Freda Wuesthoff Vorkämpferin gegen atomare Aufrüstung

Versuch eines Porträts

Frauen in der Geschichte V
HIROSHIMA - 6. August 1945

  • »Im August 1945 brachte das Radio in die Abgeschiedenheit des kleinen Dorfes am Bodensee, in der ich damals lebte, die Nachricht von dem Abwurf der Atombomben. In der anschließenden Zeit sammelte ich alle Nachrichten, die über dieses zunächst völlig rätselhafte Ereignis zu bekommen waren. Allmählich wurde mir klar, daß sich hier eine völlige Umwälzung vollzogen hatte, die die Menschheit als Ganzes vor vollkommen neue Probleme stellt. Es ergibt sich für den Physiker eine sehr einfache Situation: Entweder: Die Menschheit geht auf dem seit Jahrtausenden gewohnten Wege weiter, d. h. auf dem Wege, ihre Streitigkeiten durch Krieg auszutragen, - dann geht die Menschheit unter, oder: Es gelingt das zunächst unmöglich Scheinende, es gelingt die Überwindung des Krieges, dann liegen vor der Menschheit ungeheure Entwicklungsmöglichkeiten in kultureller, ethischer und sozialer Richtung.«[1]

HIROSHIMA - das war das Schlüsselerlebnis für die Physikerin FREDA WUESTHOFF und die Antriebskraft zugleich, ihre Arbeit und ihr Leben dem dauernden Frieden zu widmen.
Beim Betrachten, Analysieren und Herantasten an das vielgestaltige Leben und Denken von FREDA WUESTHOFF, das sich mir aus ihren wenigen Schriften, einer Anzahl von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, einer Flut von Nachrufen und vor allem aus ihrer umfangreichen Korrespondenz sowie aus Gesprächen mit ihr vertrauten Menschen erschloß, fiel mir besonders ein Brief vom 14. 11. 1946 auf. Dieser Brief enthält eine Vision. Die Klarheit der Bildsprache dieser Vision wurde mein Schlüsselerlebnis beim Versuch, mich der Persönlichkeit dieser außergewöhnlichen Frau zu nähern. Ein Schlüssel dafür, die Tiefe und Vielschichtigkeit, die visionäre Kraft und die lebensbejahende Menschlichkeit ihres Engagements in der Friedens- und Frauenbewegung zu verstehen.

  • »Anfang August 1946 fuhren wir, von Hannover und Hildesheim kommend, nach Süddeutschland zurück. Es war einer jener seltenen Tage, an denen Wiesen und Hänge das Sonnenlicht, geheimnisvoll verwandelt, in allen erdenklichen Schattierungen von Grün und Gold zurückstrahlen. Vor dem Erinnerungshintergrund der Städtetrümmer malte sich die Landschaft doppelt lieblich ab. Wir fuhren geruhsam. Das Auge konnte sich nicht satt sehen an der sanften Bewegung der gebuckelten, zumeist von Wiesen bedeckten Höhen. Der Himmel war fast wolkenlos. Da war der fast körperliche Wunsch, mit der Hand über diese runden Flächen zu streichen, sich nicht nur auf das Auge zu verlassen, sondern tastend die Unversehrtheit der guten Erde zu verspüren. Die gute Erde - das Wort hatte lebendige Gestalt gewonnen. Man konnte zu ihr flüchten aus den Steinhaufen der verwüsteten Städte, aus den Kraterfeldern zerfetzter Industrieanlagen. Wir hatten das noch nie so empfunden. Auf unseren vielen Bahnfahrten hatten wir die Landstrecken zumeist blind durchfahren. Man erlebte eigentlich nur immer das Reiseziel die Stadt. Und da wechselten zwar Art und Ausmaß der Zerstörung. Immer aber waren es trostlose Bilder, ob das nun Frankfurt und Darmstadt waren, Bremen und Hamburg, Hildesheim und Hannover, Berlin, München und Augsburg, Pforzheim und Ulm. Auf dieser ersten größeren Fahrt im Wagen unter äußerlich fast friedlichen Umständen erlebten wir, welch weite Bereiche des Landes zwischen den vernichteten Städten von dauernder Verwüstung verschont geblieben sind. Das Wetter blieb schön, die Landschaft wechselte kaum ihren Charakter. Es war das freundliche, leicht gewellte Gelände des Weser- und Werratals. Allenthalben wurde Getreide eingefahren. Von fernher bildeten die in gleichmäßigen Abständen kunstvoll aufgestellten Garbenhaufen seltsam schöne Ornamente. Wenn ein heftiger körperlicher Schmerz im Abebben ist, dann wagt man vorsichtig, ein wenig tiefer zu atmen - so wagten sich sehr zaghaft Hoffnung und ein ganz leises Glücksgefühl in den müden Sinn. Plötzlich, ohne daß ich damals oder später einen Grund dafür auffinden konnte, verwandelte sich das Bild furchtbar. Ich sah einen neuen Krieg. Was ich sah, entzieht sich einer getreuen Beschreibung. Und doch muß ich versuchen, es zu schildern, aus den kaleidoskopartig abrollenden Bildern einige auszublenden und festzuhalten. Ich sah die Verheerungen des Krieges über das ganze Land gebreitet - ich sah Wiesen und Wälder versengt, das nackte Erdreich zerfetzt, ich spürte Verseuchung über weite Landstrecken ausgebreitet. Nicht die Städte allein waren diesmal zerstört. Die Zerstörung hatte das weite Land ergriffen, in das die engen Bezirke unserer Städte und Ortschaften eingebettet sind. Flüchtlinge bewegten sich aus Zonen des Angriffs fort - in Zonen der Zerstörung hinein, planlos, ausweglos. Die Zerstörung raste weiter, sie überstrich einen vollen Erdteil, den nächsten, sie umrundete den Erdball. Der zerbarst nicht, solch gnädiges Geschick blieb versagt. Aber seine Oberfläche war ganz und gar geschändet wie ein skalpiertes Gesicht. Die Bildfolge riß nicht ab, aber auch die Gedanken folgten dem rasenden Ablauf. Was sollte werden, woher war Hilfe zu erwarten, da alles ergriffen war? Es würde keine Ernten mehr geben, in diesem Jahr nicht und nicht in den folgenden. Das fruchtbare Erdreich selbst war ja abgetragen. In manchen Gebieten hatten sich die Menschen vorsorglich in unterirdische Städte verzogen. Aber die Furie war stärker gewesen. Zur Hälfte unter ungeheuren Erdrutschen verschüttet, war diesem überdimensionalen Maulwurfsdasein ein gräßliches Ende bereitet. Einige Stellen waren durch einen Zufall verschont geblieben, hier ein Hochland, dort einige Täler, auch ein und das andere zusammenhängende Gebiet, einige der unterirdischen Städte. Hier nun bereitete man sich auf das Gemetzel vor, auf das Niedermachen der Flüchtlinge, auf den Kampf um das Übrigbleiben einiger Tausende oder Hunderttausende. - Und unser zerstörtes Gestirn kreiste weiter auf vorgezeichneter Bahn, ungeändert wechselten Tag und Nacht, Sommer und Winter. - Dann verlöschte das Bild.«[2]

1. Wer war FREDA WUESTHOFF?

FREDA WUESTHOFF wurde als Tochter der MARIE WEISBACH und des Stadtbaurates von Berlin, LUDWIG HOFFMANN, am 16. Mai 1896 in Leipzig geboren. Nur drei Monate ihres Lebens verbrachte sie in Leipzig, wo der Vater verantwortlich war für den Bau des Reichsgerichts. Dann lebte die Familie in Berlin. Da sie hier ihre Kindheit und Jugend erlebte, fühlte sie sich als geborene Berlinerin. Die Selbstverständlichkeit, als Mitglied einer angesehenen Familie in der kulturellen Vielfalt des Berliner Lebens zu Beginn des Jahrhunderts aufgewachsen zu sein, prägte ihre Persönlichkeit. Sie besuchte als Älteste von 5 Brüdern und 2 Schwestern eine Höhere Mädchenschule. Zunächst weigerte sie sich, in den Gymnasialzweig der Schule überzugehen und besuchte ein Schweizer Mädchenpensionat in Lausanne. Dort faßte sie dann jedoch den Entschluß, doch das Abitur zu machen. Dazu schreibt sie:

  • »Ich hatte das Glück gehabt, daß während der drei letzten Schuljahre in der höheren Töchterschule der Unterricht in Deutsch, Geschichte, Geographie, Kunstgeschichte und Kulturgeschichte von einem erstklassigen Pädagogen erteilt worden war. Der Unterschied zwischen der während dieser Jahre vermittelten Bildung und dem oberflächlichen Herumnaschen an ein wenig Literatur, ein wenig Kunstgeschichte, überhaupt an ein wenig von allem, in dem Pensionat erschreckte mich so, daß ich mich entschloß, in eine gründliche Weiterbildung einzutreten. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß jener Lehrer - Esternaux die überragendste Persönlichkeit war, die mir als Pädagoge während meines Lebens begegnet ist. Ich bearbeite noch jetzt jeden größeren Schriftsatz nach den Grundsätzen, die mir dieser Lehrer als 13-, 14-jährige vermittelte.«[3]

Ein weiteres, prägendes Moment in dieser Lebensphase war die Mädchenfreundschaft zu ANNEMARIE DONATH, die im Jungmädchenalter RUDOLF STEINER begegnete, später dessen enge Mitarbeiterin wird und die Eurythmie mitbegründete. Vermittelt durch diese lebenslange Frauenfreundschaft hat sich FREDA WUESTHOFF immer wieder, besonders aber in ihren letzten Lebensjahren, mit der Anthroposophie beschäftigt. Die Steinerschen Ideen waren überhaupt sehr wesentlich für das philosophische und humanitäre Weltbild eines großen Teils dieser Generation von Naturwissenschaftlern.
In den ersten Kriegstagen 1914 bestand sie extern das Abitur. 1916-17 absolvierte sie die hauswirtschaftlich-landwirtschaftliche Ausbildung in einer Schule des Reifensteiner Verbandes.
In den ersten Jahren des Weltkrieges arbeitete sie zunächst im Nationalen Frauendienst, einer auf Privatinitiative von Frauen aufgebauten Organisation und daran anschließend beim Hilfsdienst für Frauen im Kriegsamt, wo sie zum ersten Mal mit MARIE-ELISABETH LÜDERS und AGNES VON ZAHN-HARNACK zusammenarbeitete. 1917 übernahm sie das Referat »Hilfsdienst der Frauen in der Etappe«, wobei sie durch persönlichen Einsatz erreichte, die Frauen gegenüber den Männern abzuschirmen, die glaubten, die im Feld eingesetzten Frauen als ihren Spielball behandeln zu können.
1918 begann sie dann mit dem Studium der Physik, Nebenfächer Chemie und Mathematik, in Berlin, Heidelberg und München und promovierte 1924 in München bei dem Strahlungsforscher Prof. WIEN mit einer Arbeit »Über Beschleunigung von Kanalstrahlen«. Zu ihren Studienfreunden gehörten u. a. AGATHE KARST und HEISENBERG. Sie arbeitete dann kurze Zeit als Leiterin der physikalischen Abteilung des Instituts für Zuckerindustrie in Berlin, wo sie auch ihren Mann, FRANZ WUESTHOFF - er war Chemiker - kennenlernte. Er befand sich in der Ausbildung als Patentanwalt, und sie beschloß, diese Ausbildung ebenfalls zu machen. 1927 war sie die erste Patentanwältin Deutschlands und blieb es auch bis 1950. Gemeinsam mit ihrem Mann baute sie eine Anwaltspraxis auf.
Die Tätigkeit in diesem fast ausschließlich von Männern ausgeübten Beruf erfordert spezifische Qualifikationen. Das Patentwesen ist ein international eng verflochtenes, schwieriges Fachgebiet, nicht nur wegen der erforderlichen juristischen Kenntnisse, sondern auch wegen seiner technischen Verzweigtheit (Maschinen, Elektronik, physikalische und chemische Verfahren u. a.) und des stets mitzuverarbeitenden fremdsprachigen Materials. Sie und ihr Mann spezialisierten sich besonders auf das Patentrecht im Bereich von Pflanzenzüchtungen. FREDA WUESTHOFF kam zugute, daß sie durch den Umgang mit einem englischen und französischen Kindermädchen schon sehr früh und geradezu spielerisch diese beiden Weltsprachen beherrschen lernte.
FREDA WUESTHOFF war eine disziplinierte und genau arbeitende Frau. Als 15-jährige schrieb sie an eine Freundin, die ins Grübeln verfallen war:

  • Also vom Grübeln soll ich Dich befreien? Ja, weißt Du, das ist nicht so ganz einfach. Paß' mal auf, zuerst mußt Du nicht mehr grübeln wollen. Das ist schon ziemlich schwierig. Wenn Du es aber tust, so kommt als zweites heran: Arbeit. Natürlich nicht den ganzen Tag, um sich zu betäuben und gar nicht mehr nachzudenken. Nein! Aber irgendeine Sache tun, die man nicht tun muß, also nach der regulären Arbeitszeit noch drei recht schwere Mathematikarbeiten machen, oder es braucht gar nicht immer nur geistig zu sein, an einer Handarbeit ein Stück weiterkommen. Das gibt einem für den ganzen übrigen Tag eine Befriedigung, daß man gar nicht in eine sentimentale oder melancholische oder Grübelstimmung hereinkommt. Und wenn es trotzdem mal kommt, dann den Mut und die Selbstüberwindung haben, zu sagen: Es kommt nichts dabei heraus, an den Problemen haben sich die größten Philosophen zugrunde gerichtet.«[4]

Aus dem, was wir von und über FREDA WUESTHOFF wissen, tritt uns eine Frau entgegen, die relativ ungebrochen Verhaltensmuster hatte, die gemeinhin dem bürgerlichen Mann zugeordnet werden: hohe Selbstdisziplin und »Karriere«-Bewußtsein. Zugleich war sie jedoch, wie die unterschiedlichsten Menschen urteilen, die mit ihr zu tun hatten, ein überaus liebevoller, freundlicher Mensch, eine Frau mit lebenssprühendem Temperament und Charme, weltoffen und bescheiden zugleich und sehr humorvoll. Es wird gesagt, daß auch ihre Gegner in den Bann ihrer Ausstrahlung gezogen wurden. In den zahlreichen Gremien, in denen sie als einzige Frau über viele Jahre hinweg gewirkt hatte, wurde sie immer sowohl als Fachfrau, wie auch als weibliches Wesen sehr anerkannt.[5]
Sie hatte die Fähigkeit, allen, mit denen sie beruflich zusammenarbeitete, ob als Untergebene oder als Mitarbeiter/innen, das selbstverständlich wirkende Gefühl gleichberechtigter Zusammenarbeit zu geben.
Nichts in dem, was sie selbst geschrieben und geäußert hat, noch was ihr nahestehende Menschen über sie gesagt haben, deutet darauf hin, daß sie sich in ihrem Auftreten als Frau unsicher und inkompetent fühlte. Aufgrund ihrer Erziehung, Schulausbildung sowie ihrer Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum war es für sie selbstverständlich, ihren Fähigkeiten und Neigungen zu leben, sich als ganzheitlicher Mensch zu verwirklichen, ihren individuellen Weg zu gehen. Für sie stellte sich zu keinem Zeitpunkt die Frage, ob dieses oder jenes Verhalten für Frauen üblich ist oder nicht. In Auseinandersetzungen agierte sie deshalb nie aus der Position weiblicher Ohnmacht oder aus der Erfahrung, sich als Frau zurückgesetzt zu fühlen. Sie nutzte aktiv und selbstbewußt alle Möglichkeiten, die sich ihr aufgrund ihrer gesellschaftlichen Herkunft anboten. Für sie war es offensichtlich selbstverständlich, daß die Welt ihr offenstand.
Mit dieser Sicherheit schwamm sie gegen den Strom und wurde zur Ruferin in der Wüste.
Auch ihre Ehe war außergewöhnlich. FREDA WUESTHOFF mußte die Erfahrungen vieler bürgerlicher Frauen in den 20er Jahren nicht machen: entweder ausschließlich Hausfrau und Mutter zu sein oder aber eine eigenständige berufliche Perspektive als sogenannte alleinstehende Frau zu entwickeln. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die Ehe und Beruf auf harmonische Weise verbinden und leben konnten. Sie hatte eine partnerschaftliche Ehe, die - ohne jegliche Konkurrenz - von sehr hohem gegenseitigen humanen Respekt geprägt war. FREDA WUESTHOFF hatte einen starken Kinderwunsch, der sich aber nicht verwirklichen konnte.
In den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg nahm sie die Kinder von Freunden und Verwandten in ihrem Berliner Haus auf, sorgte sich um sie und verschaffte ihnen günstige Bildungsmöglichkeiten.
Die Auswirkungen der Nürnberger Rassegesetze erfuhr FREDA WUESTHOFF am eigenen Leibe. Sie erhielt Berufsverbot, da sie mütterlicherseits »jüdisch belastet« war und deshalb als »halbarisch« galt. Sie arbeitete trotzdem weiter in der Praxis ihres Mannes, nur durfte sie offiziell nicht mehr als Patentanwältin auftreten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Ende sie in Bechtersweiler, einem Dorf am Bodensee erlebte, wohin das Patentanwaltsbüro evakuiert worden war, führte sie Verhandlungen mit der französischen Besatzungsmacht in Baden-Baden über den Wiederaufbau des Patentwesens. Kennzeichnend für ihren Lebensstil, sich auf selbstverständliche Weise in verschiedenartigen Welten zu bewegen, ist, wie sie den Überlebenskampf in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit praktizierte:
Als die Bauern am Bodensee aufgrund einer Ausgangssperre die Milch nicht mehr in andere Orte liefern durften, konnte sie ihr auf der Reifensteiner Schule erworbenes haushälterisches und landwirtschaftliches Wissen voll entfalten. Sie führte den Bauern das Käsemachen vor, das die Landwirte in dieser Region damals noch nicht kannten. Dennoch macht dieses Beispiel lebenspraktischer Selbsthilfe auch eins deutlich: FREDA WUESTHOFF hat sich niemals in den unteren Regionen des weiblichen Existenzkampfes abstrampeln müssen. Die Mühsal täglicher Reproduktionsarbeit, die den Alltag der meisten Frauen bestimmte, lag ihr fern. Auch wenn sie in Notsituationen bewies, wie sie zupacken konnte.
Im Gegensatz zu vielen Frauen ihrer gesellschaftlichen Schicht hat sie soziale Mißstände und die konkrete Betroffenheit von Frauen darin sehr klar gesehen und versucht, privat wie öffentlich dagegen anzugehen. So empörte sie sich beispielsweise in einem Zeitungsartikel vom Juni 1946 gegen die Zwangsmaßnahmen amerikanischer und französischer Besatzungsbehörden zur »Rückführung der Flüchtlinge«. Eine Maßnahme, die für Hunderttausende von Menschen bedeutete, aus ihren gerade mühsam neu geschaffenen Heimstätten wieder auf die Flucht getrieben zu werden, indem sie von Südwürttemberg nach Nordwürttemberg ausgewiesen wurden, um den Flüchtlingen aus Österreich Platz zu machen.

  • »War bei den Beratungen, die dem Erlaß dieser Verordnungen vorangingen, keine Frau dabei, die darauf aufmerksam gemacht hätte, daß die Anordnungen schlankweg undurchführbar sind? Daß es für eine Hausfrau, für eine Mutter mehrerer Kinder, für eine berufstätige Frau, kurz für alle Regelfälle, einfach unmöglich ist, unter den heutigen Lebensverhältnissen einen Hausstand innerhalb sechs Tagen aufzulösen und sich mit den Familienangehörigen samt Gepäck an der Zonengrenzübergangsstelle einzufinden? Kann man sich nicht vorstellen, daß der eine seine Wäsche im Waschtrog, der andere seine Schuhe beim Schuhmacher hat? Weiß man nicht, daß allein zur Beschaffung der gewöhnlichen Brotration gegenwärtig ein halber Tag erforderlich ist, daß man morgens nach den Nummern ansteht, mittags nach dem Brot? Innerhalb dieser sechs Tage sollen die ärztlichen Untersuchungen, die Abmeldungen des Hausstandes, die Beschaffung von Proviant für sieben Tage durchgeführt werden ... Die Lasten des Krieges sind in unserem Volk bisher unbeschreiblich ungleichmäßig verteilt ... Man hat uns jetzt fast ein Jahr lang von seiten der Siegermächte vorgeworfen, daß wir geschwiegen haben, wenn unter dem Nationalsozialismus Maßnahmen getroffen wurden, die wir für unmenschlich, für undurchführbar hielten. Wir wollen diese Schuld nicht vergrößern, wir wollen nicht weiter schweigen... Wir wollen auch nicht länger diktatorischen Maßnahmen unserer eigenen Verwaltung unterworfen sein. Wir wollen überhaupt einschneidende Maßnahmen vorher rechtzeitig erfahren, wir wollen dazu gehört werden.«[6]

Ihre hier ausgesprochene persönliche Betroffenheit zusammen mit der Erkenntnis, daß Frauen die Hauptlast der Kriegsauswirkungen auf ihren Schultern zu tragen haben, sind wesentliche Erfahrungsmomente, die sie motivierten, sich mit ihren Gedanken zur Friedensarbeit speziell an Frauen zu wenden.
Der erste öffentliche Ausdruck ihres Kampfes für den Frieden war eine von ihr vorbereitete Resolution, die auf der Versammlung der Patentanwälte der französischen Besatzungszone verabschiedet wurde und die verlangte, Erfindungen zur Massenvernichtung vom Patentschutz auszuschließen. Aufgrund ihrer Integrität wurde sie nicht nur von der französischen Besatzungsmacht, sondern auch bei Konferenzen im europäischen Ausland über Patentrechtsfragen anerkannt und geschätzt. Später übernahm sie zahlreiche Funktionen in unterschiedlichen Gremien.[7]
In ihren letzten Lebensjahren begann sie ein gründliches Studium der Anthroposophie. Sie maß einer intensiven Erforschung der anthroposophischen Gedankenwelt - gerade im Zusammenhang mit der Atomkraft - eine große Bedeutung bei.
1956 verunglückte sie tödlich, als sie im Begriff war, auf einer Informationstagung bei der Bundesanstalt für zivilen Luftschutz in Bonn vor den Vertreterinnen der zentralen Frauenverbände zu berichten und zur definitiven Beendigung des Wahnsinns der Atombombenversuche aufzurufen.

2. Der Stuttgarter Friedenskreis

Der Schock, den FREDA WUESTHOFF durch den zerstörerischen Feuerspiegel des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki erlebte, motivierte sie, mit aller ihrer Lebensenergie und Tatkraft für eine neue Friedensperspektive zu arbeiten. Sie wollte vor allem Frauen ansprechen. Im Hinblick auf die außergewöhnlichen Erfahrungen von Frauen im Zweiten Weltkrieg sowie ihrer spezifischen Überlebensarbeit in der Nachkriegszeit vertraute sie auf die weibliche Lernfähigkeit und setzte ihre Hoffnungen in eine besondere Friedensfähigkeit und Sensibilität von Frauen. Sie war auch davon überzeugt, daß mit den Frauen anderer Länder rascher als mit den Männern Verständigung darüber zustande kommen könnte, daß es nur ein Entweder/Oder gab: weitere Kriege und damit der qualvolle Untergang des Menschengeschlechts oder den Aufbruch zum dauernden Frieden. Sie begann Kontakte zu Frauen zu knüpfen, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, und denen sie sich gleichzeitig freundschaftlich verbunden fühlte. Im Frühjahr 1946 kam es zum ersten Zusammentreffen mit AGNES VON ZAHN-HARNACK, ELLY HEUSS-KNAPP und DOROTHEE VON VELSEN. Es wurde beschlossen, sofort mit der Arbeit anzufangen, das hieß, auf jedem Weg für den Frieden und gegen den Krieg zu wirken. In der breiten Aufklärungsarbeit über Atomenergie wurde eine wesentliche Aufgabe gesehen, mit der FREDA WUESTHOFF betraut wurde, weil sie als Physikerin über eine genaue Kenntnis der Zusammenhänge verfügte. Sie entwickelte ihre Ideen zum Thema »Atomenergie und Frieden« in diesem kleinen Kreis von Frauen. Es entstand allmählich der sogenannte FRIEDENSKREIS - ein autonomer, nicht institutioneller Zusammenschluß von Frauen - »eine ganz private Arbeitsgemeinschaft von Frauen«, wie sie es selbst formulierte. Den gedanklichen Entstehungsprozeß ihrer Friedensinitiative beschreibt FREDA WUESTHOFF in einem Brief vom 10. 10 1946 an AGNES VON ZAHN-HARNACK:

