Zementierung oder Zerspielung

Zur Dialektik von ideologischer Subjektion und Delinquenz

I.

Ist es sinnvoll oder überhaupt möglich, Delinquenz als eine einheitliche, als Ganzes Verständnis heischende, beschreib- und deutbare, ja vielleicht sogar erklärbare Sache ins Auge zu fassen? Wäre es nicht weiser, sich von vornherein von Teilansichten leiten zu lassen? Sich zu beschränken auf empirische, spekulative, hermeneutische, norm-oder erfahrungswissenschaftliche Aspekte der Delinquenz, ihre juristischen, soziologischen und psychologischen, ihre kulturanthropologischen und moralphilosophischen Perspektiven und Implikationen? Oder sich überhaupt nur an einzelne Delikte oder Delinquenten zu halten? So fragwürdig es erscheinen mag: ich werde versuchen, in einem ersten Anlauf so etwas wie eine »delinquente Seinsweise«, ein delinquentes »In-der-Welt-Sein«, sichtbar zu machen. Erst danach werde ich mich darum bemühen, das konkrete Bedingungsgefüge für eine solche »Seinsweise« in den Blick zu bekommen. In den letzten Abschnitten wird es dann um ideologietheoretisch zu analysierende Prozesse gehen, die zwischen den Vorstellungen von Normbruch und Normendurchsetzung in den Köpfen aller in Gang gesetzt werden können.
Schon der Ort, an dem Delinquenz aufzusuchen wäre, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Natürlich, die Gefängnisse, die Gerichte, die Bewährungshilfe; aber sind es nicht schon Folgewirkungen, die mir an solchen Orten der Repression, der Vorbeugung, der Sühne des Verbrechens entgegentreten? Das Urteil, die Strafe, die Auflagen, mit denen Delinquenz eingedämmt, zugedeckt, gesühnt und schließlich (bis zum Strafregister) gelöscht werden soll? Bringt, was ich dort vorfinde, dasjenige nicht gerade zum Verschwinden, was ich zu Gesicht bekommen will? Und ist nicht das eine der Aufgaben — die wichtigste vielleicht — der repressiven und präventiven Instanzen, daß sie Delinquenz, wenn überhaupt, nur als Scheitern, niemals aber als Verwirklichung (wessen?), als Triumph (über was? über wen?) zu sehen erlauben? Dieses Ungeschehenmachen, dieses Verbot, delinquente Gratifikationen nachträglich zu vergegenwärtigen, kommt nicht von ungefähr: wegen mangelnder Reue, wegen Verherrlichung einer Straftat wird mit Sanktionen belegt, wer an den klassischen Orten der Delinquenz gegen dieses Tabu verstößt. Der Lehnstuhl meinem Schreibtisch schräg gegenüber, von dem die Stimme der Probanden zu mir dringt, die ich auf ihre Schuldfähigkeit, manchmal auch bezüglich zu verhängender »Maßnahmen zur Sicherung und Besserung« untersuchen soll, liegt näher: als der Ort, an    I dem wir (der Proband und ich) die Verbindung herzustellen suchen zwischen seiner Tat und seinem Leben (oder der Geschichte, die er von seiner Tat und seinem Leben erzählt). Aber vielleicht ist ein solcher biographischer Herleitungsversuch schon ein Irrweg, vielleicht verführe ich uns beide dabei, seine Tat mit seiner Lebensgeschichte zuzudecken, wie Gericht und Gefängnis es mit Reue, Strafe, Sühne tun?
Der herrschenden Meinung zufolge ist Delinquenz beim Delinquenten, genauer gesagt, in ihm zu finden. Sie erklärt sich durch ihn, durch seinen Charakter. Der Bundesgerichtshof spricht von »Charaktermängeln« wie »Willensschwäche«,  »Haltlosigkeit«, »Gemütsarmut«. Ins Leben mitgebrachte »Andersartigkeit«, will Bresser, der Lieblingsgutachter des verflossenen gerichtsärztlichen Ausschusses in Nordrhein-Westfalen [1] das genannt wissen — um zu gewährleisten, daß der schuldmindernde oder gar ausschließende Begriff der §§ 20 und 21 StGB keine Anwendung finde. Anlage, Erbschicksal, und eben doch der freien Willensbestimmung zugänglich, coincidentia oppositorum, deren Ort ehemals Gott war, diese Würde bekommt die Delinquenz, durchaus unfreiwillig, von der rechtspolitischen Opportunität verliehen (Haug 1986, 21ff.). Auf keinen Fall soll sie lebensgeschichtlich entstanden sein — oder doch nur in besonders zu begründenden Ausnahmefällen. Mögen ein blindes Schicksal oder der Täter dafür verantwortlich zeichnen: wenn nur wir nichts damit zu tun haben. Auch hier Berührungsangst: Nicht einmal als Glieder dieser Gesellschaft, in deren Netz seine wie unsere Lebensgeschichte verwoben ist, wollen wir uns mit ihm und mit seiner Tat verknüpfen lassen.
Dem ist entgegengesteuert worden. Psychoanalytische, aber auch lern- bzw. systemtheoretisch orientierte Denkanstöße lenkten die Aufmerksamkeit auf frühe Prägungen durch zerstrittene, zerbrochene Elternhäuser, auf chaotisierende, irrationale, von Gewaltsamkeit und Gleichgültigkeit gezeichnete Erziehungsstile (Literatur dazu bei Moser 1976). Betrunkene, randalierende, prügelnde Väter, eingeschüchterte, ängstliche, liebesunfähige, anklammernde Mütter, verwöhnende Großeltern. Widersprüchliche Weisungen. Enge, überfüllte Wohnungen, die keinen Lebens-, Entfaltungs- und Rückzugsraum gewähren. Der Wunsch: nur hier raus, Freizügigkeit, Weite. Überall raus, wo man wegen Schwäche gedemütigt wird. Schuleschwänzen, kleine Klauereien, Erziehungsheim, Autoknacken, Gefängnis... Und von da ab der Kreislauf: Man hofft auf das Wunder: auf Arbeit, auf Liebe, aufs große Geld, immer weniger hält man die Enge, die Demütigung aus. Der große Coup, das kleinbürgerliche Glück, coincidentia oppositorum diesmal der Illusionen. Schließlich wird daraus nur ein banaler Einbruch; der Kreis schließt sich, Knastlaufbahn, Kriminellenkarriere... Ähnlich wie das zunehmende Wissen über Anstaltsartefakte die Psychosen ganz in solchen Artefakten aufgehen lassen wollte, hat auch diese Geschichte, die jeder kennt, jeder Richter, jeder Anwalt, jeder Gutachter, jeder Sozialarbeiter und Bewährungshelfer, zur Annahme geführt, die repressiven Instanzen seien es selber, die Delinquenz produzieren. Familie, Schule, Heime, Knast. Und die Labeling-Theoretiker gingen noch einen Schritt weiter (Sack 1968): Sie haben der Delinquenz eine eigene Sachhaltigkeit völlig abgesprochen, sie mehr oder weniger ausschließlich zu einem bloßen Begriff, den man jemandem anhängt, zum Ergebnis eines Etikettierungs- und Zuschreibungsprozesses durch die anderen erklärt — wobei sie der Frage, wie die Befugnis zu solchen Zuschreibungsakten zustandekommt, zumeist nicht näher nachgingen. So fand alles seine Begründung oder, wo eine solche nicht zu leisten war, zumindest seine begriffliche Erklärung. Die Tat selber ging im Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Täterpersönlichkeit auf und zugleich unter.
Der Versuch, die delinquente Tat lebensgeschichtlich und gesellschaftlich durchbestimmt zu sehen, als Folge der Strukturen, der Konstellationen, der Ereignisse, der definierenden Zuschreibungen schließlich, gibt Einsichten frei, bietet Möglichkeiten zum Einschreiten. Für den Betroffenen kommen diese Einsichten meist zu spät. Sichtbar wird, wo hätte (anders) gehandelt werden können. Wie Erbschicksal wird Lebensgeschichtliches zur Fatalität. Schließlich sieht das ganze Leben so aus, als sei es von Anfang an auf die Tat zugelaufen: mit unverrückbarer Strenge. Vielleicht ist es kein Zufall, daß Freud an griechischer Mythologie so viel Gefallen fand. Was sonst noch war — an Leid und Glück, an Möglichkeiten, die versäumt oder nur kurzfristig ergriffen und dann fallen gelassen wurden -, hat in einem solchen deliktzentrierten, vom vorläufigen Ende bestimmten biographischen Raster keinen Platz.
Vielleicht helfen ein paar persönliche Erinnerungen, das Gemeinte deutlicher zu Gesicht zu bekommen: In der nach außen intakten Bürgerwelt, die mich aufwachsen ließ, erschien Delinquenz als Einbruch, der Unterirdisches, Anstößiges, das sonst verborgen war, an die Oberfläche gelangen ließ. Aber nur ganz kurz. Der Dieb, auch wenn es sich um kleine Klauereien aus den Manteltaschen während der Schulpause handelte, flog raus, zunächst aus der Schule, später auch aus der guten Gesellschaft. Ich erinnere mich vage an einen Patensohn meines Vater. Wir Kinder wußten, daß er irgend etwas angestellt hatte und deshalb im Gefängnis gewesen war. Ein- oder zweimal im Jahr wurde er zum Mittagessen eingeladen, danach wollte er mit uns Kinder spielen. Wir spürten eine gewisse Beklemmung, mit einem Schuß Peinlichkeit. Wir wußten nicht genau, wie wir uns ihm gegenüber verhalten sollten. Ihn auf sein Delikt anzusprechen, unsere Eltern danach zu fragen, war ganz und gar undenkbar: »Das geht euch Kinder nichts an«. Wenn er mich auf die Knie nahm, um Hoppe-hoppe-Reiter zu spielen, dann fühlte ich zwischen ihm und mir etwas Geheimnisvolles, Aufregendes, zugleich aber auch Gefährliches und Dumpfes und ich war froh, wenn der Nachmittag zu Ende war. Solche Eindrücke wiederholten sich, stark verdünnt, wenn wir hörten; dies ist ein geschiedener Mann, oder: sie ist in der Schule mit einem Jungen bei Zärtlichkeiten ertappt worden. Dumpfheit, Gefahr, verbotene Zimmer, ein Keller-oder Garagengeruch. Eine sichernde, schützende Hülle hatte einen Riß bekommen. Worin bestand diese schützende Hülle? In der bürgerlich geordneten Welt meiner Kindheit hatte sie mit der Stabilität unserer Umgebung zu tun, mit der Kalkulierbarkeit der Ereignisse. Der silberne Dessertlöffel, den Onkel Klaus mir zu meiner Geburt geschenkt hatte. Unsere Möbel, unsere Bücher, unser Geschirr. Mein Spielzeug, mein Taschengeld. Und später, als ich älter geworden war, Vaters kleines Auto. Das alles hatte seinen Platz; wenn ich aus dem Kindergarten, aus der Schule heimkam, fand ich es wieder, unversehrt. Es gehörte mir, uns. Indem mein Blick darauf fiel, wußte ich, ich bin zu Hause. Das eine oder das andere konnte verloren gehen: durch Unachtsamkeit der Dienstboten, durch unsere eigene, nicht die der Eltern, die nie irgend etwas verloren. Aber wir wußten: Eines Tages wird es wieder auftauchen, es ist irgendwo zu Hause. Nur einmal erinnere ich mich, daß ein Dienstmädchen verdächtigt wurde, irgendetwas (ja, was war es, ich weiß es nicht mehr) gestohlen zu haben. Dort, wo eben noch etwas gestanden hatte, war plötzlich ein Loch. Kalter Luftzug. Und noch schlimmer: so konnte alles wegkommen. Auf die Dinge, unsere eigenen, war vielleicht kein Verlaß...
Sicherheit des Eigentums, der körperlichen Integrität, des Vertrauens auf ein Wort, auf eine Zusage, auf eine Unterschrift. Diese Sicherheiten zerreißen. Das System der Verkehrsregeln, das Netz vorgebahnter Verbindungen, das die eigenen Handlungen und die der anderen planbar, vorwegnehmbar macht, wird durch Delinquenz außer Funktion gesetzt. Die Welt verwandelt sich, für einen Augenblick, in das Halbdunkel der Tiefgaragen, der Hafensilos, wo jeden Augenblick ein Überfall stattfinden kann. Die Gegenstände isolieren sich voneinander, verlieren ihre nüchterne sicherheitsverleihende Zweckbestimmung, werden Kulisse, laden sich mit Unheimlichkeit auf. Das Unheimliche dringt mit der delinquenten Handlung in unser verläßliches Regelsystem, führt es einen Augenblick lang ad absurdum. Der Drang zur Wiederherstellung der Rechtsordnung vor Gericht, durch Strafe und Sühne, erwächst wohl auch aus Angst vor dem Unheimlichen.
Und was ist mit dem Täter? In unseren biographischen Analysen haben wir gelernt, in ihm ein Opfer zu sehen: einen Akteur, der keine andere Wahl hat, als einem vorgeschriebenen Drehbuch zu folgen. Allerdings wird nur uns, nicht ihm dabei deutlich, daß und warum er es tut. Die Einsicht ist auch für uns nur nachträglich: Sie gilt erst, nachdem er tatsächlich gehandelt hat. Natürlich werden die Handlungsspielräume mit jeder Weggabelung geringer. Und in der Tat gibt es Menschen, die bei jeder Gabelung eher nach links als nach rechts gehen — oder umgekehrt. Sie mögen eines Tages an dem Punkt angelangt sein, wo der Weg wieder nach links (oder wieder nach rechts) nahezu zwangsläufig wird und Delinquenz bedeutet. Wir haben uns daran gewöhnt, die Frage, warum sie diesen Weg gegangen sind, von den vergangenen Wegstücken her zu beantworten. Vielleicht hat es aber auch Sinn, diese Wegstücke zu vergessen und zu fragen, was die Täter beim letzten Schritt bewegt hat. Ob sie im delinquenten Akt etwas fanden, wonach sie schon lange auf der Suche waren — ohne dabei genau zu wissen, was es war. Ob nicht daher bei der Biographie von Delinquenten neben einer kausal-genetischen nicht auch eine teleonomische Betrachtungsweise angebracht sein kann.
Ich mache hier keinen Sprung in die Metaphysik. Ich versuche nur den Sprung nachzuvollziehen, der vom Täter selbst getan worden ist, indem ich den Unterschied zu verstehen suche, der für ihn zwischen einer Straftat und einer anderen Handlung besteht. Natürlich mag auch Vergangenes, ein latentes, unformuliertes Bedürfnis, das aus der Kindheit mitgebracht wurde, ihn dabei bewegt haben. Aber ich zweifle vorläufig an, daß dieses Bedürfnis seit jeher alle seine übrigen Lebensentscheidungen mit- oder gar durchbestimmt hat, daß es den roten Faden bei seinen bisherigen Lebensentscheidungen bildete — ja, daß es bei jedem Delinquenten einen solchen roten Faden die ganze Zeit über gab. Vielleicht waren es nur kurzschlüssige Anlaßsituationen, bei denen ein starkes, zunächst diffuses Bedürfnis zufällig eine erste Verwirklichungs- und Befriedigungschance fand, um sich danach zu präzisieren: Manchmal schlagartig, manchmal vielleicht allmählich, indem ich Entspannung und Glück danach jedesmal deutlicher registriere. Dabei gibt es Varianten genug: daß Delinquenz immer bewußter zum eigenen Lebensweg wird, aber auch, daß sie als zweiter, untergründiger biographischer Text, als Doppelleben weiterexistiert, in dem jede neue Episode an der vergangenen anknüpft. Beim Schreiben wird mir bewußt, daß ich Delinquenz in einem ähnlichen Raster zu fassen versuche wie süchtiges Verhalten. Und in der Tat meine ich, daß sie eine eigene Art lustvoller Gratifikation spendet, die der süchtig-sexuellen wie derjenigen im Rausch verwandt ist — und wie diese unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, zumeist auf der Nacht- und Schattenseite des Lebens angesiedelt. Sex and Crime. Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Eine dritte Verwandschaft kann ich noch nicht genauer bestimmen, eine Desartikulation der Wirklichkeit, die auch an Traum und Wahnsinn erinnert. Nicht jede delinquente Handlung und nicht jeder Delinquent lassen auf den ersten Blick die eben geschilderten Züge erkennen. Massenmörder vielleicht, Brandstifter ... aber der Schlägertyp im Wirtshaus, der gewöhnliche Dieb? Ich meine dennoch, mit der delinquenten Gratifikation mehr als nur ein ausnahmsweises Beiprodukt aufgespürt zu haben. Wer gesehen hat, wie Schlägertypen sich vorher aufschaukeln, sich in ein imaginäres Szenario hineinversetzen, in welchem sie die Helden sind, Rollen spielen, die mit ihrem Alltagsleben als Lehrlinge, Arbeitslose im krassesten Widerspruch stehen, begreift, was ich meine. Und Diebstahl? Ein junger Mann, der inzwischen mehrfach wegen Einbruches bestraft werden mußte, schildert mir sein erstes Delikt so:

