Recht und soziale Bewegungen

Die Transformation politischer in rechtliche Konflikte

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Überlegungen habe ich erstmals auf der Jahrestagung der American Law and Society Association vom 2.-5. Juni 1983 in Denver, Col., vorgetragen. Das englische Manuskript des dort gehaltenen Referats ist Grundlage dieses Beitrags. Dieser ist allerdings keine reine Übersetzung des englischen Textes. Vielmehr habe ich einige Passagen fortgelassen und gekürzt, weil sie spezifisch auf ein nichtdeutsches Publikum zugeschnitten waren; andere sind aktualisiert und ergänzt worden, um dem Text den Anstrich einer inzwischen Geschichte gewordenen Episode der deutschen Nachkriegsentwicklung zu nehmen. Das theoretische und wissenschaftliche Argument meiner damaligen Ausführungen ist indessen unverändert geblieben. In diesem Beitrag geht es um »forensische« Probleme eigener Art. Sie als »forensische« zu begreifen, mag nicht jedermann und mag vor allem auf den ersten Blick nicht recht plausibel erscheinen. Die Akteure — und des - halb sträubt man sich gegen die Anwendung eines forensischen Blickwinkels auf sie — sind nicht individuelle Personen, sondern kollektive Gebilde: soziale Bewegungen, lose strukturierte Handlungszusammenhänge mit einer Mehrzahl daran beteiligter Personen. Die Parallele, die wir zwischen der klassischen forensischen Situation und Praxis und den Formen und Folgen des Zusammentreffens von kollektiven Akteuren und dem Recht herstellen wollen, wird deutlich, wenn man sich die ethymologischen Wurzeln des Adjektivs »forensisch« und das dazugehörige Substantiv vergegenwärtigt: das »Forum« stellt nach seinem historisch-politischen Ausgangs-und Ursprungsort im Rom der Kaiserzeit einen öffentlichen »Ort der Rechtspflege, der Volksversammlung und des Machtverkehrs« dar, auf dem u.a. die Kandidaten für öffentliche Ämter auftraten.[1]    Dieser weite Bedeutungsgehalt des semantischen Feldes, dem das Adjektiv »forensisch« auch noch in seiner restriktiven Verwendungsweise zugehört, gibt den Orientierungsrahmen ab, in den die folgenden Überlegungen einzuordnen sind. Es geht dabei um die Lokalisierung von gesellschaftlichen und politischen Konflikten in »Foren« unterschiedlicher Struktur und Funktionsweise und um die damit verbundenen Konsequenzen für die betroffenen Akteure.

1. Problemstellung und Forschungskontext

Mein Beitrag behandelt das Thema des Rechts als Instrument sozialen Wandels aus einer sehr spezifischen Perspektive. Obwohl auch mein forschungsleitendes Interesse mit der Beziehung zwischen Recht und sozialem Wandel zu tun hat, stelle ich nicht die übliche Frage, wie und mit welchem Effekt das Recht von Trägern sozialer Innovation oder gesellschaftlicher Reform im Sinne ihrer Ziele und Bestrebungen genutzt werden kann. Vielmehr gehe ich von der genau entgegengesetzten Frage aus, nämlich in welcher Weise Recht und rechtsbezogene Strategien gerade den Interessen derjenigen dienen können, die sich dem sozialen Wandel widersetzen. Deshalb werde ich mich nicht mit Prozeßführungsstrategien von seiten der Initiatoren und »Parteigänger« gesellschaftlicher und institutioneller Reformen beschäftigen, sondern mit rechtlichen Gegenstrategien gegenüber solchen Forderungen, d.h. mit denjenigen politischen und sozialen Kräften einer Gesellschaft, die ohnehin den Macht- und Entscheidungszentren über soziale und politische Reformen näherstehen. — In ihren empirischen Bezügen fundieren die nachfolgenden Erörterungen auf meiner Studie, die ich im Rahmen einer vom Bundesministerium des Inneren eingesetzten Gruppe von Wissenschaftlern zur Erforschung der »Ursachen des Terrorismus« Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre durchgeführt habe. Sie war damit Teil sowie Ausdruck jenes »deutschen Herbstes« im Jahre 1977, der der Bundesrepublik den terroristischen Höhepunkt von sozialen und politischen Auseinandersetzungen bescherte, die in den Jugend- und Studentenunruhen Mitte der 60er Jahre ihren Ausgang genommen hatten. Die Ergebnisse dieser nach wissenschaftlichen Disziplinen pluralistisch und nach Rekrutierungsprinzip parteienproportional zusammengesetzten Gruppe [2] von Wissenschaftlern spielen für unseren Zusammenhang nur insoweit eine Rolle, als sich eine deutliche Divergenz in den Perspektiven zwischen dem Großteil der Einzelstudien einerseits und unseren — wie die von H. Steinen — andererseits konstatieren läßt. Während die meisten übrigen Einzelprojekte auf die Handlungen, die organisatorischen, ideologischen und personengebundenen Strukturen der Terroristen selbst oder deren Gruppen ausgerichtet und konzentriert waren, zielte mein Projekt auf die politischen und staatlichen Gegenstrategien gegen die Handlungen der Anführer und Anhänger der sozialen Bewegungen und auf die Transformation ursprünglich politischer Konflikte in gewalthafte Konfrontationen zwischen den Personen und Kräften der sozialen Bewegung und den staatlichen Akteuren und Instanzen sozialer Kontrolle.[3] Es war ein kontroverses Projekt von Beginn an, gegen das sich insbesondere der Auftraggeber bis zu seiner Veröffentlichung sträubte.[4]

2. Der analytische Bezugsrahmen der Studie

Die zentrale theoretische These, die ich auf der Grundlage meiner empirischen Studie aufstellen und verteidigen möchte, kann sehr knapp und bündig formuliert werden. Wenn in politischen Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen und den politischen und staatlichen Kräften einer Gesellschaft letztere eine Umwandlung des politischen Konflikts in einen gesetzlichen betreiben, indem sie Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte einschalten, verlieren solche Bewegungen ihre inhaltliche und politische Substanz, und das heißt, daß sich die offizielle gesellschaftliche und staatliche Politik damit dem Druck und der Aufforderung zu sozialem und politischem Wandel entzieht.
Eine genauere Darlegung meiner These hat zwei Aspekte herauszuheben, die in der Ausgangsbehauptung enthalten sind. Der erste bezieht sich auf den Begriff der Transformation. Dieser soll weder als »natural history« begriffen werden, wie es in der Tradition der Soziologie sozialer Bewegungen lange geschehen ist, noch soll er — funktionalistisch — als Summe »latenter«, d.h. nicht beabsichtigter Konsequenzen von Konfliktinteraktionen gefaßt werden. Statt dessen wird die Transformation eines Konfliktgeschehens als ein Prozeß verstanden, in dem Handlungen, Reaktionen auf diese und die ihnen unterliegenden Strategien der Handelnden die entscheidende Rolle spielen.
Der zweite Aspekt, der zu unterstreichen ist, ist der dynamische Charakter der erforderlichen Analyse. Die für die Analyse erforderlichen Konzepte müssen Sequenzen von Ereignissen in einer Weise miteinander verknüpfen, daß sie Teil eines sich entwickelnden, organisierten und strukturierten sozialen Systems mit einem steigenden Grad und Ausmaß der Spezialisierung, Segmentierung und Exklusivität werden. Eine solche Vorgehensweise bedeutet, daß die Interaktion zwischen sozialen Bewegungen und ihren politischen und staatlichen Opponenten zu der Herausbildung einer Reihe unterschiedlicher Handlungssysteme mit voneinander separierbaren Merkmalen, Handlungen und Grenzen führen. Eine solche Perspektive läßt analytische Ansätze als unzureichend, ja selbst irreführend erscheinen, die auf der Basis operieren, daß die in einem solchen Konfliktgeschehen beteiligten Individuen die zentralen analytischen Einheiten der Untersuchung darstellen. Gewiß, die in einem solchen Prozeßgeschehen getroffenen Entscheidungen und verfolgten Strategien können und müssen letzten Endes Personen als Trägern zugeordnet werden. Wenn etwa bestimmte Konfliktereignisse das Recht oder die Gerichte erreichen, dann ist dazu das Handeln von genau angebbaren Personen und Amtsträgern erforderlich. Für die Zwecke der von mir anvisierten Untersuchung sind jedoch die Entscheidungen und Strategien, die sich in solchen Konflikten ausmachen lassen, einerseits als, wie ich es nennen möchte, aus der Situation hervorgegangene Eigenschaften des Prozesses selbst zu betrachten. Sie sind andererseits als systematisch erzeugte Produkte der Funktion und Struktur des Rechts und seiner institutionellen und organisatorischen Einrichtungen und Mechanismen anzusehen.
Der theoretische Bezugsrahmen läßt sich in theoriesystematischer Hinsicht unschwer als konflikttheoretischer Ansatz ausmachen. Um diesen jedoch für die Zwecke unserer Analyse und des hier interessierenden Gegenstandes zu verwenden, insbesondere um den Gedanken der Umwandlung von Konflikten genauer profilieren zu können, wollen wir anhand von bestimmten Dimensionen verschiedene Konflikttypen voneinander unterscheiden, je nachdem, um welchen situationsspezifischen und institutionellen Kontext es sich handelt, in dem Konflikte stattfinden. Man kann diese Konfliktkonstellationen als unterschiedliche Konfliktforen bezeichnen. In bezug auf die uns interessierende Frage der Transformation von politischen in gesetzliche Konflikte halten wir sechs Aspekte bzw. Dimensionen für wichtig, die es erlauben, die beiden genannten Konfliktarenen voneinander unterscheiden und gegeneinander abheben zu können. Diese sind:

  • a Die generelle Beziehung zwischen Recht und Politik im Sinne ihrer funktionalen oder weitbezogenen Ordnung und Priorität;
  • b Die zur Teilnahme am Konfliktgeschehen zugelassenen und funktional differenzierten Personen und Parteien;
  • c Die für die Konfliktführung benötigten und erforderlichen Ressourcen; 
  • d Die inhaltliche Substanz und Reichweite des Konflikts und die Kontrolle darüber; 
  • e Die Infrastruktur der Konfliktkontrolle im Sinne, wer die Initiative über Konfliktführung, -folge und -struktur innehat;
  • f Welche Struktur und Funktion kommt dritten Parteien im Konflikt zu, insbesondere wie sind die Beziehungen zwischen den Konfliktpartnern und den jeweiligen dritten Parteien?

3. Das Verhältnis von Recht und Politik im Kontext der Bundesrepublik

Anhand der vorgenannten sechs Dimensionen möchte ich die spezifischen Charakteristika rechtlicher und politischer Konflikte für die Situation der Bundesrepublik etwas genauer herausarbeiten und einander gegenüberstellen. Es sei angemerkt, daß die im Folgenden für die Bundesrepublik getroffenen Feststellungen nicht durchweg beanspruchen können, auch Gültigkeit für andere Gesellschaften zu haben. So denke ich, daß etwa die spezifische angelsächsische Tradition einer langen historischen Ausformungsphase des Verhältnisses von Recht und Politik zu einer Struktur der Beziehungen dieser beiden Konflikttypen geführt hat, die markante und benennbare Unterschiede zu der der Bundesrepublik aufweist.[5]
(a) Ich wende mich zunächst der Frage nach der allgemeinen Beziehung zwischen Recht und Politik in der Bundesrepublik zu. Hier läßt sich als Befund festhalten, daß man nach wie vor von einer definitiven Vorherrschaft und Höherrangigkeit des Rechts gegenüber der Politik in Deutschland sprechen kann. Der Politik haftet wie eh und je der Geruch eines »schmutzigen Geschäfts« an, das durch und durch von partikularen Interessen und dadurch verursachten Verzerrungen und Einseitigkeiten geprägt ist. Demgegenüber werden das Recht und seine Institutionen als »desinteressierte« Strukturen und Mechanismen der Gesellschaft verstanden, die jenseits und über den Interessen und Zielen einzelner sozialer Gruppen angesiedelt sind.
Mit dieser Haltung korrespondiert die Einschätzung der Politik und ihrer Institutionen in bezug auf die Geeignetheit und Fähigkeit, soziale Konflikte zu regulieren und zu kontrollieren. Eine Frage oder ein Problem politisch anzugehen, trägt einen schalen Beigeschmack mit sich. Eine solche Orientierung gegenüber der Politik hängt mit einer allgemeineren Einstellung gegenüber sozialen Konflikten überhaupt zusammen. Konflikte in einer Gesellschaft werden nach einem weit verbreiteten Verständnis in der Bundesrepublik als destruktiv, anormal und allenfalls als Ausnahme betrachtet, die die Regel gesellschaftlichen Miteinanders bestätigt. Integration, Harmonie und sozialer Friede sind die Werte und Prinzipien, die über denen des Konflikts rangieren und die die Rhetorik des gesellschaftlichen und politischen Diskurses bestimmen. Die öffentliche und politische Diskussion über die Wurzeln und Ursachen der Unruhen der sechziger Jahre, der politischen Gewalttätigkeit und des Terrorismus waren geradezu ein Exerzierfeld dafür, gesellschaftliche und politische Konflikte zu denunzieren und soziale Harmonie zu beschwören. Eine der häufigsten »Erklärungen« für die politische Unruhe in der Bundesrepublik seit etwa Mitte der sechziger Jahre war die angebliche Zunahme einer Konfliktorientierung in der Gesellschaft. Universitäten, Schulen und Intellektuelle wurden für diese Entwicklung verantwortlich gemacht, und ihre Spuren wurden in Schulbüchern, Lehrplänen und Unterrichtsmaterial aufgesucht. Diese Diskussion war in der Tat nicht nur symbolisch und rhetorisch: in dem vielarmigen Kampf gegen Terrorismus und politische Gewalt wurden z.B. auch Schulbücher aus dem Verkehr gezogen, weil sie in ihrer Grundorientierung als zu »konfliktbesetzt« angesehen wurden.
Angesichts einer solchen Einstellung gegenüber sozialen Konflikten überhaupt und gegen politische Konflikte im besonderen läßt sich schon auf dieser Ebene der Analyse die Bedeutung ausmachen, die die Transformation eines politischen Konflikts in einen gesetzlichen mit sich bringt. Ein gesetzlicher Konflikt nimmt dem Gegenstand, über den entschieden wird, das Odium, daß es sich bei den Konfliktbeteiligten um unterschiedliche Parteien und Interessen handelt, die miteinander um Vorteile, Privilegien und wechselseitig bestrittene Ansprüche streiten. Ein rechtlicher Konflikt — das ist die ideologische Botschaft einer solchen Orientierung — ist frei von politischer Ansteckung und »Befleckung«.
Natürlich ist ein solches Bild des Rechts voller Ironie, Mystifizierung und voll von historischer Ignoranz. Nicht nur vernachlässigt, sondern buchstäblich unterdrückt wird in einem solchen Selbstverständnis des Rechts die Rolle, die das Recht und seine Institutionen in der deutschen Geschichte gespielt haben. Jener Aspekt des modernen Rechts, der mit der europäischen Aufklärung und mit der Ablösung des staatlichen Absolutismus durch demokratische und republikanische politische Systeme eng verknüpft ist, hat für das deutsche Recht nie zu seinen theoretischen und ideologischen Meilensteinen gezählt. Eher läßt sich sagen, daß das Recht in Deutschland ein Gefäß und Gefährt gewesen ist, in dem und durch das antidemokratische und antirepublikanische Ideen sich haben halten können. Das Recht hat sich in Deutschland niemals der Idee und dem Gedanken eines starken und entschlossenen Staates verschlossen, und es hat sich selbst kaum als Widersacher oder als »Anwalt« der Gesellschaft gegen den Staat verstanden.
Vor diesem Hintergrund bedeutet die Umwandlung oder die Überführung eines Konflikts aus der politischen in die rechtliche Arena nicht nur, ihm ein besonderes Gewicht und eine spezifische Dignität zu verleihen, die er vorher nicht hatte, sondern sie bedeutet vor allem, einen Konflikt dadurch stillzustellen und ihn der weiteren politischen Behandlung zu entziehen, daß das Recht ihm mit seinem Urteil oder seiner Entscheidung den Charakter der Endgültigkeit und der Verbindlichkeit einer Lösung auferlegt, die nur schwer wieder rückgängig zu machen ist. Diesem Entpolitisierungseffekt des Rechts kommt dadurch eine besondere politische Brisanz zu, weil das Recht gemäß seiner zuvor skizzierten Staatslastigkeit tendenziell zu Lasten derjenigen geht, die die bestehenden gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Strukturen in Frage stellen und zu reformieren trachten.

