Ich hätte ein Mann sein müssen oder eines großen Mannes Weib!

Widersprüche im Emanzipationsverständnis der Fanny Lewald

I. Vorbemerkung

"Man kann grundsätzlich nur lernen, indem man sich
auf sämtliche Irrtümer nacheinander einläßt." [1]

Dieser Satz ALEXANDER KLUGES könnte als Motto der Beschäftigung mit früheren Emanzipationsversuchen von Frauen gelten, für die sich das Problem der Wertung - der historischen wie der literarischen immer wieder stellt. Auf der einen Seite hört man die Befürchtung, daß eine kritische Analyse und Wertung historischer Frauen und ihrer Emanzipationsversuche die begrenzten Möglichkeiten in der Geschichte dieser Frauen außerachtlasse und überfordere und damit ahistorisch verfahre. Ein anderer Ansatz, für den ich im folgenden plädieren möchte, geht im Gegenteil davon aus, daß eine kritische Analyse der Versäumnisse und Emanzipationskompromisse eher zu einer sachlichen und differenzierten historischen Wertung beiträgt, als der Versuch, wiederentdeckte Frauen in der Geschichte zu Leitfiguren, Vorbildern und Vorkämpferinnen der Emanzipation zu stilisieren. Diesem Ansatz geht es weniger um die jeweilige einzelne Person Großer Frauen der Weltgeschichte, als um das Aufdecken von grundlegenden Strukturen, die deren Entwicklung und - vielfach mangelhafte - Emanzipation bestimmt haben. Wenn feministische (Literatur-)Wissenschaft vom historischen Mangel auszugehen hat, so gilt es, diesen Mangel produktiv zu machen und die Texte und Lebensgeschichten von Frauen gerade in ihren Widersprüchen als heutiges "Lernmaterial für Frauen" [2] zu begreifen.

"Vor keinem Feinde sollte man sich so sehr fürchten, als vor der eignen Phantasie. Jedem äußern Feinde tritt man mit Härte und Energie entgegen, und eine gewisse Schadenfreude und die Lust am Siege sind gute Hilfstruppen. Wer aber kämpft so ernstlich gegen sich selbst, als gegen einen andern? - Wen schmerzt der Sieg nicht über das verzogene Kind des eignen Wesens? Und doch ist der Feind im Innern der schlimmste Feind, denn niemand kennt unsere tötlichen Stellen so gut als wir selbst." [3]
"Fanny Lewald mußte sehr früh eiserne Disziplin in jeder Hinsicht lernen. Ihre Gefühle, ihre Impulsivität und die Fähigkeit, sich ihrer Phantasie zu überlassen, wurden durch die rationalistische, autoritäre Erziehung des Vaters erheblich eingeschränkt. Andererseits hatte die Orientierung an seinem Vorbild zur Folge, daß sie später in ihrem Leben nicht zu entsagungsvollem Verzicht bereit war, sondern darauf vertraute, durch ernste Pflichterfüllung, Vernunft und Disziplin sich Anerkennung und Respekt zu verschaffen."[4]

Frauen in der Geschichte IV
Kontrastiert man das Tagebuchzitat der fast 27jährigen FANNY LEWALD mit der heutigen Einschätzung der Autorin durch GISELA BRINKER-GABLER, so stellt sich die Frage nach dem Preis für die Vernunft und Disziplin - Eigenschaften, die für LEWALDs Lebensgeschichte zentral waren. Ihr Kampf gegen die Phantasie als schlimmster Feind im Innern verweist auf den weiblichen Zweig der Dialektik der Aufklärung' als der für die Emanzipationsgeschichte im 19. Jahrhundert zentralen Kategorie. In ihrem exemplarischen Charakter ist FANNY LEWALDs Lebensgeschichte einzubeziehen in die Geschichte bürgerlicher Frauenemanzipation im 19. Jahrhundert, deren zentrale Forderungen - das Recht auf Bildung und das Pecht auf Arbeit - auch bei ihr im Mittelpunkt stehen. Sie ist aber auch einzubeziehen in die Geschichte des (preußischen) Bürgertums, in den Prozeß bürgerlicher Emanzipation, der ein Janusgesicht hat und immer schon auf seine Reaktion mitverweist, Am Beispiel FANNY LEWALDs ist daher ein Emanzipationskonzept zu überprüfen, das der Orientierung an männlichen Vorbildern verhaftet bleibt. Die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Leben und ihrer Literatur führt zu der Frage, ob die Frauen - und Töchter - der Bürger in ihrem Bemühen um Frauenemanzipation, begriffen auch als Vernunft und Disziplin, womöglich die bürgerliche Tragik verdoppelten und die Dialektik der Aufklärung reproduzierten.
Die Widersprüchlichkeit gegenüber dem eigenen Streben nach Unabhängigkeit und Emanzipation hat FANNY LEWALD an einer Stelle ihrer Lebensgeschichte selbst ausgesprochen:

"Ich geriet in einen jener Widersprüche, in denen der Verstand und die Empfindung sich nicht in das Gleiche zu setzen wissen. Ich hatte unabhängig sein wollen, und nun man mir das vergönnte, sah ich eine Härte in der Zuversicht, welche man mir bewies..." [5]