»...1980, das war mit meinem Bruder. Da hatten wir in R. einen Tapetentisch rausgeholt. Die Tür war offen. Wir haben ihn rausgeholt, und hinterher sind wir dann in alle Häuser reingegangen, wo die Tür offen war. Und die war fast überall offen ... das war wie im Rausch, wir haben gedacht, die sind ja selbst daran schuld, wenn die die Tür offenlassen... Wir haben dann alles rausgeholt, von einer Angelrute bis zu den Leuchtern, die wir abgemacht haben... Einen Teil haben wir in den Wagen eingeladen, der Rest stand dann am Straßenrand wie Sperrmüll, wir wollten es dann später holen... Ja, wir haben die ganze Zeit furchtbar gelacht. Wir haben das gesehen, das heillose Durcheinander..., wir haben uns sogar in den Küchen Toast gemacht... natürlich war es ein Einbruch, und wir haben es auch gemacht, um abzuräumen. Aber gleichzeitig war es eine ganz verrückte Sache... als ob man überall rein kann, als ob die Welt ein einziger Selbstbedienungsladen wäre... wir kamen uns ganz groß, ganz toll dabei vor.«

Verfolgt man die Kindheit dieses jungen Mannes, so stellt sich heraus, daß er in äußerster Enge groß werden mußte und als kleines Kind, wenn er gesund war, im Hinterzimmer des elterlichen (Tier)Ladens angeleint, wenn er krank war, im einzigen gemeinsamen Schlaf- und Wohnraum schräg gegenüber vom Laden eingesperrt wurde. Auch einige andere Anhaltspunkte, die auf seine spätere Eigentumsdelinquenz hinweisen, lassen sich seiner Lebensgeschichte entnehmen. Ich möchte hier nicht näher darauf eingehen, sondern unterstreichen, was seine eigenen Worte schon deutlich machen: den triumphalen Charakter dieses ersten Deliktes. Die Welt öffnet sich diesen beiden jungen Leuten, sie können sich bedienen wie im Schlaraffenland, wie in einem alles gewährenden Traum. Ich muß gestehen, daß ich beim Bericht des jungen Mannes selber in diesen Traum hineinglitt, Haus um Haus, Zimmer um Zimmer zogen an mir vorüber, eine einzige Folge von Wunscherfüllungen. Projiziere ich meine eigenen Phantasien in die Geschichte meines Probanden hinein? Vielleicht. Aber ich meine seinen Schilderungen entnehmen zu können, daß diese Entrückung aus der Wirklichkeit in dieser halben Stunde der Tat auch bei ihm tatsächlich stattgehabt hat. Hinter sich ließ er die Enge, die Barrieren, die stofflichen, gesetzlichen, moralischen, die ihn bis dahin von all dem ferngehalten hatten — ein Stück weit also die Wirklichkeit mit ihren verbindlichen Bedeutungsverknüpfungen. Seiner späteren kriminellen Karriere ist immer noch anzumerken, daß offengebliebene Türen auf ihn eine magische Anziehungskraft ausübten. Vielleicht wäre von hier aus zu extrapolieren. Dazu müßte ich schrittweise versuchen, vom jeweiligen Inhalt der Straftat, von ihrem spezifischen Motiv (Bereicherung, Rache, Wut etc.) abzusehen, um so zum reinen Delikt zu gelangen, zur Transgression, deren Sinn die Außerkraftsetzung der rechtlichen, staatlichen, gesellschaftlichen Ordnung einschließlich ihres Bedeutungsgefüges und ihrer Ablaufgesetzlichkeiten wäre, der Rechtsbruch als solcher. Die Frage wäre dann, ob Momente eines solchen »reinen« Deliktes sich nicht in den banalsten strafbaren Handlungen finden und eine Gratifikation gewähren, die den materiellen oder psychologischen Nutzen, der aus ihnen zu ziehen wäre, transzendiert. Auf den ersten Blick scheint ein solches reines Delikt mit anarchistischen Gewalttaten Verwandschaft zu besitzen. Aber schon auf den zweiten werden entscheidende Unterschiede offenbar. Anarchisten wollen den Staat und seine Ordnungssysteme abschaffen — wenn es nicht anders geht, auch mit Gewalt — aber im Vertrauen darauf, daß eine innere, in der Spontaneität begründete Ordnung bessere, humanere Möglichkeiten nicht nur der individuellen Verwirklichung, sondern auch des Zusammenlebens bietet: Anarchie will durch Zerschlagung von Herrschaft die eigentliche menschliche Ordnung der Dinge erst freilegen. »Reine« Delinquenz zielt demgegenüber auf eine Zerschlagung jedweden Ordnungssystems, jedweder Beziehungsform und damit auf so etwas wie absolute Eigenmächtigkeit ab; sie verwandelt alle Beziehungsstrukturen der Wirklichkeit, mit denen sie es zu tun bekommt, einschließlich ihrer gefühlsmäßigen Besetzungen, in bloßes Spielmaterial. Am nächsten kommt ihr die Illustration, die Andre Breton dem reinen surrealistischen Akt gegeben hat: mit einer Pistole hinauszulaufen und den erstbesten Passanten zu erschießen. Ich bin sicher, daß dies mehr als ein literarisches Zitat ist. Die aggressiven Entladungen jugendlicher Banden (Hell Angels und andere), die um des Zerstörens willen zerstören, die um des Terrors willen terrorisieren, und dies oft in spielerisch anmutender Unbekümmertheit, scheinen mir in diese Richtung zu gehen. Viele dieser Jugendlichen führen (oder führten vor der Massenarbeitslosigkeit) dabei ein Doppelleben: tagsüber können es brave, autoritätshörige Lehrlinge oder Jungarbeiter sein. Abends, nachts, freigesetzt durch Alkohol, und gegenseitig verstärkt in der Gruppe, bricht dieses Bedürfnis nach totaler Zerstörung und Zerspielung sich Bahn.
Auch hier gibt es vielleicht eine zufällige Anstoßtat für den einzelnen: die Erfahrung, wie einfach das geht. Mit einem gewissen Erstaunen, das durchaus zwiespältig blieb — Grauen ebenso wie Befreiung beinhaltete —, sagte mir ein jugendlicher Mörder, habe er wahrgenommen, daß einen Menschen totzuschlagen nicht schwerer sei als Kaugummi zu stehlen. Dabei hatte er nicht nur den technischen Aspekt der Durchführung im Auge: er wollte auch sagen, daß es in einer bestimmten Situation ganz leicht war, sich über die inneren Barrieren hinwegzusetzen, die einen sonst hindern. Und eine Andeutung des gleichen Triumphes, der gleichen ekstatischen Entrückung wurde in seinen Worten spürbar, die der (weiter oben zitierte) jugendliche Dieb viel direkter, viel ungehemmter hatte ausdrücken können: Man kann plötzlich alles nur Denkbare tun. Aber nicht nur Rechtsgebote oder moralische Barrieren fallen. Was ich vorhin versuchsweise Zerspielung genannt habe, kann sich auf alle gesellschaftlich gültigen Verknüpfungsmodalitäten von Bedeutungen, von Ablaufweisen beziehen. Die surrealistische Malerei praktiziert ein solches zerspielendes Auseinandernehmen und Wiederzusammensetzen von Körpern, von Gegenständen, von Landschaften, wobei die Komplexität, die Detailliertheit, aber auch die Sorgfalt der Ausführung der einzelnen Spielelemente nicht aufgeben, sondern im Gegenteil auf die Spitze getrieben werden. Gleichzeitig wird im Anzielen einer solchen totalen Eigenmächtigkeit der gegenständlichen Welt und ihren Zeichen gegenüber eine auf ihr absolutes Gegenteil gerichtete, verzweifelte Hoffnung offenbar: auf einen dialektischen Umschlag dieser Eigenmächtigkeit in eine ebenso totale Selbstaufgabe, darauf, daß unbewußte Triebkräfte, die überpersönlich sind und denen man sich blind überlassen kann, einem die Hand führen. Die ideologische Nähe des Surrealismus zur »Tiefenpsychologie« à la CG. Jung ist nicht zu verkennen. Die Suche nach totaler Autonomie schielt also von Anfang an auf so etwas wie totale Selbstaufgabe. Die Frage ist, ob solche regressiven Wünsche nicht auch in der delinquenten Handlung sich Bahn brechen. Vielleicht illustrieren surrealistische Happenings diese Verwandschaft besser als surreale Kunstwerke. Wenn Otto Mühl auf dem nackten Leib eines Mädchens rohe Eier zerschlug, Ketchup darüber goß und das ganze mit Pfeffer und Salz bestreute, so wurde das Zerspielen gesellschaftlich gültiger Bedeutungsverknüpfungen gerade deshalb so deutlich, weil es sich nicht um ein Bild handelte. Die Wirklichkeit selber wird hier behandelt wie ein Bild, d.h. den Gesetzen künstlerischer Komposition (und Dekomposition) unterworfen, die in der Phantasie, den Träumen des Künstlers ihren Ort — und ihre einzige Entscheidungs- und Vollzugsinstanz — haben. Hier geschieht alles noch mit Zustimmung der Beteiligten (wie etwa auch in sadomasochistischen Inszenierungen). In Coppolas Film Apocalypse now wird gezeigt, wie ein Despot (ein ehemaliger Offizier der Green Barrets, der US-Sondereinheiten in Vietnam) die Macht gewonnen hat, ein für die »Elemente« seiner Kompositionen und Dekompositionen — lebende Menschen — »wirklich« tödliches Spiel zu machen. Aber auch der normale Krieg, als dessen Wesen sich die apokalyptischen Schlußszenen dann erweisen, ist für Coppola Verbrechen und Kunst zugleich, genauer gesagt, Verbrechen als Kunst und Kunst als Verbrechen. Erst dann hat ein Soldat — und wieviel mehr noch ein Offizier — sein Metier, seine Lektion »gelernt«, wenn er, was die gegnerische Welt betrifft, alle Zusammenhänge, alle Beziehungen, alle gefühlsmäßigen Besetzungen in beliebig de-und rekomponierbares Spielmaterial, in potentielle Bildbestandteile, in szenische Elemente verwandelt, d.h. ästhetisierend zerspielt hat. Dann erst können sie auch — nach militärisch-technischen Sachnotwendigkeiten — wieder zusammengesetzt werden. Diese Haltung macht auch den Tod zu einem ästhetischen Ereignis; z. B. bei Ernst Jünger finden sich solche Anzeichen einer totalen Ästhetisierung, die zu Recht faschistisch genannt worden ist — und Coppolas Film, der sie denunziert, ist selbst nicht frei davon. Auch Äußerungen von Zeugen oder Opfer eines Verbrechens: daß sie einen Alptraum — also etwas bedrückend Unwirkliches — durchlebt haben, scheinen mir dafür zu sprechen, daß die von mir skizzierte »Ästhetisierung« der Wirklichkeit, ihre Transposition auf eine Ebene, wo die gültigen Verknüpfungen von Zeichen, von Abläufen, von Gefühlsreaktionen außer Kraft gesetzt sind und andere (die der Phantasie des Täters entspringen) an ihre Stelle treten, tatsächlich statthat.
Hinter dem Bedürfnis nach ästhetisierender, Wirklichkeit zerspielender Eigenmächtigkeit und Selbstverfügung verbirgt sich ein Bedürfnis nach Selbstaufgabe. Die messerscharfe Rationalität, die alles nur Denkbare machbar erscheinen läßt wie auf einem surrealistischen Bild, springt über in eine irrationale Erlösungshoffnung: gerade im radikal, eigenmächtigen, zerspielenden Tun nichts anderes als ausführendes Moment eines schicksalhaften Geschehens zu sein, durch das »Unbewußte« hindurch so etwas wie die Hand Gottes. Mord und Weltvernichtung, ästhetisierend betrieben, als eine Art von Gottsuche (und später,    wo diese ihr Ritual etabliert, wohl auch von Priesterschaft?). Benno Müller-Hill (1984) hat versucht, die Todesrampe von Auschwitz aus einer solchen Sicht begreiflich zu machen. Aber schon wenn man daran denkt, daß in »künstlerischen« Kriminalfilmen Mordszenen nicht selten von Bach oder Gregorianik begleitet werden, wird deutlich, daß es dafür so etwas wie eine ästhetische Logik geben muß, die vom Zuschauer auch verstanden und akzeptiert wird. Das archaische Bedürfnis, Allmacht und Ohnmacht, Selbstverantwortung und Selbstaufgabe, aber auch Phantasie und Wirklichkeit, Wunsch und Erfüllung, Spiel und Ernst zusammenfallen zu lassen, scheint mir im delinquenten Akt wirksam zu sein.
In einigen Zügen seiner Struktur und seiner Dynamik ähnelt ein solcher »Alptraum« manchen Psychosen oder einem drogeninitiierten Horrortrip. Ich erinnere mich an meinen ersten und einzigen Meskalinrausch und an zahlreiche Berichte von Freunden und Patienten, denen es ähnlich erging. Die erste, beglückende, triumphale Erfahrung bestand eben darin, daß die Wirklichkeit beliebig zerspielbar wurde. Ich konnte Nasen, Finger, Beine auseinanderziehen, Flecken in Gesichter, Gesichter in geometrische Figuren verwandeln — zunächst ganz nach eigenem Wunsch. In zweiten Stadium geschahen solche Verwandlungen einfach, ohne daß ich etwas dazu tun mußte. Die verwandelte Wirklichkeit sprudelte aus mir heraus, ich nahm mich als ein Medium wahr, durch welches überpersönliche Kräfte wirksam wurden. Das war noch beglückender. Schließlich aber überfielen und bedrohten die selbsterzeugten Gestalten mich, und das ging auch anderen Versuchspersonen so: ein Kollege floh unter den Tisch, weil aus seinen Fingerkuppen brüllende Löwen herausstürzten. Auch ich war den aus mir heraussprudelnden Gestalten ausgeliefert, konnte nur auf sie einschlagen oder fliehen. Die Frage stellt sich, ob in der zerspielend ästhetisierten Welt des Delinquenten der Schlußakt, sein Gejagt- und Gestelltwerden durch die Polizei, nicht auch ein Stück weit szenisch derealisierend erlebt wird und so auch eine strukturelle Analogie zum drogeninitiieren Horrortrip darstellt.
Der Umriß solcher Verwandschaften fordert dringlich auf, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der Wirklichkeitszerspielung, der psychotischen, der drogenbedingten und der delinquenten, deutlicher zu machen. Ich versuche zunächst eine noch sehr grobe Definition: in der Psychose und im Drogenrausch verwandeln sich Bilder in Wirklichkeit, während in der delinquenten Zerspielung die Wirklichkeit selber Bildstruktur annimmt: zunächst beides im Kopf. Der Verwandlungsprozeß ginge also in umgekehrte Richtung, in der Delinquenz in Richtung auf einen immer höheren, in Rausch und Psychose einen immer niedriger werdenden Verfügbarkeitskoeffizienten der Wirklichkeit. Aber ich merke schon, daß auch diese Definition ihre Haken hat, nur eine Dimension beschreibt, die Unterschiede nicht deutlich genug macht. Denn auch in der Psychose findet zunächst eine spielerische De-komposition und Rekomposition der Wirklichkeit statt — Devereux (1974) hat als erster darauf aufmerksam gemacht. Erst später gerinnt dann wie dem Zauberlehrling das selbsterzeugte Bild zu einer neuen, Angst oder Glück erzeugenden Realität. Allerdings wird in der Psychose diese erste Phase oft übersprungen oder doch nur rasch durchlaufen und dann vergessen. Sehr schnell entsteht ein tödlicher Ernst aus den neuen Kompositionen. Vielleicht liegt es daran, daß ihre angemessene und häufigste künstlerische Darstellungsform eher expressionistisch als surrealistisch ist. Allenfalls bei der Hebephrenie gibt es diese spielerische Unbekümmertheit und Unbedenklichkeit, den wahnhaft-halluzinatorischen Kompositionen ebenso wie der Restwelt gegenüber. Und vielleicht ist es kein Zufall, daß bei bestimmten Täter- und Tattypen, wo eine solche Unbekümmertheit und Unbedenklichkeit, eine solche zerspielende Umkodierung der Wirklichkeit bereits dem Oberflächengeschehen ablesbar ist, immer wieder die Differentialdiagnose zwischen »soziopathischer Persönlichkeit« bzw. »psychopathischer Gemütsarmut« auf der einen und hebephrener Prozeßpsychose mit »affektierter Versandung« auf der anderen Seite gestellt wird.
Ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen psychotischen und rauschhaften Seinsweisen und der delinquenten scheint mir darin zu liegen, daß die ersteren zu ihrer Etablierung und Selbstvergewisserung keiner Handlung bedürfen. Die ihnen eigene Wirklichkeit entsteht im Kopf und bleibt meist auch dort. Die Bilder, die Wünsche, die Ängste, Vorstellungen, zunächst von der Wirklichkeit durch eine überprüfende Ich-Instanz geschieden, durchbrechen diesen Kontrollposten und richten sich selbst als Wirklichkeit ein (Freud: a). Die psychotische wie die Rauschwirklichkeit ersetzt die »normale« bzw. dringt wie in der Paranoia in deren Strukturlücken, in die leergebliebenen oder durch Abspaltung wegradierten Textstellen ein (Wulff 1986 b). Aus einer anderen Perspektive wird man sagen können, daß die psychotische wie die Rausch-Wirklichkeit anstelle einer durch Tätigkeit (im Sinne der kulturhistorischen Schule) miterzeugten Wirklichkeit tritt, diese also vertreten kann. Nur in wenigen Momenten, wo der Widerspruch zwischen Wahn und Restwelt zu groß, zu spannungsgeladen wird, muß dieser durch kurzschließende Handlungen in der Wirklichkeit aufgehoben werden — dies geschieht zumeist in Krisen, nicht im psychotischen Alltag.
Ich kann die Konsequenzen solcher Bestimmungen hier nicht weiterdenken. In einem früheren Aufsatz, Drogen, Sprache, Arbeit (Wulff 1981, 105-15), gibt es einige Anknüpfungspunkte dazu. Ich wollte hier vor allem Unterschiede, Kontraste zur »delinquenten Seinsweise« hervorheben. Diese muß nämlich durch Handlung herbeigeführt, in die Tat umgesetzt werden, um als »zerspielte« Wirklichkeit überhaupt erst erfahrbar zu werden. Die Fenster müssen wirklich zerschlagen, die Passanten wirklich beraubt, das Opfer wirklich ermordet werden. Die Szenerie, in der Apocalypse now (der tatsächlich geführte Vietnam-Krieg) sich abspielt, ist nicht das Zelluloid (bzw. der Vorführsaal), nicht Papier oder Bildleinwand, aber auch nicht der Kopf, es ist die stoffliche Wirklichkeit. Diese wird als solche so behandelt, als wenn sie »Material« beliebiger Spiele — bestenfalls eines Kunstwerkes wäre, Exekutionsfeld einer im Handeln sich absolut gebärenden Subjektivität. Der Widerspruch, der in der delinquenten Handlung aufgehoben wird, ist nicht in erster Linie derjenige zwischen Phantasie und Wirklichkeit, zwischen Selbstverfügung und Fremdbestimmtheit wie im Rausch oder in der Psychose, sondern vor allem derjenige zwischen Spiel und Ernst — aufgehoben zugunsten des Spiels. Auch hierin präzisiert sich der Unterschied zwischen (Drogen-)Rausch und Delinquenz: im ersteren wird man zu Gott, indem alle Gedanken, Vorstellungen, die man hat, zu »Fleisch«, greifbare Wirklichkeit werden, allerdings nur im Kopf, für einen selbst. In der Delinquenz wird man hingegen instandgesetzt, mit der Wirklichkeit so umzugehen, als sei sie bloßes Spiel. In diesem Sinne ist der »geborene«, der »teuflische« Verbrecher homo ludens par excellence.