(b) Die zweite Dimension, nach der sich rechtliche und politische Konflikte voneinander unterscheiden lassen, springt vermutlich auf den ersten Blick am meisten ins Auge. Sie bezieht sich auf den Umfang und die Art und Weise der Einbeziehung der Öffentlichkeit in einen Konflikt. Die Bedeutung, die die Öffentlichkeit bzw. nicht unmittelbar am Konflikt beteiligte »Zuschauer« für den Ausgang und den Verlauf eines Konflikts haben, ist von dem amerikanischen Politologen E.D. Schattschneider in einer oft zitierten Beobachtung festgehalten worden. Man habe, wenn man wissen wolle, welche der beiden Parteien eines Konflikts die besseren Chancen besitze, die Konfliktarena als Sieger zu verlassen, nicht so sehr auf diese selbst zu sehen, sondern müsse eher auf das Publikum und auf die den Konflikt begleitende Öffentlichkeit schauen.[6] Die Strategien politischer Konfliktführung zielen auf die Einbeziehung bzw. die Ermunterung anderer Leute und der Öffentlichkeit, Partei zu beziehen und dadurch die Waagschalen des Konflikts zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu sind gesetzliche Konflikte gerade dadurch charakterisiert, daß sie die Öffentlichkeit und deren Parteinahme vom Konfliktgeschehen fernhalten, nach Möglichkeit ausschließen. Struktur und Funktionsweise rechtlicher Konfliktlösung reduzieren selbst die Teilnahme der Konfliktparteien in einem Ausmaß, daß man etwa, wie es der Kriminologe N. Christie tut, von einer Übereignung des Konfliktstoffes von den Konfliktparteien an das Recht sprechen kann.[7]
Obwohl die Begründung für die Ausschaltung der Öffentlichkeit aus dem rechtlichen Konfliktgeschehen — die Unabhängigkeit des Rechts und seiner Institutionen — auf der Hand liegt und als eine wesentliche Funktionsvoraussetzung des Rechts betrachtet wird, bedeutet sie dennoch eine dramatische Veränderung des gesamten Kontexts eines Konflikts.
Allerdings wird dieser Grundsatz der Distanz und der Distanzwahrung der Öffentlichkeit gegenüber gesetzlichen Konflikten nicht immer beachtet. Im Fall politischer Verfahren und Prozesse wird er sogar fast notorisch vernachlässigt und ignoriert. Wiederum lassen sich aus dem politischen und staatlichen Kampf gegen die Studentenbewegung und den Terrorismus zahlreiche Beispiele für die Verletzung dieses Grundsatzes zitieren. Die Vorverurteilung von angeklagten Terroristen durch hohe Politiker und Staatsfunktionäre nicht nur in öffentlichen Interviews, sondern auch in formellen Einrichtungen und Anstalten des politischen und staatlichen Lebens, gehörten zur Routine. Zu dieser Einflußnahme von außen auf den Gang und den Kampf des Rechts gegen die Gewalt in der Politik gehörte auch die staatlich initiierte und betriebene strafrechtliche Verfolgung einer Anzahl von Wissenschaftlern, die in einer Publikation ein studentisches Flugblatt veröffentlicht und kommentiert hatten, das anläßlich der Ermordung des damaligen Generalbundesanwalts im April 1977 neben »klammheimlicher Freude« auch die grundsätzliche Ablehnung einer derartigen revolutionären Strategie zum Ausdruck gebracht hatte.[8]

(c) Die dritte Dimension zur Unterscheidung eines rechtlichen von einem politischen Konflikt betrifft die Art und den Typus der Ressourcen, die nötig sind, um den Konflikt erfolgreich führen zu können. Diese sind für beide Konfliktarten offensichtlich ganz unterschiedlicher Natur. Für einen rechtlichen Konflikt benötigt man Expertenwissen unterschiedlichster Art, das im allgemeinen nur durch hochprofessionalisierte und spezialisierte Bildungs- und Ausbildungsprozesse zu gewinnen ist. Darüber hinaus ist diese Wissensressource für den Zweck des Einsatzes in einem rechtlichen Konflikt nur in hochorganisierter, professionell gebundener, beruflich und staatlich kontrollierter Weise zugänglich. Hinzu kommt, daß ein rechtlicher Konflikt bekanntlich eine sehr elaborierte Zeitstruktur hat, was bedeutet, daß die für seine Durchführung erforderlichen Expertendienste in durchaus ungleichmäßiger Weise über eine lange Zeit zur Verfügung stehen müssen. Der Zugang zu diesen Voraussetzungen und Mitteln einer erfolgreichen Teilnahme an Konflikten in den Stätten des Rechts ist für die Konfliktparteien, um die es uns hier geht, in einer Weise unterschiedlich gegeben, die keine weitere Erläuterungen und Begründungen verlangt. Nicht nur verfügen der Staat und seine Einrichtungen über ungleich mehr materielle Ressourcen als soziale Bewegungen und Protestgruppen, sondern erstere unterhalten eigene Rechtsstäbe und Rechtsabteilungen mit keiner anderen Aufgabe, als solche rechtlichen Konflikte zu initiieren und zu organisieren.
In diesem Zusammenhang verdient noch ein zusätzlicher Gesichtspunkt betont zu werden. Nicht nur verändert die ungleiche Ressourcenverteilung in bezug auf rechtliche Konflikte die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Parteien ganz dramatisch, sondern die gegen soziale Bewegungen von seiten staatlicher oder politischer Instanzen eingeleiteten Rechtskonflikte zielen in aller Regel auf Personen, die für die Protestbewegung in instrumenteller oder symbolischer Hinsicht eine herausgehobene Bedeutung haben. Durch einen gegen sie geführten Rechtskonflikt werden sie nicht nur ganz oder teilweise über eine mehr oder weniger lange Zeit von der Beteiligung am Protestgeschehen abgezogen, sondern sie sind im Falle von Strafverfahren auch dem Versuch und der Gefahr ausgesetzt, daß sie eine Statustransformation von einem politischen Führer zu einem »Rädelsführer« erfahren. Eine solche Konsequenz würde nicht nur für die vom Rechtskonflikt unmittelbar betroffene Person die hinlänglich bekannten strafrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen, sondern — und darauf zielen solche rechtlichen Konflikte natürlich zuallererst — sie würde die Diskreditierbarkeit der sozialen Bewegung auslösen und möglich machen. Einige solcher von seiten staatlicher Behörden angezettelter Rechtskonflikte haben seinerzeit bundesweite Öffentlichkeit erlangt und sind auch durchaus nicht immer in dem damit verfolgten Sinne erfolgreich gewesen.[9] Es scheint sich bei dieser Konfliktführungsstrategie von Seiten des Staates und der etablierten Politik um ein generelles Muster des Widerstands und der Bekämpfung von sozialem Protest zu handeln, das keineswegs nur eine spezifische und einmalige Form der Abwehr der Studentenbewegung gewesen ist.