Bei der Interpretation der LEWALDschen Romane und Lebensgeschichte unter dem Aspekt ihrer Emanzipation, sowohl im Hinblick auf das Gelingen des Befreiungsprozesses selbst, als auch hinsichtlich des für die Befreiung gezahlten Preises schimmert die Härte in der Zuversicht leitmotivisch immer wieder durch. Daß aber auch die heutige Rezeption dieser Autorin zum Teil wider anderslautende Beteuerungen - deren Disziplinierungen und Rationalisierungen folgt, wird im folgenden noch zu zeigen sein.
Die Geschichte der Rezeption FANNY LEWALDs ist geprägt durch die Aneignung der Autorin für die jeweiligen eigenen emanzipatorischen Zwecke: in den 1920er Jahren als deutsche GEORGE SAND, am Rande des Jungen Deutschland, seit Ende der 1960er Jahre im Hinblick auf Vormärz, 1848er Revolution und Emanzipation der Juden in Preußen, und schließlich unter frauenemanzipatorischem Interesse als Beispiel für "Signaturen der Nichtanpassung, (...) die als Leitkonzeptionen für ein humaneres gesellschaftliches Zusammenleben ihre Gültigkeit behalten" - so RENATE MÖHRMANN6, [6] und als "konsequente Vorkämpferin der Frauenemanzipation", so GISELA BRINKER-GABLER, die FANNY LEWALDs Autobiographie 1980 neu heraus gegeben hat und diese würdigt als "beispielhafte(n) Weg einer bürgerlichen Frau aus Unterdrückung und Unselbständigkeit ins Freie..." [7]
Charakteristisch für die Interpretation LEWALDs nach den eigenen Bedürfnissen ist folgende Haltung, 1924 von CHARLOTTE KEIM geäußert: "Zwar sind die hierher gehörenden Stellen (i. e. die emanzipatorischen -RV) nur wenige, aber um so deutlicher fallen sie aus dem übrigen hinaus. Wie glänzende Einsprenglinge in einer homogenen Gesteinsmasse können sie aus den sie umgebenden Teilen herausgebrochen werden." [8]
Hier wird die Problematik einer Rezeptionsweise deutlich, die das umherliegende Geröll ignoriert und darauf verzichtet, auch das harte graue Gestein - um im Bilde zu bleiben gründlich abzuklopfen. Dabei werden dann nur die frühen Romane und Erzählungen LEWALDs genommen, ihr quantitativ weitaus umfangreicheres Spät- bzw. Hauptwerk aber mit dem Verdikt "für den Literarhistoriker nicht mehr wirklich von Interesse" [9] belegt.
Ein Beispiel für die Haltung, die die Widersprüche und Brüche der Emanzipation zu glätten versucht, ist vor allem die bereits zitierte Neuherausgabe der im Original sechs Bände umfassenden LEWALDschen Autobiographie in einer stark gekürzten Form durch GISELA BRINKER-GABLER. Ihr Geständnis, daß sie die Neuherausgabe "mit Rücksicht auf ihre hier betonte Bedeutung" [10] gekürzt habe, gewinnt allerdings erst nach Kenntnisnahme der ausgegrenzten Teile seine volle Eindrücklichkeit. Zwar spricht BRINKER-GABLER selbst in der Einleitung auch explizit von den Schattenseiten des dargestellten Befreiungsprozesses - "Fanny Lewalds Autobiographie zeugt von ihrem starken Selbstbewußtsein, aber sie spart auch nicht die Zweifel aus, das Hin- ubd Hergerissenwerden, die Unsicherheiten und Ängste, die ein solcher Befreiungsversuch hervorruft. Es ist eine Geschichte, die deutlich macht, welche Kraft es kostet, sich aus erstarrten, sinnlosen Konventionen zu befreien." [11]
Ihren Kürzungen jedoch sind zu einem nicht vertretbaren Teil gerade die Stellen zum Opfer gefallen, an denen diese Widersprüche krass zum Vorschein treten - Erlebnisse eines phantasie- und temperamentvollen Mädchens, dessen Rationalität und Selbstbeherrschung erst in einem langwierigen Leidensweg zur Überlebensnotwendigkeit wird, die ambivalenten Gefühle von zornigem Aufbegehren und leidvollem Gehorsam gegenüber dem allmächtigen, geliebten und gefürchteten Vater, ihre Kritik- und auch ErschÜtterung über die spätere Gebrochenheit des Vaters, dessen Erziehungskonzeption insbesondere gegenüber ihrem Bruder MORITZ zu einem schuldvollen Scheitern wurde, und nicht zuletzt die Erfahrungen zweifacher unglücklicher Liebe, die für ihre Entwicklung von entscheidender Bedeutung waren.
BRINKER-GABLER hat ihrer Einleitung ein Zitat aus LEWALDs Tagebuch vorangestellt: "Meine Selbständigkeit war nächst meiner Liebe mein größtes Glück." [12] Während in LEWALDs Satzkonstruktion die Liebe noch die Priorität hat, hat BRINKER-GABLER diese in ihren Kürzungen zugunsten der Selbständigkeit geopfert. Wenn daher die Lektüre der von ihr ausgelassenen Passagen ein differenzierteres, ja teilweise völlig konträres LEWALD-Bild vermittelt, so muß festgehalten werden, daß die Suche nach Leitkonzeptionen und beispielhaften Wegen die geschichtlich produzierten Widersprüche nicht voluntaristisch überspringen kann. Der exemplarische Charakter einer solchen Lebensgeschichte wie der FANNY LEWALDs liegt nun gerade nicht in deren Leitbildcharakter, sondern in den Widersprüchen, den Kosten und Opfern des Emanzipationsprozesses, die kritische Analyse dieser widersprüchlichen Strukturen stellt somit wichtiges feministisches Lernmaterial erst her.
Meine Ausführungen enthalten implizit daher auch eine Kritik bzw. Revision der gängigen LEWALD-Rezeption, als Untersuchungsmaterial liegt das Gesamtwerk der FANNY LEWALD zugrunde, speziell die Analyse der 21364 Seiten Romanliteratur, die von der Forschung bislang ignoriert wurden: des sogenannten Spätwerks. Gelesen auf der Folie einer feministischen Dialektik der Aufklärung sperrt sich dieses Gesamtwerk aber gegen die einseitige, emphatische oder auch nur positivistische Rezeption der Autorin.
Die Widersprüchlichkeit der FANNY LEWALD ist nicht als Bruch in ihrer historischen Entwicklung zu verstehen, sondern als Kontinuität, die quer zu ihrer zeitlichen Entwicklung liegt, als Widersprüchlichkeit einer - geschichtlichen und gesellschaftlichen Individualität, die nur zu begreifen ist in der Dialektik von Alltag und Emanzipation. Sie ist zu sehen etwa in der Widersprüchlichkeit von verschiedenen Ausdrucksformen journalistischen oder belletristischen - aber auch innerhalb eines Mediums: das Schreiben wird für LEWALD zu einem Medium, in dem Aufbegehren und Anpassung stattfindet, in dem sie Freiräume entwickelt und zurücknimmt, Ausbruchsphantasien und Emanzipationsgedanken formuliert und diszipliniert.
Eine solche Versöhnung und Rücknahme der eigenen Sehnsüchte - oft wider besseres Wissen der Autorin - machen die Ambivalenz der LEWALDschen Romane aus und begründen zugleich deren Trivialität. Diese ist eine doppelte, ästhetische und emanzipatorische, die eng mit LEWALDs Emanzipationsbegriff zusammenhängt: Entwicklung eines bürgerlichen Arbeitsbegriffes und -ethos, Anpassung an den bürgerlichmännlichen Alltag und damit zusammenhängend die umfassende Disziplinierung menschlicher Sinnlichkeit, wie etwa der Phantasie.
Da Frauen aufgrund der ihnen in der bürgerlichen Gesellschaft zugewiesenen Rolle eher an der "Basis des weltgeschichtlichen Prozesses", im Alltagsleben als der "geheime(n) Hefe der Geschichte [14] verwurzelt sind, läßt sich ihre Geschichte auch begreifen als Dialektik von Alltag und Emanzipation. Ausgehend von einer Kritik des Alltagslebens als einer Kritik der Entfremdung verstehe ich Alltag als Metapher der Disziplinierung menschlicher Sinnlichkeit, der Entfremdung aller physischen und geistigen Sinne des Menschen auf den Sinn des Habens (Marx).
Dies läßt sich am Beispiel FANNY LEWALDs auf verschiedenen Ebenen aufzeigen lebensgeschichtlich, auf der inhaltlichen Ebene ihrer Romane ebenso wie in deren ästhetischer Struktur selbst:

  • Disziplinierung und Quantifizierung der Zeit, des Zeitbewußtseins;
  • Disziplinierung der Gefühle und des Gefühlsausdrucks, der Kommunikation;
  • Disziplinierung der Phantasiepotentiale,
  • Disziplinierung von Sinnlichkeit im engeren Sinne, von Liebe und Körperlichkeit.

Die Widersprüche der FANNY LEWALD, wie ich sie im folgenden in einigen Aspekten aufzeigen möchte, verstehe ich also als Spuren eines sozialgeschichtlichen Prozesses, der uns heute noch betrifft, im Sinne der Dialektik der Aufklärung, in die auch die Frauen verstrickt sind: nicht nur als deren Objekte, wie es noch HORKHEIMER/ADORNO verstanden haben, sondern auch als deren Subjekte.

II.

1. Emanzipation zur Arbeit, zu ernster Arbeit...

"Es ist lächerlich und widerwärtig, wenn man jene reichen und müßigen Frauen immer wieder davon sprechen hören muß, daß mit der Gewerb- und Erwerbthätigkeit der Frauen der wahre weibliche Nimbus von den Frauen abgestreift würde; und eben so widerwärtig ist es, wenn man Männer behaupten hört, Frauen, die etwas Ordentliches gelernt hätten, die selbst etwas Rechtes wären, verlören die Fähigkeit der wahren Hingebung an den Mann. Ich habe jene Frauen oft gefragt: Worin besteht der sogenannte besondere Nimbus, der den Frauen durch die Arbeit verloren gehen soll? und sie sind niemals im Stande gewesen, mir dies geheimnißvolle Etwas deutlich zu erklären. Freilich, die Weichlichkeit und die Geziertheit müssen daran gegeben werden, wenn eine Frau nicht in der Lage ist, Andere für sich arbeiten zu lassen. Wer arbeiten muß, darf sich am Morgen nicht fragen, ob die leise Wolke, die auf seinem Gehirne liegt, wohl eine Migräne werden könnte? und darf nicht im weichen, mit Gardinen verhängten Lotterbette warten, ob die Migräne kommt." [15]

Die Forderung FANNY LEWALDs nach Emanzipation der Frauen zu Arbeit und Erwerb war eng verknüpft mit der Forderung nach weiblicher Bildung- unerläßliche Vorbedingungen waren die Aufklärung und Bildung der Frau, wobei LEWALD die Einrichtung von Realschulen zur Gewährleistung einer möglichst breiten Bildungsbasis für wichtiger erachtete., als die Öffnung der Universitäten oder etwa einer Institution wie des Victoria-Lyceums in Berlin, einer Einrichtung zur Durchführung wissenschaftlicher Fortbildungskurse für Lehrerinnen, von LEWALD als "Luxus-Institut" angesehen. [16] Eine wesentliche Aufklärungsund Bildungsfunktion kam ihrer Meinung nach dem Mann zu, der "als das erziehende Prinzip im Hause thätig sein" mußte. [17] Ich werde noch zu sprechen kommen auf die Folgen solcher Bildung durch und für den Mann, wobei das Ziel der Erziehung zu Emanzipation benannt wurde als: "Männer, die der Freiheit werth sind, Frauen, wie solche Männer sie verdienen..." [18]
Den größten erzieherischen Wert sah LEWALD in der Arbeit selbst. In zahlreichen Romanen thematisiert sie das bürgerliclie Arbeitsethos, sei es, daß Frauen sich als Arbeitende entwickeln, sei es, daß Adlige sich zu arbeitenden Menschen emanzipieren. Häufig ist auch eine Verbindung beider Aspekte: ein adeliges Fräulein findet den Weg ins Erwerbsleben oder kann zumindest mit praktischer häuslicher Handarbeit eine Erwerbstätigkeit gründen. Die größte Würdigung findet das bürgerliche Arbeitsethos jedoch in der Darstellung bürgerlichmännlicher Charaktere.
In all diesen Fällen spielt die Arbeit eine wesentliche Rolle bei der Erziehung des Menschen zu Sittlichkeit und Verantwortung, sie wird zur "Zweiten Natur" des Menschen. [19]
Der Hauptaspekt dieser Erziehung durch den Beruf ist in der Eigenschaft der Selbstbeherrschung, der internalisierten beruflichen Disziplin zu sehen. Arbeit ist damit nicht nur emanzipatorischer Selbstzweck und auch nicht nur Mittel der ökonomischen Absicherung, sondern erhält eine wesentliche Funktion in der Stabilisierung der Identität, z. B. in der Überwindung von psychischem Leid wie Liebeskummer oder Depressionen. Diese positiv gewürdigte Qualität der Arbeit als der zweiten Natur schlägt nun für das Individuum um zu jenen "täglichen Gewohnheiten", "die sich wie eine Art von Austernschale um den eigentlichen Kern seines Wesens festsetzen" [20] Die Kosten des Prozesses der "Emancipation zur Arbeit, zu ernster Arbeit" [21] sind zu sehen in einer umfassenden Disziplinierung menschlicher, d. h. auch: weiblicher, Sinnlichkeit, wobei sich noch eine besondere Widersprüchlichkeit ergibt in dem Paradox, daß Emanzipation einerseits zu einer enormen Anpassungsleistung an den Mann - mit all seiner Entfremdung - wird, und daß andererseits die Polarisierung der Geschlechtscharaktere nicht grundsätzlich angetastet wird.

