Wir durchbrechen unsere Isolation, indem wir über sie sprechen

Früher, bevor es die Frauenbewegung gab, war mein Leben in zwei Teile geteilt.
Auf der einen Seite meine Arbeit und meine politischen Aktivitäten; die Aktions- und Schulungsgruppen, an denen ich teilnahm. Auf der anderen Seite mein Privatleben, Beziehungen, Emotionen. Innerhalb der Aktionsgruppen kamen die Beziehungen und Emotionen nicht zur Sprache. Sich über persönliche Probleme auszulassen, galt als kleinbürgerlich, als politisch nicht relevant. In dem Bereich, der mein Privatleben ausmachte, wußte ich nicht, was ich mit der ganzen linken Ideologie anfangen sollte. Da ging es immer um andere, um Arbeiter. Antworten auf meine Fragen bekam ich dort nicht. Allenfalls wurde gesagt, daß die menschlichen Verhältnisse sich nach der Revolution schon von selber veränderten. Ich hatte nicht das Gefühl, darauf warten zu können. Ich mußte letztlich auch noch imstande sein, dieses Dasein zu überleben.
Während einer der Krisen in meinem Leben bekam ich Kontakt zum etablierten therapeutischen Beratungsdienst, dem Institut für medizinische Psychotherapie (I.M.P.) und dem medizinisch-pädagogischen Büro (M.O.B.), sowie zu den frühen Vorläufern der ersten Gesprächsgruppen. Diese zwei Erfahrungen stan den sich diametral gegenüber, aber zu der Zeit konnte ich mit dem Gegebenen noch nicht so gut umgehen. Das I.M.P. ließ ich fallen. Beim M.O.B. stümperte ich mich so durch. Inzwischen gelangte mein Dasein — hervorgerufen durch den Bewußtwerdungsprozeß, den ich in den Gesprächsgruppen durchmachte — in einen ganz und gar anderen Erfahrungsbereich hinein. Innerhalb der Gesprächsgruppen setzten wir uns stark gegen Erfahrungen ab, die viele von uns in den Händen »berufsmäßiger« Therapeuten und Sozialarbeiter gesammelt hatten. Den Einwand, daß Gesprächsgruppen Therapiegruppen sein sollten, wiesen wir empört zurück. Blicke ich heute, fünf Jahre später, zurück, denke ich anders darüber. Die Gesprächsgruppen und was danach kam, sind die aufbauendsten Einflüsse in meinem Leben gewesen, mehr als die Kontakte mit den offiziellen Therapeuten. Inzwischen hat die Frauenbewegung sich weiterentwickelt. Es gibt nicht nur die »reinen« Gesprächsgruppen neben der mehr strukturellen Arbeit, die Aktions und Interessengruppen. Es findet eine Integration statt: In allen Formen der Arbeit mit Frauen, die auf Selbstorganisation gerichtet sind, finden wir Gesprächsgruppenelemente wieder. Manchmal spontan entstandene, manch mal bewußt gehandhabte. Eine weitere Auswirkung dessen, was einst in Gesprächsgruppen stattfand, zeigt sich in der »Feministischen Radikalen Therapie« (F.R.T.-Gruppen oder auch FORTFeministische Übungsgruppen auf der Basis Radikaler Therapie genannt). Und Bewußtwerdung findet ebenso durch unsere eigene Öffentlichkeit, durch feministische Bücher, Artikel, Video- und Fernsehprogramme statt, die den gleichen Effekt haben können; sie zeigen: Frauen stehen nicht allein, Probleme sind nicht allein individuelle Probleme. In diesem Artikel (ursprünglich als Skript im Rahmen meiner Studien der Erwachsenenbildung geschrieben) will ich der Bedeutung nachspüren, die die Gesprächsgruppen für mich hatten, und betrachten, wie sich die »etablierte Therapie« zum heilenden Effekt eines Bewußtseinsprozesses verhält.