II.

An dieser Stelle verlasse ich die phänomenologische Betrachtungsweise einer delinquenten Daseinsform und wende mich der Frage zu, unter welchen Bedingungen, objektiven wie subjektiven, das Bedürfnis nach einer solchen zerspielenden Seinsweise zu einem unabweisbaren Bedürfnis wird. Diese Frage führt zu einer anderen: welche Bedingungen das Bedürfnis nach einer gesellschafts-, kultur- und normbezogenen Seinsweise wecken bzw. aufrechterhalten, einer Seinsweise, in der man Wunsch und Wirklichkeit, Autonomie und Abhängigkeit, Wollen und Sollen, Spiel und Ernst als Verschiedenes auseinanderhalten, miteinander in Beziehung setzen, aber, wo nötig, auch ihre Widersprüchlichkeit aushalten kann. Banal ausgedrückt: was hält mich in der Welt, in der ich lebe, davon ab, psychotisch, süchtig, kriminell oder ein Faschist zu werden? Und was wiederum treibt mich darauf zu?
Im folgenden werde ich zunächst die inneren Bedingungen vernachlässigen. Das bedeutet nicht, daß ich ihre Existenz anzweifele: ganz im Gegenteil. Biographische Verknüpfungen von Delinquenz mit charakterprägenden Kindheitserfahrungen stehen für mich außer Frage. Insbesondere die neueren Einsichten über Narzißmus (Kohut 1973, Kernberg 1975 usw.) lassen Hoffnungen aufkommen, daß sie auch für die Hinwendung zur Delinquenz bessere Aufschlüsse als bisher liefern können. Aber jedes innere Erfahrungsmuster, jede innere Handlungsbereitschaft bedarf äußerer Anknüpfungspunkte, um sich weiter zu entwickeln oder auf die Dauer aufrechterhalten zu können. Um die Struktur solcher situativer Bedingungen wird es vor allem gehen. Diese Wahl entspricht einer objektiv gegebenen Priorität. Denn solche äußeren Bedingungen sind es, die delinquente, süchtige, psychotische Bedürfnisse als Massenphänomen hervorbringen können — ebenso produktive, gesellschaftlich bezogene Tätigkeitsbedürfnisse (H.-Osterkamp 1976, 17ff.). Eine Analyse der äußeren Bedingungen kann eher zu allgemeinen anwendbaren Handlungsanweisungen fuhren als die Herausarbeitung der inneren Bedingungen allein.
Ich beginne mit Erfahrungen, die ich mit Probanden gesammelt habe, welche über Jahre unter genau definierten äußeren Bedingungen leben mußten, nämlich in den »festen Häusern« für sogenannte »geisteskranke Rechtsbrecher«. Ich hatte einige Male Gelegenheit, solche Häuser zu besuchen. Sie waren wie Festungen von der Umgebung abgeriegelt — eines davon durch eine etwa zehn Meter hohe Mauer. Einer der Ärzte zeigte mir die neueste Erfindung, mit der Entweichungen vorgebeugt werden sollte (in den vielen Jahren zuvor waren nur drei Entweichungen vorgekommen). Es handelte sich um Rollen, die auf den Mauerzinnen befestigt werden sollten, um zu verhindern, daß ein Kranker, der er geschafft hatte, bis dahin hochzuklettern, sich an den Zinnen hochziehen könnte. Er sollte überall abgleiten. Diese sicherheitstechnische Errungenschaft, einer ähnlich morbiden Phantasie entsprungen wie Folterwerkzeuge zur Behandlung Geisteskranker vor 1800 (Bäder mit lebenden Aalen, Klaviere mit lebendigen, beim Anschlagen von Dornen getroffenen Katzen als Tonerzeuger etc. (Dörner 1969), sollte über eine Million D-Mark kosten. Mittel zur Therapie, zur Rehabilitation, standen bei so kostenaufwendigen Sicherheitseinrichtungen kaum zur Verfügung. Aber wenn ich solche Randerscheinungen beiseite lasse und nur die vom therapeutischen Personal solcher festen Häuser selbst verfaßten Krankengeschichten berücksichtige, wird klar, daß es sich bei den meisten festen Häusern um totale, nach außen verbarrikadierte, wirklichkeitsausschließende Institutionen mit eigenem Recht und Gesetz handelt. Verbote und Gebote wechseln willkürlich. Und im Prinzip ist alles entweder verboten oder erlaubt: für eigene Rechte, die keiner Erlaubnis bedürfen und auch durch kein Verbot eingeschränkt werden können, gibt es keinen Raum. Um ein Beispiel zu nennen: Kaffee und Tee sind oft dort rationiert. Jede Vergünstigung kann im nächsten Augenblick durch ärztliche Anordnung wieder entzogen werden. Was man darf, sind eben alles nur Vergünstigungen. Auf der anderen Seite wird für ein Mindestmaß körperlich Notdurft Sorge getragen, ohne daß dazu etwas zu tun wäre: Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Heilbehandlung. Aber auch dieser Fürsorge gegenüber hat man keine Wahl: man kann sie nicht ablehnen. Aus den Krankengeschichten des Sonderkrankenhauses E. scheint z. B. hervorzugehen, daß jeder Neuzugang, jeder Rückkehr von einem Ausgang oder einer Entweichung einem Zwangsbad sowie einer Entlausung, d.h. einer Bestäubung mit Insektiziden, unterzogen wurde. Bei dieser umrißhaften Beschreibung will ich es bewenden lassen. Eine Fülle weiterer Daten findet sich in Goffmans Asylums. Charakteristisch für diese Häuser ist das Fehlen jeglichen Intimraumes, aber auch die totale Überwachung, die stereotypen, bis ins einzelne vorgeschriebenen Tagesabläufe, und damit auch die Unmöglichkeit, sich am Geschehen durch eigene Wahl, durch eigene Entscheidungen zu beteiligen. Die einzige Alternative, die manchmal besteht, ist diejenige zwischen Fremdbestimmtheit und Leere. Aber zumeist ist auch die Leere ihrerseits verordnet, das öde Herumsitzen in den Aufenthaltsräumen, dann nämlich, wenn die Leitung kein Programm (z. B. Arbeitstherapie als unbezahlte Zwangsarbeit) vorgesehen hat.
Hinzu kommt: anders als im Gefängnis weiß der Insasse hier nicht, wann oder ob er herauskommt. Das Leben danach läßt sich auch nicht planend vorwegnehmen, es kann keinen Ziel- oder Bezugspunkt abgeben, der dem Anstaltsdasein Struktur gibt und es mit realistischer Hoffnung erfüllt. Die unbestimmbar bleibende, planend nicht vorwegnehmbare Zukunft läßt sich nur mit Phantasien ausfüllen, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Bei manchen Insassen lassen sich diese Phantasien nicht einmal auf die ungewisse Zeit nach der möglicherweise nie statthabenden Entlassung begrenzen, weil sie sich sagen müssen, daß dies wahrscheinlich nie eintreten wird. Sie brechen deshalb in die Gegenwart, in das Anstaltsdasein mit seiner Leere, Monotonie und Fremdbestimmtheit selber ein als dessen glück-, manchmal angst-, immer aber beziehungsstiftendes Gegenteil. »Psychopathologisch« wird dieses Geschehen verschiedenartig klassifiziert. Handelt es sich um Insassen, denen man eine Schizophrenie attestiert hat, so ist von Wahnideen und akustischen Halluzinationen, katatonen motorischen Erregungszuständen usw. die Rede. Bei anderen spricht man von »psychosenahen« abnormen Reaktionen. Die Antwort der Institution besteht weitgehend unabhängig von der Diagnose zumeist in »Einzelzimmerbehandlung« — Zelle nannte man es früher — sowie in hohen Dosierungen neuroleptischer Medikamente. »Durchflutungsbehandlungen« (d.h. Elektroschocks) sind heute hingegen seltener geworden. Pharmakologisch ruhiggestellt oder lediglich isoliert: wenn der Insasse aus seinen Phantasien genügend Gratifikationen gezogen hat, beruhigt er sich für eine Weile wieder, bis zum nächsten »psychotischen« oder »psychosenahen« Erregungszustand.
Wie das im einzelnen aussieht, zeigt folgendes Beispiel (vgl. Fabricius/Wulff 1984 u. Marschner 1986): einer meiner Probanden hörte in der Zelle die Stimme eines schönen Mädchens, das ihn aufforderte, mit ihm zu schlafen. Manchmal erschien sie sogar leibhaftig. Ein andermal sagte sie ihm: »Peter, Deine Wünsche sind erfüllt, ich liebe Dich ewig.« Später, berichtete er, habe er gelernt, ganz nach Wunsch, über die Anstaltsmauern hinweg, »Kontakt aufzunehmen«, wie er es nannte: nicht nur zu dem Mädchen, sondern auch zu seiner Mutter, die krank war, und der er sein »Blut opfern« wollte (sie hatte Leukämie), oder zum Großvater, der sich eine solche (»telepathische«) Annäherung jedoch verbat. Schließlich meinte Peter, übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen, jedwede Person, die er dahaben wollte, auf den leeren Stuhl in seiner Zelle setzen zu können. Manchmal fürchtete er allerdings auch, er würde »getestet«, es würden Versuche mit ihm angestellt. Während der Zeiten, wo der Proband außerhalb der Anstalt war (sechsmal war es ihm gelungen zu entweichen), kamen solche »Kontaktaufnahmen«, aber auch solche »Testungen« niemals vor.
Es bedarf keines tieferen psychiatrischen Wissens (was immer das sein könnte), um zu erkennen, daß es sich hier um herbeigezauberte Wunschwirklichkeit handelt, um einen Substitutionsprozeß, um Leere auszufüllen, Monotonie zu durchbrechen. In der Isolation, in der Einzelzelle schaffte L. dies ganz allein im Kopf. Diese Leistung ist, für sich genommen,  nichts Außergewöhnliches:  die Deprivationsforschung (Gross u.a. 1970) mit ihrer »camera silens« hat seit langem erwiesen, daß ein Entzug sinnlicher Reize über kurz oder lang zu Trugwahrnehmungen und wahnhaften Umdeutungen der Wirklichkeit führt — auch bei vorher garantiert gesunden Probanden wie bei der Musterung uneingeschränkt für tauglich erklärten Bundeswehrangehörigen. In den Schlafsälen, in den Aufenthaltsräumen der Gefängnisse und Asyle, d.h. in »Gemeinschaft« funktioniert ein solcher Substitutionsmechanismus bei Nicht-Geisteskranken offenbar nicht so reibungslos. Die von sinnentleerter Reglementierung bestimmten Alltagswahrnehmungen und -abläufe leisten immer noch zu viel Widerstand, lassen zu wenig Lücken. Ihre Strukturen müssen zu allererst gesprengt, desintegriert, desartikuliert werden. Und dazu braucht man schon starken Tobak: eine Kraft, die ihre Starrheit brechen und sie hinwegfegen kann. Mein Proband Peter L. versuchte dies auf zweierlei Weise: die eine bestand darin, daß er das schlechthin Ungehörige tat: er urinierte in eine Kaffeetasse, er verrichtete seine Notdurft im Zimmer: »Gott will es so«. Oder er onanierte in der Öffentlichkeit. Er brachte also jeweils das  zusammen, was auseinander gehört: Urin und Kaffe, Kot und Gott, Orgasmus und Öffentlichkeit, sprengte durch Handlungen die herkömmlichen Barrieren des Anstandes, der Scham, des Geschmacks. Er untermalte solche demonstrativen Handlungen auch dadurch, daß er sich nicht wusch und auf weite Entfernungen einen unangenehmen Körpergeruch absonderte. Desintegrativ waren bei manchen Gelegenheiten auch seine sprachlichen Äußerungen. Auf die Frage, wer er sei, antwortete er: »Jesus von Nazareth« und auf die darauffolgende, woher er komme: »Von der Hölle«. Ein andermal bezeichnete er sich auch als »Satanist«. Dabei hatte L. nicht die unverrückbare wahnhafte Überzeugung, Jesus von Nazareth zu sein, und auch nicht von Gott den Befehl erhalten zu haben, auf dem Fußboden seine Notdurft zu verrichten. Er war auf solche Äußerungen und Handlungen nicht festzulegen, erklärte sie selber kurze Zeit später schon für »Theater«. Man muß sich allerdings hüten, dies so zu verstehen, als wollte er aus einem bestimmten Grunde einer bestimmten Person etwas Bestimmtes vormachen (z. B. daß er verrückt sei). Zu Beginn seiner Anstaltskarriere mag dies eine gewisse Rolle gespielt haben. Seither jedoch hatte sich das Mittel verselbständige von seinem ursprünglichen Zwecke gelöst. »Theater« bedeutete jetzt, daß die Welt, in der er lebte, in die er eingesperrt war, sich in eine Szene wechselnder Auftritte, fragmentierter Mono- und Dialoge verwandelt hatte, aber von Mono- und Dialogen, die er selber verfassen, von Auftritten, die er selber nach Lust, Laune und Phantasie auf die Bühne rufen konnte. Er war Drehbuchschreiber, Regisseur und Hauptdarsteller in einer Person, zugleich war die Anstalt zu so etwas wie einem avantgardistischen Theaterworkshop geworden (vorwiegend für absurdes Theater), wo ohne jede Reihenfolge Szenenbruchstücke geübt, begonnen, wieder verworfen, vertauscht werden konnten und wobei der einzige rote Faden Respektlosigkeit war. Insofern war seine Selbstbezeichnung als »Satanist« vielleicht nicht zufällig. Er jedenfalls konnte darüber entscheiden, wer und welches Requisit auf die Bühne zu rufen war, und wann es wieder hinter den Kulissen verschwand. Die Zerspielung der Wirklichkeit, die ich vorhin mühsam aus der delin-quenten Handlung herausdestillieren mußte, findet, so scheint es, unter den Asylbedingungen fester Häuser besonders günstige Entstehungsbedingungen vor. Bei den meisten Probanden, die nach § 63 StGB über lange Zeit eingewiesen wurden, fand ich zumindest Ansätze dazu. Mit einem Modewort könnte man, was geschieht, als eine Extremform von szenisch vergegenwärtigten! no future bezeichnen.
Manchmal bediente Peter L. sich dazu noch eines zweiten Mechanismus, der auch im Knast nicht ganz unbekannt ist: er setzte mehr oder weniger willkürlich ganze Versatzstücke — geschlossene Szenen, manchmal vielleicht sogar ganze Akte — des repressiven oder fürsorglichen Repertoires der Anstalt in Bewegung. Dazu bedurfte es oft nur eines winzigen Auslösers: er spuckte unvermittelt einem Pfleger ins Gesicht, er verweigerte die Medikamenten einnähme, oder er bedrohte jemanden. Was folgte, war unabänderlich: Überwältigung durch die Pfleger, Zwangsspritzen von Neuroleptika, Verlegung in eine Isolationszelle in der Hochsicherheitsabteilung, vorher rituelles Zwangswaschen... Und dann seine telepathischen »Kontaktaufnahmen«. Ich meine, daß es sich bei diesen »Erregungszuständen« nicht bloß darum handelt, daß L. »dekompensiert« war, daß er die Kontrolle über seine Handlungen verloren hatte. Natürlich mag auch dies vorgekommen sein. Vielmehr ging es ihm um so etwas wie eine Inszenierung von Ereignishaftigkeit (wenn auch einer gegen ihn gerichteten, gewaltsamen), um die tödliche Monotonie des Anstaltslebens zu unterbrechen; zum anderen aber auch darum, daß diese Inszenierung, dieser Einbruch gewaltsamer Wirklichkeit, die gesamte Institution für einen Augenblick in seine Gewalt brachte: er war es, der Ärzte, Pfleger, Mitpatienten springen lassen konnte: als ob er nur auf einen Knopf zu drücken brauchte. Jetzt waren plötzlich sie, die anderen, die ihn quälten, ihn einsperrten, dem eigenen Ritual unterworfen, er konnte sie zwingen, ihren Kaffeeplausch zu unterbrechen, herauszulaufen, Gewalt gegen ihn anzuwenden. Einen Augenblick lang war er wieder Herr seiner Situation.

III.