2. "Zeitersparniß und weise Oeconomie..." die Discplinierung der Zeit

Der Zeitraum, in dem FANNY LEWALD lebte (1811-1889), umfaßte die Zeitspanne der Industrialisierung in Deutschland; auf die Alltagsforschungen, die den für den Prozeß der Industrialisierung so wichtigen Prozeß der Ablösung älterer, organisch-zyklischer Zeitauffassungen durch eine lineare Zeitauffassung untersuchen, sei hier stichwortartig verwiesen: Notwendigkeit der gesellschaftlichen Organisation der Zeiteinteilung/Synchronisierung der Zeit, Entqualifizierung/Quantifizierung der Zeit, Substituierbarkeit der Zeit durch Geld, Verinnerlichung der Knappheit und des Warencharakters der Zeit und damit solcher Normen wie Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit, Planbarkeit durch die bürgerlichen Individuen. Beredtes Beispiel hierfür ist FANNY LEWALDs Leben,~geschichte selbst. "Von Kindheit auf an eine regelmäßige Zeiteinteilung gewöhnt" [22] , begriff sie das rigide Zeitreglement in ihrem Elternhaus als etwas völlig Selbstverständliches und rechtfertigt die zeitliche Fixierung im nachhinein: "... und solch eine Gewöhnung an eine bestimmte Zeiteintellung ist Kindern schon in ihrer trühesten Jugend heilsam. [23]
Den streng utilitaristischen Erziehungsgrundsätzen des Vaters entsprecheiid, der sogar das gesellige Gespräch mit Freunden als Zeitverschwendung begriff, [24] "belief sich, als ich sieben, acht Jahre alt war, meine tägliche Arbeitszeit, mit Ausnahme des Sonntags, Mittwochs und Sonnabends, doch immer auf sieben bis acht Stunden." [25]
Den krassesten Ausdruck fand die väterliche Zeitdisziplinierung in dem von ihm angefertigten "Stundenzettel für FANNY MARCUS" den er nach ihrer Entlassung aus der Schule verordnete. (Marcus war der damalige Familienname.) Es handelt sich hier um den organisierten Müßiggang, die Zeit wird zu einer sinnentleerten Hülle, die Strukturierung des Tages ist zur bloßen Form erstarrt. [26]
Frauen in der Geschichte IV
Die Internalisierung einer strengen zeitlichen Disziplin hat sich bis in LEWALDs schriftstellerisches Schaffen ausgewirkt und hatte neben der Tatsache, daß sie sicherlich dazu beitrug, eine so umfangreiche und "fleißige" Literaturproduktion zu ermöglichen, auch einen unproduktiven Aspekt:
"... an Abhängigkeit und Unterordnung mehr gewöhnt als ich es selber wußte", hält noch die 33jährige an alten Gewohnheiten, insbesondere der täglichen Verrichtung einer "Menge von Handarbeiten" fest, während sie die "literarische Beschäftigung immer noch wie ein mir Zugestandenes, gleichsam auf Widerruf Erlaubtes" ansieht, so daß ihr Cousin HEINRICH SIMON sie endlich auffordert, "nimm Dir die Freiheit, so frei zu sein, als Du es bist!" [27]
Im Erzählwerk LEWALDs spielt die zeitliche Disziplinierung eine große Rolle. An zahlreichen Stellen räsonnieren Romancharaktere als Sprachrohr der Autorin über das Wesen der Zeit, wobei alle wesentlichen Aspekte der Alltagskonzeptionen über Zeit berührt werden, so gilt etwa, neben deren Irreversibilität, Zeit als ökonomisch aufrechenbares Medium, wobei dem Medlum der Zeit gegenüber dem des Geldes eine größere Wertigkeit zukommt. Zeit, die ihrem Charakter nach nicht versicherbar ist, wird selbst zum Kapital: "Keine halben Maßregeln! Keine Schwäche! und kein unnützer Zeitverlust, mein Schatz! ( ... ) Ich sage nicht, wie unsere Nachbarn jenseits des Kanals: Zeit ist Geld! denn Zeit ist mehr als Geld, sie ist das einzige völlig unersetzliche." [28]
Wichtiger als die ökonomische ist für LEWALD aber doch die psychologische Funktion der Zeit. Gegenüber dem entweder aristokratischen oder verweichlicht-weiblichen' Müßiggang ("denn man kann sagen was man will, Liebesleid erfordert Muße, um ihm nachhängen zu können..., [29]) - dient die Zeit, und symbolisch der "Comptoirkalender", zur Selbst-Stabilisierung, zur Aufrechterhaltung einer "Regelmäßigkeit" und "täglichen Gleichförmigkeit des Lebens", deren Ausbleiben mit psychischem Leidensdruck und innerer Leere quittiert wird. Die Internalisierung der bürgerlichen Zeitstruktur wird zum Korsett.
Daß es LEWALD gelungen sei, "von den alten, jahrelang befolgten Stundenzettel-Vorschriften des Vaterhauses" abzugehen - so RENATE MÖHRMANN [30] - kann daher nicht gesagt werden. Es läßt sich mit Hinblick auf den Umgang mit Erzählzeit in LEWALDs Romanen analysieren, daß sie in ihrer streng chronologischen Erzählweise die lineare Zeitvorstellung entqualifizierter, industrialisierter Zeit genau reproduziert. Getreu der Redensart ihres Großvaters: "Erzähle in die Länge und nicht in die Breite!" [31] entstehen dabei vielbändige Romanchronologien, in denen trotz der großzügig zur Verfügung stehenden Erzählzeit kaum Zeit übrigbleibt, in Muße auf die Charaktere einzugehen. Auf dem streng linearen Erzählstrang kann sich das Gefühl nicht zu Zeit verdichten, kann nicht in die Breite der Einzelheit gegangen werden. Statt dessen schreitet die Erzählung oft hastig in einer äußerlichen Raffung der Geschehnisse fort. Glaubt man sich der Lösung der Komplikationen, die etwa einer Heirat noch im Wege standen, nah, so entstehen oft gegen Ende der Erzählzeit neue Komplikationen, die wiederum auf wenigen Seiten gelöst werden müssen.
Frauen in der Geschichte IV
Dem Aktionismus der Information entspricht ein stark plusquamperfekter Erzählstil, der oft über Seiten hinweg Informationen nachholt. Diese Sprechperspektive erweckt im Leser den Eindruck äußerster Distanziertheit zum Geschehen. Bei der Interpretation einzelner Textstellen auf der Grundlage literaturwissenschaftlicher Forschungen zur Zeit- und Erzählproblematik läßt sich bei FANNY LEWALD Resignation und Niederlage im "Kampf gegen die Macht der Zeit" feststellen, der nach LUKÁCS "die ganze innere Handlung des Romans" ausmacht." [32] LEWALD selbst hat dies so ausgedrückt: "Wäre eine neue Mythologie zu erfinden, so müßten Zeit und Raum als zwei unüberwindliche Mächte hingestellt werden." [33]
In diesem Sinne ist die wohl wichtigste Komponente der zeitlichen Disziplinierung bei LEWALD zu sehen in den "Wirkungen des Naturgesetzes, das der Gegenwart das Recht über die Vergangenheit einräumt". [34] Es ist dies die Assoziation der Vergangenheit mit den "verbotenen Erinnerungen", [35] die als Gefahr und Bedrohung für den reibungslosen Ablauf der Gegenwart erlebt werden und abgespalten werden müssen. Hier scheint der Kern des Verhältnisses des Bürgers zu seiner eigenen Geschichte bloßgelegt zu sein, die er, in der Hoffnung, sie zu überwinden, oder in der Illusion, sie bereits überwunden zu haben, ausgrenzt und mit dem Tabu der Vergangenheit belegt. Das bürgerlichteleologische Geschichtsdenken ist — gerade auch im persönlichen Leben - am Ziel, nicht mehr am Prozeß der eigenen Geschichte interessiert. Begreift man die Literatur nun aber als einen Ort, wo die verbotenen Erinnerungen' lebendig sein d*U:rfen, so bedeutet die Verdrängung der eigenen Geschichte einen großen Verlust für die Literatur LEWALDS, der im folgenden an einem Beispiel näher illustriert werden soll.