Die grauen Anzüge

Ich melde mich beim I.M.P. an, weil ich unglücklich bin.  Ich befinde mich in einer Krisensituation: Entlassung, politisch heimatlos, zerbrochene Beziehung. Ein Vakuum, keine echten Freunde, ein Gefühl von Sinnlosigkeit. Ich habe das unsichere Gefühl, daß alles meine eigene Schuld ist. Ich habe wirklich mein Bestes getan, mache aber alles verkehrt (denke ich), denn andere Menschen sind sicher glücklich (denke ich).
Einführungsgespräch. Ein Mann in grauem Anzug (die drei Herren, denen ich beim I.M.P. begegnet bin, verschmelzen zu einem Bild; ich würde keinen von ihnen wiedererkennen, sollte ich sie je auf der Straße treffen).
Er stellt Fragen, ich versuche stockend, sie zu beantworten. Er sagt »hm« und »ja«, macht Notizen. Ich habe keine Ahnung, ob er begreift, was ich meine. Ich sage »Sie« zu ihm, was ich schon seit Jahren nicht mehr zu irgendwem gesagt habe. Am Ende des Gespräches will ich fragen, ob ich verrückt genug bin, um Hilfe zu bekommen,mein, aber wage ich es nicht. Er sagt, es gäbe Gründe genug, anzunehmen, daß ich mich in Schwierigkeiten befinde; erklärt, wo sachkundige Hilfe in Anwendung kommen könne, daß noch eine Anzahl Gespräche folgen werde, um zu bestimmen, welche Form von Therapie für meine Probleme am besten geeignet sei. Briefliche Anfrage, ob ich zu einem anderen Mann in Buitenveldert gehen will. Der ganze Raum eierschalfarben. Plexiglastische mit teuren Kunstbüchern. Anspruchsvolle Radierungen an der Wand. Seine erste Frage ist, wie meine Wohnsituation aussieht. Ich will es ihm ausführlich und in aller Breite erzählen, denn Wohnen in einer 1 1/2-Zimmer-Wohnung mit einem lebhaften Kind ist in der Tat ein großes Problem — aber er schneidet mir das Wort ab. Es war nur eine Routinefrage, um mir über mein Unwohlsein hinwegzuhelfen. Dann kommt die richtige Arbeit. Tintenkleckse. Ich sehe nur Fledermäuse, aber will ihn nicht enttäuschen und erfinde ab und zu etwas anderes. Dann Bilder, zu denen ich Geschichten erzählen muß. Ich komme in eine Kicherstimmung, denn während ich meine Geschichten erzähle, sehe ich sein Gehirn beinahe ticken und meine Sätze in die vorprogrammierten Kanäle rutschen, damit sie auf der anderen Seite als Diagnose wieder herauskommen. Auch er sagt nicht viel anderes als »hm« und ,»ja«. Dann noch ein paar Fragen, die er von einem Papier abliest. Er hüllt sich in langes Schweigen. Ich kenne das aus der Zeit, als ich Jugendarbeit machte, lasse mich nicht nervös machen und schweige ebenfalls, wenn ich nichfs zu sagen habe. Wiederholt versucht er, mich mit einem Kopfnicken und dem Zukneifen seiner Augen zu ermuntern. Er tut dies so häufig, daß es fast wie Nervenzucken aussieht. Als meine Zeit herum ist, bekomme ich eine Liste mit über hundert Fragen mit, die ich nur mit , ja« oder »nein« beantworten darf. Z.B. ob ich Stimmen höre, Angst vor Spinnen habe, ob ich mich schon mal von Menschen meines Geschlechts angezogen fühle? Sie hören noch von uns, sagt er mir beim Weggehen. Ich traue mich nicht zu fragen, was er von meinem Fall hält.
Der nächste Mann. Drei Gespräche muß ich mit ihm vor der Anamnese führen. Ein junger Mann mit fast leerem Gesicht. Ich frage mich, ob er jemals in seinem Leben etwas durchgemacht, ob er überhaupt eine Vorstellung davon hat, wie ein Mensch sich nach dem fühlt, was ich mitgemacht habe. Er ist der erste, dem ich mein Mißtrauen gegen Sozialarbeiter erkläre. Daß ich nicht an wertfreie Therapie glaube, daß ich eigentlich erst wissen möchte, wie er über einige Dinge denkt. Er sagt, das sei nicht notwendig; in den Methoden, die sie benutzen, seien die Ideen derer, die helfen, nicht wichtig. Und außerdem bekomme ich meine endgültige Behandlung nicht durch ihn, sondern eine andere, noch zu bestimmende Person.
Er stellt Fragen. Meine Jugend. Meine Eltern. Ob ich früher zu meinem Bruder ein Konkurrenzverhältnis hatte? Dann weiter, ob ich beim Zusammensein Schwierigkeiten habe, zum Höhepunkt zu kommen? Ich versuche, Antworten zu geben, habe aber dauernd das Gefühl, daß die Fragen nicht das berühren, um was es eigentlich geht. Ich fühle hinter seinen Augen ein Interpretationsschema, das nicht angesprochen wird. Ich möchte ihn fragen, warum er wissen will, ob ich zu meinem Bruder ein Konkurrenzverhältnis hatte, was das für ihn bedeutet, aber ich traue mich nicht. Ich denke nach der ersten Sitzung, warum er nicht direkt fragt, was er wissen will, er braucht doch nicht auf listige Art an seine Informationen zu kommen. Das ist doch kein Verhör, ich bin doch offen genug, ihm zu erzählen, um was es geht.
Jedesmal, wenn ich weggehe, bin ich erschöpft und depressiv. Es kostet mich entsetzlich viel Energie, ohne daß es — aufweiche 18 Weise auch immer — mein wirkliches Leben berührt. Ich habe das Gefühl, die Erfahrungen, die ich erzähle, werden schematisiert, vereinfacht in einem Ausmaß, daß sie nicht mehr wahr sind. Dann verstehe ich, warum die Sitzungen mich soviel Energie kosten. Ich bin fortwährend mit dem Versuch beschäftigt, einen Sprung in seine Maske zu bekommen. Als er in der dritten Sitzung einmal über eine meiner Formulierungen lacht, habe ich fast ein triumphierendes Gefühl. Er lebt! Ich bin so sehr damit beschäftigt, ihm ein bißchen Wärme zu entlocken, ein bißchen normalen Kontakt zu ihm herzustellen, daß ich mehr an ihm als an mir arbeite.
Inzwischen bin ich in eine Gesprächsgruppe gegangen. Ich bespreche mit den Frauen in der Gruppe meine Gefühle in bezug auf meinen Therapeuten. Ich sehe diese drei graugekleideten Männer zusammensitzen, um mit ihren Gutachten auf dem Tisch eine Diagnose über mich zu erstellen. Sie wissen nichts von mir, nichts, sage ich. Wie können sie mich kennen, wenn sie systematisch die verkehrten Fragen stellen?
Schreib ihnen doch einen Brief, in dem du ihnen das erklärst und ihnen mitteilst, daß du davon absiehst, schlägt eine der Frauen vor. Ich schreibe einen ausführlichen Brief, wie ich die Gespräche empfunden habe. Bekomme einen sachlichen, aber säuerlichen Brief zurück, sie hofften nur für mich, daß ich keine Therapie mehr brauchen werde; und die Anfrage, ob ich die Fragenliste zurückschicken könnte, weil sie sonst die Anfangsphase nicht abschließen könnten und kein Geld für die Arbeit bekämen, die sie an mir geleistet hätten.