Ich will die Frage beiseite lassen, ob L., indem er den Mechanismus der Gewalt gegen sich auslöste, sich vor Augen führen wollte, er sei das Opfer und die anderen die Täter, so daß er der Institution gegenüber im Recht war; auch die Frage, ob er sich durch die erlittene Gewalt das Gefühl wiedergeben wollte, daß er selbst und eine auf ihn bezogene Wirklichkeit immer noch existierten. Vielmehr will ich überlegen, ob bei der banalen Delinquenz, außerhalb fester Häuser, das Bedürfnis nach Zerspielung der Wirklichkeit und nach Selbstinszenierung von ereignishafter Gewalt oder doch nach Ingangsetzung von Reaktionen anderer auf die eigene Handlung abzulesen ist, ob also es nicht auch dort noch immer um Beziehungsstiftung, um Möglichkeitseröffnung geht, wenn gleich in einer derealisierenden, szenisch-theatralischen Modalität. In den Handlungsweisen von Insassen fester Häuser meine ich wie in einem vergrößernden Zerrspiegel in bestimmten Hinsichten ähnliche Bedingungen anzutreffen wie diejenigen, in denen die meisten »banalen« Kriminellen leben. Um dieser Ähnlichkeit näherzukommen, stelle ich die Frage, welcher Anteil der Wirklichkeit meinem Probanden im festen Haus vorenthalten wurde. So wird vielleicht sichtbar, ob dieser Anteil nicht auch dem Delinquenten draußen fehlt. In einem ersten Anlauf habe ich die Antwort ja schon gegeben: Vorenthalten war ihnen das eigene Beteiligtsein an der Gestaltung der Wirklichkeit, an den Entscheidungen, die zu treffen sind, um sie zu verändern oder aufrechtzuerhalten. Individuelle Mitgestaltung und Mitverantwortung sind aber — zumindest in unserer Gesellschaft — unabdingbar, wenn menschliche Tätigkeit nicht bloß als sinnblinde Exekution fremdbestimmter Planungen erfahren werden soll. Erst dadurch, daß ich in meinem Handeln der Wirklichkeit ein Stück weit meinen eigenen Stempel aufdrücke, wird dieses Handeln zu menschlicher Tätigkeit, zur Aneignung von Natur, aber auch von kulturellen und gesellschaftlichen Erbe durch mich als Person, die ihrerseits dabei den Stempel der gefertigten, angeeigneten »Gegenstände«, aber auch der angeeigneten Kultur- und Gesellschaftsformen aufgeprägt bekommt, welche so in meine eigenen Wesenseigenschaften mit eingehen (siehe dazu Kuckhermann 1985). Der Anstaltsinsasse, dem jede mitverantwortende Teilhabe abgenommen worden ist, bleibt der Anstaltswirklichkeit unverbunden gegenübergestellt. Seine Bezogenheit auf eine gemeinsame, mitmenschliche »Welt« — seine Intentionalität im Sinne der phänomenologischen Philosophie (Husserl 1929, 184ff.) — findet an ihr keinerlei konkrete realisierbare Anhaltspunkte mehr. Die Mitgestaltbarkeit der Welt und die Selbstbestimmtheit des eigenen Handelns werden zu einem ungestillten (und unter den gegebenen Bedingungen auch unstillbaren) Bedürfnis, das schließlich irrational stark und zugleich ausschließlich wird. Die noch vorhandenen Anteile der Anstaltswirklichkeit, der tägliche Ablauf, die Umgangsregeln, die menschlichen Beziehungen, erscheinen demgegenüber als sinnentleert, in ihren objektiv vorgegebenen Verflechtungen und Gliederungen nicht durch einen von ihm selbst übernommenen Gesamtentwurf mit »ernsthafter« Bedeutung besetzt. Sie werden leicht desintegier- und desartikulierbar, sofern der Insasse über die notwendige Energie dazu verfügt und ein entsprechendes Bedürfnis vorhanden ist. Bei L. und bei den meisten übrigen meiner Probanden aus »festen Häusern« haben diese Bedingungen vorgelegen. Das Ergebnis war die Zerspielung der (Anstalts-)Wirklichkeit, die Inszenierung von Ereignishaftigkeit, die Auslösung von Versatzstücken von Gewalt.
Wie führt der Weg unserer Überlegungen vom festen Haus zurück ins kriminelle »Milieu«? Wie hängt dieses mit der Welt zusammen, in der wir im kapitalistischen Westen leben? Diese Welt ist weit entfernt davon, die gleiche für alle zu sein. Es gibt Menschen, die am Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung beteiligt sind, für ihn Mitverantwortung übernehmen und in ihm ihre kreative Phantasie einbringen können und es gibt andere, denen dies weitgehend versperrt ist. Manche bringen es fertig, solche Sperren zu überwinden oder eine Lücke in ihnen ausfindig zu machen und so, über einen wie schmalen Strang auch immer, Anschluß zu finden an den gesellschaftlichen Lebensprozeß. Die Erfahrungen, die man dabei machen kann, die sich dem einzelnen dabei aufprägen, habe ich in »Drogen, Sprache, Arbeit« progressive Wirklichkeitserfahrungen genannt (Wulff 1981, 105ff.). Ich habe dort gesagt, daß sie im Kapitalismus notwendigerweise ein Stück weit auf Kosten anderer gehen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Zugänglichkeit progressiver Wirklichkeitserfahrungen ist im Kapitalismus ein Klassenprivileg, begrenzte Stücke, abgenagte Knochen, bekommen die Angehörigen intellektueller und technischer Mittelschichten immer wieder vorgeworfen. Zumeist müssen sie sich wie hungrige Hunde darum raufen. Dies letztere gilt noch mehr für die Arbeiter, vor allem, seit Arbeitsplätze knapp geworden sind. Wenn gesellschaftliche Arbeit in ihren unterschiedlichen Formen immer noch progressive Wirklichkeitserfahrung eröffnet, wird der Zugang zu ihr weitgehend durch den »Arbeitgeber« und die Kapitalbewegungen kontrolliert. Daraus erwächst die Frage, welche Möglichkeiten der Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung noch für Arbeitslose und für abhängig Beschäftigte übrigbleiben. (Lucien Sève 1973a hat einen entscheidenden Beitrag zur Erörterung der hier anknüpfenden Fragen geleistet.) Das Gesagte sollte deutlich machen, daß es heute im Kapitalismus und nicht nur dort immer mehr Menschen gibt, die keine progressive Wirklichkeitserfahrungen machen, denen tätige Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß [2] nicht oder nur in Spuren zugänglich ist. Auch innere Gründe für einen solchen Mangel an Zugänglichkeit zum gesellschaftlichen Lebensprozeß mag es geben, die in den mitgebrachten dürftigen Gaben liegen oder in blockierenden kindlichen Erfahrungen, die einen Menschen für lange oder für immer unheilbar verletzt haben. Es wäre eine gesellschaftliche Aufgabe, gerade diesen Menschen den Weg zur tätigen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern; von der italienischen Psychiatrie (Basaglia 1970) ist dieses Thema aufgegriffen worden. Im einzelnen Falle ist es eine Ergänzungsreihe von inneren und äußeren Bedingungen, die den Weg zu einer solchen tätigen Teilhabe versperrt bzw. ihn eröffnet. Ich befasse mich hier mit den äußeren Gründen »erster Ordnung«, die diesen Weg direkt beim Erwachsenen blockieren und nicht mit denen, die für die erlittenen seelischen Kränkungen oder für den Mangel an Förderungsmöglichkeiten für die Behinderten verantwortlich sind. Ich spreche auch nicht von den echoartigen gegenseitigen Verstärkungen, die in verschiedenen Formen zwischen inneren und äußeren Bedingungen in Gang kommen und die Sperren schwerer durch brechbar machen. Hier geht es um die »äußerlichsten«, innerlich, »psychisch«, noch weitgehend ungebrochenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die mir die wesentlichen Bedingungen für die Entstehung von Delinquenz als Massenphänomen zu sein scheinen, sowie für die Entstehung der sie ermöglichenden, ihr den Weg bereitenden inneren Haltungen wie der Zerspielung der Wirklichkeit. Grob gesagt spreche ich hier von der Massenarbeitslosigkeit, insbesondere von der Jugendarbeitslosigkeit, aber auch von der Entfremdung der gesamtgesellschaftlichen Tätigkeitszusammenhänge. In »Drogen, Sprache, Arbeit« habe ich angeregt von Lucien Sève (1973 b) zu umreißen versucht, was an äußeren und inneren Veränderungen vorgehen muß, wenn ein junger Mensch die kindlich-jugendliche Lebensordnung verläßt, deren Bedeutungsgefüge vor allem durch Verwandschafts-,  Freundschafts-  und  Nachbarschaftsbeziehungen, durch den Erwerb von Fähigkeiten (Lernen) sowie durch konkrete, nur mittelbar gesellschaftsbezogene Arbeit gekennzeichnet ist. Er muß nun in das Bedeutungsgefüge der Erwachsenenwelt eintreten, das durch Lohnarbeit im Rahmen kapitalistischer Produktion, aber dadurch auch durch individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Produktions- und Austauschprozeß bestimmt wird, und dies auch dann noch, wenn sie weitgehend in abstrakten, entfremdeten Formen ablaufen muß. Natürlich vollzieht sich ein derartiger umkodierender Übergang nicht von einem Tag zum anderen. Und es bleibt bei jedem Menschen eine Zone übrig, wo sich beide Bereiche überschneiden. Dennoch stellt dieser Übertritt in die Erwachsenenwelt eine Aufgabe dar, die von jedem bewältigt werden muß und angesichts derer man scheitern kann. Nicht umsonst häufen sich in dieser Zeitspanne die Risiken für die (Erst-) Manifestation psychischer Störungen, insbesondere der Hebephrenie, aber auch des sozialen Versagens, wie es in der Delinquenz, in der »Jugendkriminalität« offenbar wird. Die eigene Ernsthaftigkeit des kindlich-jugendlichen Lebensbereiches, bestimmt durch die noch bestehenden Abhängigkeiten von Eltern, Schule, Lehre, verliert ihre Wirksamkeit, ohne daß die Ernsthaftigkeit des Erwachsenenlebens sich dem eigenen Wesen, dem eigenen Charakter schon aufgeprägt hat. Trotz, Albernheit, Sprunghaftigkeit, Inkonsequenz, Konzentrationsunlust und in der Argumentation eine Logik, die den momentanen Bedürfnissen und Stimmungen viel stärker folgt als der »Sache«, d.h. den Gegenständen und ihren Verknüpfungen in einem gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang — solche pubertären oder postpubertären »Übergangserscheinungen« finden sich bei vielen Heranwachsenden. Dazu gehören auch spielerische Normbrüche. Dies Phänomen einer jugendtypischen Entwicklungs- und Reifungskrise ist, was seine äußeren Erscheinungsformen abgeht, von hebephrenen Verläufen, bei denen innere Mängel die Hauptursache dafür sind, daß ein tätiges Beteiligtsein am gesellschaftlichen Lebensprozeß nicht zustandekommt, aber auch von soziopathischen Entwicklungen, wo vorwiegend äußere Bedingungen dafür verantwortlich zu machen wären, nicht zu unterscheiden. Verdünnt kommen solche »Verwahrlosungserscheinungen«, in denen sich radikalisierte Autonomiebedürfnisse, eine extreme Abhängigkeit von momentanen Einfällen und Stimmungen, eine verspielte Lebenshaltung und manchmal auch eine bewußte Ablehnung zukunftsbezogener Lebensperspektiven ausdrücken, sehr häufig vor, besonders in Gruppen, die von Arbeitslosigkeit, d.h. einer auch objektiven Versperrung von Zukunftsperspektiven, bedroht sind. Dies gilt keineswegs nur für Jugendliche aus der Unterschicht, die sich zu Rockerbanden zusammenfinden, oder für Punks. Ich habe vielmehr »ganz normale« Studenten im Auge,    allerdings  vor allem  solche  geisteswissenschaftlicher Fächer mit schlechten Berufsaussichten. In Diskussionen reden viele von ihnen ganz anders, als es vor 15 Jahren ihre Vorgänger taten, zu Zeiten, als es noch Lehrermangel und freie