Zimmer im Parterre und über den Bügelraum im Tiefgeschoß, wo sie ihre Gäste empfingen, verfügten die d'Estels noch. So, als ob nichts geschehen wäre, spielte Madame d'Estel im langen Rock die perfekte Gastgeberin. Niemand klagte. Es war furchtbar eng, aber das Sevres-Porzellan wurde auf dem derben Eichentisch aufgedeckt. In den kostbaren Tellern servierte man Marmeladenbrote, von einer langen Baguette heruntergeschnitten. Der Tee wurde in einem alten Samowar zubereitet. Man vermied die gemeinsame Küche mit den ungebetenen Gästen, sprach aber nicht davon. Alle großen Häuser der Gegend waren besetzt.
Die Damen d'Estel hatten diesmal Mozart und Bach gespielt. Von Freunden war ein Klavier gestiftet worden, das in einer Ecke stand und den Raum noch mehr einengte.
»Musik ist für uns so wichtig«, entschuldigte sich Aurelie d'Estel.
Haltung hatten sie, unsere Freunde.