Gesprächsgruppenerfahrung

Meine Erfahrungen in der Gesprächsgruppe sind zu komplex, um sie einfach so darzustellen. Wir sprachen über alles: chaotisch, assoziativ. Ein Reichtum an Erfahrungen, der auch bei mir da war, wurde offengelegt und Verbindungen aufgezeigt, die ich nicht vermutet hatte. Buchstäblich eine andere Art zu sehen, nicht nur masochistisches Rumwühlen in meinem eigenen Versagen, meinen Schuldgefühlen, sondern Suchen nach den Gemeinsamkeiten in unseren Erfahrungen. Einfälle:
Wir entdecken, daß wir in unseren Beziehungen wählen müssen. Zwischen dem, für uns selbst verantwortlich zu sein und das zu tun, was wir selbst wichtig finden, und der Anpassung an das Bild von der Freundin/Gattin. Wenn wir unsere Erfahrungen mit Männern aufzählen, kommen wir zu der Entdeckung, daß wir nur ganz wenige Männer kennen, die es ertragen können oder besser, die Spaß daran haben, in einer Beziehung mit einer Frau zu leben, 19 die stark und selbständig ist, die ihren eigenen Weg geht. Oder richtiger, um ehrlich zu sein, wir kennen keinen.
Damit wurde ein Teil meiner Probleme relativiert. Ich habe ein starkes Bedürfnis, mich weiterzuentwickeln, stark zu sein (ich muß wohl stark sein, um mit einem Kind und einem so geringen Gehalt existieren zu können), selbständig zu sein. Gleichzeitig fühle ich mich ohne eine feste Beziehung einsam. Alle Frauen in der Gruppe sitzen irgendwo zwischen diesen beiden Interessen, ohne daß irgendeine dafür eine richtige Lösung weiß. Einige lernen, allein zu leben. Einige passen sich an und gestehen sich selbst nicht mehr als soviel Selbständigkeit zu, wie ihr Freund verkraften kann (im Laufe der Gesprächsgruppe überlebte nur eine Beziehung).
Deutlich wurde jedoch, daß es keine individuelle Lösung für dieses Dilemma gibt, das eine Tradition der Frauen darstellt, die auf der einen Seite zu einem Mann aufschauen, auf der anderen Seite das Bedürfnis nach Selbständigkeit haben. Damit verfällt der krampfhafte Versuch, doch das unmögliche Ideal des flotten Reklame-Girls zu sein, der Versuch, gleichzeitig ein eigenes Leben zu führen und dem interessanten, dunklen Mann zu Füßen zu liegen.
Und was mit dieser Einsicht verschwindet, ist ein Stück Rivalität. Wenn wir hören, welchen Preis Frauen bezahlen, um ihre Beziehung aufrechtzuerhalten, sind wir nicht mehr eifersüchtig. Wenn wir hören, welchen Preis an Einsamkeit die anderen Frauen für ihre Freiheit bezahlen, ist auch das ein bißchen weniger beneidenswert.
Wir werden uns über die Art bewußt, wie wir uns selbst sahen: ein Taxieren durch Männeraugen. Unser Körper, an dem nichts Gutes ist. Sogar Frauen, die wir ohne weiteres für schön halten, haben ihre geheimen Komplexe; Beine, die sie zu behaart finden und deshalb verstecken, Körpergerüche, die sie nicht mögen.
Wir entdecken, daß wir das, was Männer von uns hielten, wichtiger fanden als das, wie wir uns selbst sahen. Wir fanden Urteile von Männern wichtiger als die von Frauen. Damit gaben wir auch zu, daß wir eigentlich wenig Selbstachtung hatten, aber indem jede von uns das erzählte, wurde es immer weniger wahr.
Ich merke, daß ich noch nie ein wirkliches Interesse an anderen Frauen gehabt habe, daß ich ohne weiteres davon ausging, Männer seien interessantere Menschen als Frauen. Aber jetzt schaue ich auf sie. Höre ihnen zu, sehe im Spiegel ihrer Erfahrungen mich selbst. In dem Maße, in dem ich sie immer mehr liebe, bekomme ich meine Selbstachtung zurück. Es setzen sich Wogen von Wärme frei, die sich in ihrer Intensität nicht von Anfällen von Verliebtsein unterscheiden. Indem wir über Isolation reden, heben wir unsere Isolation auf. Indem wir über die Weise, in der wir gespalten werden (geteilt in schön und häßlich, jung und alt, verheiratet und ledig, Hausfrau und lohnarbeitende Frau), reden, heben wir diese Spaltung auf.
Wir stützen uns gegenseitig in schmerzlichen Phasen. Wir haben alle noch den Tick vom Märchenprinzen im Hinterkopf, heimlich warten wir alle auf die Erfüllung des Traums einer idealen Beziehung, denken nicht an das, was wir für uns selbst tun können. Illusionen aufzugeben ist schmerzhaft. Wir wissen noch nicht so genau, was wir dafür zurückbekommen. Schritt für Schritt durchgehen wir Phasen der Angst, in denen uns Panik vor der Zukunft packt; kein Festklammern mehr an vertraute Träume; Angst vor dem Alleinsein, solange wir noch nicht ausreichend Vertrauen in das haben, was andere Frauen uns geben können. Ein Gefühl des Nicht-mehr-zurück-Könnens, doch auch nicht wissen, was danach kommt. Und eine realistische Beurteilung davon, wie es ist, als emanzipierte Frau in einer Gesellschaft zu leben, die den Frauen, die sich nicht an die herrschenden Regeln halten, feindselig gegenübersteht.
Wir entdecken, daß die Eigenschaften, die »draußen« unsere größte Schwäche waren: unser Übermaß an Verständnis, an Einfühlungsvermögen, sich als eine Kraft erweisen, nun, da wir sie nicht mehr allein für Männer und Kinder einsetzen, sondern für einander.

