Spinnen und die Front, die uns unbemerkt überrollt

Die Nacht vom 9. zum 10. Juni 1944 war sehr hell. Der Mond schien. Ein kleines Flugzeug flog vorbei. Das ruhige Schnarren seines Motors klang friedlich und erstarb bald in der Nacht. Warum hatte sich diese kleine Maschine an die Front verirrt? Nach den rasenden Flugzeugen, die wir oft erlebt hatten, wirkte dieses Beinahe-Sportflugzeug erstaunlich beruhigend. Wir schliefen bald ein.
Ich erwachte plötzlich, weil ich irgendein Tier an der Backe spürte. Ich fuhr mit der Hand darüber. Nichts! Nach kurzer Zeit juckte die Stelle und fühlte sich glatt und erhöht an. Ein Floh? Wohl kaum. Bald juckte es weniger, aber die Glätte blieb. Und dann fühlte ich etwas auf meiner Hand krabbeln. Ich schüttelte die Hand angewidert und überlegte. Ich lauerte, bereit auf die geringste Berührung zu reagieren. Obwohl ich in dieser Nacht nicht mehr gestochen wurde, konnte ich eine geraume Zeit nicht wieder einschlafen. War das eine Spinne gewesen? Wie groß war sie?
Gegen fünf Uhr gab es in der Ferne einen Höllenkrach mit zischenden Geräuschen, die sich ständig wiederholten. Ans Schlafen war, mit oder ohne Spinne, nicht mehr zu denken. Ein gewaltiger Kampf mußte begonnen haben, und wir fingen an, im Graben die Lage zu besprechen. Die Geräusche waren in ihrer Vielfalt verwirrend. Sicher blieb, daß Bomben in großer Zahl herabfielen und daß ein Artillerieüberfall, auch mit schwersten Kalibern, in vollem Gang war. Die zischenden Laute ließen uns vermuten, daß Schiffsgeschütze im Einsatz waren; die Vorstellung, daß diese Dinge über unsere Köpfe flogen, war, nach unseren bisherigen Erfahrungen, ziemlich ungeheuerlich.
Ganz so harmlos schien das kleine Flugzeug am Abend zuvor nicht gewesen zu sein. Wahrscheinlich lenkte seine Besatzung, in Verbindung mit anderen Luftbeobachtern, das Artilleriefeuer.
Rein akustisch war es für uns schwierig, den Abstand abzuschätzen, der uns von der Schlacht trennte. Die Männer unter uns, auf ihre Kriegserinnerungen zurückgreifend, waren sich nicht einig - manche sprachen von 18, andere von 15, sogar von zehn Kilometern Luftlinie. Die Richtung dagegen war ziemlich eindeutig: Vaubadon, Juaye-Mondaye, Tilly, sagten diejenigen, die draußen versucht hatten, die Helligkeit am Himmel zu lokalisieren. Dort, wurde erklärt, befand sich das Zentrum der Kampfzone. Es handele sich allerdings um eine sehr breit angelegte Schlacht, deren Randzonen rechts Balleroy und links Le Tronquay, ja Bayeux einschließen mußten.
Eine Menge Kindererinnerungen tauchten für uns auf; sie waren mit den Ortsnamen verknüpft, weil das Milcheinzugsgebiet des Werkes sich zum Teil in diese Richtung erstreckte. Wir dachten unter anderem an die wunderschöne Abtei von Juaye Mondaye zurück und an Noron-la-Poterie, wo wir aus Jux eine Menge Tontöpfe zerschlagen hatten. Der furchtbare Krach dauerte 45 Minuten an. Wir stellten uns unterdessen vor, wie alle Ortschaften, die wir gern hatten, nach und nach in Trümmer fielen.
Die Spinne war nicht mehr wichtig. Da wir nicht schlafen konnten, fing ich trotzdem an, davon zu erzählen. Auch Michel war an der Hand gestochen worden. Wir liehen uns die umständliche Taschenlampe von Papa aus und begannen, im obersten schmalen Geschoß nach Spinnen oder Ungeziefer zu suchen. Die rauhe Wölbung aus Erde knapp über uns konnten wir nur stückchenweise beleuchten, weil wir uns auf dem Brett, wo wir eng beieinander lagen, im Wege waren. Wo verkrochen sich die Biester? Hinter den Balken? Keiner von uns fand sie; wir gaben bald die Suche auf. Es war aussichtslos, das Ungeziefer in dieser Finsternis entdecken zu wollen. Ein wenig erleichtert war ich trotzdem: So groß wie ich sie mir in der Nacht ausgemalt hatte, konnten sie nicht sein.