(d) Die vierte Dimension zur Unterscheidung von politischen und rechtlichen Konflikten zielt auf die Veränderung der Relevanzstruktur und der Prioritätenordnung der Konfliktgegenstände. Einen politischen Konflikt in einen rechtlichen Konflikt zu transformieren ist ein Vorgang, der sich in erneuter Anlehnung an den bereits erwähnten Schattschneider als eine Form der Konfliktsubstituierung begreifen läßt - eine Konfliktstrategie, die Schattschneider als eine der »verheerendsten politischen Strategien« bezeichnet. Bei einem rechtlichen Konflikt konzentriert sich alles auf die Verletzung gegebener Regeln und Gesetze, bei einem politischen Konflikt geht es um inhaltliche Ziele und Gegenstände. Etwas vereinfacht läßt sich deshalb sagen, daß ein rechtlicher Konflikt die Funktion hat, an die Stelle der Auseinandersetzung über inhaltliche Ziele eine solche über die Form ihrer Verfolgung und Durchsetzung zu setzen.
In der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung gab es mehr öffentliche und politische Diskussionen über die Formen des Protestes als über die politischen und inhaltlichen Anliegen der Protestierer und Demonstranten. Wie Kritik vorgebracht wurde, an welchen Plätzen, bei welchen Gelegenheiten und in welchen Institutionen diese Kritik artikuliert wurde, wie sich die Träger des Protests ihre Informationen beschafften, ob sie Regeln der Geheimhaltung verletzten, ob es zulässig war, staatliche und universitäre Mittel und Möglichkeiten für die Artikulation und Verfolgung bestimmter politischer Ziele einzusetzen — dies alles waren Fragen und Streitpunkte, die von seiten der Opponenten der Bewegung gegen diese ins Feld geführt wurden und auch zu rechtlichen Konflikten und Verfahren führten. Dabei traten die inhaltlichen Anliegen und die von den Studenten kritisierten Mißstände in Gesellschaft und Staat in den Hintergrund, und damit wurde versucht, die Konfliktarena entscheidend und so zu ändern, daß die Konfliktausgänge zugunsten der Verteidiger des gesellschaftlichen und politischen Status quo kalkulierbar wurden.

(e) Der fünfte Aspekt, unter dem sich der politische vom rechtlichen Konflikt kontrastieren läßt, betrifft ein Strukturmerkmal von Konflikten, das man als Aktion-Reaktion-Ordnung eines Konflikts bezeichnen könnte. Es geht dabei um die Frage, ob es eine bestimmte Reihenfolge der einzelnen Schritte oder Züge in einem Konflikt gibt, und in welcher Weise diese geregelt ist. Auch in bezug auf diese Dimension läßt sich eine evidente strukturelle Differenz zwischen einem politischen und einem rechtlichen Konflikt ausmachen. Während für den rechtlichen Konflikt in den einzelnen Prozeßordnungen genaue Vorschriften über Ordnung und Sequenzierung von Schritten der Konfliktführung festgelegt sind, gilt dies für einen politischen Konflikt nicht. Das politische Konfliktgeschehen ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß die an ihm beteiligten Träger und Akteure keiner im vorhinein ausmachbaren Ordnung oder Reihenfolge in der Konfliktführung unterworfen sind. Mit dem Eintritt in einen rechtlichen Konflikt ist insbesondere die Frage geregelt, wem die Initiative in der Konfliktführung zusteht, wer wie wann welche Konflikthandlung zu vollziehen hat. Bei dem uns hier hauptsächlich interessierenden Fall eines strafrechtlichen Konflikts in der Auseinandersetzung des Staates und des politischen Systems mit Bürgerprotest und sozialen Bewegungen liegt die Tragweite dieser Dimension der Konfliktführung unmittelbar auf der Hand. Die politischen Konfliktträger werden aus der Rolle der Urheber und der Initiatoren von Konflikthandlungen in die Rolle gedrängt, auf Konflikthandlungen der anderen Seite reagieren zu müssen. Statt das Heft des Handelns wie bei der politischen Konfliktführung selbst in der Hand zu haben, wird ihnen im Falle des gegen sie geführten rechtlichen Konflikts diese Handlungsinitiative auf drastische Weise genommen.

(f) Der sechste und letzte Aspekt, den ich für die Unterscheidung zwischen politischen und rechtlichen Konfliktstrukturen vorschlagen möchte, bezieht sich auf die Verfügbarkeit von sogenannten dritten Parteien für ein Konfliktgeschehen und auf die Struktur und die Funktion solcher »Dritter«. Es handelt sich hierbei um einen der zentralsten und bedeutendsten Mechanismen der Regelung und »Lösung« von Konflikten. Dies läßt sich an zwei Grundüberlegungen über die Funktion von dritten Parteien für den Verlauf einen Konflikts deutlich machen. Die eine bezieht sich darauf, daß jeder Konfliktbeziehung nur ein begrenztes Arsenal an Konfliktmitteln zur Verfügung steht, das sich im Verlaufe des Konflikts erschöpft. Die Einführung oder das Hinzutreten einer »dritten Partei« in die Konfliktbeziehung kann in einer solchen Situation die Funktion haben, die Konfliktpartner aus der Konfliktverstrickung herauszuführen und sie wieder »freizustellen« und zu entlasten für die Teilnahme an ihren sonstigen sozialen Bezügen und Teilsystemen. Die zweite zentrale Funktion der Rolle des Dritten in einem Konfliktgeschehen ist sowohl in theoretischer wie entwicklungshistorischer Hinsicht die bedeutendste. Sie betrifft den Ausschluß der Gewalt als ein Mittel der Konfliktaustragung. Jeder Konflikt trägt in sich den Horizont der Gewaltandrohung und die Wahrscheinlichkeit der Gewaltanwendung. Dies ist der entscheidende Kerngedanke der bekannten Doktrin, wonach der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Dies gilt für zwischengesellschaftliche ebenso wie für innergesellschaftliche Konflikte. — Der Ausschluß und die Verbannung der Gewalt aus den Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder und ihren Konflikten ist bekanntlich eine der wichtigsten Rechtfertigungssäulen des modernen Staates sowie seines bedeutendsten Steuerungsinstruments, des Rechts. Allerdings hat dieser Gemeinplatz auch eine oft nicht mitgedachte Kehrseite: Staat und Recht sind ebensosehr und gleichzeitig Einrichtungen, die Gewalt für die Regulierung und Lösung von Konflikten verfügbar halten und machen. Wir stehen — in anderen Worten — vor dem Paradox, daß der vom Staat und den rechtlichen Institutionen garantierte Ausschluß der Gewalt aus der Gesellschaft den Preis der Wiedereinführung der Gewalt durch eben die gleichen Institutionen in sich trägt. Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Implikationen:

  1. Sind die staatlichen Einrichtungen, hier vor allem natürlich die Institutionen der sogenannten »Dritten Gewalt«, in der Rolle und Funktion des außenstehenden Dritten in einen Konflikt involviert, bedeutet dies also keineswegs Irrelevanz oder Abwesenheit von Gewalt für die Konfliktlösung.
  2. Vielmehr wird dieser Schein dadurch hergestellt, daß die hinter den staatlichen Konfliktlösungsinstitutionen stehende Gewalt durch einen Trick gleichsam nicht als solche erscheint bzw. wahrgenommen wird: Es ist die Legitimität staatlicher Gewaltanwendung, die tendenziell vergessen macht, daß auch staatliche Gewalt »Gewalt« ist. Es ist deshalb nicht nur logisch denkbar, sondern auch empirisch belegbar, daß die Reduktion der Gewalt in der Beziehung der Menschen zueinander einhergeht mit einer Zunahme der legitimen Gewaltanwendung des Staates zur Durchsetzung der gesellschaftlichen Gewaltlosigkeit. 
  3. Deshalb ist festzuhalten, daß, was immer auch der Gang zu den Gerichten sonst meint und bewirkt, er auch der Versuch der Indienstnahme der Gewalt für den weiteren Konfliktverlauf ist.
    Eine zentrale Voraussetzung für die konfliktschlichtende Funktion des »Dritten« ist seine Anerkennung durch die Konfliktparteien. Diese Eigenschaft läßt sich als »Unparteilichkeit« bezeichnen. In demokratisch und republikanisch verfaßten Gesellschaften soll diese durch das Rechtsstaatsprinzip verbürgt werden. Eine seiner zentralen Funktionen besteht darin, gewaltfreie Konfliktschlichtung und -lösung auch für den Fall zur Verfügung zu stellen, daß Konflikte zwischen Staat und Gesellschaft auf der Tagesordnung stehen. Für unseren Zusammenhang sind zwei Aspekte des Rechtsstaatsprinzips von Bedeutung. Der eine betrifft die Doktrin und die Institutionalisierung der staatlichen Gewaltenteilung mit dem besonderen Aspekt der Unabhängigkeit und der institutionellen Autonomie der Gerichte. Zum anderen kommt für unsere Analyse der auch mit dem Rechtsstaatsprinzip gemeinten Garantie eine besondere Bedeutung zu, daß auch die Träger staatlichen Handelns nicht nur Recht und Gesetz unterworfen sind, sondern daß sie in gleicher Weise wie die Mitglieder der Gesellschaft in ihrem Handeln der Kontrolle und — im Falle der Verletzung von Gesetzen durch die staatlichen Amtsträger — Sanktionierung durch die Gerichte ausgesetzt und unterworfen sind.
    Die Frage, ob in Konfliktkonstellationen wie den hier untersuchten die Strategie einer rechtlichen Konfliktführung in der von uns skizzierten Art durch die staatliche Seite als ein opportunes und erfolgversprechendes Mittel des Umgangs mit politischen Forderungen von sozialen Bewegungen betrachtet und eingeschlagen wird, hängt ebenso wie die weitere Frage, ob die Gerichte die ihnen angesonnene Funktion der Konfliktschlichtung wahrzunehmen in der Lage sind, weitgehend davon ab, ob diese auch eine erkennbare Bereitschaft und eine institutionelle Möglichkeit haben, Rechts-und Regelverletzungen auch der staatlichen Seite in einer den Buchstaben der Gesetze gerechten Weise zu verfolgen. Wenn dies, darstellbar oder auch faktisch, nicht der Fall ist, dann vermögen die Gerichte die Funktion der Konfliktschlichtung nicht wahrzunehmen, dann gelingt es ihnen vor allem nicht, den zentralen Aspekt ihrer Aufgabe, nämlich die Gewalt aus dem Konflikt zu verbannen, zu erfüllen. Die Vermutung ist dann eher angebracht, daß das Handeln der Gerichte eher zusätzliche Gewalt schürt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Handlungen der anderen Seite die gegebenen Regeln und Gesetze verletzen, und auch unabhängig davon, ob solche Regelverletzungen von den Institutionen der Dritten Gewalt geahndet werden oder nicht. Man kann diese Bedingung der Eskalation von solchen politischen Konfliktkonstellationen bis zu ihrer Gewalthaftigkeit noch zuspitzen: nicht funktionierende Kontrolle staatlicher Handlungen gegenüber Protest- und Bürgerbewegungen führt zu der Tendenz, daß die Adressaten des politischen Protests um so eher geneigt sind, in der Abwehr und Bekämpfung solcher politischen Konflikte auch zu Maßnahmen und Schritten zu greifen, die gesetzlich nicht gedeckt sind oder die Gesetze sogar verletzen. Wir schließen damit die Erörterung der verschiedenen Gesichtspunkte, nach denen sich politische und rechtliche Konflikte voneinander unterscheiden lassen. Die einzelnen voneinander unterschiedenen Dimensionen der beiden Konflikttypen müßten gewiß noch um andere Aspekte ergänzt werden, so etwa um Parameter, die sich auf Struktur, Zielsetzung und Grad der Organisation von sozialen Bewegungen beziehen. Auch ist einzuräumen, daß die voneinander unterschiedenen Strukturmerkmale politischer und rechtlicher Konflikte in eine theoretische Ordnung zu bringen sind, die es erlauben würde, sie intern stärker zu verknüpfen und zu hierarchisieren. Die dazu notwendige theoriestrategische Arbeit, die, um das nur anzudeuten, nach unserer Ansicht stärker in die Richtung politologischer und staatssoziologischer Analyse zu gehen hätte, kann hier als Desiderat nur benannt, nicht jedoch ausgeführt werden. Allerdings wollen wir in einem letzten Abschnitt diesen Punkt insoweit noch etwas weiter traktieren, als wir, eher einer rechtsinternen Logik folgend, in die Infrastruktur rechtlicher Konfliktführung hineinleuchten, mit der Absicht, damit jedenfalls einige zusätzliche begriffliche und empirische Bausteine zur nötigen weiteren theoretischen Analyse bereitzustellen.

4. Das Gestaltungspotential des Rechts zur Absorption und Steuerung politischer Konflikte

Um die Instrumentalisierbarkeit des Rechts gegen soziale und politische Protestbewegungen transparenter und verständlicher zu machen, ist es erforderlich, einer Sichtweise des Rechts entgegenzutreten, die als eigenes Selbstverständnis ebenso sorgsam gepflegt wird, wie es als eine zentrale Voraussetzung seiner Legitimationskraft zu betrachten ist. Dieses Selbstverständnis sieht Recht und Gesetze gleichsam identisch mit einem System von Bedingungen, bei deren Eintritt bestimmte Handlungen von seiten der Funktionsträger des Rechts ausgelöst werden. Dies bedeutet, daß das vom Recht gehegte und darüber hinaus weitverbreitete Selbstbild dem Recht im wesentlichen eine passive, reaktive und reagierende Rolle zuschreibt. Im Gegensatz hierzu nötigen unsere Überlegungen dazu, von einer diametral entgegengesetzten Perspektive auszugehen. Das Recht ist danach nicht als ein Apparat, ein schlummernder dazu, zu betrachten, der nur durch das von ihm selbst nicht zu verantwortende Eintreten von Bedingungen in Aktion tritt, sondern dem Recht wohnt ein strategisches, aktiv steuerndes Gestaltungspotential inne, dessen sich Akteure und Konfliktparteien, wenn nicht gar beliebig, so doch in einem weiten Spielraum bedienen können.
Der Einlösung und Illustrierung dieser Gegenthese zur herrschenden Doktrin über den Wirkungsmechanismus des Rechts wollen wir uns im folgenden in der Weise zuwenden, daß wir am Beispiel strafrechtlicher Konflikte auf der Ebene der an solchen Verfahren beteiligten Funktionsträger die strategischen Handlungsmöglichkeiten etwas genauer ansehen. Dabei wird es vor allem darum gehen, daß das Gestaltungspotential des Rechts dadurch eine zusätzliche und besondere Zuspitzung erfährt, daß die gesetzlichen Funktionsträger nicht nur die Herrschaft über die Folgen und deren Administrierung der rechtlichen Handlungsbedingungen besitzen, sondern daß sie selbst weitgehend auch über die Bedingungen rechtlichen Handelns, auf jeden Fall über die Opportunität der Feststellung des Vorliegens dieser Bedingungen verfügen.
Bevor wir zu Einzelheiten der institutionellen Infrastruktur eines Strafkonflikts kommen, wollen wir noch eine generelle Anmerkung über die theoretische Intention unserer Analyse machen. Es geht uns hier nicht darum, das individuelle Handeln von Funktionsträgern des Rechts in den Blick zu nehmen, gewissermaßen Konten individuellen Wohl- oder Fehlverhaltens staatlicher Funktionsträger zu führen. Vielmehr geht es darum aufzuweisen, daß das institutionelle Gefüge des Strafrechts von einer Art ist, die es erlaubt, möglich macht und vorsieht, auch das Strafrecht, das sich mehr noch als die übrigen Rechtsbereiche als konditional programmiertes Reaktionspotential von Staat und Gesellschaft stilisiert, der strategischen Instrumentalisierung in Konfliktauseinandersetzungen, wie den von uns betrachteten, zugeführt werden kann.