Die freundliche Sozialarbeiterin

Mein Sohn hat Schwierigkeiten in der Schule. Er ist nachlässig und unkonzentriert. Er kommt oft zu spät, ist lebhaft in der Klasse, steckt die anderen Kinder an, die auch nicht mehr ordentlich aufpassen wollen. Ich habe Angst, daß er von der Schule geschickt werden wird. Wenn ich mal wieder auf einem Elternabend zur Rede gestellt werde und mir suggeriert wird, daß ich vielleicht bei den Erziehungsschwierigkeiten meines Kindes Hilfe brauche, erzähle ich, daß ich schon mit dem M.O.B. Kontakt aufgenommen habe. Ich verstecke mich dahinter, denn ich habe schon so genug von den fortwährenden Anspielungen, daß ich als Mutter versage, weil ich allein wohne und einen Job habe, wodurch ich während der Mittagszeit nicht zu Hause bin.
»Frau Meulenbelt, das ist nun einmal die Konsequenz einer bestimmten Lebensart", hat die Rektorin einmal zu mir gesagt, als ich wütend anrief, weil mein Sohn nicht zur Nachhilfegruppe zugelassen worden war, da ich ein Formular zu spät ausgefüllt hatte. Die Leute an der Schule helfen mir nicht. Sie geben mir das Gefühl, mich nur dann zu akzeptieren, wenn ich »Schuld« bekenne, wenn ich Mitleid errege und in Weinen ausbreche und erzähle, wie schwer ich es als alleinstehende Frau habe. Ich fühle mich nicht bedauernswert, habe nicht das Gefühl, mich für meine Lebensweise entschuldigen zu müssen. Das M.O.B. benutze ich, um mich verteidigen zu können, ich will mich hinter dessen Sachkundigkeit verbergen können. Schon allein die Tatsache, daß ich Hilfe in Anspruch nehme, macht aus mir eine »bessere«, verantwortungsbewußtere Mutter.
Die Einführungsgespräche sind nicht unangenehm. Die freundliche Frau sagt sofort, daß es keine idealen Eltern gibt, daß Schuldgefühl niemand hilft. Mein Sohn wird von einem Psychiater untersucht. Was hat er dich gefragt? will ich wissen, als ich ihn abhole. Er fragte, ob ich wohl manchmal mit dir spiele, und dann habe ich gesagt, daß du nie Lust dazu hast, sagt mein Sohn mit Genugtuung. Ich fühle mich sofort wieder schuldig. Es gehört sich für Mütter, mit ihren Kindern zu spielen. Ich versage.
Gespräch bei einem Neurologen. Kleine Frau, Ihrem Sohn fehlt nichts, es gibt keinen physischen Grund, daß er ein bißchen überaktiv ist. Wenn er so bleibt, könnten wir ihm eine Amfetaminekur geben. Ich rate Ihnen, so schnell wie möglich zu heiraten, um dem Jungen einen stabileren Hintergrund zu geben.
Nach den Einführungsgesprächen das Ergebnis. Die Schwierigkeiten, die mein Sohn in der Schule hat, haben mit seiner häuslichen Situation zu tun. Zuviel Unruhe, zuwenig Aufmerksamkeit. Logisch, denke ich, ich wußte ja, daß es meine Schuld ist. Unruhe in meiner Arbeit, in meinen Beziehungen, in meiner Wohnsituation. Das M.O.B. schlägt vor, eine Reihe von Gesprächen mit mir anzufangen, um zu sehen, ob sie mir helfen können. Ich gehe darauf ein.
Ein Jahr oder länger gehe ich einmal in der Woche oder alle zwei Wochen zum M.O.B. und habe ein Gespräch mit meiner Sozialarbeiterin. Ich finde sie nett. Wir durchwühlen alle Unsicherheiten meines Lebens. Sie ist nicht unempfindlich gegenüber der Tatsache, daß viele meiner Unsicherheiten mit meinen materiellen Umständen, dem schlechten Wohnraum, dem Überarbeitet-Sein, den unregelmäßigen Einkünften zu tun haben. Ich versuche selbst, die Umstände zu verändern. Inzwischen kommen die Gespräche immer wieder zurück auf den Mangel an Aufmerksamkeit, unter dem mein Sohn leidet. Ich sehe auch ein, daß sein allzu lebhaftes Verhalten mit der Tatsache zu tun hat, daß er noch lieber negative Aufmerksamkeit als überhaupt keine bekommt. Ich verstehe, daß es mehr an mir liegt als an ihm.
Ich finde die Sozialarbeiterin nett. Ich merke, daß ich sie nicht gerne enttäuschen will. Bevor ich zum M.O.B. gehe, denke ich nach, ob etwas gut gegangen ist. Ich biete ihr es als kleines Geschenk an. Dieses Wochenende bin ich den ganzen Sonnabend mit meinem Sohn im Vondelpark gewesen oder: ich habe ihm zweimal bei seinen Hausaufgaben geholfen. Als sie mich nach einem halben Jahr fragt, ob ich etwas von den Gesprächen habe, sage ich ja, ohne darüber nachzudenken. Auf dem Nachhauseweg zweifle ich daran. Vielleicht bleibe ich bei den Gesprächen, weil ich mich von einem Teil meiner Schuld loskaufe, indem ich zeige, daß ich mich ernsthaft mit dem Problem beschäftige. Ich spüre, daß mein Schuldgefühl nicht verschwunden ist, im Gegenteil. Wie taktvoll es die Sozialarbeiterin auch sagt, dauernd wird mir unter die Nase gerieben, ich sei die Ursache dafür, daß mein Sohn es schwer hat. Wie oft sie auch sagt, daß es keine idealen Eltern gibt, indem sie das Gespräch immer wieder auf Möglichkeiten zurückführt, meinem Sohn mehr Aufmerksamkeit zu geben, wird eine gegenteilige Botschaft ausgesandt. Ich tu' nicht genug für ihn, ich versage. Sie selbst hat keine Kinder. Ab und zu beschleicht mich das Gefühl, daß sie nicht wirklich weiß, wie es ist, mit einem Kind in einer Anderthalbzimmer-Wohnung zu sitzen und gleichzeitig zu studieren und dann noch eine unangenehme Arbeit machen zu müssen, um Geld zu verdienen. Ich merke, daß ich bei ihr fortwährend betone, wie sehr ich mein Kind liebe, und andauernd kleine Beweise dafür anführe. Nach einem Jahr platzt eine Verabredung. Statt eine neue zu treffen, lasse ich es laufen, »vergesse« es. Fühle mich schuldig, als ich einen Brief von ihr erhalte, worin sie fragt, ob ich das Bedürfnis hätte, noch einmal vorbeizukommen — als hätte ich sie im Stich gelassen. Bin erleichtert, als sie selbst vorschlägt, den Kontakt abzubrechen, indem sie sagt, daß es nun doch viel besser gehe und ich zurückkommen könne, wenn es noch einmal Schwierigkeiten gebe.