Bald hielt Papa einen grundsätzlichen Vortrag über Spinnen. Als kompetenter Naturwissenschaftler fühlte er sich in seinem Element. Die Tatsache, daß es nahezu 20 000 Arten von Spinnen gebe, fand ich wenig beruhigend für die kommenden Nächte.
»Man spricht von Spinnengiften«, fuhr Papa fort, »aber bei den meisten Arten handelt es sich um ein absolut ungefährliches Sekret.«
Die tröstende Feststellung hinderte mich nicht daran, meine Backe erneut zu betasten. Michel leckte an seiner Hand.
»Es schmeckt bitter«, sagte er knapp.
»Das kann sein«, antwortete Papa erfreut, wie bei einer willkommenen Bestätigung seiner Kenntnisse.
»Vielleicht solltest du dir nachher ganz einfach die Hände waschen«, sagte Mama. »Es muß nicht unbedingt mit den Spinnen zu tun haben!«
Colette versetzte lachend Michel einen Stoß. Sie hatte keine Angst vor Tieren.
»Angsthase!« sagte sie leise.
»Warte nur ab, bis du selbst gestochen wirst!« erwiderte Michel giftig.
Unbeirrt setzte Papa seinen Vortrag fort. Die fachmännischen Ausdrücke »örtlich begrenzte Reizwirkung«, »Giftdrüse«, »Klauen« sollten noch lange in unseren Köpfen spuken, denn wir wurden alle gestochen. Am Hals, im Gesicht, an den Händen, an den freien Stellen also und immer in der Nacht. Es erwischte mehr diejenigen, die in unserem Erdloch oben schliefen. Auch tagsüber war es dort stockfinster. Gemütlicher war unser Graben durch die Anwesenheit dieser Mitbewohner nicht geworden.
Als der Krach draußen ein wenig nachließ, gingen wir Luft schnappen. Im Freien hörte man die Kriegsgeräusche intensiver und vor allem differenzierter. Die ganze Familie stand auf der Erderhöhung des Grabens und schaute nach Süden, mit dem Meer im Rücken. Die gewaltige Geräuschkulisse breitete sich vor uns aus wie ein Fächer, wobei unser Standort Le Molay ein Ruhepunkt zu sein schien. Auch unmittelbar vor uns knallte es wenig. Dafür tobte links, Richtung Tilly, die Panzerschlacht weiter. Rechts, Richtung Cerisy und dahinter SaintLö, fielen massenweise Bomben. Es kam uns plötzlich merkwürdig vor, daß bei uns nichts geschah. An beiden Enden der Schere, rund 20 Kilometer vom Meer entfernt, wurde anscheinend heftig gekämpft und bei uns, obwohl wir viel näher bei der Küste lebten, passierte nichts. Es war fast unheimlich.
»Ob wir bereits überrollt wurden, ohne es zu wissen?« fragte Papa.
»Es kann einfach nicht sein. Wir hätten doch etwas gesehen.«
Und doch geschah etwas Ähnliches. Wir wurden im Laufe des 10. Juni befreit und hatten das unsagbare Glück, nichts davon zu merken. Der Leerraum von Trevieres bis Cerisy und Balleroy füllte sich rasch auf ohne nennenswerte Kämpfe. Möglicherweise war unser welliges, buschbewachsenes, in unzählige kleine Rechtecke geteiltes Gebiet für Panzerbewegungen besonders ungeeignet. Allerdings galt dies nicht nur für uns, sondern nahezu für die ganze Gegend des Bessin.
Daß wir verschont blieben, hatte andere Ursachen: Truppenbewegungen, die, strategisch mehrmals geändert, ein Chassecroise dreier Armeen ergaben. Bereits am 7. Juni war Bayeux, wo rund 7000 Zivilisten lebten, ohne Kampf von den Engländern besetzt worden, deren Sherman-Panzer seitdem die Kreisstadt deckten. Feldmarschall Rommel hatte am 8. Juni sofort erklärt, daß Bayeux zurückzunehmen sei, weil ein deutscher Vorstoß bis zum Meer an dieser Stelle eine Vereinigung der gelandeten Engländer und Amerikaner in Frage stellen würde.