  • »Ich denke an einen Arbeitsausschuß für den Frieden, der aus wenigen Menschen besteht, die mit dem inneren Ergriffensein von der Idee auch trotzdem einen sehr nüchternen Kopf verbinden. Dieser Arbeitsausschuß müßte in Fühlung stehen mit sämtlichen politischen Parteien und mit sämtlichen Regierungen bzw. höheren Ministerien. Es ist natürlich gar nicht notwendig, daß man die Arbeit etwa dadurch erschwert, daß man in einer Zeit, in der es noch keine Zentralorgane geben soll, einen zentralen Arbeitsausschuß erstrebt. Es können genau so gut getrennte Arbeitsausschüsse in den verschiedenen Zonen sein, nur müßte man die geeigneten Leute haben. Ich zerbreche mir seit Wochen den Kopf darüber, ob man diesen Ausschuß als Frauen-Arbeitsausschuß ins Leben rufen soll, oder ob man diese Beschränkung nicht durchführen soll. Die Vor- und Nachteile liegen auf der Hand. Bei Einbeziehung von Männern und Frauen hat man eine wesentlich größere Auswahl, insbesondere an Kräften mit überragendem Fachwissen. Beschränkt man sich auf Frauen, so hat man den Vorteil, daß man sicher lebendiger arbeiten kann und nicht die ganzen Hemmungen behördlicher Staffelung mitschleppt, in der mir die Männer heute mehr denn je verhaftet zu sein scheinen.«[8]

Zunächst habe sie daran gedacht, ein Friedensministerium zu verlangen. Diese Idee habe sie jedoch wieder verworfen, denn die damit verbundene staatliche Fixierung zu diesem Zeitpunkt hielt sie für schädlich. Sie ging davon aus, daß der Beginn der Friedensarbeit unabhängig sein müsse, damit ein solcher Organismus Wurzeln schlagen könne. Ferner schlug sie AGNES VON ZAHN-HARNACK vor, die in Berlin damals gerade am Aufbau des Wilmersdorfer Frauenbundes (später Berliner Frauenbund) arbeitete, daß sich die neugegründeten Frauenorganisationen die zum überwiegenden Teil die Förderung des Friedens an erster Stelle in ihr Programm geschrieben hatten - durch Delegierte korporativ dem Friedensausschuß anschließen könnten.
Bemerkenswert ist, daß sie in diesem Zusammenhang bereits die Idee eines Netzwerkes von unterschiedlichen Friedensinitiativen entwickelte: auch Delegierte sonstiger, den Frieden erstrebenden Vereinigungen, wie Deutsche Friedensgesellschaft, Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, Deutsche Friedensbewegung, Versöhnungsbund, sollen mit dem Friedensausschuß zusammenarbeiten. Dabei hält sie es für besonders wichtig, den Fehler zu vermeiden, diese verschiedenen Organisationen zusammenschließen zu wollen. Die Arbeit müsse in kleinen Gruppen individuell geleistet werden, damit sie lebendig bleibe und wirken könne. Die Warnung vor der Gefahr einer Zentralisier-ung und damit einer Bürokratisierung von Friedensarbeit kommt hier klar zum Ausdruck. Auch wenn FREDA WUESTHOFF danach vielen ihrer Ideen eine organisatorische Form gab, so gilt doch für sie, daß sie darauf vertraute, daß die Dinge eher über persönliche Ansprache in den Menschen wirken.
Die erste konstitutive Tagung des FRIEDENSKREISES fand am 22./23. März 1947 in Stuttgart statt. Die hier versammelten 15 Frauen, die aus den drei westlichen Besatzungszonen angereist waren, vertraten unterschiedliche Berufe, wie WANDA VON BAEYER, Psychologin, ANGÉLE AUBURTIN, Völkerrechtlerin, die Verwaltungsjuristin im gehobenen Dienst THEANOLTE BÄHNISCH. ELLY HEUSS-KNAPP und MARIE ELISABETH LÜDERS waren Abgeordnete der Liberal Demokratischen Partei (spätere FDP). Auch die Gründerin der Sozialen Frauenpartei, URSULA ILLIG, gehörte zu den Mitgliedern vor allem auch Frauen, die bereits in der Weimarer Republik aktiv in der Frauenbewegung gearbeitet hatten, wie GERTRUD BÄUMER, MARIA JOCHUM, DOROTHEE VON VELSEN und AGNES VON ZHAN-HARNACK. Die Zusammensetzung des Friedenskreises zeigt deutlich den überparteilichen und überkonfessionellen Charakter dieser Initiative. Die Tagung begann mit einem Referat von FREDA WUESTHOFF zum Thema »ATOMENERGIE UND FRIEDEN«, die erste systematische Zusammenfassung ihrer Gedanken auf dein Hintergrund ihres physikalischen Wissens. Weitere Arbeitsschwerpunkte der Tagung waren: überparteiliche Friedensarbeit, bisherige Tätigkeit von Friedensorganisationen in Deutschland, internationale Arbeit, Frauenpartei, Wahlverfahren. Am Ende der Zusammenkunft wurden fünf Korn-Missionen gebildet. Ihre Mitglieder hatten die Aufgabe, die nächste Tagung intensiv vorzubereiten.«[10] Es bestand Einigkeit darin, daß die Entwicklung von nuklearen Waffen jeden Krieg ad absurdum geführt habe. Jedes Mitglied des Friedenskreises war aufgefordert, Listen von Kontaktpersonen und Organisationen zu erstellen, um eine regelmäßige Zusammenarbeit und Verbreitung der Friedensinitiative zu gewährleisten. Die Notwendigkeit von Friedensarbeit sollte sowohl breiten Volkskreisen als auch Menschen in Schlüsselpositionen - wie Lehrer/innen und Politiker/innen - zugänglich gemacht werden. Auch eine engere und Zusammenarbeit mit den Redaktionen von Frauenzeitschriften und dem Frauenfunk in allen drei Besatzungszonen wurde für wichtig gehalten. Die in politischen Parteien arbeitenden Mitglieder sollten darauf dringen, in ihren Parteien Ausschüsse für den dauernden Frieden zu bilden, die ständig das jeweilige Parteiprogramm auf seine Friedensinhalte hin kontrollieren sollten.
Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Organisation von Tagungen und gar der Gedanke eines interzonalen Kontaktnetzes 1947, als diese Aktivitäten stattfanden, mit massiven Schwierigkeiten verbunden war: FREDA WUESTHOFF besorgte Reisegenehmigungen insbesondere für die drei Berliner Mitglieder. Damals mußte für jede Reise ein Interzonenpaß beantragt werden. Sie sorgte sich auch um die Beschaffung von Reisekosten für die Mitglieder:

  • »Ich bitte herzlich, daß diejenigen Mitglieder, die auf die Teilnahme an der Tagung etwa wegen der Reisekosten würden verzichten müssen, mir dies sofort mitteilen. Es liegt im Interesse der Arbeit, daß aus solchem Grund niemand der Tagung fernbleibt. Es wird dann bestimmt ein Ausweg gefunden.«[11]

Die zweite Tagung des Friedenskreises im September 1947 und die dritte im Juni 1948 standen im Zeichen der Atomenergieaufklärung sowie der Diskussion in den verfassungsgebenden Landesversammlungen zu den Friedensartikeln und zur Kriegsdienstverweigerung. An jeweils fünf intensiven Arbeitstagen berichteten die einzelnen Kommissionsmitglieder über den Stand der Verhandlungen in der Trizone und Berlin. Außerdem wurde über Themen diskutiert wie Krieg und Kirche, Neutralisation Deutschlands, Versuche einer Weltregierung auf der Grundlage souveräner Staaten, »Weltanschauliche Grundlage des Kommunismus und seine gegenwärtige Verwirklichung im Bolschewismus«. Die Berliner Mitglieder des Kreises berichteten über ihren Antrag an den Verfassungsausschuß der Berliner Stadtverordnetensammlung (siehe Anhang, Dokument 1).
In diesem Zusammenhang wies FREDA WUESTHOFF bereits im Dezember 1946 auf die absurde Tatsache hin, daß die bayerische Verfassung zwar den Bewohnern Bayerns das Recht zum Pilzesuchen garantierte, dagegen keinen Artikel zur Förderung des Friedens enthielt.[12]
Das Ergebnis der Tagung im Juni 1948 war die Formulierung eines Friedensartikels für die gesamtdeutsche Verfassung:

  1. »Die Regeln des Völkerrechts sind bindende Bestandteile des gesamtdeutschen Rechts. Kein Gesetz ist gültig, das mit solchen Regeln oder mit einem Staatsvertrag in Widerspruch steht.
  2. Deutschland bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Der Krieg als Mittel der Politik wird abgelehnt. Jede Handlung, die geeignet ist, direkt oder indirekt kriegerische Handlungen vorzubereiten oder auf andere Weise das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, ist verfassungswidrig. Kein deutscher Staatsangehöriger darf zu irgendeiner Form von Wehr- oder Kriegsdienst gezwungen werden. Auch darf ihm aus der Ablehnung, Wehroder Kriegsdienst zu leisten, keinerlei Nachteil erwachsen.
  3. Es ist Aufgabe des deutschen Bundesstaates, Bestrebungen und Arbeiten für einen dauernden Frieden zu fördern. Es ist Aufgabe des deutschen Bundesstaates, einen freiwilligen Friedensdienst der Jugend zu schaffen. Für diese Aufgabe stellt der Staat öffentliche Mittel bereit.«[13]

Bei seiner letzten intensiven Arbeitstagung hatte der Friedenskreis 19 aktive Mitglieder. Zu den bereits genannten 15 Frauen kamen noch hinzu: ERDMUTHE FALKENBERG (Heidelberger Frauenverein), AMALIE MENG (Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit), RUTH OESCHSLIN (Internationaler Versöhnungsbund) sowie die Physikerin CLARA VON SIMSON (Leiterin der Letteschule in Berlin, Mitglied des Berliner Frauenbunds).
Der Friedenskreis existierte von 1946 bis 1949/50. Alle Mitglieder zusammen trafen sich nur dreimal zu den erwähnten intensiven Arbeitstagungen, dennoch gab er entscheidende Impulse für die Vernetzung der Friedensarbeit und für die Neugründung von Frauenorganisationen. Die Mitglieder trugen die Ideen weiter in die Parteien und Frauenverbände. Darüber hinaus gab es zwischen einzelnen Frauen des Friedenskreises einen engen Zusammenhang durch Korrespondenz und durch persönliches Zusammentreffen. So verständigt sich FREDA WUESTHOFF mit GERTRUD BÄUMER in einem Briefwechsel darüber, eine internationale Aktion der Frauenorganisationen zu starten, wobei die Initiative von den Schweizer Frauen ausgehen sollte.[14]
Ihre im Friedenskreis begonnene Arbeit setzte FREDA WUESTHOFF auf unterschiedlichen Ebenen fort. Als sich 1949 der »Deutsche Frauenring« überregional konstituiert hatte, wurde sie zur Leiterin der Friedenskommission gewählt.
Beim Studium der Quellen, die über die Arbeit des Friedenskreises und die Anfänge der Frauenorgnisationen Auskunft geben, fällt ins Auge, daß Frauen in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit mit einer großen Intensität versuchten, eine frauenpolitische Identität und Perspektive zu entwickeln, in deren Zentrum die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Friedensgedanke standen.