Erfahrungen in Gesprächsgruppen

In meiner ersten Gesprächsgruppe bin ich die einzige Frau mit einem Kind. Meine Mutterschaft kommt nicht zur Sprache. Mit einer Anzahl von Frauen aus anderen Gesprächsgruppen haben wir die Weihnachtsferien auf einem Bauernhof organisiert. Es gibt viele alleinstehende Frauen, die depressiv werden, wenn sie allein mit ihren Kindern die Weihnachtstage zu Hause verbringen müssen. Es gibt einen Weihnachtsbaum, die Kinder finden es herrlich und beschäftigen sich miteinander, die Mütter haben füreinander und für sich selbst Zeit.
Die ersten Gespräche über Mutterschaft mit Frauen, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich. Corry, die zwei kleine Kinder hat, sagt, sie sei die Woche zuvor wegen des Trubels, den die Kinder machten, so aggressiv gewesen, daß sie den Drang verspürte, sie über den Balkon zu schmeißen. Mein Mund steht offen. Das darf man doch nicht sagen. Eine andere Frau erzählt, wie sie ihr Kind ab und zu haßt. Sie spricht über eine Erfahrung, die ich völlig wiedererkenne. Sich den ganzen Tag anstrengen, eine liebevolle, interessierte Mutter zu sein: dem Kind zu essen gegeben, geduldig und pädagogisch verantwortlich gewesen, zusammen das Spielzeug aufgeräumt, geschmust vor dem Ins-Bett-Gehen, vorgelesen, ins Bett gebracht. Dann endlich mit einem Seufzer ein Buch nehmen — und in dem Moment kreischt es aus dem Schlafzimmer: Mama, ich kann nicht schlafen. Wie in diesem Augenblick deine ganze pädagogische Geduld schwindet und du nur noch denkst, wenn es jetzt seine Schnauze nicht hält, ermorde ich es.
Wir reden bis tief in die Nacht über das Gefühl, ein Kind allein zu erziehen. Inzwischen nehmen die Kinder in den Schlafzimmern alles Mögliche auseinander. Aber das ist zum Glück außer Hörweite, und wir kümmern uns nicht darum. Ich höre mich Sachen sagen, die ich nie laut gesagt, noch nicht einmal laut zu denken gewagt habe. Wie mein Sohn eine Antenne dafür entwickelt, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sobald ich mich auf mein Studium konzentriere, auch wenn er nur ununterbrochen gegen das Tischbein tritt. Wie ich ab und zu vor Zorn rot sehe und nur noch denke: Ich wollte, er fiele auf der Stelle tot um.
Wundert es dich, daß du das manchmal denkst? fragt eine andere Frau. In so einem Moment habe ich ihm schon mal einen Klaps gegeben, du noch nicht einmal. Und eine andere Frau sagt: Wir erkennen noch nicht klar genug, daß der Auftrag nicht taugt. Niemand würde es komisch finden, wenn man völlig zusammenbrechen würde, wäre man Tag ein Tag aus mit einem Schwachsinnigen in einem Käfig eingeschlossen, aus dem man nicht heraus könnte. Aber jeder findet es merkwürdig, wenn du dein Kind ab und zu anspringen könntest, während das doch fast das gleiche ist. Wie viele Männer machen das, was du machen mußt? fragt mich eine andere Frau. Arbeiten und studieren und ein Kind erziehen? Kennst du eine Mutter, die ihr Kind nicht ab und zu haßt?
Ein Gewicht fällt von mir, buchstäblich. Eigentlich sagen die Frauen nichts anderes als die Sozialarbeiterin, doch ich nehme es ganz und gar anders auf. Es gibt keine idealen Eltern. Aber diese Frauen versuchen, mir zu sagen, daß ich besser mit dem Versuchen aufhören sollte, eine ideale Mutter zu werden. Daß ich mich nicht schuldig zu fühlen brauche, wenn ich einen Auftrag, den niemand auszuführen vermag, auch nicht lösen kann. Daß ich Aufmerksamkeit nicht aus den Fingern saugen kann, wenn ich die, nach einer doppelten Tagesaufgabe, einfach nicht habe. Daß ich das Recht habe, ein bißchen Zeit für mich selbst zu fordern, daß ich es nicht schaffen muß, eine freundliche Mutter zu sein, wenn er sich weigert, in seinem Bett liegen zu bleiben.
Damit sind die Probleme noch nicht gelöst. Aber die Richtung, in der ich sie suche, verändert sich. Ich gebe meinem Sohn weniger Gelegenheit, von meinem Schuldgefühl Gebrauch zu machen, sage deutlicher, jetzt will ich mit dir spielen, und nun mußt du mich in Ruhe lassen. Ich stehe mit beiden Beinen fester auf dem Boden, wenn ich mal wieder von der Schule Klagen in Empfang nehmen soll. Und gleichzeitig beginne ich, an einer praktischen Lösung zu arbeiten. Ich schließe mich einer Gruppe alleinstehender Frauen an, die gemeinsam mit ihren Kindern eine Wohngemeinschaft bilden. Dadurch, daß ich jede Woche ein paar Tage »frei« habe, vermag ich es an den anderen Tagen besser, wirklich anwesend zu sein. Anstatt ständig von neuem zu versuchen, Aufmerksamkeit aufzubringen, gehe ich mehr von meinen eigenen Bedürfnissen aus. Und dann zeigt sich überraschenderweise, daß ich es auf einmal schön finde, ihn zu sehen und etwas mit ihm zu machen, daß ich es nicht mehr als Pflicht auffasse, nachdem ich ihn zwei Tage kaum gesehen habe.