General Montgomery war es unterdessen nicht gelungen, die Stadt Caen, wie vorgesehen, am 7. Juni frontal zu nehmen; er erhoffte sich mehr von einem späteren Angriff von der Flanke und mußte deshalb die englischen und kanadischen Panzer aus Bayeux nach Süden vorrücken lassen. Am 9. Juni rollten sie bereits in diese Richtung, und es gab einen schnellen Vorstoß kanadischer Panzer. Parallel dazu, aber in umgekehrter Richtung, hatten sich deutsche Spähtrupps der Panzer-Lehr-Division in derselben Nacht bis Arganchy vorgearbeitet, um Bayeux am Morgen anzugreifen. (Die Ortschaft Arganchy, ein Vorort von Bayeux, befindet sich in Luftlinie elf Kilometer von Le Molay entfernt.)
Der Durchbruch zur Küste wurde jedoch abgeblasen, weil die schmale vorgerückte Lage der deutschen Vorkämpfer als kritisch beurteilt wurde. Der Befehl »Angriff auf Bayeux einstellen!« erreichte die ehemaligen deutschen Afrikakämpfer gerade, als sie sich über ihren gelungenen Vormarsch freuten. Es wurde später berichtet, daß sie sich über den Rückzugsbefehl ärgerten. Uns rettete er wahrscheinlich das Leben: Unser Geländeabschnitt war durch die Regruppierung der Heeresdivision Panzer-Lehr im Raum Tilly einstweilen ohne taktische Bedeutung geworden.
Von alledem hatten wir am 10. Juni 1944 keinen blassen Schimmer, obwohl gerade die Helligkeit am Himmel der wichtigste Anhaltspunkt bei unserer armseligen Lagebesprechung in der Früh gewesen war. Diesen 10. Juni erlebten wir voller Unruhe, gefüttert mit einer Menge widersprüchlicher Nachrichten, die Boten ab und zu aus allen Richtungen brachten. Es waren einzelne Arbeiter, die, froh überlebt zu haben, nach ihrer Fabrik Ausschau halten wollten. Sie übermittelten auch laufend neue Todesmeldungen. Die Eltern hörten Namen von Verstorbenen aus der ganzen Umgebung, die sie gekannt hatten. Manche der Toten waren auch uns Kindern bekannt, ihre Gesichter uns vertraut, und wir erschraken über jede Meldung. An viele konnten wir uns jedoch nicht erinnern. Es war, als würden wir diesen Verstorbenen Unrecht tun, indem wir sie vergessen hatten, bevor sie gestorben waren. Wir erfuhren auch, daß eine Trauerfeier für die 22 Toten von Trevieres am nächsten Tag in der nur noch zur Hälfte bestehenden Kirche der kleinen Gemeinde stattfinden sollte. Trevieres, die fröhliche Ortschaft an den drei Flüßchen, war nahezu zerstört.
Plötzlich hörten wir von draußen eine Stimme, die uns bekannt vorkam und unseren Vater schnell die Treppe erklettern ließ. Oberhalb der Böschung gab es eine freudige Begrüßungsszene. Der Gerettete jeder Neuankömmling verdiente eigentlich diese Bezeichnung war ein älterer, sehr tüchtiger Facharbeiter. Ich ging nach oben und beobachtete, wie die beiden Männer, bereits miteinander fachsimpelnd, sich entfernten und den Weg zu den Fabrikationsgebäuden einschlugen. Ich beneidete sie um ihre dringenden Aufgaben, die sie so sehr in Anspruch nahmen, daß sie alles andere vergessen konnten, ja sogar vergessen mußten. Ich verspürte eine fast unerträgliche Lust, ebenfalls wegzugehen. Ganz egal, wohin. Nur weg von diesem Haufen Erde, weg von diesem traurigen Loch!
Leicht, fast unwirklich, flog ein gelber Schmetterling, sehr bald von einem Artgenossen spielerisch verfolgt, an mir vorbei. Erstaunt, fast ungläubig, schaute ich ihnen zu, bis sie ins hohe Gras verschwanden. Die Luft roch leicht nach Honig. Ich atmete sie genüßlich mehrmals hintereinander ein. Dann stieg ich entschlossen die Lehmtreppe hinab.
»Michel, gib mir bitte die Leine von Okay! Der arme Hund braucht Auslauf«, sagte ich scheinheilig.
»Und du nicht?« konterte Michel.
Ich lachte unbefangen, wie seit langem nicht mehr.
»Komm doch mit, du Hellseher! Ich habe vorhin zwei Schmetterlinge gesehen, zwei Zitronenfalter!«
Okay zog wie ein Narr. Bald liefen wir hinter ihm her. Wir rannten, bis uns die Puste ausging.