3. Pathologische Aufklärung und sanft verneinende Gesten

FANNY LEWALDs Distanzierung von sich selbst

Die Widersprüche eines Selbstverständnisses, für das Rationalität und Selbstbeherrschung die zentralen Kategorien sind, werden in LEWALDs Lebensgeschichte an zahlreichen Stellen deutlich. Ganz dem teleologischen Prinzip verpflichtet, orientiert am GOETHEschen Vorbild von Dichtung und Wahrheit, versucht LEWALD, die Widersprüche ihrer Lebensgeschichte zu vermitteln und zu einem kohärenten Sinnzusammenhang zu stilisieren. Gegenüber der eigenen Vergangenheit erfolgt daher eine permanente Distanzierung von sich selbst, von Erfahrungen des Leidens und des Aufbegehren. Z. B. bezeichnet sie, darin ihrem Ehemann ADOLPH STAHR folgend, ihre frühen Romane und Erzählungen als die "pathologischen", da sie sich "in ihnen ab- und aufzuklären trachtete..." [36] Auffällig ist hier die Definition des Pathologischen: gegenüber dem Versuch der Klärung und Aufklärung, der literarischen Auseinandersetzung mit eigenen Gefühlen und Problemen, wird die spätere Konfliktlösung als Loslösung begriffen, gewissermaßen als gesunde Verdrängung und Verwischung der eigenen Spuren. Meine These von der zeitlichen und emotionalen Distanzierung FANNY LEWALDs von sich selbst sei nun an einem Beispiel aus ihrer Lebensgeschichte etwas ausführlicher erläutert, an einer Episode, die interessanterweise in der Neuherausgabe durch GISELA BRINKERGABLER- stark gekürzt, um nicht zu sagen: zensiert wurde, so daß das Geschehnis in seinen Motivationen und Auswirkungen für LEWALD geradezu unverständlich für die Leser/innen werden muß: die Leopold-Episode, das unvermittelte Ende einer Jugendliebe.
Bereits in der Beziehung zu ihrem Verlobten LEOPOLD BOCK, einem ernsthaften Theologiestudenten, findet eine Erziehung zur Selbstdisziplin statt, wie sie der zukünftigen Rolle der Frau eines Landgeistlichen angemessen ist: "und um seinetwillen, um ihn nicht in der Zukunft durch meine Erregbarkeit und Maaßlosigkeit unglücklich zu machen, begann ich nun nach jener Fassung zu ringen, die mir später oft so sehr zu Statten gekommen ist". [37]
Zur entscheidenden Prüfung ihres Vermögens, nach Fassung zu ringen, wird aber vor allem die abrupte Beendigung der Beziehung durch ihren Vater, die für LEWALD so unvermittelt erfolgte, daß bis zum Zeitpunkt der Niederschrift ihrer Lebensgeschichte der Ausgang dieser Jugendliebe ihr "ein ungelöstes Räthsel" geblieben ist. [38]
Ein ungelöstes Rätsel bleibt diese Episode aber erst recht nach Lektüre der gekürzten Fassung der Lebensgeschichte. Nachdem ein Abschnitt von LEWALD in einem Beschaulichkeit und Hoffnung vermittelnden Satz endet: "und die nächste Zeit verging uns in täglichem Beisammensein in stillem, freudigem Frieden", [39] faßt BRINKER-GABLER die im folgenden von ihr vorgenommenen Kürzungen lapidar zusammen: "Auf Einwirkung des Vaters hin zog sich LEOPOLD plötzlich zurück, FANNY LEWALD wurde über die Gründe dieses Vorgehens nicht unterrichtet."
Hinter diesem Satz verbirgt sich ein Leidensprozeß, der für das Verständnis von LEWALDs weiterer Entwicklung entscheidend ist, z. B. im Hinblick auf ihren Zwang zur Selbstdisziplinierung gegenüber Depressionen mit psychosomatischen Erscheinungen und sogar Selbstmordphantasien, sowie im Hinblick auf ihr späteres langjähriges Beharren auf einer unglücklichen, d. h. nicht erwiderten Liebe, die nur aus ihren Schuldgefühlen und dem Trauma des Verlustes nach der erlittenen Trennung von LEOPOLD begriffen werden kann.
Was aber ist nun vorgefallen und von BRINKER-GABLER mit Rücksicht auf ihre hier betonte Bedeutung gekürzt?
Nachdem LEOPOLD zunächst im LEWALDschen Hause als zukünftiger Schwiegersohn akzeptiert wurde, bis hin zu einem harmonisch miteinander verbrachten Weihnachtsfest, fängt FANNYs Vater an, die Beziehung der beiden zu sabotieren und "überall kleine und oft komische Hindernisse" [41] zwischen den Verlobten aufzurichten. So übernimmt er z. B. in seiner väterlichen Eifersucht am Abend einer kleinen Lese-Inszenierung LEOPOLDs Rolle, so daß FANNY gezwungen ist, "meinen Vater mit all den Zärtlichkeiten anzulesen, die ich für LEOPOLD so sehnlich auszusprechen gewünscht hatte". [42] Kurz darauf verbietet der Vater LEOPOLD das Haus, wobei er weder ihm noch der Tochter Gründe hierfür mitteilt. Aufgrund des väterlichen Verbots und des töchterlichen Gehorsams - kommt es nicht einmal zu einer Aussprache zwischen den immerhin Verlobten. Ihm zu schreiben, hat sie "gar keinen Muth", trotz ihres eigenen Bedürfnisses und trotz des Anratens einer Freundin wagt sie eine Kontaktaufnahme nicht. "Aber ich hatte keine Freude an dem Gehorsam, sondern nur Schmerz über meine Unfreiheit und Muthlosigkeit". [43]
Als der Vater ihr eines Tages LEOPOLDs Tod mitteilt, überkommt sie tiefe Reue und ein "Gefühl der Erstarrtheit". [44] In der Folgezeit glaubt sie, daß auch sie früh sterben werde, wobei sie "durch mancherlei Nervenleiden in (ihren) Todesahnungen bestärkt" [45] wird. In ihrer Familie hat LEWALD seit dem Tage der Todesnachricht weder mit der Mutter noch mit dem Vater "je wieder eine Sylbe über LEOPOLD" gesprochen. [46] Diese Form der totalen Disziplinierung der Kommunikation in einer biedermeierlichen Familie rationalisiert sie jedoch in der Rückerinnerung: "Ich stand an einem Grabe, und durfte kaum zeigen, daß ich trauerte. - Eines aber hatte ich gewonnen - die Kraft innerlich zu leben, ohne nach außen viel davon zu verrathen, die Kraft mich auf rnich selbst zu stellen und mich in mich selbst zufassen. [47]
Eine Möglichkeit, sich in sich selbst zusammenzufassen, fand LEWALD später im Schreiben, wobei gerade in ihren ersten Romanen die Literatur zur familiären Ersatz-Öffentlichkeit wird: schreibend erst kann sie versuchen, sich ihren Angehörigen mitzuteilen. In den späteren Romanen jedoch wird die Trauerarbeit auch beim Schreiben diszipliniert: In dem 1856 erschienenen Roman Die Kammerjungfer finden sich einige an die LEOPOLD-Episode aus ihrer Jugend erinnernde Anspielungen, LEWALD degradiert hier jedoch das eigene Leiden, die Schuld und Reue der Jugend, zu einem bloßen Pauselfüllsel. Die Erzählweise, mit der sie ihre Sühne stellvertretend auf die Romanfigur projiziert, ist frappierend, sie erzählt hier von sich ebenso wie die von ihr geschaffene Figur mit einer Geste der Distanz, einer "sanft verneinenden Bewegung. [48] "Es ist etwas Eigenes darum, sagte sie nach längerer Pause, wenn man im reifen Alter auf die Leiden und Freuden, auf den Heroismus und die Irrthümer seiner frühen Jugend zurücksieht...[49] - läßt LEWALD die Romanfigur sagen, zwar ehrt sie die Empfindungen und Irrtümer noch, aber im Grunde treffen sie sie nicht mehr. Die abgeklärte Distanzierung der Romanfigur EUGENIE von sich selbst läßt sich reflexiv auf die Autorin beziehen, ironischerweise nun wird ein solcher Umgang mit der eigenen Geschichte - das Abspalten der schlechten Vergangenheit, das Verdrängen des Leidens an der eigenen Unfreiheit und Mutlosigkeit genau reproduziert in jener LEWALD-Rezeption, die Emanzipation zum Erfolgssubstrat verkürzt, wie dies in der Neuherausgabe der Lebensgeschichte weitgehend geschehen ist.