Entdeckungen

Ist es möglich, aus einigen dieser Erfahrungen Schlüsse zu ziehen? Über Gesprächsgruppen wage ich es, da ich meine Erfahrungen mit so vielen anderen Frauen teile, und wir darüber voneinander viel mehr wissen als über die Arten von Therapie, die weniger offensichtlich sind.
Mit den normalen Formen der individuellen Therapie habe ich wenig Erfahrung. Was ich darüber von anderen Frauen gehört habe, ist meistens viel negativer als was ich miterlebt habe. Valium — Psychiater, Therapeuten, die Frauen beschuldigen, zu dominierend und kastrierend zu sein, wenn sie versuchen, die häuslichen Aufgaben etwas besser zu verteilen, Familie — Therapeuten, die sich automatisch mit dem männlichen Ehepartner identifizieren. Die Mutter einer Freundin, die »Wechseljahresschwierigkeiten« hatte und sich von einem Psychiater erzählen ließ, Grund ihrer Probleme sei, daß sie ihre Weiblichkeit nicht akzeptiere, und jetzt Torten backt und ein flottes Kleid für sich selbst kauft. Therapeuten, die lesbische Frauen noch weiter in Schwierigkeiten bringen, indem sie ihnen nicht bei ihren Problemen mit der Außenwelt helfen, sondern insgeheim selbst die Homosexualität als Krankheit definiert haben. Nicht viel Gutes, kurz gesagt. Dennoch will ich hier davon nicht ausgehen. Lieber betrachten, was — genau — für mich in den Gesprächsgruppensitzungen heilend gewesen ist, was ich bei den Kontakten mit »richtigen« Therapeuten vermißt habe.
Ein anderer wesentlicher Punkt ist die Wärme, die in der Gesprächsgruppe entsteht. Erst später habe ich begriffen, daß das einer der Gründe war, weshalb ich mich in der Therapie so verfremdet fühlte. Es ist natürlich irrsinnig, mit jemandem über Kontaktstörungen zu sprechen, wenn ich in einem vollkommen kontaktgestörten »setting« sitze. Meine beiden Therapeuten waren ungefähr die letzten Menschen in meinem Leben, zu denen ich noch »Sie« sagte. Ich wußte nichts über sie. Daß wir vielleicht nicht nur über Einsamkeit reden, sondern auch zusammen ins Kino gehen und uns berühren könnten, war undenkbar.
In der Gesprächsgruppe hatten wir alle ein Bedürfnis nach Kontakten. Als wir es mal miteinander besprachen, zeigte sich, daß jede das Gefühl hatte, zuwenig Wärme zu bekommen. Daß es also für keine ein individuelles Problem war, sondern daß wir in einer Gesellschaft leben, in der die Bedürfnisse nach Wärme vornehmlich erlaubt und kanalisiert sind in heterosexuellen Zweierbeziehungen. Haben werdende Feministinnen mit derartigen Beziehungen Schwierigkeiten oder stellen sie gar in Frage, bleiben sie buchstäblich in der Kälte stehen. Viele von uns hatten das Gefühl, ohne die Gesprächsgruppe in ein Vakuum zu kommen. Und viele von uns vermuteten auch, daß, wären wir mit diesen Erfahrungen zu einem Therapeuten gekommen, wir auf unser individuelles »Unvermögen, Kontakte zu schließen oder Beziehungen einzugehen«, zurückgeworfen und unter Druck gesetzt worden wären, »unsere« Probleme mit Männern zu lösen. Statt dessen analysierten wir nicht nur, woher das Gefühl der Einsamkeit kam, wir arbeiteten gleichzeitig an Ort und Stelle an einer Alternative.
Wenn ich sage, daß ich in den Gesprächsgruppen lernte, einen Unterschied zwischen dem, was persönlich und dem, was politisch war, zu machen, dann ist das eine Vereinfachung. Denn die wichtigste Entdeckung war eigentlich, daß es nicht das eine oder das andere war, sondern daß es hauptsächlich um die Wechselwirkung dieser beiden ging. Wir haben die gesellschaftlichen Verhältnisse internalisiert. Die Normen, mit denen wir erzogen worden sind, so daß wir sie nicht mehr als von außen kommend wiedererkennen, sondern als »zweite Natur« erfahren: gesellschaftlich gesehen z.B. dominieren Männer als Gruppe über Frauen als Gruppe. Aber das ist nicht nur als ein Druck von außen her zu sehen. Innerhalb der Gesprächsgruppen entdeckten wir beispielsweise, daß wir unsere männlichen Partner unbewußt immer so aussuchten, daß sie grösser, älter waren und eine bessere Ausbildung oder Arbeit hatten, zumindest  aber zwei  dieser  drei Eigenschaften besaßen.  Wir schämten uns ein bißchen, wenn wir mit jemandem zusammen waren, der sowohl jünger war als auch eine schlechtere Ausbildung hatte; wenn er dann auch noch kleiner war, trauten wir uns gar nicht, es zuzugestehen. Unbewußt hielten wir also die Dominanz der Männer aufrecht, indem wir selbst dafür sorgten, daß in unseren Beziehungen ein subtiles Machtübergewicht blieb, über das wir dann wieder meckern konnten. Wir entdeckten, wo die Grenzen dessen sind, was Gesprächsgruppen zu leisten vermögen. In erster Linie war ich begeistert von allen Entdeckungen, die ich machte. Das Gefühl, daß ich nicht verrückt, nicht allein war. Das Gefühl, daß uns unsere Entdeckungen ermöglichten, auf eine ganz andere Art mit der politischen Arbeit zu beginnen, als ich es innerhalb der linken Gruppen gewohnt war. Überhaupt veränderte sich meine Definition von »Politik«. Die Gesprächsgruppe war nicht automatisch die Gruppe, um damit weiterzuarbeiten.
Nach einem Jahr hatten wir einander soweit durchforscht, daß unsere Wege sich zu trennen begannen. Manche Frauen wollten (vorläufig) ihre Energie dazu gebrauchen, sich auf die eigenen Füße zu stellen, sich mit ihren Beziehungen zu beschäftigen usw. Bei mir wurde eine gewaltige Menge Energie frei, die ich in der schnell wachsenden feministisch-sozialistischen Strömung gebrauchen wollte, weil ich aufhörte, um mein Schuldgefühl zu kreisen. Meine Bewußtwerdung ging ja weiter, dafür brauchte ich die Gruppe nicht mehr. Und außerdem, die Gruppe war ein ausgezeichneter Hintergrund, Sachen aufzudecken, aber mehr als darüber zu reden und einander moralische Stütze zu geben, konnten wir noch nicht.
Die Trennung zwischen dem, was wir Privatleben nennen, und dem mehr öffentlichen Teil unserer Existenz, von dem wir gelernt haben, daß es Politik ist, ist keine zufällige. Zaretsky (»Capitalism, the family and personal life") beschreibt, wie die Trennung zwischen der Produktionsund der Reproduktionsebene, zwischen Lohnarbeit und Hausarbeit und damit zwischen Arbeit und Freizeit, Arbeit und Wohnen, die Konsequenz der Entwicklung des Kapitalismus gewesen ist. Das Leben von Frauen spielt sich zum großen Teil im Privatbereich ab. Die Arbeit, die sie als Hausfrauen leisten, besteht aus der Versorgung anderer, aus »Beziehungen unterhalten« usw. Es spielt sich scheinbar alles außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse ab. Arbeiter kommen an dem Ort, an dem sie arbeiten und ausgebeutet werden, miteinander in Berührung. Frauen arbeiten isoliert voneinander. Ihre Probleme werden nicht als politische Probleme definiert, sondern als individuelle. Frauen neigen dazu, ihr Leiden und ihre Unzufriedenheit an ihren privaten Umständen festzumachen oder als ihren eigenen Fehler anzusehen. Und ob es nun Frauen aus oberen Schichten sind, die beim Therapeuten landen, oder ob es sich um Frauen aus den unteren Schichten handelt, die zu Sozialarbeiter/inne/n gehen, ist egal. Das Zurückgeworfen-Werden auf die eigene Verantwortlichkeit ist in fast allen Formen therapeutischer Behandlung systematisch verpackt. Selbst in den fortschrittlicheren Therapieformen findet sich kaum ein Niederschlag der Erkenntnis, daß individuelle Probleme nicht allein individuelle Probleme sind. Es gibt zahllose Erfahrungen von Frauen, zum Beispiel in der Gestalttherapie, deren Versuche, die Probleme zu verallgemeinern oder mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung zu setzen, als eine Flucht vor der eigenen Verantwortlichkeit abgetan wurden. So ist kaum verwunderlich, daß viele Frauengruppen den ganzen Kram — freudianische Psychiater wie beschränkte Therapeuten — über einen Kamm scherten und beschlossen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Was passiert nun eigentlich in einer Gesprächsgruppe?
1. Anhand eines Themas oder eines akuten Problems verwerten die Frauen ihre Erfahrungen. Dadurch wird als erstes bewirkt, daß Probleme »öffentlich« gemacht werden. Sie werden sichtbar und sind nicht mehr etwas, für das man sich schämen muß.
2.  Sie teilen ihre Erfahrungen anderen mit. Eine allgemeine Erkenntnis ist, daß jede Erfahrung mit irgendwem geteilt wird. Alle Frauen haben oder hatten Probleme mit der Sexualität, mit ihren Beziehungen zu Männern, mit der Hausarbeit und mit dem eigenen Körper. Erfahrungen bekommen einen Namen. Dadurch werden sie aus dem rein Individuellen herausgeholt. (So etwas passiert nicht nur in Gesprächsgruppen. Betty Friedans Buch über die »Krankheit ohne Namen«, an der Hausfrauen leiden, war lausenden von Frauen so vertraut, daß von einer Flut kollektiver Bewußtwerdung gesprochen werden konnte.
3.  Die Erfahrungen werden interpretiert, verallgemeinert, politisch übersetzt: Wenn so viele Frauen an der unmöglichen täglichen Doppelbelastung kaputtgehen, wenn es nur Frauen sind, die überhaupt solch eine Doppelbelastung auf sich nehmen, dann ist es keine Frage von individuellen Problemen, sondern von politischen. So wird die herrschende Ideologie entlarvt. Denn wir sind alle mit der Idee aufgewachsen, daß Frauen es einfacher haben, weil sie wählen können, ob sie arbeiten wollen, während Männer es müssen. Daß es dabei um eine Wahl geht zwischen:

  • a) Hausfrau zu sein, mit der Isolierung der Familie und der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit, oder
  • b) einen Beruf zu haben und keine Familie und die gesellschaftliche Einsamkeit, keinen Halt zu haben und als Gescheiterte angesehen zu werden, oder
  • c) eine aufreibende Kombination von Familie und Arbeit außer Haus, die den Frauen im Durchschnitt eine erheblich anstrengendere Arbeitswoche einbringt, als Männer sie haben,

stellen wir fest, wenn wir unsere Erfahrungen miteinander vergleichen und dabei zu dem Schluß kommen, daß diese Wahl keine einfache Lösung bedeutet, eine Wahl außerdem, die Männer gar nicht zu treffen brauchen.
Wenn Probleme scheinbar nicht individuell sind, sondern politisch, dann können sie auch nicht individuell gelöst werden, sondern dann müssen wir über die politischen Konsequenzen nachdenken — so ungefähr war die Haltung, wie sie in der ersten Phase der Gesprächsgruppen vertreten wurde. Es ist irreführend, Frauen zu suggerieren, daß ihnen das Glück in den Schoß fällt, wenn sie selbst nur ihr Bestes tun.