a) Die strategischen Optionen der Polizei
Ich möchte beginnen mit einer Betrachtung der Regeln und Handlungsoptionen, die die Instanzen der Polizei in politischen Konfliktauseinandersetzungen der hier gemeinten Art besitzen. Bekanntlich bestehen die gesetzlichen Grundlagen polizeilichen Handelns im wesentlichen einerseits in den Regeln, die die Mitwirkung der Polizei bei der gesetzlichen Strafverfolgung betreffen, andererseits in den Vorschriften, die sich auf die Funktion der Polizei als Wahrer von Sicherheit und Ordnung beziehen. Diese beiden Rechtsgrundlagen polizeilichen Handelns, die zwar theoriesystematisch — öffentliches Recht versus Strafrecht — scharf voneinander getrennt werden, in der sozial bestimmten Anwendungswirklichkeit jedoch meistens koexistieren, unterscheiden sich sowohl nach der Struktur der Regeln selbst wie nach den Prinzipien ihrer Anwendung und Umsetzung.
So sind die auf die Strafrechtsverfolgung bezogenen Normen polizeilichen Handelns präziser und bestimmter gefaßt als diejenigen, die die Aufgaben der Polizei auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betreffen. Symptomatisch etwa für die Begriffsweite der Normen polizeilichen Handelns in ihrer Sicherheits- und Ordnungsfunktion ist der Begriff der »Gefahr«, womit die grundlegendste Handlungsbedingung der Polizei auf diesem Sektor bezeichnet wird. Jenseits aller gesetzlichen, verwaltungsmäßigen und gerichtlichen Versuche, den semantischen Spielraum dieses Begriffs einzuengen und damit die Handlungsbedingungen polizeilichen Tätigwerdens kalkulierbar zu machen, liefert ein solcher Begriff viel Anlaß und Stoff zur Diskussion, Kontroverse, politischer Auseinandersetzung und öffentlichem Streit. Darüber hinaus: was eine Gefahr ist, wovon eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeht, das hängt zuallererst natürlich auch davon ab, was man unter Ordnung versteht, und da kommt man dann schnell auf die Frage oder Feststellung, wessen Ordnung damit überhaupt gemeint ist.
Darüber hinaus findet der Entscheidungsspielraum der Polizei im Sicherheits- und Ordnungsbereich seinen Ausdruck auch darin, daß ihr Handeln hier ausdrücklich unter das sogenannte Opportunitätsprinzip gestellt ist, d.h. daß sie hier ermächtigt und gehalten ist, dem pflichtgebundenen Ermessen zu folgen. Angesichts der tendenziell vagen Struktur der Regeln selbst und des obwaltenden Ermessensprinzips kann man sagen, daß das Regelgeflecht zur Erfüllung ihrer Aufgabe der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung einen tendenziell geringen Grad an verhaltensbezogener Determinierung aufweist. In etwas zugespitzter, keineswegs aber karikierender Form könnte man sagen, daß die Regeln polizeilichen und damit staatlichen Handelns auf dem Gebiet der Ordnungsfunktion weniger solche sind, die das, was jeweils zu tun ist, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten, vorschreiben und festlegen, als vielmehr solche Regeln, die Anweisung darüber geben, wie das, was tatsächlich getan worden ist, darzustellen und zu beschreiben ist. Es handelt sich eher um Regeln der Rekonstruktion als um solche des vorentworfenen Handelns.[10]
Es ist noch ein Wort über die Regeln und Normen anzufügen, die das polizeiliche Handeln auf dem Gebiet der Strafverfolgung betreffen und die wir zunächst in einen deutlichen Kontrast zu denen der Sicherheits-und Ordnungsfunktion der Polizei gebracht haben. Als entscheidender Strukturunterschied des Normengefüges und des Implementationsauftrags der Polizei auf beiden Handlungsfeldern wird das im allgemeinen auf dem Gebiet der Strafverfolgung geltende Legalitätsprinzip benannt, d.h. die Verpflichtung strafrechtlichen bzw. polizeilichen Einschreitens beim Vorliegen einer Straftat. Allerdings, auch das ist bekannt, gibt es einmal hierzu Ausnahmen, deren bedeutendste sich auf die Verfolgung »geringfügiger« Straftaten beziehen. Hinzu kommt, daß das Legalitätsprinzip und der mit ihm verbundene »Verfolgungszwang« — wiederum gerade bei weniger gewichtigen Delikten — durch Bestimmungen über Antragserfordernisse und über Möglichkeiten der Verweisung auf den Privatklageweg in bestimmten Konfliktkonstellationen relativiert und »politisch« gedehnt ist. Weiter ist gerade für den uns interessierenden Zusammenhang darauf zu verweisen, daß das Legalitätsprinzip eine strafrechtscodierte Wirklichkeit voraussetzt, d.h. Einhaltung oder Verletzung der Verfolgungsmaxime werden erst relevant, wenn eine nach den Normen des Strafrechts nicht mehr bestreitbare Straftat gegeben ist. Gerade bei sogenannten Amtsdelikten, deren Auftreten in Auseinandersetzungen der hier untersuchten Art zu erwarten ist, liegen Entscheidungs- und Definitionsmacht der strafrechtlichen Instanzen nicht auf der Ebene des Legalitätsprinzips selbst, sondern auf der ihm vorgelagerten Ebene der adäquaten Wirklichkeitskonstruktion.
Obwohl — zusammengefaßt — das Legalitätsprinzip den Entscheidungsspielraum der Polizei auf dem Gebiet der Strafverfolgung einschränkt, kann keineswegs — entgegen dem oft festgestellten Unterschied zwischen der deutschen und der angelsächsischen Rechtssituation — gesagt werden, daß hier nicht auch Handlungsspielräume bestehen würden. Was die hier untersuchte Konfliktkonstellation angeht, möchten wir sogar meinen, daß das Legalitätsprinzip in seinem manifesten Sinne weitgehend folgenlos ist. Man sollte seine Funktion in unserem Zusammenhang eher darin suchen, ein Reservoir an Rhetorik und Legitimationsvokabular für strafbezogenes Instanzenverhalten bereitzustellen, als darin, Handlungsoptionen der Instanzen zu beschneiden und deren Handlungsweisen festzulegen.
Dies meint nicht, daß die Polizei nicht in Übereinstimmung mit den ihr vorgegebenen Regeln und Normen handelt. Was ich sagen will ist, daß die Polizei sich anders verhalten könnte, ja daß sie oft genau das Gegenteil von dem tun könnte, was sie tatsächlich tut, und sie würde deshalb immer noch nicht die ihr vorgegebenen gesetzlichen Vorschriften verletzen. Die Polizei erzeugt in der Regel den Eindruck, als hätte sie in einer bestimmten Situation keine anderen Handlungsalternativen zur Verfügung gehabt als diejenige, die sie jeweils ergriffen hat. Meine Behauptung ist, daß dies schlicht falsch ist. Das aber bedeutet erstens, daß polizeiliches Handeln in den von uns untersuchten Zusammenhängen auch dann, wenn es im Einklang mit angebbaren gesetzlichen Normen und Vorschriften steht, eine strategische Komponente aufweist, die nicht aus den Bezugsnormen herleitbar ist, sondern über diese hinausgeht, mehr noch: sie in ihrem vorgegebenen und immer wieder zur Legitimation herangezogenen Sinn geradezu unterläuft. Daraus folgt zweitens, daß hiermit ein Aspekt des Mechanismus bloßgelegt ist, mit dem staatliche Institutionen und Amtsträger den Vorgang der Verwandlung eines politischen Konflikts in einen rechtlichen bewirken.
Ich möchte mich nunmehr dem Problem der Rechts- und Regelverletzung durch staatliche Institutionen und Amtsträger selbst zuwenden. Für die Dynamik des Verlaufs und den Ausgang von Konflikten der von uns untersuchten Struktur kommt dieser Frage in mehrfacher Hinsicht Bedeutung zu. Zum einen erweitert sich dadurch gleichsam das Handlungsrepertoire des Staates und seiner Instanzen, das ohnehin wegen seines Privilegs der Gewaltanwendung, der Organisationsmacht und des technischen Arsenals schon größer ist als das des Konfliktgegners. Zum zweiten pflegen Rechts- und Gesetzesverletzungen von seiten der staatlichen Instanzen in besonderer Weise gewaltschürende und eskalierende Konsequenzen zu haben. Zum dritten tragen solche Regelverletzungen wegen ihrer weitgehenden Sanktionsimmunität gerade dazu bei, jenen Prozeß der Erosion der Vermittlungs- und Schlichtungsfunktion der Gerichte in Gang zu setzen und zu beschleunigen.
Die Frage, um die es bei den Gesetzesverletzungen der amtlichen Funktionsträger, insbesondere natürlich der Polizei geht, ist nicht so sehr die, in welchem Umfang und welcher Regelmäßigkeit sie tatsächlich vorkommen, sondern vielmehr die, ob und wie sie »bewiesen« werden können. In unserer Untersuchung über die Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Trägern der Jugend- und Studentenbewegung ist diese Frage zu einem methodischen Kernproblem avanciert. Die in den Auseinandersetzungen mit der Polizei während der Zeit der Jugend-und Studentenbewegung aufgrund von sorgfältigen Material-und Dokumentenrecherchen festgestellten Gesetzes- und Rechtsverletzungen sind immer wieder mit dem Argument bestritten und geleugnet worden, daß wir uns für die Entscheidung, ob Gesetzesverletzungen stattgefunden haben oder nicht, nicht nur auf strafrechtliche Ermittlungsbefunde gestützt, sondern zum Teil auch gegen solche offiziellen Feststellungen auf dem Vorkommen von Gesetzesverletzungen staatlicher Amtsträger insistiert hätten.[11]
Nirgends scheint übrigens die Leugnung solcher Vorkommnisse so ausgeprägt und konsequent zu erfolgen, wie dies in der Bundesrepublik der Fall ist. Dieses Leugnen manifestiert sich in unterschiedlichen Mustern und zu Gegenstrategien geronnenen Reaktionsweisen auf solche Vorwürfe. So wird etwa Belastungsmaterial gegen die Polizei fast automatisch mit Entlastungsmaterial beantwortet, das die Polizei bereitstellt. Eine andere Technik des Unterlaufens oder Neutralisierens von Vorwürfen der Rechtsverletzung besteht häufig darin, daß die Behauptung dagegengesetzt wird, dem Handeln der Polizei sei von Seiten des Opfers Widerstand gegen die Staatsgewalt vorausgegangen. Anzeigen und Informationen über Gesetzesverletzungen der Polizei werden dann auch häufig mit Gegenanzeigen gegen die Anzeigeerstatter und Informanten beantwortet, wobei entweder auf den erwähnten Tatbestand des U    Widerstands gegen die Staatsgewalt oder auch auf Verleumdung bzw. Beleidigung abgestellt wird.
Neben dem konfliktstrategischen Potential, das Rechtsverletzungen der staatlichen Amtsträger sowie den im Gesetz angelegten Handlungsoptionen zukommt, gibt es noch andere Formen polizeilichen Handelns, die das Gestaltungspotential zur Transformation politischer in rechtliche Konflikte durch die staatlichen Instanzen erhöhen. Dazu zählen u.a. eine ganze Skala von Maßnahmen und Handlungen, die die Funktion haben, Regelverletzungen auf seiten der Demonstranten und Protestierer aus sozialen Bewegungen wahrscheinlich zu machen, anzuheizen oder schlicht zu fingieren — Regelverletzungen und Gefahrenlagen, die die Polizei sich gleichsam selbst verschafft, um auf ihrer Basis gegen die Konfliktgegner vorgehen zu können.
Zusammenfassend läßt sich für die polizeiliche Ebene festhalten, daß wir es dort mit einer institutionellen und normativen Struktur zu tun haben, die in der Tat die Polizei nicht in der Rolle der bloß reagierenden gefangenhält, sondern die gerade umgekehrt der Polizei ein Steuerungs- und Aktionspotential bereitstellt, das sich nur in politischen Kategorien und Begrifflichkeiten wiedergeben läßt.