Stellen gab. Der Unterschied, den ich im Auge habe, betrifft nicht so sehr den Inhalt der jeweiligen Argumente oder ihre weltanschaulich-ideologische Verankerung, obwohl sich auch da seither manches geändert hat, er betrifft vielmehr die Form der Debatte. Bei Medizinern und Naturwissenschaftlern hält sich diese, im Prinzip wenigstens, an logisch begründbare Argumentationsstränge, Widersprüche, die auftauchen, veranlassen sie zu Klärungsversuchen, zur Korrektur oder doch zum Nachdenken darüber, auf welcher noch aufzudeckenden Ebene sie aufzuheben wären. Schlimmstenfalls wird eine Seite des Widerspruchs einfach verleugnet und damit die argumentative Logik wenigstens formal wieder in Kraft gesetzt. Bei vielen Politologen, Soziologen, Psychologen, Germanisten gibt es diese klassische (auf Sokrates und die aristotelische Logik) zurückgehende Form des Diskurses oft gar nicht mehr. Inhaltliche Argumente werden Gefühlen, Stimmungen, manchmal bloß momentanen Launen zugeordnet, wobei Fragmente, zwei oder drei aufeinander folgende logische Glieder, das eine oder andere Mal als eine Art Versatzstück erhalten bleiben können. Zugunsten einer Entladung von Situationskomik (aufgrund beispielsweise von Bild- oder Klangassoziationen) läßt man solche kurzen Denkansätze aber auch einfach platzen, ohne sie danach wieder aufzunehmen: sie haben mit der Lachsalve, die sie auslösen können, ihren Zweck erfüllt. Und dies Ganze beispielsweise in einer Veranstaltung über das Militärregime in Chile oder über Ethnopsychiatrie. Ich habe das einmal verwahrlostes Denken genannt, und ich meine, daß es dort Blasen treibt, wo tätiges Beteiligtsein an Sachen überhaupt versperrt ist und dementsprechend auch jede Sachlogik ihre Lebensnotwendigkeit verliert. Sie wird so zur Demontage freigegeben, spielerisch, wie Kinder eine kaputtgegangene elektrische Eisenbahn in ihre Bestandteile auseinandernehmen. Und natürlich gibt es bei dem, was da heraus kommt, auch etwas zu lachen. Anders gesagt: verloren gegangen — oder zurückgezogen — ist die Besetzung der Sachlogik mit Ernsthaftigkeit, und zwar, weil ihr Zusammenhang mit dem eigenen Lebensentwurf nicht mehr evident ist (vgl. Laermann 1985). Auch hier ist das Phänomen etwas so ganz Neues nicht. DADA, 1916 entstanden, wollte mit der Alltagslogik auch die mörderische Sachlogik des Krieges aus den Angeln heben, desartikulieren, als eine Verknüpfungsform des Denkens, die sich diskreditiert hatte, weil sie sich in den Dienst der Vernichtung nehmen ließ. Dadaismus und Surrealismus waren Ausdrucksformen, die nach Absprengung der Hülsen der Wahrnehmung dem Denken und Fühlen den Boden freimachen wollten für eine wahrhaftigere Verwurzelung in der »Wirklichkeit«. Ansätze, daraus eine Lebensform zu machen, die auch das Alltagsdenken mitbestimmt, haben sich damals nicht durchgesetzt. Gerade das ist bei dem verwahrlosten Denken anders. Es zielt nicht wie der Surrealismus auf Grundformen des Bewußtseins, die vom sachlogischen Denken verstellt sein können, sondern findet im Spiel mit den demontierten Elementen selbst seine Erfüllung. Und es wird gleichzeitig zu einer neuen, auch alltäglichen Verständigungsform. Die von Stimmungen und Launen her formulierten »Argumente« (in einer Hörsaaldiskussion, nach einem Vortrag beispielsweise) werden beklatscht oder ausgepfiffen, durch wütende oder spaßige Zurufe kommentiert. Die Beteiligten scheinen dabei zu wissen, worum es ihnen geht, verfügen offenbar über ein eigenes Raster dafür. Sie verständigen sich aber gerade nicht über die Sache; sie suchen vielmehr unter Zuhilfenahme von deren demontierten Bruchstücken Einverständnis — Einvernehmen — untereinander zu erzielen. Der ganze Vorgang erinnert an eine ritualisierte Selbstvergewisserung, der die Sache zum Opfer gebracht wird. Es ist so etwas wie eine schwarze Messe, in der der alte Gott, die Sachlogik, gestürzt, geschlachtet, der neue, die Spontaneität, die Stimmungshaftigkeit, die Verspieltheit des Denkens, die »Affektlogik« CIOMPIs (1982) mit ihrer unmittelbaren unaufschiebbaren Bedürfnisbefriedigung auf das freigewordene Podest gehievt wird. Ich jedenfalls meinte zu spüren, daß es der gemeinsame Triumph über den Sturz der Sachlogik war, der unter den Teilnehmern der Diskussion ein durchaus lustvolles (manchmal allerdings auch etwas dumpfes) Gefühl des Einverständnisses und der Zusammengehörigkeit ergab. Zeitenwende. Chronos, der die alten Götter verschlang und die neuen, die des Olymp, der griechischen Klassik, gebar, seine eigene Zeit ist nunmehr gekommen. Der Gott des Augenblicks tritt an seine Stelle.
Meist geht es dabei nicht so feierlich zu. Ich habe die beschriebene Szene mit meinen eigenen Assoziationen besetzt. Sie sollten die Stimmung wiedergeben, in die mich solche Veranstaltungen verwahrlosten Denkens versetzen. No future wird in ihnen beim Wort genommen. Aber vor allem wohl deshalb, weil es für die Beteiligten in der schrecklichen und ganz banalen Weise Wirklichkeit geworden ist: wie man von jemand, der am Ende ist, sagt, daß er keine Zukunft mehr hat. Was bleibt den Betroffenen übrig, als sich von ihr ab- und dem Augenblick zuzuwenden? Dessen ritualisierende Aufwertung entspringt dem eigenen Elend, bitterer Not, die dadurch mehr oder weniger hilflos zu wenden versucht wird. In »Drogen, Sprache, Arbeit« habe ich ausgeführt, daß die Ressource, die einem zur Verfügung steht, um den Augenblick auszuschöpfen, begrenzt ist, wenn man sich von der Zukunft abgeschnitten findet. Es ist die Vergangenheit, es ist der eigene Körper mit den in ihm niedergelegten Erfahrungen. Bei Proust (1938) — oder Merleau-Ponty (1949) kann man darüber nachlesen. Aber es ist auch die Zukunft der anderen, die immer wieder neues »Material« zur zerpielenden Demontage bereitstellen kann. Hier scheint mir der parasitäre Charakter von »no future« im Geistigen deutlich zu werden: ein Abbild der materiellen Verhältnisse, die die arbeits- und perspektivlosen Jugendlichen zu »unproduktiven« und in diesem Sinne eben auch parasitären Existenzen verurteilen. So begreife ich besser die doppelte Wut, die mich bei solchen Veranstaltungen erfaßt: auch die Zusammenhänge, die ich selber in meinem Denken und Handeln gestiftet habe, werden hier demontiert. Dieser Wut gegenüber gilt es begreiflich zu machen, daß der Triumph über die Demontage ephemer bleiben muß, daß die neuen Götter sich im Nu in apokalyptische Gestalten verwandeln, daß die Demontierer also eher Opfer als Täter sind.
Dies gilt auch für Delinquenten. Die letzten Abschnitte sollen das Feld abzirkeln, die Umstände benennen, in denen Delinquenz ebenso wie Rausch und Psychose, wie Verwahrlosung als Lebens- und »Denk«-form zur nächstliegenden Form der Selbstverwirklichung wird. Andere Wege wären: sich Enklaven zu schaffen, Familie und Häuslichkeit beispielsweise, wenn über sie hinausgehende Tätigkeiten nicht zugänglich sind. Aber auch das führt in eine Regression, über die ich hier nicht weiter nachdenken will. Unter den Bedingungen von Sozialhilfe und Arbeitslosigkeit entsteht auch dort, in diesen Enklaven, eine Beklemmung und Enge, die eine eigene Sprengkraft entwickelt. Um aus ihr herauszukommen, bieten sich wieder Rausch, Psychose und Delinquenz an, wenn nicht Selbstmord. Übrig bliebe als letzte Weggabelung davor, sich zusammenzuschließen, gemeinsam gegen die Verhältnisse anzugehen, die einem den Zugang zu einem tätigen Beteiligtsein an ihnen versperren. Dies verlangt allerdings die Fähigkeit, auf die sofortige Bedürfnisbefriedigung zu verzichten, die Rausch, Psychose, Delinquenz, aber auch verwahrlostes Denken sowie andere Formen der Zerspielung der Wirklichkeit anbieten. Es ist die Kulturleistung des Triebverzichts, zumindest aber von Triebaufschub und Sublimierung, die hier verlangt wird (Freud:b). Die Frage nach dem Ort, wo solche Fähigkeiten erworben werden können, bleibt gleichwohl offen. Die psychoanalytische Therapie hilft hier kaum weiter, oder doch nur, um aus der Kindheit überkommene innere Sperren zu überwinden. Die politischen Organisationen haben Menschen, die die Fähigkeit zum Aufschub von Gratifikation nicht schon von vornherein mitbrachten, meist sehr rasch aus ihren Reihen entfernt. Unter gesellschaftlichen Bedingungen, in denen nicht nur Ausbeutung und Entfremdung, sondern zudem noch Massen- und besonders Jugendarbeitslosigkeit herrscht, wo die genannten Fähigkeiten bei den Opfern also zwangsläufig immer seltener werden, kann dies fatal sein. Wie aus dieser Zwickmühle herauszukommen ist, weiß ich nicht. Solche Fähigkeiten können nämlich — außer im Arbeitsprozeß — nur im solidarischen Kampf selber gelernt und eingeübt werden. Der Entschluß, sich an diesem Kampf zu beteiligen, ist die erste Voraussetzung, dazu die aus diesem Entschluß erwachsende Bereitschaft, sich auch die Mittel anzueignen, damit er erfolgreich sein kann. Nötig von Seiten der Verantwortlichen ist dabei Geduld und die Einsicht, daß verwahrlostes Denken und Handeln bei allen, die abgeschnitten sind von tätiger Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß, aus der Not erwächst, eine Notlösung darstellt und deshalb auch eine Versuchung für alle, die sich in der gleichen Lage befinden. Die Überheblichkeit der politisch Verantwortlichen den »Verwahrlosten« gegenüber muß fallen gelassen werden. An ihre Stelle hätte eine Solidarität zu treten, die auch mögliche Abwege, Notlösungen umgreift. Auch was im »Kopf« aufgrund der tatsächlichen Situation erwächst und im Handeln sich durchsetzt, die »verwahrloste Seinsweise«, ist keine beliebige Wahl des Betroffenen, die man diesem allein schuldhaft zurechnen könne; es hat seinen Grund vielmehr in den Verhältnissen, die zu ändern man sich zusammengeschlossen hat. Natürlich werden viele Verwahrloste diesen Weg nicht gehen können. Aber wie die klassenbewußten Arbeiter auch diejenigen, die sich am Kampf nicht beteiligten, nicht von vornherein ausschlossen, sondern ihnen Solidarität anboten, so sollte dies auch mit verwahrlosten und delinquenten Arbeitslosen geschehen. Ein Stück solcher Solidarität und wie sie praktiziert werden muß, um verletzte Menschen für eine Aufgabe wie auch für sich selbst wieder zu gewinnen, läßt sich von manchen »anonymen« Selbsthilfegruppen lernen. Vielleicht ließen sich auch anonyme antidelinquente Gruppen bilden, die die Versuchung der Verwahrlosung nicht erst im Handeln, sondern auch schon im Denken gemeinsam angehen? Vorarbeit dazu wird auch in verschiedenen Arbeitslosenzentren geleistet.  Auf breiter Front Erfolg haben können solche Vorhaben der Selbsthilfe aber nur, wenn sie in ihre Ziele den Kampf um tätige Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß — und damit auch gegen die Verhältnisse, die immer mehr Menschen davon ausschließen — mit aufnehmen. Auch zur Selbsthilfe-Arbeit gehört ein Stück gewerkschaftlicher Orientierung. Hier liegt der Unterschied meiner Auffassung zu derjenigen H.E. Richters (1972 u. 1974).