Sind Gesprächsgruppen eine Art Therapie?

Innerhalb der Therapie geht man davon aus, daß Frauen krank sind und daß eine Heilung möglich ist. Ich bin beleidigt, wenn Leute davon ausgehen, daß ich oder andere Frauen eine Therapie nötig haben. »Women are messed over, not messed up!« (Frauen sind nicht frustriert, sie werden frustriert!) Wir müssen unsere objektiven Lebensumstände verändern, statt uns an sie anzupassen. »Therapie ist Anpassung an deine schlechten persönlichen Lebensumstände«, sagt Carol Hanish in ihrem Buch »The personal is political«. Und Marilyn Zweig in »Is women's liberation a therapy group?« sagt: »Unser erstes Ziel ist nicht der Versuch, jeder einzelnen Frau zu helfen, individuelle Lösungen für ihre Probleme, die sie in ihrem Leben als Frau hat, zu finden. Wir sind fest davon überzeugt, daß lediglich eine Veränderung in den Lebensumständen aller Frauen uns helfen kann, für die Schwierigkeiten einzelner Frauen Lösungen zu finden.« Der Tenor in den ersten Artikeln über Gesprächsgruppen ist überall derselbe. Frauen wurde schon zu lange erzählt, daß sie verrückt sind, wenn sie Schwierigkeiten haben, so daß jedes Einreden, sie benötigten eine Therapie, empört von der Hand gewiesen wird. »Wenn ich in einer Gesprächsgruppe meine Probleme erzähle«, sagt Carol Hanish, »dann mache ich das nicht, weil mir geholfen werden muß. Es ist eine politische Aktion, einander öffentlich erzählen zu dürfen, wie unser Leben aussieht, keine Therapie.«
Viele der Frauen, die in Gesprächsgruppen gingen, saßen da mit einem schweren Erbe aus der linken Bewegung. Über eigene Probleme zu reden war unpolitisch. Damit verstärkte sich nur das Vorurteil, daß Frauen schwach sind und nicht imstande, auf eigenen Füßen zu stehen. Nur in einer Atmosphäre, in der das Reden über persönliche Schwierigkeiten nicht als Schwäche, sondern als Stärke gesehen wurde, war es möglich, über die eigenen Erfahrungen zu einem neuen Bewußtsein zu kommen. Diese Atmosphäre gab es zuerst in den Gesprächsgruppen. Die dort engagierten Frauen kämpften in erster Linie dafür, daß diese Gruppen als Gesprächs- und nicht als Therapiegruppen angesehen wurden. »Mit uns ist nichts los, aber mit der Gesellschaft«, sagten wir.
Diese Behauptung ist im Laufe der Zeit nuancierter geworden. Wir sind inzwischen so stark, daß wir uns nicht mehr verteidigen müssen. In dem Maße, in dem immer mehr Frauen uns begegneten, die genauso »verrückt« waren wie wir, ist »verrückt sein« keine Beleidigung mehr. Vielleicht war ein wesentlicher Bestandteil unseres Bewußtseinsprozesses auch die Einsicht, daß wir aus dem gesellschaftlichen Sozialisationsprozeß nicht mit heiler Haut hervorgegangen waren. Unterdrückung ist nicht nur eine äußerliche Sache. Unterdrückte Menschen verinnerlichen einen großen Teil der herrschenden Ideologie. Frauen wird nicht eine Anzahl weiblicher Eigenschaften wie Passivität, Abhängigkeit, unterentwickeltes Selbstvertrauen usw. nur »nachgesagt", zum Teil sind wir wirklich abhängig und passiv geworden. Der Punkt ist nur, daß wir nicht länger sagen, es sei unsere eigene Schuld, sondern es vielmehr als ein Symptom für unsere Unterdrückung sehen. Das macht allerdings die Notwendigkeit, etwas daran zu ändern, nicht weniger groß. Das hartnäckige Leugnen, mit uns könnte etwas nicht in Ordnung sein, hatte am Anfang der Frauenbewegung eine ideologische Funktion. Wie die schwarze Bewegung nicht aufhörte, »black is beautiful« zu rufen, um so die verinnerlichte Wertung, daß Schwarz eigentlich als häßlich und minderwertig gilt, zu übertönen, hörten auch wir nicht auf zu schreien, wie toll und stark wir alle sind. Wir sind es inzwischen auch, aber das hat viel Arbeit gekostet.
Ohne damit gleich den »Verdacht« auf uns lenken zu müssen, »nur« Therapiegruppen zu sein, können wir doch feststellen, daß Gesprächsgruppen eine stark heilende, therapeutische Funktion haben oder gehabt haben. Die Beobachtungen, die immer wieder in Referaten von Gesprächsgruppen auftauchen, sind dieselben, egal, in welchem Land oder auf welche Weise sie stattgefunden haben:

  • entdecken, daß dein Gefühl der Unzufriedenheit eine gesellschaftliche Basis hat, daß dies nicht deine eigene Schuld ist;
  • entdecken, daß Frauen klasse Geschöpfe sind und so deine verlorene Selbstachtung zurückgewinnen;
  • entdecken, daß wir alle mit einem negativen Selbstbild dasitzen und daß wir gemeinsam dieses Bild aufbrechen können;
  • entdecken, daß du selbst etwas an deinem Gefühl des Isoliertseins verändern kannst, daß die Wärme einer Frauengruppe in nichts der »anmachenden« Zuneigung der Männer nachsteht;
  • entdecken, daß du deinen Erfahrungen einen Namen geben kannst, um so eine eigene Identität zurückzubekommen anstelle einer von anderen hergeleiteten Identität (Mutter von Kindern, Frau deines Mannes oder sogar Patientin deines Therapeuten);
  • entdecken, daß, wenn du aufhörst mit den Versuchen, das dir auferlegte Bild, wie eine Frau auszusehen hat, zu erfüllen, du eine Menge Energie freimachst, die du für andere Sachen gebrauchen kannst; unter anderem, indem du dazu beiträgst, die Strukturen, die mit für das Bild verantwortlich sind, zu verändern.