4. Die verhüllte Leidenschaft des Herzens die Disziplinierung der Kommunikation

Bei der oben erwähnten LEOPOLD-Episode ist bereits eine weitere Form der Disziplinierung, die LEWALD in ihrem Elternhaus erfuhr, deutlich geworden: die" Unnahbarkeit" und "Unantastbarkeit", die das väterliche Rationalitätsprinzip forderte. [50] "Es war nicht Sitte im Hause, von Gefühlen zu sprechen oder sich ihnen leicht in sichtbarer Weise zu überlassen, und mich dünkt, das hat, wenn es nicht übertrieben wird, sein Gutes. Es macht den Menschen innerlich. [51]
Daß LEWALD die Unnahbarkeit im nachhinein als etwas Positives rechtfertigt, ist erschreckend angesichts der immensen Opfer, die sie diesem Prinzip hat erbringen müssen, und von denen die Lebensgeschichte zahlreiche Beispiele ablegt.
An die Grenzen der Kommunikation und des Gefühlsausdrucks wird der Leser in LEWALDs Romanen ständig verwiesen. Während oberflächlich gesehen der hemmende Faktor für die Erfüllung einer Reihe von Liebesbeziehungen in ihren Romanen entweder in der unterschiedlichen Religion der Liebenden begründet ist, in der Tatsache, daß ein Partner bereits in einer Konvenienzehe verheiratet ist, oder aber in den vorhandenen Standesunterschieden, gründen die Probleme, die die Gegenseitigkeit der Liebe als Unmöglichkeit erscheinen lassen, und die das retardierende Moment in ihrer Erfüllung ausmachen, bei genauerem Hinsehen jedoch nicht in äußerlichen Hemmnissen. Die größten Hemmnisse liegen im Widerstand der Liebenden selbst, in ihrer Unfähigkeit, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und sie dem Geliebten zu kommunizieren, in ihrer Angst davor, einen Korb zu bekommen. Zahlreich sind die Beispiele für mißglückte oder unterdrückte Liebesgeständnisse, für Situationen, in denen der eine Teil die Liebe gesteht, der andere aber, in vermeintlicher Schonung des Geliebten, sie blutenden Herzens unterdrückt, für Komplikationen, die in der mangelnden Sensibilität der Liebenden ihren Ursprung haben. Keineswegs kann das Modell der Liebe hier als kommunikatives Verhältnis, als Vorbild nichtentfremdeter Institutionen angesehen werden. Statt dessen wird die Unnahbarkeit zum konstituierenden Prinzip der ganzen familiären Kommunikation. Es versteht sich von selbst, daß die schon im Privaten verbotenen Gefühle an die übrige Außenwelt erst recht nicht vermittelt werden können und dürfen.
Die Disziplinierung der Kommunikation bei FANNY LEWALD ist zu sehen auf dem Hintergrund der Entstehung und Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft, der ersten, die vollständig in ihre Atome zerfällt. (Stichworte: Spaltung in Öffentlichkeit und Privatheit, Dissoziation von Erwerbsund Familienleben und damit einhergehende Polarisierung der Geschlechtscharaktere usw. Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: "Der Arbeitsteilung entspricht das große Schweigen". [52] )
Die Frage, inwieweit LEWALD zu den von ihr dargestellten Kommunikationsproblenien eine kritische oder apologetische Haltung einnimmt, erweist sich - bei einer Oberflächenlektüre ihrer Romane - als Interpretationsproblem, etwa angesichts solcher Sätze wie "Aber dies Erinnern und das Alleinsein und das Lieben und das Schweigen gingen über ihre Kräfte und wollten ihr die Brust zersprengen." [53]
Man wird hier verwiesen auf einen Widerspruch in ihr selbst: Während sie als Schriftstellerin mit dem Anspruch auf Gelingen der Kommunikation auftritt, kann sie doch die Grenzen der alltäglichen Kommunikation selbst in ihren Romanen nicht sprengen. Sie schafft sich im Schreiben ein Medium des Aufbegehrens, holt dann jedoch im Schreiben selbst die erfahrene Selbstdisziplinierung wieder ein und nimmt ihren Protest zurück in der literarischen Versöhnung der Wirklichkeit. Literarisches Handeln wird hier zum Ersatzhandeln, der Roman wird zum Medium des Realitätsersatzes - wie es bereits seit der Entstehung der Gattung im 18. Jahrhundert, und verstärkt für weibliche Autoren und weibliches Lesepublikum, charakteristisch ist. Auf die Möglichkeit, die Form des Romans als ein Medium der anders nicht mehr möglichen Kommunikation zu benutzen, deutet eine Stelle in der Lebensgeschichte:

"Ich stellte mir vor, wie die Meinen es begreifen würden, was ich ihnen voraus hätte, welche Unruhe, welches innere Walten mir oft das enge Dasein, die täglichen kleinen und unnützen Beschäftigungen und Quälereien so lästig, so unaushaltbar gemacht, wenn ich in einer Dichtung es ihnen im Bilde zeigen könnte. Ich weidete mich an der Vorstellung, es vor Heinrich (H. Simon, in den sie verliebt war, ohne daß er ihre Gefühle erwiderte - RV), ohne von mir selbst zu reden, einmal alles aussprechen zu können, was ich sei, was ich durch ihn erlitten ...[54]

FANNY LEWALD geht hier von einem eingeschränkten Kommunikationsanspruch und Öffentlichkeitsmotiv aus, der Roman gilt nicht als das Medium, mit anderen, im Privatleben ähnlich isolierten Frauen einen Diskurs herzustellen, sondern die angesprochene Öffentlichkeit ist die der Familie und des unglücklich geliebten Mannes.
Es wurde bereits erwähnt, daß sie sich später von diesen frühen Romanen, die noch als Botschaft interpretierbar sind, abgegrenzt hat. Aus diesen späten Distanzierungen spricht nun weniger Trauer um den Verlust der Kommunikation, als der rechthaberische Rückzug auf sich selbst, die Verinnerlichung der Disziplinierung von Kommunikationsbedürfnissen und -möglichkeiten.

5. Der schlimmste Feind im Innern - die Disziplinierung der Phantasie

Ihren größten Ausdruck findet die Disziplinierung der Kommunikation in der Kommunikationslosigkeit des Individuums mit sich selbst, in der Disziplinierung und Domestikation der Phantasie. Ich möchte mich hier beschränken auf einen Aspekt [55] der Disziplinierung der Phantasie bei LEWALD: ihre Absage an die Romantik und romantische Literatur, verbunden mit der Ablehnung ihrer eigenen frühen pathologischen Erzählungen, die noch romantische Züge aufweisen.
KÖSSLER beschreibt am Beispiel von Mädchenkindheiten des 19. Jahrhunderts den Prozeß der Denunziation insbesondere der weiblichen Phantasie und ihrer angeblichen Gefährlichkeit, den Prozeß der Disziplinierung der Produktivkraft Phantasie im 19. Jahrhundert, als "Eindämmung des Denkens in rationale Strukturen". [56] Dabei weist er darauf hin, daß die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch erfolgenden Proteste gegen die Disziplinierung der weiblichen Phantasie vor allem im Zusammenhang mit der Romantik formuliert wurden, während die bürgerliche Frauenbewegung in ihrer männlichen Ausrichtung auf bürgerliches Arbeitsethos, Selbstdisziplin, Rationalität, diesen Teil der Unterdrükkung der Weiblichkeit nicht sah.
So finden sich auch bei LEWALD die verschiedensten Abgrenzungen und Polemiken gegen die Romantik "in ihrem sinnlichen Spiritualismus, in ihrer krankhaften, übersinnlichen Sinnlichkeit". [57] Interessant ist im Anschluß daran ihre Kritik an der zu Sinnlichkeit verleitenden Romanlektüre selbst, die Denunziation ihres eigenen Metiers in ihren Romanen, wobei die Korruption der unschuldigen Phantasie durch die Romantik und die französischen Romane, die beim Leser "ein Gefühl der Unsauberkeit" zurücklassen, [58] im Vordergrund steht. Neben der berechtigten Kritik an der Trivialität eines Großteils der damaligen Frauenliteratur - "das Leben ist anders in den bürgerlichen Sphären, als gefühlvolle Damen es in ihren Romanen schildern" [59] - geht LEWALD sogar soweit, die Lektüre von Romanen insgesamt als gefährliche, den Charakter verderbende Tätigkeit abzulehnen: "und ehe ich seidene Stickereien anfertigte, die zu nichts nütze waren, las ich lieber. Ich wollte, ich hätte es unterlassen. Ich wurde nicht klüger dadurch, sondern nur weichlicher, und das taugt nicht. Ich fing an, über die Liebe nachzusinnen, statt an das Heirathen zu denken." [60]
Daß LEWALD diese Sätze, die im Roman Schloß Tannenburg einem zum "arbeitenden Menschen" erzogenen Fräulein von Gleinitz in den Mund gelegt werden, nicht nur ironisch meint, geht aus einer Tagebucheintragung hervor. Ihrer Meinung nach werden die meisten Mädchen und Frauen "zum Sündigen" "aus Neugier, aus Nachahmungslust infolge von Romanlektüre", [61] verleitet. Die Gefahr, durch Lektüre dem ,verständigen Erwägen der Wirklichkeit' entrückt zu werden, betrifft zahlreiche weibliche Charaktere in ihren Romanen und Erzählungen. Sie kann aber auch den Mann verweichlichen und zum Kampfe untauglich machen, wie das warnende Beispiel des Arbeiters Savion in Nella zeigt, von dem bekannt ist, daß er GEORGE SAND liest, sozialistische Ideen vertritt, und der schließlich sich und seine Geliebte, die Tochter des Fabrikdirektors, aus Verzweiflung und Auflehnung im Wald erschießt.
Die ungesunde Romanlektüre der Frauen führt aber auch zu einer Entfremdung der Frauen von den Männern - "wir sind zu schade für unsere Männer", bedauert Luise in Der dritte Stand, [62] bevor sie zur Räson (sprich: Heirat mit einem emporstrebenden Handwerker) gebracht werden kann.
LEWALDs Polemiken gegen Romanlektüre muten zunächst befremdlich an, weisen ihre Romane doch aus heutiger Sicht ebenso Anfälligkeit für Trivialität, Klischierungen, kitschige Gefühlsdarstellungen auf, wie die von ihr kritisierten. Der Unterschied ist jedoch zu sehen in der von LEWA.LD vertretenen Moral der Disziplinierung: Ihre Romane verstehen sich gerade nicht als Anregung zu Phantasie und Schwärmerei.