IV.

Mit den Delinquenten und Verwahrlosten habe ich die Protagonisten, die Akteure an einem Pol des Vorganges ins Auge gefaßt, den ich als Entzug der Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß bezeichnet habe. Ihnen stehen, auf der anderen Seite der Barriere die Verteidiger der Norm, die Delinquenz und Verwahrlosung, Chaotik und Unübersichtlichkeit Ver- und Aburteilenden, gegenüber. Auch sie will ich als Protagonisten, als Akteure, als Subjekte (im Sinne ihrer Selbstunterwerfung, (vgl. Althusser 1977) des gleichen Vorganges, an seinem entgegengesetzten Pol darzustellen versuchen. Bisher hatte ich von zwei Situationen radikalen Entzuges tätiger Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß gesprochen, zunächst von der Internierung in »festen Häusern«, wo dieser Entzug nahezu total ist, und sodann von der Arbeitslosigkeit, in der die Betroffenen mit der Arbeit als gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit (und dem Lohn als ihrer gesellschaftlichen Anerkennung) der Achse verlustig gehen, die auch ihre anderen Tätigkeiten (im Freizeitbereich, im häuslichen Werkeln usw.) sinn- und strukturstiftend zusammenhält. Aber auch Menschen, die noch im Arbeitsprozeß stehen, können einen Entzug tätiger Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß erleiden. In einprägsamer, wenngleich unpräziser Form bringt das Wort »Entfremdung« die Situationen, in denen dies geschieht, auf einen gemeinsamen Nenner. Auch bei vielen, die entfremdet arbeiten müssen, werden die gleichen Bedürfnisse, die bei Arbeitslosen keine Befriedigungsmöglichkeit durch Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß finden können, immer stärker akkumulieren: die Bedürfnisse nach Spontaneität, nach sofortiger Befriedigung auftauchender Wünsche, nach absoluter Selbstbestimmung, nach Zerspielung der Wirklichkeit und damit — den Normen dieser Wirklichkeit zufolge — Bedürfnisse nach »Verwahrlosung«. Ihnen nachzugeben wird Arbeitslosen und Delinquenten sehr viel leichter fallen: schon weil sie dabei nur die Ketten in sich selbst zu verlieren haben. Die noch Arbeitenden müssen um ihren Arbeitsplatz und um ihre materielle »Existenz« bangen. Sie müßten es noch mehr, gäben sie diesen Bedürfnissen nur ein winziges Stück weit nach. Ihre »vitalen« Bedürfnisse richten sich also gegen ihre »produktiven« bzw. gegen die Verfallsformen, die aus deren Akkumulation erwachsen. So bleibt ihnen nicht viel anderes als Abwehr übrig. Um dennoch Befriedigung aus ihnen zu ziehen, bedienen viele der noch Arbeitenden sich eines projektiven Mechanismus: Sie spüren diese Bedürfnisse bei anderen auf und verfolgen sie dort bis in ihr Vorfeld, unnachsichtig, in jede nur denkbare Möglichkeit ihrer Verwirklichung hinein. So werden sie zu zwangshaften, selbstgerechten Verteidigern der Norm: der gesetzlichen wie der gesellschaftlichen, der moralischen wie der geschmacklichen, zu »Normopathen« (Wulff 1972), wie ich diese Charakterprägung in Anlehnung an V. v. WEIZSÄCKER (1934) einmal genannt habe. Law and order. Es ist kein Zufall, daß diese aus Selbstfeindschaft erwachsende (vgl. H.-Osterkamp 1976,166, u. Holzkamp 1983, 376ff., 503ff.) Geisteshaltung sich gerade bei »kleinen Leuten« findet, die es zu etwas (nicht sehr viel) gebracht haben. Ich will hier nicht die Mühe schlechtmachen, mit der sie die Fähigkeit zu Triebverzicht, zu Stetigkeit, zu Vorausplanung und Vorsorge, zu (notwendiger) Unterordnung im Arbeitsprozeß erworben haben, und auch diese Fähigkeiten selber nicht, die nicht nur für den Arbeitsprozeß, sondern auch den politischen Kampf unabdingbar sind. Überhaupt rede ich nicht von der selbstauferlegten Kontrolle von eigenen Bedürfnisse, die unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu befriedigen sind, mögen die Kontrollmechanismen auch selbstzerstörerisch einengend sein. Ich rede von ihrer Verfolgung bei anderen, die ihrerseits ganz und gar unmäßige, mit dem Ziel nicht mehr kompatible Proportionen annehmen kann. Der Irrationalität und Unmäßigkeit der Bedürfnisse nach Selbstbestimmung, Spontaneität, unmittelbaren Befriedigungen, unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen der Bedürfnisse nach Zerspieltheit und Verwahrlosung, entspricht dann die Irrationalität und Unmäßigkeit der Strenge, mit der sie verfolgt werden. Die projektiven Verfolgungsmechanismen verweisen auf bestimmte Züge des Faschismus. Offenbar war es ein Irrtum, diesen nur aus der Perspektive von irrationalen totalisierenden Autonomiebedürfnissen (von »tödlicher« Ästhetisierung der Wirklichkeit war weit oben die Rede) zu betrachten. Beides, die irrationalen Bedürfnisse und ihre irrationale Abwehr, archaische »chaotische« Verwahrlosung und absolute Selbstherrlichkeit auf der einen, autoritätshörige, normophatische Law-and-order-Mentalität auf der anderen, gehören vielmehr zusammen, prägen sich, in bestimmten historischen Situationen, dem Wesen der gleichen Menschen auf, wenngleich in unterschiedlichen Beimengungen. Im »autoritären Charakter« von Adorno (1950) war hiervon die Rede. Im historischen Moment des Faschismus kann es zur Koinzidenz von Bedürfnis und Abwehr kommen, wenn nämlich bestimmte Bereiche des Lebens (die »Verrückten«, die »Juden«, die »Kommunisten«, die Synagogen, die Gewerkschaftshäuser, die »zersetzenden« Bücher) im Namen der Norm der zerspielenden Vernichtung freigegeben werden. Zwar geschieht dies selten, meist laufen Verfolgung, Zerstörung, Vernichtung »sachlich kühl« in institutionell, bürokratisch vorgezeichneten Bahnen und unter dem Schutz einer Rechtfertigungsideologie ab. Aber in manchen KZs kam auch das andere vor: Die Vernichtung durfte sich nackt zeigen. Die Lampenschirme aus Menschenhaut der Ilse Koch belegen dies, die Mordorgien des SS-Arztes Dr. Hoven (Müller-Hill 1983), der hunderte von Kranken in der Dachauer Lazarettbaracke ohne Grund »abspritzte«, ohne persönlichen Vorteil, nicht einmal unter dem Vorwand von »kriegswichtigen« wissenschaftlichen Experimenten. Die Tödlichkeit ästhetisierender Zerspielung und die Tödlichkeit normopathischer Säuberungswut fallen hier zusammen. Daß dazu auch die Suspension des kodifizierten Rechts nötig war, so daß rechtlose Enklaven entstanden, verdiente eine nähere Erläuterung, die hier nicht zu leisten ist. Hitler, der sich als oberster Gerichtsherr proklamierte, der über allen Gesetzen stand, hat dadurch einen Delegationsmechanismus der Willkür und Rechtlosigkeit geschaffen, den sich vor allem die »Eliteeinheiten« zunutze machen konnten. Es wäre interessant, bestimmte rechtlose Enklaven des Stalinismus auf ähnliche Mechanismen, aber auch auf die Unterschiede hin zu untersuchen, die beispielweise zwischen den Unmenschlichkeiten in den nationalsozialistischen KZs und den Straflagern in der Kolyma bestanden haben. Die Schriften Evgenia Ginsburgs und Varlam Chalamows geben über die letzteren Aufschluß.