Danach

Es ist viel passiert seitdem, mit den Frauen persönlich und mit der Bewegung. Die erste Flut von Gesprächsgruppen (in Amsterdam registrierten wir ungefähr vierhundert Gesprächsgruppen) verebbte. Der Bewußtwerdungsprozeß, der sich zuerst noch isoliert voneinander in den kleinen Gruppen abspielte, wurde immer mehr als Methode für andere Formen der Arbeit übernommen. Innerhalb der Stadtteil- und Bildungsarbeit wurde zum Beispiel immer mehr mit Gruppen von Frauen gearbeitet. Im Bereich der Sozialarbeit gibt es Beispiele für Experimente, bei denen weibliche »Patienten« sich zu einer Gruppe zusammenfinden, in der sich, wenn auch mit einem Leiter, ähnliche Entwicklungen abspielen, wie wir sie aus den ersten Gesprächsgruppen kennen. In der Bildungsarbeit wird die Entwicklung eines neuen Bewußtseins wichtiger genommen. Frauen aus VHS-Kursen zum Beispiel, die sich selbst nicht Feministinnen nennen wollen und sich sogar dagegen abgrenzen, kommen in der Tat zu den gleichen Erkenntnissen. Gegenwärtig existieren Gruppen, die sich damit beschäftigen, das Brauchbare aus den Gesprächsgruppen mit dem Besten aus den verschiedenen therapeutischen Methoden zu kombinieren. Gesprächsgruppen haben eine erkennbar therapeutische Wirkung, aber sie ersetzen nicht jegliche Form der Therapie.
Es bleiben »Reste« übrig. Erkenntnis der eigenen Stellung muß nicht automatisch dazu führen, anders zu handeln. Gefühle hinken manchmal dem Verstand hinterher. Ein Teil der Frauen entscheidet sich dann auch dafür, im Anschluß an eine Gesprächsgruppe oder eine feministische Gruppe in die Therapie zu gehen. 31 Nun allerdings mit einer klaren Vorstellung von dem, was sie dort suchen: der Therapeut muß eine Frau sein, es muß eine sein, die sich mit ihrem eigenen Entwicklungsprozeß und ihrer Konditionierung auseinandergesetzt hat, zum Beispiel in ihrer Ausbildung zur Therapeutin. Es muß eine Therapeutin sein, die mit offenen Karten spielt, die nicht versucht, heimlich deine Schwierigkeiten zu »behandeln«, ohne sich damit auseinanderzusetzen. Solche Therapeutinnen sind im Moment natürlich schwer zu finden.
Viele Frauen entscheiden sich grundsätzlich, keine individuelle Therapie zu machen, sondern nur in einer Therapiegruppe mit mehreren Frauen an sich selbst zu arbeiten, weil sie meinen, daß solch eine Gruppe die gleichen Vorteile hat wie die Gesprächsgruppe: die gemeinsame Wärme, das gegenseitige Erkennen und Bewußtwerden. Es ist noch immer notwendig, unsere Erfahrungen öffentlich zu machen, damit die Scham endlich aufhört, damit wir weiter dagegen kämpfen können, daß unsere Erfahrungen als Privatsache angesehen werden, die dann in die therapeutische Ecke abgeschoben werden. Dieser Kampf bleibt weiterhin ein wichtiger Teil in der Strategie der Frauenbewegung. Gesprächsgruppen haben eine starke politische Bedeutung, aber sie ersetzen nicht jede Art politischer Aktivität. Der Satz »das Persönliche ist politisch« kann auch mißbraucht werden, indem gesagt wird, allein schon das Arbeiten an sich selber sei politisch, deswegen sei es nicht mehr notwendig, sich als Frau in einer anderen Form zu organisieren. Das ist eine Tendenz, die ich vor allen Dingen in den F.R.T.-Gruppen beobachte, die dem Anspruch, eine Kombination aus persönlicher und politischer Arbeit zu sein, nicht immer gerecht werden. Radikale Therapie kann auch eine Flucht sein, ein Mittel, um sich nicht weiter mit der gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen. In dem Slogan »Jede ist für sich selbst verantwortlich", sehe ich die Gefahr, daß damit unsere weniger glücklichen Schwestern sich allein ihrer Haut wehren müssen. Das Abladen und Wieder-Revidieren des alten Übels hebt außerhalb des Kontextes einer politischen Bewegung kaum die Trennung zwischen Politischem und Persönlichem auf, sondern verfestigt sie eher (dich bei einer Freundin ausheulen, um deine Unterdrückung besser aushalten zu können). Die Neigung, uns in weichere und wärmere Umgebungen, die wir uns selbst geschaffen haben, zurückzuziehen, ist verständlich. Die kältere, frustrierende Arbeit auf längere Sicht in Gewerkschaften, Parteien und eigenen Organisationen bietet wenig für die Gegenwart, wohl aber für spätere Zeiten. Und uns selber zu überschlagen für andere, für die kommende Generation, für eine bessere Gesellschaft in der Zukunft, ist ja gerade das, was wir uns abgewöhnen wollen.
Es ist kein Zufall, daß gerade für Frauen der Slogan »Das Persönliche ist politisch« so lebendig ist. Und es ist auch kein Zufall, daß gerade Frauen daran gehen, solche Arbeitsund Organisationsformen zu entwickeln, die darauf abzielen, jene Trennung zwischen dem Persönlichen (Psychologie, Sozialarbeit, Therapie) und dem Politischen (Gesellschaftskritik, Kampf gegen den Kapitalismus) aufzuheben. Für Frauen waren diese beiden Pole schon immer kaum zu trennen. Denn schließlich fällt unsere Arbeit zusammen mit dem Aufrechterhalten von Beziehungen; Liebe und Ökonomie sind in unserer häuslichen Arbeit kaum zu trennen. Damit ist nicht gesagt, daß es zwischen diesen beiden Polen keine Spannungen gibt: Es existiert noch immer der Wunsch, sich in die warme Ecke der Frauengruppe zurückzuflüchten. Nämlich dann, wenn wir zum Beispiel in einer Umgebung arbeiten, die es bedrohlich findet, wenn wir mit Frauengruppen arbeiten wollen, oder es uns noch nicht einmal zugesteht. Und es gibt außerdem die Tendenz, den persönlichen Entwicklungsprozeß unter dem Druck der politischen Umstände aufzugeben. Nämlich dann, wenn die Arbeit der großen Verbände wichtiger zu sein scheint als die Arbeit, die wir leisten, und jemand sich vor der peinlichen Konfrontation mit der eigenen Unterdrückung in der »echten« Politik drückt. Aber trotz allem.
Mein Leben ist auf jeden Fall nicht mehr so zerrissen wie früher. Es besteht eine ständige Wechselwirkung zwischen der Arbeit an dem eigenen Bewußtseinsprozeß, der Aufarbeitung und dem Austausch von persönlichen Erfahrungen und der politischen Arbeit, die ich leiste. Ich spreche auch offen darüber. Es wird nicht als Unterbrechung gesehen, wenn ich mitten in einer Therapiesitzung Zusammenhänge sehe zwischen dem, was eine Frau mitgemacht hat und ilirer ökonomischen Stellung als Hausfrau zum Beispiel. Ich glaube, daß das Aufheben der Trennung zwischen dem Privaten und Politischen an sich schon heilend ist. Und daß auch andere Gruppen und nicht nur Frauen davon etwas lernen können