6. Das alte Schmerzenslabyrinth der Leidenschaft - die Disziplinierung von Liebe und Gefühlen

In Verbindung mit ihrer Ausrichtung auf Selbstkontrolle und Rationalität spielt das Thema der Entsagung, der Topos der unglücklichen Liebe, eine hervorragende Rolle in LEWALDs Romanen. Dabei steht nicht so sehr die Entsagung als solche im Vordergrund, als vielmehr die Festigkeit des Individuums, die Selbstdisziplin als neue, rationale Form der Entsagung. Die nicht kommunizierbaren Gefühle werden nun selbst denunziert und verlieren ihren ursprünglichen Charakter. Demgegenüber muß eine permanente Selbstbestätigung des Individuums in seiner rationalen Identität erfolgen.
LEWALD hat zwar die Eigenschaften der menschlichen Liebe durchaus als widersprüchlich und facettenreich entworfen, jedoch hat eine Eigenschaft der Liebe sie präokkupiert, die in zahlreichen Abwandlungen und Wiederholungen das Grundthema ihrer Romane ausmacht: die Unplanbarkeit, Unkontrollierbarkeit, die Unzugänglichkeit durch rationale Kategorien. "Man liebt nicht wen und wie man will. Das kommt über Einen, und wächst mit Einem, ohne daß man's weiß!" [63]
Die Liebe ist ein "Zauber", der sich über die Vernunft des Menschen legt, ihn in "wilden leidenschaftlichen Träumen", in "finsterer Qual" umherjagt, der den Menschen mit "Gewalt" ergreift, ihn "im Sturm der Leidenschaften" untergehen läßt, ihn mit der "heißen Gluth" der Sinne überrascht und versinken läßt. Die Gefahr, der eigenen Sinnlichkeit zu erliegen, betrifft zunächst die Männer; Anzeichen für Sexualität und Sinnlichkeit in einer Frau deuten entweder auf deren Unbildung hin "denn Sinnlichkeit und Unbildung müssen ihrer Natur nach immer neue, immer stärkere Reizmittel für ihre Unterhaltung haben" [64] - oder auf die Tatsache, daß es sich um Femmes fatales handelt, die in LEWALDs Erzählwerk übrigens durchgängig Ausländerinnen sind, lebensfrohe kokette Polinnen, ausschw-eifende ächte Italienerinnen. (Hier wird die mehrfache Dimensionierung der Disziplinierung deutlich als männlich-bürgerliche, männlich-patriarchale wie auch -nationale. In der mehrdeutigen umgangssprachlichen Verwendung von "Chauvinist", "chauvinistisch" heute sind diese Ebenen in eine begriffliche Synthese gebracht.)
In jedem Fall stellt weibliche Sinnlichkeit ein Problem dar, das Disziplinierungsmaßnahmen seitens des Ehemannes, Bruders oder Vaters erfordert: ... und wenn man erst Gottestisch und das Ehebett vor Augen hat, da vergehen die anderen Grillen." [65]
In den Fällen, wo eine mit Sympathie gezeichnete Frau der Sinnlichkeit nachgibt, und vom bürgerlichen Tugendpfad abweicht, muß sie die ,Schuld' ihres Schicksales zumindest mit harter Buße bezahlen. Um der Verstrickung und Gefahr sinnlicher Schuld zu entgehen, muß das Individuum nun immense Anstrengungen auf sich nehmen, um sich zu Festigkeit, Widerstandsfähigkeit, Rationalität zu erziehen: "Sich zur Pflichterfüllung erziehen, heißt sich das Anker bereiten, das uns im Sturm der Leidenschaften vor dem Untergehen bewahrt. [66]
Dabei hat die Kunst der Selbstbeherrschung für die Männer, ihrer Rolle entsprechend, eine öffentlich-gesellschaftliche Funktion, im Zuge der Polarisierung der Geschlechtscharaktere können aber "die Ehre eines Offiziers" und "der Ruf einer Frau" miteinander in puncto Disziplinierung parallelisiert werden. [67] Die postulierte Unterschiedlichkeit der Geschlechtscharaktere und der damit verbundenen Rollenerwartungen führt nun zu einer eigenartigen Dichotomie und einem Interessengegensatz in bezug auf die Ehe. LEWALD zeigt auf, daß der Mann die Ehe mit einer anderen Form von Verantwortlichkeit einzugehen habe als das Mädchen, und sie für sich selbst auch eher als eine disziplinierende Instanz begreift, und zwar sowohl in ökonomischer als auch in sittlicher Hinsicht. Ist schon die "erste Liebe (...) für den Jüngling ein großer Fortschritt und ein wichtiger Hebel für seine Civilisation", [68] so bedeutet

"der Vorsatz, sich zu verheirathen, (...) für den ernsthaften Jüngling de(n) plötzlichen Übergang in das Mannesalter, de(n) eigentliche(n) Eintritt in das bürgerliche Leben, de(n) Anfang jener gefesteten Gesittung, die ihn mit der Allgemeinheit, mit dem Staate, in eine für ihn selbst nothwendige und dem Allgemeinen förderliche Verbindung bringt." [69]