V.

Ich habe deutlich zu machen versucht, daß es angesichts eines zunehmenden Entzuges der tätigen Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß, der mit einem zunehmenden Anspruch auf Autonomie und Mitverantwortung einhergeht, zwei entgegengesetzte Haltungen beim Versuch gibt, die Widersprüche zwischen Bedürfnissen und ihren Verwirklichungsmöglichkeiten und zwischen Bedürfnissen untereinander regressiv aufzuheben: die verschiedenen Formen der Zerspielung der Wirklichkeit, von denen ich die Verwahrlosung und den delinquenten Normenverstoß ausführlicher analysiert habe, und die gegen diese gerichteten normopathischen Projektionen und Unterdrückungsversuche. Diese beiden Haltungen stehen in einem reziproken Verhältnis, so daß jede wie die Kehrseite der anderen anmutet, ohne die sie nicht denkbar wäre. Normopathie und Zerspielung der Wirklichkeit wirken wie füreinander geschaffen. Jede der beiden Haltungen wirkt auf die andere ein, sie verstärkt und rechtfertigt sie moralisch. Dies läßt sich auf der Ebene der Verhaltensweisen und der Ebene der Persönlichkeitsentwicklung verfolgen: normopathischer Druck, sofern er nicht mit überwältigenden physischen Machtmitteln ausgestattet ist, provoziert ja eher Verwahrlosungstendenzen wie umgekehrt zunehmende Verwahrlosung verstärkt normopathischen Druck hervorruft. Neben einer solchen Dynamik auf den Ebenen des Verhaltens und der Persönlichkeitsprägung läuft auch eine Dynamik auf der Ebene der Phantasiebilder, die Normopathen und »Verwahrloste« voneinander haben. Die normopathische Repression ist nicht nur Realität, sie ist auch eine Horrorvision der Verwahrlosten und Delinquenten und derer, die ihre Identität in Spontaneität, Kreativität, Autonomie, Transformation begründet haben, wie Verwahrlosung und Delinquenz die Horrorvision der Normopathen ist und derer, die sich selbst in Ordnung, Übersicht, Stetigkeit, Geborgenheit, Sicherheit wiederfinden. Dabei geben die tatsächlichen Verhaltensweisen beider Protagonisten, ihr Denken und Handeln, oft nur dürftige Anknüpfungs- und Ausgangspunkte für die Ausbildung der gegen den anderen gerichteten Phantasmen her. Ja, ich behaupte, daß ein derartiger Dialog von gegeneinander gerichteten Phantasmen nicht nur zwischen »wirklichen« Normopathen und wirklich »Verwahrlosten« geführt wird, noch nicht einmal nur zwischen verschiedenen Menschen, bei denen Ordnungs- und Geborgenheitsbedürfnisse oder Spontaneitäts-, Autonomie- und Transformationsbedürfnisse überwiegen,  sondern auch zwischen solchen widersprüchlichen Bedürfnissen und deren projektiven Abwehrformen in nahezu jedem von uns. Die Verwahrlosungsbedürfnisse sind nur der hilflose Ausdruck eines Wunsches nach Spontaneität und Autonomie, nach Veränderung und Erneuerung, wozu notwendigerweise auch eine Desartikulation von Bestehendem gehört. Normopathische Verfolgung drückt hingegen, ebenso hilflos, den Wunsch nach Wahrung des Bestehenden, nach seinem Schutz vor Zerfall und Zerstörung aus. Es handelt sich also sowohl um einen äußeren wie um einen inneren Dialog phantasmatisch ins Negative gewendeter, aber ansonsten allgegenwärtiger Bedürfnisse. Dabei spitzen solche Phantasmen vorfindbare Wesenszüge extrem zu und verwandeln sie schließlich zu reziproken Horrorvisionen. Die Horrorvisionen wirken auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurück. Nicht nur der wirkliche Entzug tätiger Teilhabe am gesellschaftlichen Leben- und individuellen Entwicklungsprozeß, auch eine phantasmatische Horrorvision von Unterdrückung und Versagung, die die versagende Realität extrem aufbläht und zuspitzt, kann zu einer Akkumulation von Wünschen nach Spontaneität, Kreativität, nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung führen. Ebenso verstärken Phantasmen von Verwahrlosung den Wunsch nach Ordnung, Übersicht, Sicherheit und Geborgenheit und über diese Wünsche auch die normophatischen Angstprojektionen und die aus diesen erwachsenden Unterdrückungsmechanismen. Schließlich steht jedem extremen, gleichsam verabsolutierten Wunschbild ein ihm entsprechendes Schreckbild gegenüber und umgekehrt. Beiden Haltungen liegt ein Anschwellen widersprüchlicher Bedürfnisse zugrunde. Normopathen verleugnen die Bedürfnisse nach Spontaneität, Selbstbestimmung, Veränderbarkeit und projizieren sie in verzerrter Form: als Chaos, Verwahrlosung. Geborgenheit, Verläßlichkeit befriedigen sie dabei ebenfalls in verzerrter Form: in Ordnungszwängen, autoritärem Auftreten, unnachsichtiger Verfolgung dessen, was sie als verwahrlost, unordentlich, »unmoralisch« empfinden. Die Verwahrlosten (mit einem traditionelleren psychiatrischen Etikett: die »Soziopathen«) verleugnen ihre Geborgenheits-, Beständigkeits- und Ordnungswünsche und projizieren sie in verzerrter Form auf andere, die sie als Pedanten, Moralisten, autoritäre Unterdrücker sehen; ihre eigenen Bedürfnisse nach Selbstbestimmung, Spontaneität, Veränderung, »Freiheit« befriedigen auch sie in verzerrter Form: in Verwahrlosung und Delinquenz.
 Vielleicht kann ich das hier Gemeinte am Beispiel der »festen Häuser« deutlicher machen. Nicht umsonst habe ich sie als Demonstrationsobjekte für die Zerspielung der Wirklichkeit gewählt: weil es verhältnismäßig leicht ist, den dort im ursprünglichen Wortsinne notwendigen Charakter der Zerspielung, ihr nahezu zwangsläufiges Hervorgehen aus einer real vorfindbaren Situation, deutlich zu machen. Dies gerät in Vergessenheit, wenn man beginnt, sich mit Phantasmen zu beschäftigen. Aber feste Häuser — Irrenhäuser überhaupt — sind nicht nur ein bestimmtes und begrenztes Stück Wirklichkeit, sondern zugleich auch dessen auf die Spitze getriebenes Schreckbild: das Symbol einer Welt totaler Kontrolle und Abhängigkeit. Es wird deutlich, daß die Akkumulation der Bedürfnisse, die Entfaltung radikaler Wunschbilder von Autonomie und Spontaneität, auch der regressive Rückzug auf eine Wirklichkeitsebene, die zunächst verspricht, alle Widersprüche zu versöhnen, wie z. B. in der Haftpsychose, nicht nur eine Antwort auf die versagende Wirklichkeit selber sind, sondern auch eine Antwort auf die Schreckbilder, die aus einer zugespitzten Extrapolierung von Wirklichkeitsanteilen — hier den Kontrollmechanismen der festen Häuser — erwachsen. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit stößt einen meist destruktiven Dialog an, der fast ausschließlich zwischen Wunsch- und Horrorphantasien weitergeführt wird. Diese spitzen sich gegenseitig immer mehr zu und werden als Wunsch- und Angstbilder schließlich selber wieder handlungsrelevant, desartikulieren die Wirklichkeit bzw. halten sie als erstarrte fest.
Die Bewegung, in welche die Phantasmen sich so gegenseitig versetzen und die zu ihrer totalisierenden Zuspitzung zu »absoluten« Gegensatzpaaren führt, auch die »Wirklichkeit«, die sie sich durch den »Kampf«, den sie gegenseitig führen, verleihen [3] findet in sprachlichen Systemen eine gewisse Entsprechung. Wenn es etwas Langes gibt, muß es auch Kurzes geben, wenn Böses, dann auch Gutes, wenn Dunkles, dann auch Helles, wenn Verwahrlostes, dann auch Ordentliches, wenn Starres, dann auch Sichveränderndes, wenn Vergängliches, dann auch Bleibendes etc.: das eine ist jeweils der Garant seines Gegenteils. In einer ähnlichen, sprachlich präformierten Weise brauchen anscheinend auch psychische Selbstidentifikationsmuster ihr eigenes Gegenteil. Und ähnlich wie Begriffe — durch das Denken ihres Gegenteils, ihrer »Antithese« — zu zunehmender »Klarheit«, und damit immer mehr zu sich selbst kommen, d.h. zum »reinen«, absoluten Gegenteil des anderen werden, wirken auch Phantasmen »polarisierend« aufeinander ein. Der Geisterdialog, den Phantasmen gegeneinander führen, folgt also semantischen Bewegungsformen, die ich vorerst als »horizontale Dialektik« bezeichnen möchte. These und Gegenthese spitzen sich im Prozeß der gegenseitigen Negation zu, ohne je zum qualitativen Umsprung zur Synthese zu gelangen: es handelt sich um eine Dialektik, die vom Fortschreiten in die Zukunft hinein abgeschnitten bleibt (nochmals no future!) und in der nichts anderes als gegeneinander gerichtete dialytische »Klärungsprozesse« ablaufen können. Je mehr ein Mensch von der tätigen Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß abgeschnitten ist, je weniger progressive Wirklichkeitserfahrungen er machen kann, desto weiter entfernen sich seine Wünsche und Ängste, sein Denken, Wollen und Fühlen auch von der Realität. So ist es nicht verwunderlich, daß zu Zeiten, wo einem Großteil der Menschen produktive Wirklichkeitserfahrungen versagt sind, diese Menschen in zunehmenden Maße illusionären, phantasmatischen und zugleich polarisierenden Identifikationsmustern unterworfen sind und von diesen auch einen beträchtlichen Teil nicht nur ihres »Denkens«, sondern auch ihres Handelns bestimmen lassen. Exemplifizieren ließe sich das an den sektiererisch und destruktiv geführten theoretischen und politischen Auseinandersetzungen linker Gruppen zu Beginn der siebziger Jahre.

VI.