»Es tut verdammt gut«, sagte Colette, die mit uns gelaufen war. Spät abends erzählt Papa:
»Im Werk haben die Dächer gelitten, aber es ist nichts Bedeutendes passiert. Die Bauern werden bald Milch anliefern wollen. Sobald es nötig wird, können wir arbeiten.«
Am 11. Juni, morgens gegen sechs Uhr, fuhren die ersten amerikanischen Panzer durch die Ortschaft Le Molay. Wir hörten sie. Sie rollten stundenlang. Ihre Anwesenheit wurde bald von Augenzeugen bestätigt. Weil die Eisenbahnlinie sich momentan wie eine unpassierbare Sperre auswirkte, bekamen wir jedoch keine Amerikaner zu sehen. Das ärgerte uns. Wir hatten es endgültig satt, passiv in unserem Erdloch warten zu müssen.
Zum erstenmal seit der Landung frühstückten wir zu Hause; in der Küche zwar und im Stehen, damit es rascher ging. Wie Soldaten, dachte ich. Anschließend bezog jeder von uns hinter einem Fenster des Salons oder des Eßzimmers einen Posten. So verteilt, überblickten wir das ganze Feld, wo Ankömmlinge vorbei gehen mußten. Es schien uns lebenswichtig, die Ankunft der ersten Amerikaner nicht zu verpassen. Waren wir nicht sogar in der Lage, unnötige Schießereien zu vermeiden? Wir brauchten unseren Befreiern nur sofort kundzutun, daß das ganze Areal der Fabrik keine Gefahr für sie barg. Danach könnten wir die Soldaten durch das Gelände begleiten; es würde sie beruhigen. Ob wir ihnen Cidre oder Wasser anbieten sollten? Wir malten uns einen freudigen Empfang aus.
Daß wir Wache hielten, erwies sich als Glück, denn unsere erste Begegnung mit der amerikanischen Armee verlief ganz anders, als wir es erwartet hatten. Von einem Empfang keine Rede! Eher von einer Flucht, die wir gemeinsam ergriffen, als wir »ihn« mit gezogener Waffe in unser Haus stürzen sahen. Papa kam dieser Einzelgänger gleich verdächtig vor. »Schnell, aus dem Haus!« befahl er.
Wir hatten gelernt, auf kurze Anweisungen rasch und geräuschlos zu reagieren. Wir schlichen uns durch die hintere Tür in den Garten. Dort, gut versteckt, beobachteten wir bange unser Haus. Gutes, altes Haus! Kaum hatten "wir uns gefreut, es unversehrt wiederzufinden, schon mußten wir es diesem Mann mit dem Colt überlassen. Alles schien unwirklich, wie in einem schlechten Film. Wir fühlten uns in den Wilden Westen versetzt. Ein wenig peinlich war diese Geschichte auch: Jeder Rückzieher hat etwas Demütigendes an sich. Und doch, was blieb uns, waffenlos und ohne Sheriff, anderes übrig, als Reißaus zu nehmen?
Nach einer Weile trat der Mann, leicht torkelnd, durch den Haupteingang ins Freie. (Daß wir, kaum zu Hause, gleich drei Haustüren offen gelassen hatten, war typisch für uns, dachte ich.) Der Amerikaner, nach vorne gebeugt, schaute um sich, bereit zu schießen. Seine Handwaffe, die uns erschreckt hatte, war ein mächtiger Trommelrevolver, ein filmgerechter Colt, wie wir ihn bei keinem Armeeangehörigen jemals gesehen hatten. Der Soldat taumelte langsam in unsere Richtung war er betrunken? -, dann drehte er plötzlich nach links ab und verschwand um die Hausecke. Keiner kam nach. Wir atmeten auf. Daß unser Revolverheld allein zur Jagd ausgezogen war, hatte seine guten Gründe. Wir merkten es bald. Der Kerl hatte alle Geldscheine an sich genommen, die auf dem Schreibtisch von Papa gelegen hatten, einschließlich der in den USA gedruckten Francs, das Geschenk der amerikanischen Gefangenen. Unser Vater war wütend:
»Der Schuft! Ausgerechnet unsere Porte-bonheurs!«
»Hat er viel Geld geklaut?« fragte Michel.
»Nicht die Welt«, antwortete Papa, »unsere Francs sind ersetzbar, die Scheine der Amerikaner aber nicht. Sie waren für mich Zeugen einer Nacht, die ich nicht vergessen will.«
Nach dieser Erklärung ging er arbeiten.