Die Ehe ist der Ort, wo die Liebe selbst ökonomisiert wird. Wenn LEWALD dies in ihren radikalsten Stunden auch selbst erkannt hat - zumindest in bezug auf die Konvenienzehe so ist die Ökonomisierung der Liebe doch viel weitreichender zu sehen. Z. B. hat LEWALD häufig die beiden 'Codes' Liebe und Ökonomie in Metaphern miteinander kombiniert:
"macht euch Freunde, sammelt ein Kapital von Liebe um euch her für euch an, damit ihr von seinen Zinsen leben und zehren könnt... [70]
Damit haben die Werte des Kommerzes und des Eigentums die Sphäre der Liebe durchdrungen es ist die Rede vom "Besitz" der Geliebten und der "Bürgschaft seines Glücks"; die Blicke, die Worte der Geliebten betrachtet ihr Verlobter als ein "ihm gehörendes Gut", als einen "Besitz", der sein Leben "reich" macht, die briefliche Lösung eines Verlöbnisses wird zum "Erkaufen" der Freiheit. [71] Der Mensch selbst "hat seinen Preis wie alle anderen Dinge, seinen steigenden und fallenden Werth", und die Ehe wird zu einer "schöne(n) sichere(n) Anwarthschaft auf Frieden und Freude". [72]
Die Ökonomisierung der Liebe, ihre Reduzierung auf den Sinn des Habens, stellt vielleicht die krasseste Form ihrer Disziplinierung dar, eine Form, die bereits in ihrer sprachlichen Kommerziallsierung weit entfernt ist vom Entwurf der Liebe als Utopie. Der Liebe wird in den Romanen LEWALDS, auch da, wo sie Standesgrenzen und gesellschaftliche Konventionen zu überschreiten vermeint, die Qualität des Widerständigen genommen. Deutlichstes Indiz dafür ist die Form des versöhnlichen Happy ends', das die Konflikte negiert und Widersprüche zudeckt. Zu Ende der Romane ist die Wirklichkeit - trotz aller Opfer versöhnt, es bleibt keine Sehnsucht zurück. LEWALD hat ihre eigenen Ansprüche - "Etwas sehnlich wünschen, ist ein großes Glück! [73] zurückgenommen und aufgelöst.
Das Verhältnis zu Liebe und Sinnlichkeit ist gekennzeichnet durch eine eigenartige Faszination, die typisch ist für die bürgerliche Moral, so heißt es z. B. im Roman Die Erlöserin über Hulda, auf die die Schauspielerei als Inbegriff antibürgerlicher Sinnlichkeit einen großen Reiz ausübt: "Es beschäftigte sie, es zog sie an, sie fühlte sich damit verbunden, es reizte sie und stieß sie doch auch wieder ab." [74]
Diese Einschätzung läßt sich ohne weiteres auf LEWALDs Verhältnis zu den von ihr dargestellten Liebesverstrickungen, aber auch auf ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit übertragen. So gibt es auch eine biographische Parallele zwischen ihr und der Schauspielerin Hulda, auf die eine Anspielung in der Lebensgeschichte hinweist: der Traum, sich im Schutze der Rolle dem Geliebten offenbaren zu können. [75]
Interessanterweise ist ein Roman LEWALDS, der noch am ehesten Sinnesfreude, auch in der Schreibweise, aufweist, im katholischen Rom angesiedelt, "ergriffen von der poetischen Sinnlichkeit des katholischen Gottesdienstes". [76] Der Roman Stella spielt dabei gleichzeitig in der Künstlerwelt, auf die sich Gefühle des Neides und der Unerreichbarkeit konzentrieren. Während der ernste protestantische Engländer Wilfried seinen Malerkollegen Adalbert, einen fröhlichen Rheinländer, um seine Unbeschwertheit beneidet, fühlt sich dieser von der Rubensschen Bauernhochzeit angezogen, einem Bild, das "uns bei all' unserer Bildung doch den Wunsch erweckt, es möchte uns auch bisweilen so kannibalisch wohl sein als jenen Schelmen in ihrem ausgelassenen Uebermuth". [77]
Die nicht erreichbare Sinnlichkeit, für deren Beschreibung die Autorin gleich auf zwei Bildungszitate zurückgreifen muß, ist sowohl geographisch als auch historisch entrückt. Interessanter noch als der Hinweis auf die biographischen Aspekte dieser Form der Disziplinierung ist deren historischer Einbezug in den ,Prozeß der Zivilisation' und daran anknüpfend, die Grundlegung und Formulierung einer feministischen Dialektik der Aufklärung; FANNY LEWALD liefert etliche Belegstellen für jenen Autoritarismus gegen sich selbst, der schließlich einen "Homo faber" in seiner Rationalität und Selbstbeherrschung zu der Definition "Gefühle sind Ermüdungserscheinungen" kommen läßt. [78]

7. Die zärtliche Despotie der Familienliehe - die Familie als Instanz der Disziplinierung

"Will man aber Menschen für die Freiheit (...) erziehen, so muß man sie für eine Zeit lang aus der Familie entfernen, sie öffentlichen Erziehungsanstalten übergeben. Die Familie erzieht sie zum aristokratischen Partikularismus und muß sie zur Unterordnung unter den Willen eines einzelnen Machthabers erziehen. [79]

"Die Familienliebe, wie sie in der bisher organisirten Familie bestand und besteht, ist ein Despot, wenn schon ein zärtlicher, und die Ketten, welche sie dem Einzelnen anzulegen für ihr Recht und ihre Pflicht hält, sind schwer, weil sie zu leicht sind, um leicht zerrissen werden zu können." [80]
Bei der Disziplinierung der Individuen spielt in LEWALDs Romanen natürlich die bürgerliche Institution der Familie eine wesentliche Rolle. Bei aller Kritik an der bürgerlichen Familie, die sie über die Jahre hinweg immer wieder formulierte, hat LEWALD den Zauber des Familienlebens' in ihren Romanen letztlich doch idyllisiert und idealisiert. Wesentliche Aspekte des Familienlebens, wie es LEWALD in ihren Romanen zeichnet, sind dabei Besitzanspruch der Eltern und Projektion der elterlichen Vorstellungen auf das Kind, die beeinflussende Wirkung der elterlichen Liebe, die in ihrer zärtlichen Despotie' womöglich effektiver als der partriarchalische Herrschaftsanspruch wirkt: Während dem Gehorsamsanspruch des Pater familias der Freispruch korrespondiert, gibt es aus dem "edlen und schönen Einverständniß" [81] keine Emanzipation', das familiäre Harmonieideal trägt das Individuum in seinem Innern. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Idealisierung des Vaters - in bezug auf FANNY LEWALD selbst spricht AGNES HARDER vom "leidenschaftlich geliebte(n) und gefürchtete(n) Gott ihrer Jugend" [82] _ die weitreichende Konsequenzen für LEWALDs Literaturproduktion hatte. Bevor ich abschließend auf die Bedeutung der Orientierung am väterlichen Prinzip für LEWALDs Literaturproduktion zu sprechen komme, möchte ich auf einen damit zusammenhängenden Aspekt verweisen, der sich auf der Romanebene ihres Werkes selbst aufzeigen läßt, aber auch biographisch rückzubeziehen ist, und der insgesamt eine grundlegende Ambivalenz in LEWALDs Vorstellung von der Emanzipation zur Arbeit aufdeckt: Die in der Familie stattfindende Disziplinierung des Kindes zur Ware Arbeitskraft geschieht aufgrund der speziellen persönlichen Strukturen in der Familie auf eine Art und Weise, die die Motivation zur Arbeit nicht im Genuß in der Arbeit selbst begründet, sondern im Bedürfnis des Kindes, Liebe und Anerkennung zu gewinnen. Die Kinder müssen sich die Liebe der Eltern permanent verdienen', wobei insbesondere väterliche Wünsche und Ziele auf sie projiziert werden. So heißt es z. B. im Roman Die Familie Darner von Vater Darner, daß er seine Kinder "als seine Geschöpfe, als sein Eigentum" liebte; diese "Selbstsucht in des Vaters Liebe" wird an zahlreichen Stellen des LEWALDschen Erzählwerkes benannt.
Wenn die Kinder zunächst um der Elternliebe willen ein gewünschtes Verhalten zeigen oder entsprechende Arbeitsleistungen vollbringen, so wird diese Struktur der Motivation :zur Arbeit schließlich auf andere wichtige soziale Beziehungen übertragen. Der Liebende wird "von der Macht seiner Liebe zu neuem Hoffen und zu verdoppelter Arbeit angespornt [84]; nicht im Vertrauen auf die Liebenswürdigkeit der eigenen Identität, sondern auf den Eindruck der bestechenden Arbeitsleistung hofft der (unglücklich) Liebende, die Aufmerksamkeit und Gunst des anderen Teils zu gewinnen. Diese Motivationsstruktur ist derart verinnerlicht, daß sie selbst noch im Fall der unerfüllten Liebe massiv wirksam wird - dient die Arbeit einerseits dazu, der verschmähten Liebe Pein in sich zu besiegen, die innere Leere und Depressivität zu bekämpfen" so ist ein Hauptanliegen darin begründet, es dem oder der Geliebten noch nachträglich zu zeigen, wen sie da verschmäht haben, um sich durch Leistung und Erfolg die Liebe noch nachträglich zu erkaufen:

"Ja! so dazustehen auf der hohen Bühne, die Blicke eines zustimmenden, bewundernden Publikums an sich zu fesseln, es zu empfinden, wie in Hunderten von Herzen das Schöne, das Erhabene, das die eigene Brust mit bebender Begeisterung erfüllte, wiederklang, das mußte ein Glück sein, über das man Alles vergessen konnte - Alles - auch verschmähte Liebe und gebrochene Treue. — Und wenn er dann dasäße unter den Hunderten, die ihr huldigten und Beifall klatschten, wenn er sich dann sagen müßte: Und Du hast sie verschmäht und hast sie aufgegeben und vergessen..." [85]

Bei der Skizzierung der Motivation zur Arbeit aus Liebesbedürfnis differenziert LEWALD nicht explizit zwischen männlicher und weiblicher Charakterausbildung, jedoch legen einige Äußerungen von ihr den Schluß nahe, daß diese Form des Impulses zur Arbeit auch in ihren Augen eher einer weiblichen Struktur entspricht, die in der Unsicherheit und Wichtigkeit von Anerkennung in der weiblichen Sozialisation und in der Angewiesenheit weiblicher Arbeit in der Familie auf die Bezahlung mit Anerkennung gründet.