3. Atomenergie und Frieden

Mit welcher Genauigkeit und Hoffnung FREDA WUESTHOFF ihre Aufklärungsarbeit für den Frieden den Menschen vermittelte, wird an dem auch heute noch hochaktuellen Referat »Atomenergie und Frieden« deutlich, daß 1948 große Aufmerksamkeit erregte (siehe Anhang, Dokument 2):

  • »Kein Thema hat im vergangenen Jahr in Frauenkreisen mehr Aufsehen erregt, die Hörerinnen mehr erschüttert, als der Vortrag über »Atomenergie und Frieden«, den die Physikerin DR. FREDA WUESTHOFF (Lindau) bei mehreren Frauentagungen und Frauenveranstaltungen gehalten hat... Wir erfüllen mit dem Abdruck einen Wunsch vieler Frauen und Frauenverbände« - so lautete der redaktionelle Vorspann der Frauenzeitschrift »Die Welt der Frau« im Januar/Februarheft 1948. Der Artikel ist eine Zusammenfassung des Votrags, den sie auf der ersten Tagung des Friedenskreises gehalten hatte. FREDA WUESTHOFF wollte mit ihrer Darstellung die geheime Fachsprache ihrer Kollegen durchbrechen. Sie spürte die Verantwortung und Verpflichtung, komplizierte Gedankengebäude einfach auszudrücken. Mit einer klaren und verständlichen Fachsprache wollte sie auch der Angstschwelle von Frauen entgegenwirken, sich mit dieser scheinbar komplizierten Materie zu beschäftigen...[15]

3.1 Ein Netzwerk der Friedensarbeit

Das Referat »Atomenergie und Frieden« hielt FREDA WUESTHOFF in zahlreichen Städten der Trizone in mehr als 100 Vorträgen (siehe Anhang Dokument 2), meist auf Versammlungen und Kongressen der Frauenvereinigungen, wie z. B. im Mai 1947 auf dem ersten interzonalen Frauentreffen in Bad Boll« (siehe Anhang, Dokument 3) und ein Jahr später auf dem Frauenkongress anläßlich der Jahrhundertfeier der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.« Nachdem sie im Januar 1948 in der ersten öffentlichen Veranstaltung der von der Alliierten Kommandantur zugelassenen »Notgemeinschaft 1947« (dem späteren »Deutschen Staatsbürgerinnen-Verband«) gesprochen hatte«, kam es zu einem denkwürdigen Nachspiel: Der Berliner Rundfunk »RIAS« hatte den Vortrag auf Band aufgenommen und er sollte gesendet werden, die Ausstrahlung der Sendung wurde jedoch von den alliierten Besatzungsbehörden verboten. Das Band wurde beschlagnahmt und war später nicht mehr aufzufinden.
Da FREDA WUESTHOFF der Überzeugung war, daß Friedenspolitik mit der Erziehung der Kinder zum Frieden beginnen müsse, war es für sie besonders wichtig, in einer Vortragsreihe von mehreren Tagen im April 1948 zu den Schülern/innen sämtlicher Gymnasien, Berufs- und Fachschulen sowie gesondert zu den Lehrkräften der Stadt Hamburg sprechen zu können. Bei diesem Experiment versuchte sie, durch verschiedenartige Darstellungsweise ihre Gedanken dem unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsstand der Zuhörenden gerecht zu werden.«[18] Aus dem Briefwechsel mit einer Hamburger Studienrätin geht hervor, welche Wirkung von dieser Vortragsreihe ausging: es bildete sich ein Arbeitskreis, der an der Verbreitung ihrer Ideen weiterarbeitete und daraus Unterrichtsmaterial zusammenstellte.
Unermüdlich arbeitete FREDA WUESTHOFF daran, ihrer Vision von der Bedrohung durch die Atombombe und der Notwendigkeit des Friedens Ausdruck zu geben. In einem Rundbrief an ihren Freundeskreis zur Jahreswende 46/47 schreibt sie:

  • »Ich meine nicht den Frieden, zu dessen Formulierung die 4 Außenminister sich jetzt zusammensetzen, sondern den wahren, den dauernden Frieden. Ich hatte bisher noch nicht erfahren, was es bedeutet, von einer Idee ergriffen zu sein. Jetzt weiß ich es. Es ist herrlich und furchtbar zugleich, Aufschwung und Niederbruch, Hoffnung und Verzweiflung. Mit dem Verstand hatte ich sofort nach Nagasaki und Hiroshima erkannt, daß wir in ein vollkommen neues Zeitalter eingetreten sind. Das ist für jeden Physiker klar erkennbar. In die Sphäre des Ergriffenseins ist diese Erkenntnis bei mir aber erst in diesem Sommer eingeströmt und nun habe ich keine Ruhe mehr. Ich sehe auch die andere Seite der Atomenergie vor mir, die über alles Begreifen großen Möglichkeiten eines Neubaues der Welt. Und nun will man reden und stellt fest, daß man sich nicht verständlich machen kann. So muß es einem Menschen auf dem Totenbett zumute sein, dem die Sprache versagt, ehe er das Wichtigste hat sagen können.«[19]

Wie sehr andere Frauen durch die Gedanken FREDA WUESTHOFFs zu eigenen Aktionen angeregt wurden, kommt in einem Brief von HIL-DEGARD MEDING, Mitglied des Friedenskreises, an FREDA WUESTHOFF zum Ausdruck:

  • »Dann wird Sie vielleicht noch interessieren, daß heute beim Gründungskongress des Demokratischen Frauenbundes Berlin, Frau Dr. V. RENTHE über die Ziele des Bundes sprach und beim Punkt Friedensarbeit Sie ausführlich zitierte. Sie erwähnte Ihren Namen und Vortrag in Berlin und gab u. a. Ihre Worte wieder: Im Zeitalter der Atombombe gäbe es keine Sieger im Krieg, und sprach von der nachwirkenden Radioaktivität, in deren Folgen noch zwei Jahre nach dem Bombenwurf in diesem Gebiet kein normales Kind geboren worden sei. Sachlich freut es mich außerordentlich, wenn Ihre Gedankengänge in immer breitere Kreise eindringen. Als kürzlich in einer SPD-Funktionärinnenversammlung Frau SCHRÖDER (damalige Berliner Oberbürgermeisterin, d. V.) präsidierte und Stadtrat REUTER über den Verfassungsentwurf für Berlin vor 800 SPD-Frauen sprach, verlas ich in der Diskussion die Vorschläge, die Sie in der Verfassung Ihres Landes durchgebracht haben.«[20]

Die produktive Unruhe, die sie nach Hiroshima erfaßte, die Hoffnung in die lebenserhaltenden Kräfte der Menschen sowie die persönliche Integrität, die sie verpflichtete, Menschen nicht blindlings in ihr Schicksal taumeln zu lassen, sondern es wissend zu gestalten, teilte sie mit anderen Physikern in dieser Zeit. Überall, wo FREDA WUESTHOFF sprach oder schrieb, wies sie mit Nachdruck und Leidenschaft auf die für sie vorbildliche Aufklärungskampagne des von ALBERT EINSTEIN in den USA ins Leben gerufenen Notkomitees von 10 Atomwissenschaftlern (»Emergency Commitee of Atomic Scientists«) hin.[21] FREDA WUESTHOFF stand in engem Kontakt mit ALBERT EINSTEIN und dem Komitee und verbreitete das Aufklärungsmaterial, das sie aus den USA bekam, an zahlreiche deutsche Friedensvereinigungen. Einen Brief ALBERT EINSTEINs an das Hilfskomitee der amerikanischen Quäker mit der Bitte um Hilfe, übersetzte FREDA WUESTHOFF und ließ ihn überall zirkulieren - im Friedenskreis, in den Frauenverbänden, in unterschiedlichen Friedensorganisationen und an Einzelpersonen (siehe Anhang, Dokument 4).
In einem Brief an ALBERT EINSTEIN vom Februar 1948 setzt sich FREDA WUESTHOFF mit einem Problem auseinander, über das auch die Friedensbewegung der 80er Jahre stolpert: wie nämlich die Angst der Menschen vor der Atombombe - die zu Kurzschlußhandlungen führen könnte - aufgelöst und in positive Handlungsfähigkeit umgesetzt werden kann.

  • »Wir haben bei der Vorbereitung unserer Aufklärungsarbeit zwei Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt:
    1. wissenschaftlich einwandfreie, jedoch unbedingt gemeinverständliche Darstellung der physikalischen Grundlagen der Atomenergie;
    2. Sorgfältigste Beachtung psychologischer Gesetze, um die Wirksamkeit der Atomenergie-Aufklärung sicherzustellen.
    Wir haben das Problem mit führenden deutschen Psychologen besprochen. Diese haben uns mitgeteilt, daß bei drastischer Betonung der furchtbaren Folgen von Atombombenangriffen psychologisch zweierlei zu erwarten ist: Einmal eine unbewußte Abschirmung der Zuhörer derart, daß sie sich gegen die furchtbaren Eindrücke unbewußt absperren, so daß eine Wirkung nicht eintritt, oder bei Zuhörern, die psychologisch nicht so reagieren, die Erzeugung einer großen Angst, die in der Folge gerade aus Angst vor der Atombombe zu dem Wunsch der rechtzeitigen Anwendung der Atombombe gegenüber einem Gegner führen könnte, der die Atombombe noch nicht hat. Dies wäre in Deutschland natürlich eine rein theoretische Einstellung, weil wir in Deutschland glücklicherweise gar nicht vor der Möglichkeit stehen, Atombomben selbst zur Verfügung zu haben. Es würde mich nun aber sehr interessieren, ob Sie bei Ihrer Aufklärungsarbeit in Amerika vor den gleichen Schwierigkeiten stehen und wie Sie diese Schwierigkeiten überwunden haben. Aus gewissen Berichten aus Amerika gewinnen wir das Bild, daß dort in manchen Kreisen die Forderung der rechtzeitigen Anwendung der Atombombe aus der Angst vor Atombomben-Angriffen auf USA erhoben zu werden scheint. Ich habe aufgrund der Besprechungen und der Beratung mit Psychologen meine Aufklärungsvorträge über Atomenergie so zu disponieren versucht, daß der Zuhörer sich im Sinne einer positiven Mitarbeit für den Frieden und nicht im Sinne der Angst vor der Atombombe angesprochen fühlt.«[22]

Sie hoffte auf eine Friedensbewegung von Naturwissenschaftlern wie in den USA und forderte von den deutschen Physikern, sich der Aufklärungskampagne anzuschließen und statt in einem bornierten Fachleutejargon zu sprechen, sich um eine verständliche Darstellungsweise zu bemühen, um möglichst vielen Menschen, egal welchen Bildungsgrad sie haben, das nötige physikalische Grundwissen zu vermitteln, An keiner Volkshochschule, Berufsschule, höheren Schule oder Universität dürfte eine Vortragsreihe über die Atomenergie fehlen. Ohne diese Kenntnisse - das galt insbesondere für führende Persönlichkeiten in der Politik, der Regierung und Verwaltung, aber auch in der Industrie und im Handel dürfe niemand verantwortliche Entscheidungen für die Zukunft treffen. Ihre Besorgnis über den verantwortlichen Umgang mit der Atomenergie kommt auch in ihrer Feststellung zum Ausdruck, daß es einen dem Goldrausch vergleichbaren Atomrausch gebe. Dieser Atomrausch kam in solch absurden Vorstellungen zu Tage, daß durch Atomenergie etwa das Einschmelzen der Antarktis realisiert werden könnte. Dabei wurde in diesen Omnipotenzphantasien nicht nur die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts der Erde überhaupt nicht mitbedacht, sondern es wurde oftmals sogar mit einer Art nekrophiler Faszination die Zerstörungskraft der Bombe verherrlicht.
FREDA WUESTHOFF versuchte, ein Netzwerk unterschiedlicher Friedensinitiativen aufzubauen. Im Nachlaß fand sich eine Adressenliste des Friedenskreises.[23] Daß ihr dies unter den damaligen Bedingungen gelang, hatte einen wesentlichen Grund darin, daß sie ohne ideologische Scheuklappen versuchte, unvoreingenommen und ohne Berührungsangst mit allen für den Frieden arbeitenden Gruppen zusammenzuarbeiten. Sie beklagte, bei der Friedensarbeit und beim Kampf gegen Atomwaffen dem Verdacht ausgesetzt zu sein, entweder als Kommunistin oder Sympathisantin diffamiert zu werden.
Von einer Friedensbewegung, wie sie sich im Oktober 1983 überall in der Bundesrepublik und Westberlin zeigte, kann man für diese Zeit nicht sprechen. Es waren eher einzelne Gruppen und Individuen, die in mehr oder minder lockerem organisatorischen Zusammenhang standen. Über die Schwierigkeiten und Hindernisse, die einer Verbreitung der Friedensidee entgegenstanden, war sich FREDA WUESTHOFF wohl bewußt.