b) Das Strategiepotential der Staatsanwaltschaft
Ich komme nunmehr zur Staatsanwaltschaft und ihrer Rolle in der von uns untersuchten Konfliktarena. Ihre Aufgabe liegt bekanntlich allein auf dem Gebiet der Verbrechenskontrolle und -Verfolgung. Entsprechend den Buchstaben des Gesetzes ist sie der eigentliche »Torhüter« zur Strafjustiz. Auch ihr Handeln steht unter dem Gebot des Legalitätsprinzips. Indessen ist der Entscheidungsspielraum der Staatsanwaltschaft, was das Legalitätsprinzip selbst angeht, ungleich größer noch als der der Polizei. — Allerdings sind diesem hier nur grob und unvollständig gezeichneten Bild staatsanwaltschaftlicher Handlungs- und Entscheidungsspielräume einige Vorbehalte anzufügen. Der wichtigste besteht in der faktischen Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Polizei, da letztere über die entscheidenden Ermittlungsapparate und -resourcen verfügt. Aufgrund dieser Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Arbeit der Polizei ergibt sich ein strukturell induziertes Interesse an einer reibungslosen Zusammenarbeit mit den polizeilichen Behörden. Diese steht möglicherweise auf dem Spiel oder ist bedroht, wenn etwa staatsanwaltliche Entscheidungen in Verfahren gegen die Polizei angehörigen zu treffen sind. Es gibt deshalb auf Seiten der Staatsanwaltschaft eine institutionell bedingte Scheu, Anklagen gegen Angehörige der Polizei zu stützen und zu betreiben. Der Staatsanwaltschaft verfügbare Informationen und Belege über ungesetzliches Verhalten der Polizei fallen wieder und wieder diesem behördeninternen und folgenlosen Gang der Dinge zum Opfer. Umgekehrt allerdings stellt sich die Beziehung der Staatsanwaltschaft in der anderen Richtung der Hierarchie der Strafrechtspflege, d.h. gegenüber den Gerichten dar. Obwohl das Gericht die Umstände und die »Wahrheit« eines strafrechtlichen Konflikts im Verfahren aus eigener Kompetenz und Überzeugung gewinnen muß, finden seine Ermittlungen auf der Basis dessen statt, was die Staatsanwaltschaft ihm vorlegt. Dies bedeutet, daß das Gericht in erheblichem Maße dem »Vorurteil« bzw. den Vorgaben der Staatsanwaltschaft ausgeliefert ist.
Betrachtet man die Staatsanwaltschaft im Kontext der typischen Gesetzesverletzungen im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen und politischem Protest, so läßt sich eine zweifache Einseitigkeit staatsanwaltschaftlichen Handelns in die gleiche Richtung beobachten. Einerseits läßt sich eine Tendenz feststellen und belegen, derzufolge die Staatsanwaltschaft Anklagen und Verfahren gegen Mitglieder und Anhänger von sozialen Bewegungen verfolgt und aufrechterhält, die sie auch hätte einstellen können.
Andererseits — und das ist die zweite Einseitigkeit im Handeln der Staatsanwaltschaft — finden Berichte und Anklagen ungesetzlichen Verhaltens der Polizei in der Regel nicht die Unterstützung und Zuwendung des staatlichen Anklägers, wohingegen durch sie ausgelöste Gegenanzeigen die Staatsanwaltschaft nicht untätig lassen.
Zusammenfassend läßt sich zur Rolle der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang von politischen Konflikten der gezeichneten Art feststellen, daß auch diese staatliche Instanz rechtlicher Konfliktführung und -regelung aufgrund der bestehenden institutionellen Abhängigkeiten und normativen Regelungen strategisch-politischen Kalkülen unterworfen werden kann und ausgesetzt ist, die den Prozeß der Umwandlung politischer Konflikte in solche des Rechts leicht und erfolgreich machen.