8. Menschliche Gleichberechtigung mit würdigen Männern?

Frauenemanzipation und das Ideal von männlicher Würdigkeit

"...die Erziehung der Frauen wird zum großen Theil, wenn nicht durch die Männer selbst, so durch unsere Liebe für sie bewirkt..." [87]
Bildung der Frau durch den Mann, Bildung der Frau zum Besten des Mannes - die Emanzipation zu Arbeit und Erwerb wird zu einer Interimsemanzipation, die im Falle der Heirat endet. LEWALD hat das bürgerliche Sozialmodell und die damit verbundene Polarisierung der Geschlechtscharaktere nicht grundsätzlich angetastet. Dies wird am deutlichsten bei der Betrachtung der in den Romanen dargestellten Frauencharaktere und der entworfenen Weiblichkeitsideale.
Die Frau gilt in vielen Fällen als "Kind" des Ehemannes, zu dem sie "emporsehen" muß, [88] dem sie "unterthan" ist. Die Überlegenheit des Mannes empfindet sie als "tief demüthigend", zugleich als ihr "Glück". [89] Der Mann ist der Lehrer, Erzieher und Befehlshaber der Frau, der sie vor allem wegen ihrer "beständige(n) Gefügigkeit" [90] liebt. "Er wollte ihr Geliebter und ihr Erzieher, ihr Gatte und ihr Vater, mit einem Wort, ihr Ein und Alles sein." [91] Er ist nicht nur der "Erwecker ihrer Jugendlust", sondern "recht eigentlich" "ihr Erzeuger". [92] Wenn oder: da - Frauen anders sind als Männer, ist beinahe das höchste Lob, das einer Frau zuteil werden kann, ihre Charakterisierung und Attribuierung mit männlichen Zügen. Demgegenüber werden weibliche' Eigenschaften, wie Naschsucht, Redseligkeit, die "gehätschelte Nervenschwäche der Frau" [93] kritisiert, ja denunziert. Die Denunziation der Weiblichkeit als Schwäche führt zu einem interessanten Widerspruch im Frauenbild LEWALDS: die Sicht der ,weiblichen Schwächen' grenzt fast an Verachtung im Gegensatz zu ihrem "Ideal von männlicher Würdigkeit". [94] Trotzdem soll die Frau weiblich bleiben, die "Manieren einer emancipirten Frau" - zigarrerauchend, hosentragend, leidenschaftlich werden karikiert und abgelehnt. [95]
Damit hat LEWALD genau jenen besonderen Nimbus der Weiblichkeit beschworen, gegen den sie anderweitig polemisiert hat. Für die Behauptung der Gleichberechtigung der Frau mit dem Mann ergibt sich dabei der fundamentale Widerspruch, daß die Frau einerseits den Disziplinierungsprozeß der bürgerlichen Entwicklung, wenn auch verspätet, nachholen soll, andererseits das bürgerliche Sozialmodell und die vorgeprägten Weiblichkeitsimagines nicht angetastet werden. Damit wird Emanzipation zu einer enormen Anpassungsleistung an den Mann. Das Konzept der Emanzipation wird nicht als Herausforderung an die bestehende Gesellschaft aufgefaßt, sondern lediglich als Nachholbedarf an Disziplin für die Frauen definiert: "freilich, die Weichlichkeit und die Geziertheit müssen daran gegeben werden..." Diese Art von Emanzipation kommt dann in erster Linie im Binnenraum von Ehe und Familie zum Tragen.
Hier schließt sich der Kreis patriarchalischer Strukturen. LEWALDs Emanzipationsansatz blieb letztlich partriarchalischen Prinzipien verpflichtet und trug in der Orientierung an bürgerlich-männlichen Prinzipien und der fortdauernden Idealisierung des Vaters den eigenen Mangel in sich. So läßt sich ihre Faszination am väterlich-patriarchalischen Prinzip, ja die Apotheose des Mannes zum Gott, in ihrem gesamten Romanwerk verfolgen, von ihren frühesten Romanen, z. B. Jenny aus dem Jahr 1842, bis hin zum letzten Roman, Die Familie Darner, in dem die Tochter Virginie voll Bewunderung zu ihrem Vater emporblickt: "Nie war seine Entscheidung ihr mächtiger und gebieterischer vorgekommen als jetzt, wo er vor ihr stand, hochaufgerichtet, mit den breiten Schultern, mit dem stolzen Nacken, mit der mächtigen Brust, mit dem scharf und kräftig gezeichneten Bau des Kopfes und der hochgewölbten Stirn." [96]
Hier scheint die Erotisierung des ("hochaufgerichteten") Vaters gleichzeitig mit den Augen Virginies und denen der Autorin vorgenommen zu sein - die Textstelle enthält eine deutliche biographische Anspielung auf LEWALDs Vater. Daß Virginie im Roman es als ihren "Beruf" versteht, "Für meinen Vater zu leben!" [97] und sich im Gegensatz zur Mutter als seine bessere "Hausfrau" sieht, ist auch eine Emanzipation zu Arbeit ... Die vielschichtige Bedeutung, die die Übernahme männlicher Disziplinierungen und die Orientierung an der väterlichen Instanz für LEWALDs Kunstproduktion hatte, läßt sich nicht kritisch genug beurteilen. Zeit ihres Lebens gelang es ihr nicht, sich von den männlichen Vorbildern, der Ausrichtung auf einen männlichen Zeugen zu lösen, wobei sie das verinnerlichte Ideal ihres Vaters auf andere Instanzen übertrug, sei es auf ihren Ehemann, ADOLPH STAHR: "Du bist mein Heiland, der mich erlöst hat. . .", "Gott und du seid ja eins, denn ich habe keine andern Götter neben dir!" [98] sei es auf ihr literarisches Vorbild Goethe: "Er ist immer von Gottes Gnaden." [99]
Mit der Idealisierung männlicher Vor-Bilder ging die Verachtung und Denunziation (anderer) Frauen einher, vor der häufig damit auch zusammenhängenden Selbstverachtung schützte sich LEWALD allerdings, indem sie sich gewissermaßen extra naturam, außerhalb der Geschlechterpolarität stellte. Geschlechtsnivellierend bzw. -negierend forderte sie allgemein für den weiblichen Schriftsteller,

"daß man ihn ohne Schonung, aber auch ohne Vorurtheil behandele, daß man von ihm absehen und sich an seine Leistung halten möge, mit einem Worte, daß man den weiblichen Schriftsteller dem männlichen gleich verantwortlich und damit gleichberechtigt an die Seite stelle, was noch lange nicht genug bei uns geschieht. Und so komme ich denn immer wieder darauf zurück, für die Frauen jene Emancipation zu verlangen, die ich in diesen Blättern schon vielfach für uns begehrt: die Emancipation zu ernster Pflichterfüllung, eu ernster Verantwortlichkeit und damit zu der Gleichberechtigung, welche ernste Arbeit unter ernsten Arbeitern dem Einzelnen erwerben muß." [100]

Mit der Kritik an der falschen, ideologischen Polarität der Geschlechtscharaktere verbindet sie das Postulat nach formaler, männlich orientierter Gleichberechtigung; dabei überspringt sie die historische Benachteiligung und das historische Anderssein der Frau voluntaristisch und ignoriert die unterschiedlichen Bedingungen, mit denen schreibende Frauen sich auseinanderzusetzen hatten, wie z. B. im Vergleich zu den Männern dürftigere Schulbildung, diskriminierende Verlegerpraktiken, Angst vor der Preisgabe der eigenen Person an die Öffentlichkeit, die Notwendigkeit einer eigenen Werkstatt, um nur einige Punkte zu nennen." [101] Demgegenüber enthält die Denunziation von Frauenliteratur als "Strickstrumpfunterhaltung" (GUTZKOW) einen Hinweis auf die Bedingungen und Zusammenhänge, unter denen Frauen Literatur produzierten und rezipierten. Die disziplinierende Funktion des Alltags, die spezifische Rolle der Frau im weiblichen Lebenszusammenhang' haben gravierende Folgen für die weibliche Kunstproduktion.
So läßt sich LEWALDs Schreiben nur verstehen in der Dialektik von Alltag und Emanzipation, als Aufbegehren und Anpassen, als Schaffen eines Freiraumes und Begrenzung, als Kritik und Selbstdisziplinierung. Die Analyse solcher Widersprüche bedeutet nicht, im nachhinein moralische Forderungen an die Autorin zu richten, wohl aber sind Forderungen zu erheben an uns, an unseren Umgang mit dem historischen Material. Es kann nicht darum gehen, in einem geschichtlichen Nachhilfeunterricht die vielschichtige und widersprüchliche Bildung der Frauen auf das Klassenziel Emanzipation' hin zu verkürzen. Radikalität bedeutet nicht Widerspruchslosigkeit, sondern liegt im Zulassen und Austragen von Wider-Sprüchen. Es geht um die Frage, ob es uns gelingt, den Mangel produktiv zu machen, das Lesen historischer Frauentexte als Lernmaterial sollte also mit Behutsamkeit erfolgen, kritisch, nüchtern und mit utopischer Phantasie, auf jeden Fall nicht, wie FANNY LEWALD selbst es in einem anderen Zusammenhang rügte, "mit einer trockenen Theilnahme billigster Art an Litteratur und Kunst, die wie der wohlfeile kandierte Mohn über die zähen Brode der Alltäglichkeit gestreut wird..." [102]

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