  • »Ach, meine Freunde, wenn unser Ruf doch wenigstens einen oder zwei von Ihnen wirklich erreichen würde, aber da ist für Sie, liebe Freunde, von drinnen die Schranke der Müdigkeit, der Alltagssorgen, die das Maß des Erträglichen oft schon übersteigen. Da ist für uns hier und auch für viele draußen die entsetzliche Enttäuschung über das Versagen seit Kriegsende. Wer sich durch das Grauen der Jahre bis 1945 noch ein kleines Stück Hoffnung gerettet hatte, der sieht dieses, sein kostbares Gut, nun in der Sinnlosigkeit der Entwicklung seit 1945 fast aufgezehrt.«[24]

FREDA WUESTHOFF hielt es für notwendig, auch auf institutioneller Ebene für den Frieden zu arbeiten. Zu Beginn des Jahres 1952 gründete sie in München eine »Bayerische Gesellschaft für Unesco-Arbeit«, deren Vorsitzende sie wurde. Da für sie Völkerverständigung in erster Linie eine Erziehungsfrage war, machte sie sich Gedanken darüber, wie die Schulbücher insbesondere die Geschichtsbücher - in den Schulsystemen der einzelnen Länder neu gestaltet werden könnten. In einer solchen Neugestaltung sollten die Besonderheiten der Länder berücksichtigt werden, und es sollte untersucht werden, welche wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bedingungen zu den Spannungen führen, aus denen sich Kriege entwickeln. Sozialpsychologische Untersuchungen über die Vorurteilsstruktur in den verschiedenen Ländern hielt sie für notwendig. Sie spricht von jenen Vorurteilsstrukturen zwischen Völkern, wie z. B. bei den Franzosen, die sagen:

  • »Ich kenne ein paar Deutsche, mit denen ich sehr gut befreundet bin, aber. . oder bei den Deutschen: »Ich kenne ein paar Juden, das sind prächtige Menschen, aber...« In diesem Zusammenhang verwies sie auch auf die Notwendigkeit der Erziehung der Erzieher: Lehrer, die Vorurteile haben, können Kinder nicht ohne Vorurteile erziehen. Auch forderte sie, das Verhältnis der Jugend zur Autorität vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus zu erforschen.[25]

3.2 Friedensarbeit in der Frauenbewegung

Arbeit für den Frieden muß im Alltag beginnen, dies ist eine der wichtigsten Forderungen FREDA WUESTHOFFS:

  • »Was können die Frauen dazu tun? Sehr viel! In der überwiegend den Frauen obliegenden Erziehung der Kinder liegt die Grundlage für alle Friedensarbeit. Wir müssen aber auch uns selbst dazu erziehen, in der eigenen Umgebung Frieden zu halten, das Recht der Nachbarn zu achten, andere Meinungen gelten zu lassen. Wir müssen es durchsetzen, daß die politischen Parteien friedlich nebeneinander arbeiten... Wir müssen dem Kriegsgeschwätz entgegentreten. Wer heute sich von einem Krieg eine Besserung unserer Lage verspricht, ist ein Narr. Wer der Arbeit für den dauernden Frieden mit den Worten entgegentritt, Kriege habe es immer gegeben und würde es immer geben, ist ein verantwortungsloser Schwätzer. Diese Redensart gedankenlos nachzuschwätzen, ist ein Verbrechen. Kriege - jene Veranstaltungen, bei denen Millionen Männer, Frauen und Kinder um politischer Ziele willen in grauenvoller Weise ums Leben gebracht werden - sind weder nötig für die Entwicklung der Völker, noch gar für die Entwicklung des einzelnen Menschen. Kampf ist nötig. Grund und Gelegenheit zum Kampf wird für die Menschheit bleiben, auch wenn wir den Krieg überwunden haben werden. Verschreiben wir uns vorerst mit allen Kräften des Herzens und des Verstandes dem schweren Kampf für das höchste Ziel der Menschheit, für den dauernden Frieden.«[26]

Die Stärke des persönlichen Impulses von FREDA WUESTHOFF bei der Wiedergründung der Frauenverbände beschreibt LEONORE MAYER-KATZ, die zusammen mit FREDA WUESTHOFF den Frauenring Süd-Baden gegründet hat:

  • »Frau HEDINGER drängte immer wieder darauf, Frau WUESTHOFF und mich miteinander bekannt zu machen. Ich wehrte ab. Reine Frauenarbeit lag mir fern. Schließlich kam es aber doch zu einem Gespräch, und was ich erlebte, hat meinem Leben eine ganz neue Richtung gegeben. Ich traf eine Frau, schlicht und praktisch - sie hatte Pflaumen erobert und kochte sie gerade ein. Wir setzten uns zusammen, und sie eröffnete mir, daß sich nach dem Abwurf der Bomben von Hiroshima und Nagasaki die Physiker der westlichen Welt darüber im klaren seien, daß die Welt erfahren müßte, daß Atombomben nicht nur Waffen von unvorstellbarer Zerstörungskraft seien, sondern daß die Vergiftung der Atmosphäre durch radioaktive Strahlen genetische Schäden an Überlebenden bewirken, die Generationen hindurch wirksam bleiben. Sie habe sich daher vorgenommen, die nicht wissenschaftlich gebildete Frau darüber aufzuklären, daß Atomkriege Selbstvernichtung der Menschheit bedeuten, und sie hoffe, daß Frauen, denen der Schutz des Lebens instinktiv stärker am Herzen liege als dem mehr kämpferisch orientierten Mann, bereit seien, sich zusammenzufinden, um mit allen ihren Möglichkeiten mitzuwirken, Atomwaffen zu verhindern. Es war ein eindringlicher Aufruf, aktiv zu werden. Die kleinen Hilfen zur Linderung der Not unserer Zeit, die mir bisher so wichtig waren, reichten nicht aus. Frauen wurden in die Verantwortung gerufen, in eine Verantwortung, aus der sie niemals mehr entlassen werden können. Frau WUESTHOFF wünschte, daß man Frauen die Kenntnisse vermitteln sollte, um dort wirksam zu werden, wo es um den Schutz des Lebens geht, an den Schaltstellen der Macht, deren Mißbrauch durch Fanatiker im Atomzeitalter den Untergang des Lebens überhaupt bedeuten könne. Ich spürte in ihren Worten etwas von den Qualen der Wissenschaftler, die mit der Atomenergie ein neues Zeitalter heraufbeschworen hatten und die nun erleben mußten, daß aus einer großartigen Entdeckung Vernichtung statt Fortschritt für die Menschheit erwuchs.«[27]

FREDA WUESTHOFF war initiativ bei der Gründung mehrerer Frauenringe. Zunächst Frauenring Baden-Baden, dann Frauenring Tübingen für Südwürttemberg sowie Frauenring Lindau. Als sich diese Frauenringe auf Landesebene vereinigten, wurde sie zur Vorsitzenden und beim Zusammenschluß auf Bundesebene - 1949 entstand der Deutsche Frauenring - zum Vorstandsmitglied gewählt. Außerdem war sie Mitarbeiterin bei der Arbeitsgemeinschaft der Wählerinnen sowie beim Akademikerinnenbund.
Sie selbst allerdings war wenig beeindruckt von Vereinsmeierei und Pöstchen. Sie drückt ihr Unbehagen am undemokratischen Charakter der ersten Vorstandswahlen zum neugegründeten Deutschen Frauenring in einem Brief aus:

  • »Ich habe ein bißchen Angst, daß wir eigentlich keine Wahl machen wollen, sondern sozusagen einen festen Vorschlag zur Abstimmung bringen. Ist dafür gesorgt, daß auf den Stimmzetteln genügend Platz ist, damit die Delegierten auch andere Namen hinzusetzen können? Ich spreche aus eigener bitterer Erfahrung und habe rechte Sorge, daß die ganze Wahl, so wie sich die Vorbereitung jetzt gestaltet hat, das Gegenteil von einer Persönlichkeitswahl ist und außerdem eigentlich überhaupt keine Wahl, sondern die Form der Annahme eines fertigen Vorschlags annimmt. Ich hatte mir das Ganze anders vorgestellt. Natürlich sollte man, um völlige Zersplitterung zu vermeiden, eine gewisse Anzahl von Persönlichkeiten vorschlagen und bei diesen Vorschlägen ein ungefähres Zonen-Verhältnis einbehalten, aber zonenweise Wahl, das ist ja in auf uns abgestimmter Form das allergebundenste Listenwahlrecht und im Grunde eine vollständige Verlagerung des Wahlvorganges aus der Delegierten-Versammlung Pyrmont in irgendwelche gar nicht kontrollierbare Vorversammlungen. Ich dachte mir folgenden Weg: Das in Stuttgart besprochene Stärkeverhältnis Brit. 3, Am. 2, Frz. 1, Berlin 1 kann für die Vorschlagsliste angewendet werden, kann aber nicht für die Wahl bindend sein. Außerdem müßte die Vorschlagsliste mehr Namen, z. B. das Doppelte der tatsächlichen Vorstandssitze enthalten, oder man müßte es ganz deutlich machen, daß auch andere Persönlichkeiten wählbar sind als die vorgeschlagenen, und man müßte die Stimmzettel entsprechend gestalten. Ich würde es jedenfalls als höchst peinlich empfinden, wenn die Wahl so vor sich ginge.«[28]

Sehr wesentlich war für FREDA WUESTHOFF der überparteiliche und überkonfessionelle Aspekt von Frauenorganisationen. Da ihrer Meinung nach vielen Frauen die Formen politischer Arbeit zuwider seien, weil sich die parteipolitische Arbeit unter rein männlichen Gesichtspunkten entwickelt habe, hielt sie nicht parteigebundene Frauenvereinigungen für notwendig. Nebenbei bemerkt: die Vielfalt von Bürger/innenvereinigungen, politischen Clubs mit überparteilichem Charakter ist für die Gründungsphase der Bundesrepublik bis Ende der 40er Jahre kennzeichnend. Es ist die Zeit der Hoffnung auf einen demokratischen Frühling, auf einen radikalen Neubeginn. Die Restaurationsperiode hat sich auch auf die weitere Entwicklung der Frauenverbände ausgewirkt: die überparteiliche Funktion wurde bald nicht mehr als eigenständige Position begriffen, sondern die Frauenverbände übten sich in der guten alten deutschen Tradition der Vereinsmeierei.
Das Bewußtsein von der Priorität einer frauenspezifischen Politik über die Grenzen von Parteien hinaus machte es möglich, daß die Frauen in der Frauenbewegung der Nachkriegszeit massiv in die Männerpolitik eingriffen. So erreichte der Frauenring Baden-Baden 1947, daß in die Verfassung von Süd-Baden auf Vorschlag des Frauenrings zwei Friedensartikel aufgenommen wurden:

  • »Es obliegt der Regierung, Bestrebungen und Arbeiten für den dauernden Frieden zu fördern« und »Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, sind verfassungswidrig«.[29]

Allerdings fiel dieser Passus bei der späteren baden-württembergischen Verfassung wieder weg.
Typisch für die damalige Zeit war auch, daß die Frauenvereinigungen versuchten, Frauen zu ermutigen, sich bei Wahlen nominieren zu lassen und politische Ämter zu übernehmen. Niemals wieder gab es so viele Bürgermeisterinnen und Stadträtinnen, die in selbstverständlicher Weise zugleich in der Frauenbewegung arbeiteten.
1950 gab es innerhalb des Deutschen Frauenrings eine heftige Diskussion über die Gefahr eines Präventivkrieges und einer Remilitarisierung. Ausgelöst wurde diese Debatte durch Äußerungen amerikanischer Regierungsmitglieder über einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion. Zwar revidierte die amerikanische Regierung diese Aussagen, die Frauenverbände nahmen dies jedoch zum Anlaß, ihren ablehnenden Standpunkt gegenüber der Möglichkeit eines Präventivkrieges zum Ausdruck zu bringen: Die Androhung eines Präventivkrieges steigere die Kriegsgefahr. Die deutsche Zentrale von WOMAN verfaßte zusammen mit allen Hamburger Frauenverbänden einen Brief an den damaligen Bundeskanzler ADENAUER.[30]
Um den Wortlaut und Inhalt eines ähnlichen Briefes an Adenauer entbrannte eine heftige Debatte, in der FREDA WUESTHOFF feststellte, daß die Mehrheit der Mitglieder in der Ablehnung eines Präventivkrieges einig seien, aber nicht in der Frage der Remilitarisierung. Dieses Problem sei von 90% der Mitglieder überhaupt noch nicht gründlich durchdacht worden. Aus mehreren Rundbriefen von Landesverbänden und von einzelnen Frauen geht hervor, daß FREDA WUESTHOFF im Namen des Friedensausschusses Materialien zu diesem Problem sowie den Entwurf eines Briefes an Bundeskanzler ADENAUER formulieren sollte (vgl.Dokument 5). Sie trat dafür ein, daß den Ortsverbänden genügend Zeit für eine Diskussion gegeben werde, um eine demokratische, von einer Frauenmehrheit getragene Meinung zu ermitteln.
Noch bis Mitte der 50er Jahre war es für viele Verbandsfrauen noch selbstverständlich, sich kritisch mit der allgemeinen Wehrpflicht und der Angst vor einem neuen Militarismus auseinanderzusetzen. Das letzte Mal, daß sämtliche Frauenverbände in diesem Sinne aktiv wurden, war die Unterstützung des Mainauer Aufrufs von 18 Nobelpreisträgern vom Sommer 1955 gegen den Einsatz von atomaren Waffen.[31]
Kurz nach dem Tod FREDA WUESTHOFFs fügte sich die organisierte Frauenbewegung dem Zeitgeist: Im Zusammenhang mit Kaltem Krieg, einem zunehmenden aggressiven Antikommunismus, dem Verbot der KPD und der Einführung der Bundeswehr erhielt das Wort Frieden einen »unfeinen« Geruch, nicht zuletzt auch beim Deutschen Frauenring: Nach dem Tode von FREDA WUESTHOFF hatte ihr Mann, FRANZ WUESTHOFF zusammen mit der Münchner Psychologin CHRISTEL KÜPPER die »Forschungsgesellschaft für Friedenswissenschaften« gegründet, die auf Grundlage von FREDA WUESTHOFFs »Arbeitsplan für den dauernden Frieden« Pionierarbeit beim Aufbau einer Friedensforschung leistete. Auf den Vorschlag FRANZ WUESTHOFFs an den Deutschen Frauenring, sich an der Verleihung des von dieser Gesellschaft gestifteten FREDA-WUESTHOFF-Friedenspreises zu beteiligen, antwortete die damalige Vorsitzende, BERTHA MIDDELHAUVE:

  • »In der Düsseldorfer Besprechung hatte sich der Vorstand des DFR bereit erklärt, im Gedenken an Ihre verstorbene Gattin, die uns allen unvergessen bleibt, bei der Stiftung eines FREDA-WUESTHOFF-Preises mitzuwirken. Dabei hatte der Vorstand klar herausgestellt, daß die Mitwirkung des DFR nur möglich ist, wenn die Bezeichnung des Preises als FREDA WUESTHOFF Preis ohne die Beifügung des Wortes Frieden erfolgt. Unsere internationalen Dachverbände haben sich zu ihrem Bedauern gezwungen gesehen, das Wort Frieden in ihren Kommissionsbezeichnungen auszumerzen, weil mit diesem Wort Mißbrauch getrieben wird und sein Gebrauch zu Mißverständnissen Anlaß gibt. Im Interesse unserer internationalen Verbindungen muß es daher bei dem Namen ohne Zusatz bleiben, wenn der DFR seine Zusage der Mitwirkung bei diesem Preis aufrechterhalten soll.«[32]

3.3 Hoffnung auf die friedliche Nutzung der Atomenergie

FREDA WUESTHOFF setzte ihre Hoffnungen auf eine friedliche Nutzung der Atomenergie und war davon überzeugt, daß die Energieversorgung in den kommenden Jahrhunderten auf der Atomenergie basieren werde. Sie war der Ansicht, daß eine friedliche Anwendung zum großen Nutzen für alle Menschen führen könne. Hierin verkörpert sich die Hoffnung einer ganzen Generation von Physikern zu Beginn des Atomzeitalters. Eine Hoffnung - ähnlich wie die frühen Vorstellungen zur Automation - auf die Freisetzung des Menschen von körperlicher Arbeit und Wohlstand für alle. Angesichts der Vernichtungskraft von Atomwaffen, aber auch der Möglichkeit einer friedlichen Nutzung von Atomenergie zur Erschließung von ungeheuren Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung der Menschen werden für sie Worte wie Kapitalismus und Sozialismus zu »papierenen Hüllen«, ideologische Begriffe aus dem voratomaren Zeitalter. Sie war der Meinung, daß die zu erwartenden tiefgreifenden Veränderungen in der Sozialstruktur in kapitalistischen wie sozialistischen Ländern ein grundlegendes Umdenken der Gesellschaftstheorien erzwingen würden. Wenn sie auch diese Hoffnung auf den Fortschritt der Menschheit und die konstruktive Entwicklung der Naturwissenschaften hatte, so sah sie gleichzeitig in aller Klarheit und Schärfe das Problem der Entsorgung. Die Klärung der Frage, was mit den hochgiftigen, nämlich radioaktiven Abfallprodukten des Kernreaktors - vor allem aber mit einem wesentlichen Teil dieses Atommülls, dem zerstörerischen Plutonium - geschehen soll, war für sie die Voraussetzung für die friedliche Nutzung von Atomenergie. Sie verlangte eine gründliche wissenschaftliche und verantwortungsbewußte Untersuchung der Vorbedingungen für die Errichtung von Atomkraftwerken. Sie verwies mit Nachdruck auf die Gefahren, die sich aus der ungeheuer hohen Radioaktivität in unmittelbarer und weiterer Umgebung eines Reaktors ergeben und forderte Sicherungsmaßnahmen gegen Strahlungsschäden. Sie machte den Vorschlag, daß die Radioaktivität von Luft, Boden und Niederschlägen laufend überwacht und registriert werden sollte und daß die Messungsergebnisse genauso kontinuierlich wie Wetterberichte und Wasserstandsmeldungen veröffentlicht werden sollten.
In diesem Zusammenhang müsse auch die Tatsache öffentlich gemacht werden, daß Versicherungsanstalten sich bisher nicht bereit erklärt hätten, Reaktoren zu versichern. Darüber, daß in Chicago ein Reaktor »durchgegangen« sei (Harrisburg!), habe man erst Monate später gelegentlich durch eine kleine Pressenotiz erfahren.[33]
Entscheidend für die Errichtung von Atomkraftwerken sollte nach den Vorstellungen von FREDA WUESTHOFF eine breite öffentliche Diskussion und ein demokratisches Votum aller Betroffenen sein, nicht Regierungen sollten über die Köpfe der Menschen hinweg entscheiden können. Diese Idee - die im Widerspruch zum Parteienstaat stand -, daß nur auf basisdemokratische Weise mit den betroffenen Menschen entschieden werden kann, realisierte sich später im Kampf der Bürgerinitiativen in Wyhl und Brokdorf.
Eine der letzten Aktivitäten FREDA WUESTHOFFs war ihr leidenschaftlicher Kampf gegen die Sinnlosigkeit geplanter Atombunker. Sie wurde von den Frauenverbänden in die Strahlenschutzkommission im Atomministerium, das damals von FRANZ-JOSEF STRAUSS geleitet wurde, delegiert. Durch gezielte, sachverständige Fragen führte sie hier und bei Tagungen die zur Beruhigung der Bevölkerung gedachten Mitteilungen über Schutzmaßnahmen ad absurdum. Sie sah in der wahnwitzigen Vorstellung, daß ein Bunker vor der in der Umgebung eines Atombombeneinschlags entstehenden Vernichtungsatmosphäre schützen könne, einen Vorwand, einen Atomkrieg zu sanktionieren.
Abgesehen davon, daß es überhaupt keine wirksamen Schutzmöglichkeiten vor lang andauernder Radioaktivität gab (und gibt), erschienen ihr die Vorstellungen zur Entwicklung wirksamer Schutzmaßnahmen schon deshalb absurd, weil die Kosten dafür nicht aufzubringen wären. Sie errechnete für das Jahr 1956 einen Kostenaufwand für die Bundesrepublik von 160 Milliarden DM.
An die Frauenreferentin im Bundesministerium DOROTHEA KARSTEN schrieb FREDA WUESTHOFF bereits 1951, nachdem sie eine Broschüre mit dem Titel »Überleben unter Angriff von Atombomben« gelesen hatte:

  • »Die Tendenz, alles zu bagatellisieren, spürt man von Anfang bis zum Ende. Darüber hinaus ist es nach meiner Meinung eine völlig wirklichkeitsfremde theoretische Instruktion vom grünen Tisch. Darüber täuscht die »wirklichkeitsnahe« Frage- und Antwortform keinesfalls hinweg. Abgesehen davon, daß die Broschüre überhaupt nicht auf deutsche Verhältnisse paßt, glaube ich auch, daß die deutsche Bevölkerung nach den Erfahrungen des Bombenkrieges den in dieser Broschüre gegebenen Ratschlägen äußerst skeptisch gegenüberstehen würde. Man stelle sich nur einmal vor, daß man der deutschen Bevölkerung den guten Rat gibt Halte alle Fenster und Türen mindestens einige Stunden nach einem Atombombenangriff geschlossen! Lasse sie am besten so lang geschlossen, bis die zuständigen Dienststellen der zivilen Verteidigung die... (hier bricht übrigens der Text der Broschüre unvermittelt ab). Ratschläge wie Wasche Deine Überkleidung mit warmem Wasser und viel Seife (!) oder der Vorschlag alle Nahrungsmittel wegzuwerfen, die unverpackt herumgelegen haben, würde bei uns nicht gerade auf sehr beruhigtes Verständnis stoßen. Ratschläge wie Trage immer einen Hut. Die Krempe wird Dich vor schweren Verletzungen im Gesicht schützen, dürften im Rückblick auf unsere Erfahrungen bei Bombenangriffen schon fast grotesk wirken.«[34]

3.4 »Arbeitsprogramm für den dauernden Frieden« ein Baustein für die Friedens- und Konfliktforschung

FREDA WUESTHOFF starb 1956. Damit versandete auch die von ihr getragene Friedensarbeit in den Frauenverbänden. Die in der darauffolgenden Zeit entstandene Kampagne »Kampf dem Atomtod« wurde politisch als kommunistisch unterwandert diffamiert, erst 1973 erwachte durch den Kampf der Bürgerinitiativen in Wyhl wieder eine öffentliche Diskussion um Atomenergie. Und nochmals fast ein Jahrzehnt verging, ehe mit der aktuellen Bedrohung einer neuen atomaren Kalte-Kriegs-Politik zwischen Ost und West eine internationale Friedensbewegung entstand. Kurz vor ihrem Tod erarbeitete FREDA WUESTHOFF ein »Arbeitsprogramm für den dauernden Frieden«, in dem sich auch die Versuche der Friedens- und Konfliktforschung, die Anfang der 70er Jahre entstand, wiederfinden.

Das Arbeitsprogramm für den dauernden Frieden enthielt folgende Punkte:

  • FREDA WUESTHOFF verlangte die Errichtung von Friedensministerien anstelle von Kriegsministerien, die Errichtung von autonomen Friedensakademien, sie schlug wissenschaftliche Forschung auf dem Friedensgebiet vor: Die Errichtung von Lehrstühlen für Grundlagenforschung und die praktische Anwendung der Forschungsergebnisse. Solche Lehrstühle forderte sie im Bereich der medizinischen Fakultät, im einzelnen für Völkerpsychologie, Siegerpsychologie, Besiegtenpsychologie, Jugendpsychologie. Historische Forschung sollte sich u. a. mit der Geschichte von Kriegsentstehungen, der Friedensverträge, von Kriegsächtungen beschäftigen. Ein juristischer Lehrstuhl sollte Fragen eines internationalen öffentlichen Rechts, eines internationalen Gerichtshofes und einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit bearbeiten und neue juristische Formulierungen für die neuen Moralbegriffe aufstellen. Einen breiten Raum nimmt in dem vorgeschlagenen Arbeitsprogramm für den dauernden Frieden die naturwissenschaftliche Abteilung ein. Die Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke muß in dieser naturwissenschaftlichen Abteilung verfolgt und die Kenntnisse der Menschen hierüber müssen laufend erweitert werden. Ein Lehrstuhl für Nationalökonomie soll sich beschäftigen mit Auswanderungs- und Bevölkerungsfragen und mit internationalen Arbeitsfragen. Das Umdirigieren der Kriegsproduktionskapazitäten auf Friedensproduktionskapazitäten gehören mit zu diesen Aufgaben. Der Arbeitsplan enthält auch die Idee von wissenschaftlichen Preisausschreiben und die Vergabe von Stipendien für Arbeiten auf den verschiedenen Gebieten der Friedenswissenschaft.[35]

»Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.«

Zum Schluß dieses Portrait-Versuchs soll FREDA WUESTHOFF selbst noch einmal zu Wort kommen in ihrem Vortrag »Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Der Mensch im Atomzeitalter« (siehe Anhang, Dokument 6). Sie hat diesen Vortrag nicht mehr selbst halten können; auf dem Weg zur Tagungsstätte verunglückte sie tödlich. Wir können diese Rede auch als Vermächtnis FREDA WUESTHOFFs an die neue Friedensbewegung begreifen:

  • »Es wäre an der Zeit, daß Männer und Frauen in der ganzen Welt sich endlich dazu aufraffen, von ihren Regierungen die Unterbrechung der Versuche mit thermonuclearen Explosionen, populär ausgedrückt, die Unterbrechung der Wasserstoffbombenversuche, zu verlangen. Das ist nichts weiter als ein einfacher Akt der Notwehr, also in einem Rechtsstaat jedem Menschen zugebilligtes Recht.«[36]