Das Papiergeld »made in USA« erlitt übrigens bald Schiffbruch, und zwar auf eine lustige Weise. Weil die Normannen kein Vertrauen in die neuen Geldscheine hatten, benützten sie diese, um ihre Steuern zu bezahlen! Die schlaue Idee machte bald die Runde. Man stand in Bayeux beim Finanzamt Schlange. Daraufhin fand in dem seit dem 14. Juni als Hauptstadt fungierenden Bayeux ein Treffen der alliierten »Civil Affairs« mit den Finanzbehörden statt. Die Alliierten versprachen am 25. Juni die USA-Scheine gegen echte französische Francs umzutauschen.
Wir besaßen damals ein beglückend kurzes Gedächtnis über erlebte Schrecken und legten eine naive Sorglosigkeit, die nachträglich leichtsinnig erscheinen mag, an den Tag. Vom totalen Krieg überrascht, dachten wir immer noch in Friedensvorstellungen und suchten im reißenden Strom der Ereignisse Halt in beständigen Dingen. Wir blieben nach unserem unterirdischen Leben und unserer halb gelungenen Befreiung verwundert, zaghaft in unseren Schritten und in unseren Gedanken, die Freiheit unseres Tuns nicht mehr gewöhnt.
Wir erforschten das Haus Zimmer für Zimmer wie ein vergessenes Reich. Der Hund schlief selig auf seinem Kissen in der Diele. Ich stieg die Treppe hoch und ging zu dem großen Zimmer, nach Osten gelegen, das Colette und ich als Schlafzimmer benützten. Jede von uns hatte dort ihren Bereich. Ich blieb an der Schwelle stehen. Die vertraute Tapete dieses Kinderzimmers mit den oft betrachteten Mustern in Pastellfarben wirkte beruhigend. Die Möbel, ehemals von Mama mit Liebe bemalt, schienen mir in ihren zarten Farben auf einmal kindisch; warum dieser rosa Streifen am Rand? Die rechte Tür unseres großen Kleiderschrankes quietschte vertraut; alles war noch an seinem Platz. Ich legte mich auf mein Bett. Einige Stellen der Tapete waren in Reichweite mit harten Gegenständen bekritzelt worden. Diese Erinnerungsmerkmale meines Tatendranges während irgendeiner Kinderkrankheit muteten mich plötzlich wie ein unfaßbarer Frevel an. Wie konnte ich so etwas jemals getan haben? Seltsam. Mit der vertrauten, intimen Umgebung meiner ersten Lebensjahre stimmte etwas nicht mehr. Alles war gleich geblieben und doch... Wie lange waren wir fort gewesen? Scheinbar eine unmeßbare Ewigkeit.
Colette kam herein und blieb, wie ich vorher, an der Tür stehen.
»Da bist du!« sagte sie. »Ich habe dich gesucht.« Und nach einer Weile: »Was meinst du? Sobald alles vorbei ist, könnte man eigentlich die Tapete hier wechseln lassen.«
Ich lachte.
»Genau das Gleiche habe ich vorhin gedacht.«
Wir gingen an jenem Abend alle früh ins Bett. Es war eine seltsame Leere in uns. Wir fühlten uns sehr müde. Unsere erste Nacht wieder zu Hause... Ich schlief unruhig wie ein Erwachsener, der sich mit zuviel Gedanken quält. Die Stille war sonderbar. Sie zwang mich zu horchen. Plötzlich drehte sich Colette in ihrem Bett um, dann lag sie wieder ruhig. Ich hörte die Eltern nebenan in dem Zimmer, wo ich an einem 3. Februar geboren war ununterbrochen reden. Eine merkwürdige Nacht.
Ich glaube, die Angst hatte zu lang mit uns geschlafen, als daß wir diese Begleiterin unserer Träume so schnell hätten vergessen können. Wir wurden nacheinander von ihr heimgesucht. Sogar unsere weichen Betten schienen uns unbequem. Wir wachten plötzlich auf, irgendwie erstaunt, uns nicht angestoßen zu haben. Zu oft, bei jeder ungewollten Bewegung auf der harten Holzpritsche hatten wir in unserem engen Lager im Schutzgraben den anderen gespürt. Was uns anfangs als befremdende Nähe erschienen war, hatte sich zu einer beruhigenden, notwendigen, schutzbedeutenden Tuchfühlung entwickelt.