c) Die »Parteilichkeit der Gerichte
Als letztes wollen wir einen Blick auf die Gerichte und ihren Beitrag im einschlägigen Konfliktgeschehen werfen. Wie kann die »Dritte Gewalt« angesichts dessen, was über das Handeln von Polizei und Staatsanwaltschaft schon gesagt wurde, ihre Konfliktneutralität sichtbar aufrechterhalten? Wie können Gerichte die zwingend gebotene Distanz vor allem zu den staatlichen Exekutivorganen Polizei und Staatsanwaltschaft erhalten und bewahren? Der rhetorische Charakter dieser Fragen soll anstelle einer allgemeinen Erörterung durch eine kurze Skizze zur Rolle der Gerichte bei der Verarbeitung der spektakulärsten Auseinandersetzungen zwischen der Studentenbewegung und staatlicher Macht mit allem Nachdruck unterstrichen werden.
Die Schlüsselrolle für den »Funkensprung« der Studentenbewegung von der Freien Universität Berlin, dem deutschen »Berkeley«, auf praktisch alle Universitätsstätten in der Bundesrepublik stellte ohne Zweifel der tödliche Polizeischuß auf den Studenten Benno Ohnesorg anläßlich der Auseinandersetzung während eines Staatsbesuchs des damaligen Schahs von Persien in Berlin am 2. Juni 1967 dar. Die sich an diese für die Berliner Polizei skandalösen Auseinandersetzungen anschließenden gerichtlichen Verfahren waren durch zwei parallel laufende Prozesse gekennzeichnet. Der eine wurde gegen den Polizeischützen geführt, der der fahrlässigen Tötung angeklagt wurde. Der andere Prozeß richtete sich gegen ein prominentes Mitglied der Studentenbewegung und betraf den Tatbestand des schweren Landfriedensbruchs. Konkret wurde dem Studenten vorgeworfen, er hätte aus der Menge der Demonstranten aus Anlaß des Schahbesuchs einen Stein in Richtung der Polizei geworfen. Einzelheiten müssen hier unberücksichtigt bleiben.[12]
Lediglich die endgültigen gerichtlichen Urteile seien mitgeteilt: beide Verfahren endeten mit einem Freispruch der Angeklagten, wobei der des Polizisten dem des Studenten um etliche Wochen, während derer die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studenten heftiger und gewaltsamer wurden, vorausging. Das Messen mit zweierlei Maß, einem Vorwurf, dem sich die beiden unabhängigen Gerichte, vor denen diese Verfahren abliefen, ausgesetzt sahen, sei kurz an der Berichterstattung darüber in Erinnerung gerufen. Gerhard Mauz, der langjährige, psychologisch wie rechtspolitisch äußerst sensible Gerichtsberichterstatter des SPIEGEL, stellte anläßlich des Freispruchs des Polizeischützen die rhetorische Frage, ob ein deutsches Gericht wohl ähnlich geurteilt hätte, wenn in einer vergleichbar ungeklärten Sachlage zur Schuldfrage ein Polizist von einem Studenten erschossen worden wäre. Der Herausgeber des Spiegel kommentierte das Verhalten des Gerichts im Verfahren gegen den Studenten mit der Bemerkung, man solle sich nicht wundern, wenn die Studentenunruhen sich fortsetzten. Die Behandlung des Falls käme einer Aufstachelung zu öffentlicher Unruhe und Gewalt gleich.[13] Bekanntlich hatte er mit dieser Vermutung nur zu Recht.
Die Bereitschaft und die Eilfertigkeit der Gerichte, das Recht und die Gesetze gegen die Studenten zu wenden, waren offensichtlich und sie waren kontraproduktiv für das Ziel, Gewalt aus diesen Auseinandersetzungen fernzuhalten. Die Gerichte wurden in diesen politischen Konflikt brutal hineingezogen, und sie selbst setzten die ihnen angesonnene Funktion aufs Spiel, in Konflikten zu vermitteln und diese gegebenenfalls auch zu lösen. Sie haben sich damit einen Teil der Verantwortung dafür aufgeladen, daß der Konflikt zwischen den Studenten und den politischen und staatlichen Behörden mit einer derartigen Verbissenheit und letztendlich Ausweglosigkeit ausgetragen wurde, wie es in der Bundesrepublik, ungleich dem Verlauf des Konflikts in den meisten anderen westlichen Ländern, der Fall gewesen ist.

5. Einige abschließende allgemeine Bemerkungen

Ich möchte im Rückblick auf die dargestellten Überlegungen und Befunde noch einmal die Leitfragestellung aufnehmen, die Ausgangspunkt für die Kongreßveranstaltung der amerikanischen Rechtssoziologen gewesen ist, in deren Rahmen dieser Beitrag zur Diskussion gestellt wurde. Die Vorstellung der Veranstalter der Diskussionsrunde betraf einen Spezialaspekt des Verhältnisses von Recht und sozialen Bewegungen, der sich vereinfacht auf die Formel bringen läßt, inwieweit das Recht als Instrument zur Umsetzung und Verwirklichung von politischen Zielen und Programmen von sozialen Minderheiten, Bürgeranliegen, Protestbewegungen etc., die sich im etablierten politischen Diskurs und Gefüge vernachlässigt oder nicht hinreichend repräsentiert sehen, erfolgreich eingesetzt werden kann. In diesem Sinne war etwa Gegenstand der Sektionssitzung eine Analyse der einschlägigen Rechtsstrategien, die die amerikanische National Association for the Advancement of Coloured People (NAACP) seit ihrer Existenz zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation von Schwarzen mit welchem Ergebnis eingeschlagen hat. Ein weiteres Teilprojekt betraf den Kampf einer japanischen Umweltorganisation gegen die Meeresverseuchung mit Quecksilber durch ein Industrieunternehmen mit Hilfe einer Reihe von Rechtsverfahren gegen die Verursacher. Zweifellos gehören solche Fragen zum komplexen Verhältnis zwischen Recht und Politik. Sie sind, wie wir mit unserem Beitrag aufzuzeigen versucht haben, jedoch nur ein Teilaspekt der Rolle des Rechts im Kontext politischer Konflikte und Auseinandersetzungen. Uns ging es darum, den Horizont der Fragestellung in einer Weise zu erweitern, die den Blick auch auf andere Formen rechtlicher Konflikte und vor allem auf die Frage wirft, in welcher Weise das Recht und rechtliche Konflikte zur Blockade von politischen Anliegen und Zielsetzungen eingesetzt werden können. Es erschien mir dazu nötig, den theoretischen Bezugsrahmen zu weiten und von einer konflikttheoretischen Fragestellung auszugehen, die es erlaubt, das Recht nur als ein Mittel und eine Möglichkeit im breitgefächerten Spektrum von Strategien der Konfliktführung und -austragung zu betrachten. Im vorstehenden Beitrag ist dies in der Weise versucht worden, in einem idealtypischen Vergleich die beiden Konflikttypen des politischen und des rechtlichen Konflikts miteinander zu konfrontieren und unter dieser Perspektive insbesondere den strafrechtlichen Konflikt stärker zu betonen. Obwohl damit Besonderheiten in die Diskussion eingeführt worden sind, die sich für den Fall des Zivil- oder des Verwaltungsrechts anders darstellen würden, meinen wir, daß es zwischen den verschiedenen Rechtsgebieten unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem Verhältnis und den Beziehungen zwischen politischen und rechtlichen Konflikten Gemeinsamkeiten gibt, angesichts derer die hier vorgenommene empirische Einengung auf das Strafrecht weniger ins Gewicht fällt. Gerade für das deutsche Recht dürfte gelten, daß es in bezug auf grundlegende Strukturen, die Institutionen und das Personal eine Einheit und Geschlossenheit aufweist, wie dies vielleicht in anderen Ländern in dieser Ausprägung nicht der Fall ist.

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