Anhang/Dokumente

Dokument 1

  • Antrag des Berliner Frauenbundes zur Berliner Verfassung vormals: Wilmersdorfer Frauenbund 1945 jetzt: Berliner Frauenbund 1947
    5. März 1948
    An die Berliner Stadtverordnetenversammlung z. Hd. des Verfassungsausschusses Berlin 0. 2 Parochialstraße
    Der Berliner Frauenbund 1947 richtet an die Stadtverordnetenversammlung den Antrag, die nachstehenden Abschnitte in die künftige Berliner Verfassung aufzunehmen:
    1. Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, sind verfassungswidrig.
    2. Es obliegt dem Magistrat, Bestrebungen und Arbeiten für den dauernden Frieden zu fördern. Die hierfür erforderlichen Mittel sind bereit zu stellen.
    3. Kein Bürger der Stadt Berlin kann zu Handlungen gezwungen werden, die direkt oder indirekt zur Tötung von Menschen führen. Es darf ihm aus der Geltendmachung dieses Rechts kein Nachteil erwachsen.
    Begründung: Es erscheint uns notwendig, daß die Berliner Verfassung den Friedenswillen der Bevölkerung zum Ausdruck bringt. Die Abschnitte 1. und 2. sollen die Bevölkerung davor schützen, daß sie entgegen dem überwiegenden Willen der Mehrheit in einen Krieg gezogen werden. Andererseits sollen sie den zu positiver Friedensarbeit bereiten Bürgern die verfassungsmäßige Fundierung ihrer Bestrebungen gewährleisten. Der Abschnitt 3. soll dem einzelnen Bürger das Recht auf eine freie Gewissensentscheidung zuerkennen.
    Wir sind uns bewußt, daß der wahre Ort für derartige Abschnitte eine gesamtdeutsche Verfassung wäre. Wir halten es aber für dringend erforderlich, diese Grundsätze in die Einzelverfassungen aufzunehmen, wie es in einigen Länderverfassungen geschehen ist.
    Dadurch wird sich die Bevölkerung den Friedensgedanken mehr und mehr zu eigen machen und deutlicher als bisher ihr Recht erkennen, ihn im persönlichen Leben zu vertreten. Die gesamtdeutsche Verfassung wird sich einmal auf den Länderverfassungen aufbauen, und es gilt, den Friedensgedanken so zu stärken, daß er bis'dahin Gemeingut des deutschen Volkes geworden ist.
    gez. Dr. von Simson gez. Dr. von Zahn-Harnack Vorsitzende der Kommission Bundesvorsitzende für Friedensfragen

(Quelle: Nachlaß FREDA WUESTHOFF)

Dokument 2
Vortragstext: "Atomenergie und Frieden"

  • I Die physikalischen Grundtatsachen
    Die physikalischen Grundtatsachen lassen sich kurz umreißen. Der Energievorrat der Welt ist verborgen und verschlossen in den Atomkernen. Niemand wußte davon, Jahrtausende lang. Erst etwa zu Beginn unseres Jahrhunderts fanden einige Physiker die ersten Andeutungen, die auf diese Tatsache hinwiesen. Alle Materie besteht aus Atomen. Der Tisch, an dem ich sitze, die Feder, mit der ich schreibe, die Luft, die ich atme. Jedes Atom besitzt einen Atomkern. Jeder Atomkern ist ein winziger Panzerschrank, der einen Energie-Vorrat in sich birgt. Um den Atomkern herum liegt bei jedem Atom ein Außenbezirk. Auch dieser Außenbezirk enthält Energie, aber im Vergleich zu dem Energievorrat innerhalb des Atomkerns allerdings nur eine ganz kleine Menge. Es kommen etwa 100000000 Teile Energie im Kern auf einen Teil Energie außerhalb des Atomkerns.
  • II. Die Atombombe
    Was hat der Mensch mit dieser Energie gemacht? Er hat sie in Form der Atombombe zu unbeschreiblicher Zerstörung verwendet. Wir wissen jetzt, daß man in Amerika damals im Sommer 1945 nur ganz wenige Atombomben besessen hat. Eine hat man auf Hiroshima geworfen und dann noch eine zweite auf Nagasaki. Durch diese beiden Atombomben sind ungefähr 150000 Menschen getötet worden, also mit etwa 1 kg Uran 23 5 hat man ungefähr 70 000 Menschen getötet. Man hat berechnet, daß bei dieser Explosion Hitzegrade von ungefähr 1 Million Grad entstanden sind. Die höchsten bisher auf der Erde erreichbaren Temperaturen, nämlich im Elektroschmelzbogen, betragen ungefähr 3 500 Grad. Die viel fürchterlichere Wirkung des Atombombenabwurfs besteht aber in der dadurch hervorgerufenen radioaktiven Vergiftung der gesamten Atmosphäre und der gesamten Umgebung. Durch die ungeheuren Mengen von radioaktiven Geschossen, die bei diesem Atomzerfall in die Umgebung geschleudert werden, wird die gesamte Natur künstlich radioaktiv gemacht. Das ist also so, daß die Menschen in dieser Umgebung plötzlich stärksten radioaktiven Bestrahlungen ausgesetzt sind. Sie wissen, daß man radioaktive Strahlen für Heilzwecke in der vorsichtigsten Dosierung verwendet, weil sie so ungeheuer durchdringende Wirkung auf das Körpergewebe haben. Nun stellen Sie sich aber vor, daß nach einem solchen Atombombenabwurf eine solche radioaktive Vergiftung nicht für Sekunden und Minuten, sondern für Stunden, Tage, Wochen bestehen bleibt.
    Was ist die Folge dieser radioaktiven Vergiftung? Mit die größten Krankheitsschädigungen, die man in dieser Hinsicht zu erwarten hat, geschehen durch die Einatmung von radioaktivem Staub. Wir alle wissen, wieviel Staub bei einem Bombenwurf aufgewirbelt wird, und diese ganze Staubwolke, die über dem Bombengebiet lagert, ist radioaktiv. Das Ergebnis ist Lungenkrebs in Ausmaßen, wie wir ihn jetzt noch gar nicht kennen. Es ergeben sich aber auch sonstige Krebserkrankungen und noch nicht bekannte Krankheiten, die man nur ableiten kann aus Experimenten, die man früher mit Millionen mal geringeren Dosen an Röntgenoder Radiumstrahlen gemacht hat.
    Die Gefahr solcher Erkrankungen ergibt sich nicht nur für Leute, die während dieses Angriffs zugegen waren, sondern für diejenigen, die zu Hilfe kommen, Ärzte, Schwestern, Familienangehörige usw. Bitte erinnern Sie sich, daß bei den AtombombenVersuchsexplosionen in Bikini die Untersuchungsschiffe in den ersten Tagen nach dem Bombenversuch nicht bis zur Einschlagstelle fahren konnten. Warum? Weil die ganze Umgebung radioaktiv so verseucht war, daß nicht einmal die mit allen Schutzmitteln ausgerüsteten Beobachter diesen Bereich betreten konnten.
    Und nun kommt das Furchtbarste. Die radioaktiven Strahlen wirken besonders auf die Keimzellen. Sie wirken also nicht nur krankheiterregend bei den Menschen, die den Bombenangriff überlebt haben, sondern sie bewirken Mißbildungen bei den noch Ungeborenen. Und diese Mißbildungen bleiben erblich, pflanzen sich also durch Jahrtausende von Generation zu Generation fort. Es ist wahrscheinlich, daß sich diese Mißbildungen nicht nur körperlich, sondern auch geistig und seelisch auswirken. Wir wissen durch Versuche an Pflanzen, die schon vor vielen Jahren angestellt wurden, daß man ganz neuartige Pflanzen durch Bestrahlung erzielte, daß sie riesengroß wurden oder zwergwüchsig, daß neue Farben auftraten, Mißbildungen aller Art usw. Solche Versuche sind in einem der Kaiser-WilhelmInstitute gemacht worden. Entsprechende Veränderungen müssen auch bei den Menschen naturnotwendig auftreten.
    Wenn Sie über diese Dinge sprechen, wird man Ihnen wahrscheinlich sagen, das sei übertrieben, man könne das im einzelnen noch nicht ganz genau feststellen. Wollen wir warten, bis man dies "genau festgestellt" hat? In einer der kommenden Generationen? Ein großer Teil der Überlebenden eines Atombombenangriffs wird für sein Leben steril. Von den später geborenen Kindern wird ein Teil nicht lebensfähig sein, und die Mißbildungen dieses Teils werden damit aussterben. Es bleibt aber die Tatsache bestehen, daß in nicht unerheblichem Umfang durch einen Atombombenabwurf die menschliche Erbmasse für alle Zeit geschädigt wird. Durch einen Atomkrieg würde das Menschengeschlecht in einer uns gar nicht vorstellbaren Weise verändert werden. Man kann sich auch nicht etwa damit trösten, daß vielleicht Erbveränderungen in gutem Sinne eintreten würden. Die sehr umfangreichen Bestrahlungsversuche bei Pflanzen und bei Tieren haben ergeben, daß die mißbildende Veränderung der Erbmasse prozentual ganz ungeheuer überwiegt. Nur ein winziger Prozentsatz von solchen künstlich hervorgerufenen Mutationen stellt manchmal eine Verbesserung dar.
  • IV. Allgemeine Folgerungen
    Bei dieser Sachlage muß man klar erkennen, daß der Krieg sich in sich selbst verschlungen hat. Jeder neue Krieg würde in sich sinnlos, denn auch für den Sieger stehen die Zerstörungen in überhaupt keinem Verhältnis mehr zu dem, was durch den Krieg gewonnen werden könnte....
    Wir sind, wenigen bewußt, den meisten unbewußt, in ein neues Zeitalter eingetreten, in das atomare Weltzeitalter. In diesem neuen Weltzeitalter hat der Krieg sich selbst ad absurdum geführt. Jede Diskussion darüber, ob es besser wäre, daß Amerika jetzt eine kriegerische Auseinandersetzung mit Rußland einleitet, oder ob es besser wäre, daß Rußland schnell eine Atombombenfabrikation entwickelt und dann seinerseits einen Krieg anfängt, jede solche Diskussion allein ist schon ein Verbrechen, wenn man sich klar gemacht hat, worum es geht.
    Krieg darf es unter keiner Bedingung mehr geben.
    Und hier möchte ich eine wichtige Abschweifung machen. In unserem Friedenskreis hier darf keiner mitarbeiten, der nicht diesen Punkt sich selber absolut klar gemacht hat und dieser Erkenntnis zustimmt. Das ist gar keine einfache Sache. Unser aller Leben reicht noch in das andere Zeitalter hinein. Für jeden von uns bedeutet dies eine innere Wandlung, und das ist schwer. Es hilft aber nichts, wir müssen die Dinge wirklich bis auf den Grund unserer eigenen Seele durchkämpfen. Es ist an uns, sich ganz klar zu machen, welche Aufgabe jetzt gelöst werden soll. Wir müssen auf moralisch-psychologischem Gebiet diejenige Entwicklung nachholen, die auf technischem Gebiet unseligerweise so weit vorausgeeilt ist."

(Quelle: Atomenergie und Frieden, Genf 1957, 13ff.)

Dokument 3
Resolution beschlossen auf dem Interzonalen Frauenkongreß in Bad Boll
(204 Delegierte von 42 Organisationen) 20. - 23. V. 47.

  • In der Erkenntnis, daß durch die mit der Atomenergie gegebenen Möglichkeiten die Substanz der Menschheit in ihrem Kern bedroht ist, haben die aus allen Teilen Deutschlands in Bad Boll zusammengekommenen Frauen folgendes beschlossen:
    Wir wollen für den dauernden Frieden arbeiten. Wir wollen den Gedanken des dauernden Friedens im persönlichen wie im öffentlichen Leben überall voranstellen. Wir wollen insbesondere unsere Kinder in diesem Geiste erziehen.
    Wir rufen die Jugend auf, den Aufbau ihres Lebens unter dieses Ideal zu stellen. Wir hoffen auf die Zeit, in der wir über die Grenzen hinweg gemeinsam mit den Frauen und Männern aller Länder für den dauernden Frieden arbeiten können.
    (Quelle: Nachlaß FREDA WUESTHOFF)

Dokument 4
Übersetzung
Abschrift eines Briefes von Prof. ALBERT EINSTEIN, Energency Committee of Atomic Seientists, Inc. (Hilfskomitee der Atomforscher, eingetragene Vereinigung), Zimmer 18, 90 Fassan Street, Princeton, N. J. an das Hilfskomitee der amerikanischen Quäker.
(handschriftlicher Vermerk: 19. Sept. 1947)

  • Liebe Freunde,
    ich schreibe Ihnen auf Vorschlag eines Freundes mit der Bitte um Hilfe. Ich schreibe Ihnen in einem schwierigen Augenblick. Überall um uns herum sehen wir die Trümmer großer Hoffnungen, die die Menschheit für die Errichtung des Friedens gehabt hat. Die Kluft zwischen Ost und West, an deren Schließung Menschen guten Willens gearbeitet haben, wird von Tag zu Tag breiter. Manche Menschen glauben, daß keine Versöhnung möglich ist und daß ein neuer Weltkrieg den Ausgang entscheiden muß. Wir Wissenschaftler antworten darauf, daß es nicht mehr möglich ist, mit solchen Mitteln diese Frage zu entscheiden - ein Atomkrieg würde keine wirkliche Entscheidung, sondern nur Tod und Verwüstung auf beiden Seiten in bisher beispiellosem Ausmaß bringen.
    Die Geschichte lehrt, daß solche Zeiten Defaitismus und Hoffnungslosigkeit hervorbringen, aber unter uns gibt es Menschen, welche daran glauben, daß der Mensch an sich die Fähigkeit hat, sogar die großen Proben unserer Zeit zu bestehen. Was wir nicht verlieren dürfen, wenn wir nicht alles verlieren wollen, ist unsere Bereitschaft, die Wahrheit zu suchen, und unseren Mut, der Wahrheit gemäß zu handeln. Wenn wir das behalten, können wir nicht verzweifeln.
    Aufgrund klarer Beweise glauben wir Wissenschaftler, daß die Zeit der Entscheidung vor uns steht, daß das, was wir in den paar nächsten Jahren tun oder zu tun versäumen, das Schicksal unserer Zivilisation bestimmt. Das ist der Extrakt der beigefügten Ausführungen unseres Komitees, die am 30. Juni 1947 veröffentlicht worden sind. Wir fordern: "einen größeren Realismus, der erkennt, daß ... unser Schicksal mit demjenigen unserer Mitmenschen auf der ganzen Welt verbunden ist." Große Ideen können oft in sehr schlichten Worten ausgedrückt werden. Im Schatten der Atombombe ist es klar geworden, daß alle Menschen Brüder sind. Wenn wir dies als eine Wahrheit erkennen und aufgrund dieser Erkenntnis handeln, kann die Menschheit zu einer höheren Ebene der menschlichen Entwicklung voranschreiten. Wenn die schlechten Leidenschaften einer nationalistischen Weit uns weiterhin umschlingen, so ist unser Urteil gesprochen. Wir verstehen die Aufgabe der Wissenschaftler darin, daß sie diese Wahrheiten unermüdlich darlegen müssen, so daß das amerikanische Volk verstehen muß, was alles auf dem Spiel steht. Wir glauben, daß das amerikanische Volk, wenn es dies verstanden hat, einen der vielen Wege zur Erlangung einer friedlichen Lösung wählen wird und daß es sich auf eine solche Lösung hinbewegen wird und nicht auf den Krieg hin, und wir glauben, daß, auf weite Sicht gesehen, die Sicherheit für alle Nationen eine übernationale Lösung erfordert. Wir wollen unaufhörlich versuchen, diese Erkenntnis dem amerikanischen Volk auf allen uns zugänglichen Wegen öffentlicher Diskussion nahezubringen. Wenn wir irgendeine Hoffnung haben wollen, die Russen zu beeinflussen und sie zu überzeugen, daß Amerika Frieden und Sicherheit für alle Völker will, müssen wir die Gründe für das tiefe Mißtrauen der Russen gegenüber allem Ausländischen verstehen - dieses Mißtrauen, welches die Krankheit eines hartnäckigen Isolatismus ist. Wir wollen für Verständigung arbeiten und nicht gegen die Befriedung. Jeder von uns, ob er nun als Wissenschaftler an der Freisetzung der Atomenergie gearbeitet hat oder ob er ein Bürger derjenigen Nation ist, die diese Wissenschaft zur Anwendung gebracht hat, ist verantwortlich für den Gebrauch, den wir von dieser ungeheuren Kraft machen. Unserer Generation ist die Möglichkeit gegeben worden, die schicksalschwerste Entscheidung in der gesamten überlieferten Geschichte der Menschheit zu treffen. Wir können durch einen Akt unseres kollektiven Willens sicherstellen, daß diese großen und mühevollen menschlichen Intellekte sich nicht gegen die Menschheit kehrt, sondern für das Wohl zukünftiger Generationen sichergestellt wird. Ich habe den Glauben, daß die Menschheit, die die Fähigkeit zur Vernunft, zur Beherrschung und zum Mut hat, diesen Weg des Friedens wählen wird.
    Niemand kann die Ereignisse des kommenden Jahres voraussehen, aber es steht in der Macht eines jeden von uns, heute für den Frieden zu arbeiten. Ich zögere nicht, Sie um Ihre Hilfe zu bitten.
    In vorzüglicher Hochachtung
    gez. ALBERT EINSTEIN

Dokument 5
Entwurf eines Briefes an ADENAUER, vermutlich vom September 1950.
Entwurf

  • An den Herren Bundeskanzler Dr. ADENAUER Bonn
    Die Frauenorganisationen des Deutschen Frauenrings beobachten mit wachsender Sorge die ständige Verschärfung der Spannungen zwischen den großen Machtzentren der Welt.
    Wir sehen zwei akute Gefahren. Die erste Gefahr ist die Anzettlung eines Konfliktes zwischen Ost- und Westdeutschland in Analogie zu dem Korea-Krieg.
    Uns erscheint ein deutscher Bürgerkrieg als etwas ganz und gar Unmögliches. Wir haben aber in der Vergangenheit gelernt, daß auch "Unmögliches" schauerliche Wirklichkeit werden kann, wenn man nicht wachsam genug ist.
    Wir bitten die deutsche Bundesregierung, dem Gedanken an die Möglichkeit irgend einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Deutschen im Osten und Deutschen im Westen schärfstens entgegenzutreten. Eine solche klare Stellungnahme im Westen wird auch nicht ohne Wirkung auf die Deutschen im Osten bleiben.
    Wir sehen die zweite akute Gefahr darin, daß trotz ablehnender Äußerungen höchster alliierter Regierungsstellen die Propaganda für einen Präventivkrieg im Ausland nicht aufhört.
    Wir bitten den Herrn Bundeskanzler, eine Erklärung der Regierung der Deutschen Bundesrepublik gegen Präventivkriege herbeizuführen.
    Wir bitten ferner, jeder etwa innerhalb der Bundesrepublik auftretenden Befürwortung eines Präventivkrieges entgegenzutreten.
    Wir bitten, durch psychologisch kluge Aufklärung in Schulen einschließlich Berufs- und Hochschulen sowie in Lehrerbildungsanstalten der Gefahr rechtzeitig entgegenzuwirken, daß die deutsche Jugend einer in- oder ausländischen Kriegspropaganda zum Opfer fällt, ohne deren Folgen zu erkennen.
    Die letzte Bitte richten die Frauen-Organisationen insbesondere auch an die Kultusminister-Konferenz.
    Wir Frauen sind zu tiefst überzeugt, daß ein dritter Weltkrieg nicht als ein naturnotwendiges, unabwendbares Schicksal angesehen werden darf, sondern daß es möglich ist, ihn zu vermeiden. Darauf hinzuwirken, ist für Jeden das höchste Gebot.
    Die Vorsitzende des Die Vorsitzende des Ausschusses für Deutschen Frauenrings Friedensarbeit im Deutschen Frauenring gez. FREDA WUESTHOFF gez. THEANOLTE BÄHNISCH
    (Quelle: Nachlaß FREDA WUESTHOFF)

Dokument 6
Vortragstext: "Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Der Mensch im Atomzeitalter."

  • "Es wäre an der Zeit, daß Männer und Frauen in der ganzen Welt sich endlich dazu aufraffen, von ihren Regierungen die Unterbrechung der Versuche mit therrnonuclearen Explosionen, populär ausgedrückt, die Unterbrechung der Wasserstoffbombenversuche, zu verlangen. Das ist nichts weiter als ein einfacher Akt der Notwehr, also ein in einem Rechtsstaat jedem Menschen zugebilligtes Recht.
    Wir stehen nun vor der folgenden Sachlage:
  • A. Durch die bisher bereits erfolgten Wasserstoffbombenexplosionen ist eine ungeheure Menge radioaktiven Staubes geschaffen worden. Der kleinere Teil ist auf die Erde gesunken, der größere Teil befindet sich noch in der Atmosphäre. Örtliche Erhöhungen der Radioaktivität sind an zahlreichen Orten der verschiedensten Länder einwandfrei nachgewiesen worden. Niemand weiß, wie groß die Radioaktivität sein wird, wenn sich der noch in der Atmosphäre befindliche Rest der Radioaktivität abgesenkt hat. Wir wissen, daß ein Teil des Staubes so lange in der Luft bleiben wird, daß eine Radioaktivität beim Niedersinken auf den Erdboden schon verschwunden sein wird; wir wissen aber auch, daß diese radioaktiven Wolken Teilchen enthalten, die ihre Radioaktivität Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende behalten,
  • B. Sobald solche radioaktiven Staubteilchen von einem Lebewesen eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen werden und sich im Körper dieses Lebewesens festsetzen, ist das Lebewesen auf Jahre hinaus in seinem Inneren einer radioaktiven Dauerwirkung ausgesetzt. Hierin liegt die größte Gefahr. Wir ]eben in einem Zeitalter der Massenorganisationen, in dem die Stimme des einzelnen wenig gilt. Die Stimme vieler einzelner kann aber gelten, die Stimme vieler einzelner und die Stimme vieler Organisationen. Sie mögen sich zusammenfinden, um das folgende durchzusetzen:
  • Eine der beiden Großen, also entweder die Regierung der USA oder die Regierung der UdSSR möge bekanntgeben, daß sie mit sofortiger Wirkung die Durchführung von thermonuclearen Explosionen solange einstellen wird, als von anderer Seite keine thermonuelearen Explosionen mehr durchgeführt werden.
    Ich bitte zunächst die deutschen Frauenorganisationen, diesen Vorschlag aufzunehmen und zu dem ihren zu machen. Ich bitte die internationalen Frauenorganisationen, für den Vorschlag einzutreten, und zwar jeweils bei derjenigen Regierung der beiden Großen, in deren Gebiet ihr Schwerpunkt liegt. Internationale Frauenorganisationen, deren Schwerpunkt in der östlichen Welt liegt, bitte ich, bei der Regierung der UdSSR vorstellig zu werden, internationale Frauenorganisationen, deren Schwerpunkt in der westlichen Welt liegt, bitte ich, bei der Regierung der USA vorstellig zu werden.
    Es handelt sich aber beileibe im vorliegenden Falle nicht um eine Angelegenheit der Frauen. Es handelt sich um eine Frage der Weiterexistenz der Menschheit, deren sich die verschiedensten Gremien annehmen sollten, die Parlamente sämtlicher Länder, die politischen Parteien überall in der Welt, die Kirchen, die sich zum großen Teil noch immer nicht zu eindeutigen Stellungnahmen gegenüber diesen Gefahren entschließen können. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren!
    Unter dem Eindruck der Tatsachen, die ich anzudeuten mich bemüht habe, werden manche zu der Erkenntnis kommen, daß die Bewältigung des Überganges in das Atomzeitalter ihre eigenen Kräfte weit übersteigt. Diese Menschen werden erkennen, daß übersinnliche Kräfte uns zu Hilfe kommen müssen, die bestimmt vorhanden sind, die aber nur dann wirksam werden können, wenn wir uns bereitmachen, sie aufzunehmen. Wir müssen die inneren Kräfte entwickeln, die den Menschen befähigen werden, die Aufgaben zu lösen, die dieses Zeitalter jedem einzelnen von uns stellt. Atommeiler und Atombombe könnten so in unserem technischen Zeitalter zum Ausgangspunkt einer neuen Religiosität werden, für die der aufrichtig Suchende die Ansatzpunkte bestimmt finden wird. So führt uns die Beschäftigung mit der Atomenergie letztlich auf den Urgrund der Dinge zurück, auf die letzten Fragen, denen wir im Atomzeitalter nun nicht mehr ausweichen können."
    (Quelle: Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Der Mensch im Atomzeitalter. Ravensburg 1957 (leicht gekürzt)