Wenn Normopathie und Verwahrlosung, Zementierung und Zerspielung der Wirklichkeit nichts anderes als psychische Zuständlichkeiten bzw. Abläufe wären, wenn man sich mit ihren Aspekten als normo- bzw. soziopathischen Verhaltensmustern und als normo- bzw. soziopathischen Angstprojektionen zufrieden geben könnte, dann könnte ich diesen Aufsatz hier beenden. Wie die Exkurse in den Faschismus aber gezeigt haben, entfalten solche Haltungen und die aus ihnen erwachsenen Handlungsweisen auch politische Wirksamkeit: sie bilden Auftreff- oder »Willkommens«-Strukturen für Ideologien: die Normopathie für Ideologien der Bewahrung, der Geborgenheit, der Sicherheit, die Zerspielung für solche der Autonomie, der Spontaneität, des Umbruchs, der Transformation. Negativ gewendet wird aus dem ersteren totale Kontrolle und Starrheit, aus dem letzteren Auflösung und Zerfall, schließlich »Verbrechen«. Es handelt sich um ideologische Subjekteffekte (Althusser 1977; PIT 1979): aufgegriffen, zugespitzt, oft umgepolt, mit situationsentsprechenden Inhalten gefüllt, werden sie von den Politikern und von den Medien dem einzelnen wieder zugespielt: als Angebote der Selbstidentifikation und als Angebote von Feindbildern. Dabei werden auch die regressiven Koinzidenzen genutzt, mit deren Hilfe logische und sach- und interessenbezogene Widersprüche in einem Verschmelzungsvorgang aufgehoben werden.
Aus dieser Sicht wird vielleicht deutlicher, weshalb Feindbilder (Wulff 1986) und Selbstidentifikationen in den letzten 60 Jahren so erstaunliche Wandlungen, ja sogar Umschläge in ihr Gegenteil erfahren haben. So erschien der »Bolschewik« der bürgerlichen Öffentlichkeit der zwanziger und dreißiger Jahre vor allem als Umstürzler, als Gefahr für die menschliche Ordnung und Gesittung schlechthin — also durchaus als Zerspieler von Wirklichkeit; heute hingegen herrscht eine ganz andere Schreckensvision des Kommunismus: diejenige totaler Unterwerfung und Kontrolle, des Zunichtemachens jeder Spontaneität und Kreativität, der Zementierung der entstandenen bürokratischen Strukturen: eher eine Vision normopathischer Repression, wie sie von Orwell (1949) literarisch dargestellt worden ist. Umgekehrt identifizierte sich die bürgerliche Gesellschaft in den zwanziger und dreißiger Jahren dem Kommunismus gegenüber vor allem durch ihre Insistenz auf eine natur- (wenn schon nicht mehr gott-)gegebene Ordnung, während sie heute viel stärker ihre Freiheitlichkeit, die Selbstbestimmung jedes einzelnen, den Raum, den sie für Spontaneität und Kreativität läßt, herauskehrt. Das liegt wohl daran, daß die bürgerliche Gesellschaft der zwanziger und dreißiger Jahre sich selber mit dem Einbezogensein in eine natur-gegebene Ordnung identifizierte, die noch feudale Reminiszenzen enthielt, und um deren Tugenden — Stetigkeit, Sicherheit, Geborgenheit — bangte, während sie heute auf die Selbstbestimmung des einzelnen, den Raum, den sie für Spontaneität und Kreativität läßt, auf ihre bürgerliche Freiheitlichkeit insistiert. Sie braucht den Feind, um sich ihrer selbst, ihrer eigenen (Wunsch-)Identität zu versichern, einer Identität, die inzwischen brüchig geworden ist und von den meisten in ihrer Tätigkeit, in ihrem gesellschaftlichen Leben nicht mehr als wirklich erfahren werden kann. Sichtbar wird wie in einer bestimmten historischen Formation hinzugewonnene humane Errungenschaften — Sicherheit, Stetigkeit, Geborgenheit in der feudalen, Autonomie, Spontaneität, Kreativität in der bürgerlich-kapitalistischen — als Wunsch und Bedürfnis fortbestehen, auch wenn sie von vielen in ihren gesellschaftsbezogenen Tätigkeiten nicht mehr als »wirklich« erfahren werden können.
Eine Horrorvision des »Totalitarismus« wird seit den fünfziger Jahren von der antikommunistischen Propaganda in verschiedenen, zumeist stark vulgarisierenden Versionen verbreitet. Sie findet ihre Auftreffstruktur, ihre structures d'accueil gerade bei den akkumulierten Bedürfnissen nach Autonomie, Individualität, Kreativität, Spontaneität, »Freiheit«, die auch im »Westen« von nur wenigen, und das zumeist auf Kosten der anderen, in Form von progressiven Wirklichkeitserfahrungen befriedigt werden können. Gerade was der Kapitalismus (nicht nur er) den meisten Menschen versagt, die Umsetzung von Spontaneität, Autonomie, Kreativität in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und was deshalb zum Anschwellen eines in seiner Unmäßigkeit irrationalen Bedürfnisses führt, wird von vielen eben gar nicht bewußt als Mangel wahrgenommen, sondern dieser Mangel an gesellschaftlichen Realisationsmöglichkeiten für diese Bedürfnisse wird ins Unbewußte verdrängt oder einfach verleugnet oder als totalitäre Unterdrückung woanders projektiv verfolgt.
Die Illusion von Autonomie, Spontaneität, Kreativität, Individualität als jederzeit verfügbare Möglichkeiten »des Menschen« gerät gleichzeitig mit der Verdrängung oder Verleugnung des Mangels ihrer Realisierungsmöglichkeiten und der gesellschaftlichen Bedingungen, die diesen Mangel bewirken, zu einem Stück (illusionärer) »subjektiver« Identität, das gegen die Schreckensvisionen der totalen bürokratischen Kontrolle besonders wütend verteidigt wird. Insofern bilden die Verdrängung und Verleugnung des Mangels an gesellschaftlichen Realisierungsmöglichkeiten für Kreativität, Spontaneität, Individualität, die identitätsstiftende Illusion ihrer jederzeitigen Verfügbarkeit als ideologischer Subjekteffekt und die Schreckensvision des Feindbildes totaler Kontrolle, die diese identitätsstiftende Illusion aufrechterhält, einen strukturellen Zusammenhang: als viertes gehören in diesen Zusammenhang reale Fragmente von Autonomie und Kreativität, in manchen Freizeitaktivitäten, beim Einkauf in Supermärkten usw. Alle diese Bestandteile sind, um ihre Wirksamkeit zu entfalten, aufeinander angewiesen. Auf dem Boden von Verleugnung und Verdrängung und von isolierten Realitätsfragmenten geraten Horrorvision und illusionäre Identifikation in eine Art Schattenboxen, dessen Leidenschaftlichkeit durch Politiker, Medien etc. jederzeit angefacht werden kann. Dabei bestätigen sich beide Phantome durch ihre Aufeinanderbezogenheit, konkret durch ihr Aufeinander-Einschlagen, ihre »Wirklichkeit«.
Man könnte in Anlehnung an Althusser sagen, daß die subjektive Identität als »Freiheit« sich nur durch die ideologische Anrufung zur Bekämpfung des »totalitären« Feindbildes ihrer selbst vergewissern kann — wie die subjektive Identität des Geborgenseins in Ordnungen der Anrufung durch das Feindbild des zerspielenden, zersetzenden Zerstörers dieser Ordnungen bedarf.
Demgegenüber werden die gleichen Freiheits- und Autonomiebedürfnisse, wo sie nicht nur illusionär festgehalten werden, sondern sich tatsächlich, wenn auch nur regressiv, Bahn brechen (wie in der Psychose, in der Delinquenz, in der Verwahrlosung, im Drogenrausch, in den verschiedenen Formen der Zerspielung der Wirklichkeit) innerhalb der eigenen Gesellschaft in Form normopathischer Angstprojektionen verfolgt. Solche Projektionen heften sich an sehr dürftige Ansatzpunkte der Wirklichkeit: bei Ausländern daran, daß für uns, die Eingeborenen, durch die Unkenntnis von deren (der Türken, der Nordafrikaner) eigenen kulturellen Zusammenhängen und Bedeutungsverknüpfungen, die ihren Umgang z. T. auch bei uns leiten, der abwegige Eindruck entsteht, unsere kulturellen Zusammenhänge und Bedeutungsverknüpfungen würden von ihnen bewußt zerspielt, desartikuliert oder — noch globaler — daß es sich bei ihnen um »Verwahrloste« oder »Asoziale« handelt. Die gleichen Bedürfnisse, Wesenszüge, Haltungen, Handlungsanweisungen, die bei einem selbst — wenngleich illusionär — als »Subjekt-Effekt« identitätsstiftend wirken und gegen Visionen totalitärer Kontrolle — symbolisiert im Außenfeind »Kommunismus« — wütend verteidigt werden, bilden anscheinend in der eigenen Gesellschaft — dort, wo man sie, wenn auch nur regressiv, zu verwirklichen sucht (oder wo auch nur ein solcher Eindruck entsteht wie bei Ausländern) eine tödliche Gefahr und müssen deshalb unnachsichtig verfolgt werden.
Auf diese Weise entsteht das Bild eines »inneren« Feindes, an dem gerade dasjenige bekämpft wird, was man gegenüber dem »äußeren« wütend verteidigt: seine Spontaneität, seine Ungebundenheit und Freiheit werden als zersetzende Verwahrlosung denunziert. Im Kampf gegen ihn, ja schon in der Anrufung, die von diesem Feindbild ausgeht (»verteidige Deine eigene Sicherheit und Geborgenheit«) kann man sich einer anderen, aber ebenso unabdingbaren Identität versichern, nämlich der Eingebundenheit in Ordnungen, in Geborgenheit, Stetigkeit, Sicherheit, in deren Namen man dann »ganz persönlich« handelt. Anders gewendet: wo Ordnung, Geborgenheit, Sicherheit, Stetigkeit aus der eigenen Beziehung zur Wirklichkeit weitgehend verschwunden sind, diese Tatsache aber verdrängt oder verleugnet wird, dort kann nur noch das Befolgen der vom entgegengerichteten »inneren« Feindbild ausgehenden Anrufung (schon in Form der von ihm erzeugten Affekte und Emotionen, also Haß und Wut beispielsweise) eine illusionäre, aus diesen Werten und Tugenden genährte, Identität gewährleisten. So signalisiert die Spaltung der Feindbilder in ein »äußeres« und ein »inneres«, die Spaltung also der normopathischen und soziopathischen Angstprojektionen, zugleich eine Spaltung der Subjektidentitäten, ebenso wie eine Spaltung der zugrundeliegenden — frustrierten — Bedürfnisse. Nach Bedarf können Feindbilder Menschen, die aufgrund ihrer ungestillten und z. T. auch tabuisierten Bedürfnisse zu sozio- oder normopathischen Angstprojektionen neigen, in Wut und Haß versetzen und zu »Kampfhandlungen« treiben, die von ihnen dann als ihre eigenste Sache empfunden werden.
Solche Menschen können — je nachdem welches frustrierte Bedürfnis bei ihnen überhand gewonnen hat — sich anhand der vorfabrizierten Bilder des äußeren oder inneren Feindes selbst in Wut versetzen und ihre eigene gebrochene Identität als Gegenteil, sei es Freiheit, sei es Eingebundensein in Ordnungen, wiederherstellen. Die Bedingung dafür, daß dies funktioniert, ist, daß man seine Freiheit ebenso wie sein Eingebundensein in eine gesellschaftlichen Lebensprozeß nicht erfährt, daß man von diesem Prozeß abgeschnitten ist oder sich selbst davon abgeschnitten hat. Wo dies geschieht, da schwellen die Bedürfnisse nach »Freiheit« wie nach »Bindung« unmäßig und irrational an, da können sie nur in verzerrten Formen befriedigt werden, in normo- oder soziopathischen Angstprojektionen, die Feindbilder erzeugen, und in an diesen gewonnenen, diesen entgegengesetzten illusionären Identitäten. Nur dann bilden sich die psychischen Willkommensstrukturen für solche ideologischen Anrufungen aus. Das Aufeinandertreffen beider verleiht den zunächst privat erscheinenden intrapsychischen Prozessen ihre gesellschaftspolitische Dimension. Dabei ist zu betonen, daß das Schattenboxen zwischen Phantomen — zwischen imaginären Feindbildern und illusionären Identitäten — nicht einfach spontan und grundlos im Kopf entsteht, sondern von der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch den Entzug tätiger Teilhabe angestoßen wird; ebenso wie daran zu erinnern ist, daß solche »Einbildungen« ihrerseits durch ideologische Anrufungen materialisiert werden, d.h. stoffliche Gewalt gewinnen können bis hin zur Auslösung eines atomaren Krieges.
Zur Zeit entsteht ein neues Bild eines »inneren Feindes«: im Namen des Fortschritts werden Versuche von »Grünen« zur Praktizierung »natürlicher Ordnungen« in Form von Ökologisch orientierten Produktionsbetrieben lächerlich gemacht. Die »Grünen« werden deshalb politisch erbittert bekämpft. Zugleich werden sie als »Chaoten« und »Gewalttäter« hingestellt, als Zerstörer der Ordnung. Man versuche, sich die Gegen-Identitäten auszumalen, die aus diesem in sich widersprüchlichen inneren Feindbild entspringen. Der politische Erfolg der Grünen läßt sich vielleicht z. T. daher erklären, daß die Widersprüchlichkeit des auf sie projizierten Bildes des »inneren Feindes« und die daraus erwachsende Widersprüchlichkeit der aus diesem Feindbild geschöpften Gegenidentitäten von vielen nicht ohne weiteres ausgehalten werden konnte. Deshalb versuchen ihre politischen Gegner aus ihnen auch eher zwei Feinde zu machen: die »harmloseren« fortschrittsfeindlichen, im Grunde schrulligen und »wirklichkeitsfernen« Naturschützer auf der einen Seite, und auf der anderen die Chaoten und Gewalttäter, also der »klassische« innere Feind. Dann kann man diese Feindbilder sich getrennt vorstellen, hintereinander, in einer zeitlichen Abfolge — und dementsprechend auch hintereinander sich der verschiedenen widersprüchlichen Gegenidentitäten versichern.
Die frustierten Bedürfnisse und illusionären Identitäten geraten zwangsläufig in Gegensatz zur Wirklichkeit. Es ist gleichermaßen gefährlich, sich »wirklich« den eigenen Bedürfnissen nach Spontaneität, Kreativität und Autonomie zu überlassen, wie denjenigen nach Stetigkeit, Sicherheit und Bewahrung. Das erste würde die Arbeitsdisziplin gefährden, das letztere die gesellschaftlich ebenso geforderte Flexibilität, den »gesellschaftlichen Fortschritt« und die Mobilität. Die Befriedigung dieser beiden fundamentalen »produktiven« Bedürfnisse (im Sinne der kritischen Psychologie) würde also die vorrangigen Befriedigungsmöglichkeiten vitaler Bedürfnisse, der Deckung des Lebensunterhaltes beispielsweise, gefährden. Der Ausweg, der sich hier anbietet, ist die Produktion illusionärer Identitäten, eines bloßen Scheins von Autonomie und Kreativität bzw. von Geborgenheit, Stetigkeit und Ordnung. Durch den Schein von Autonomie und den Schein von Eingebundenheit, den man im Kampf gegen die ihnen entgegengesetzten Feindbilder gewinnt, kann ein Mindestmaß des für jeden nötigen psychischen Gleichgewichtes wiederhergestellt werden. Dieser Schein ist also so etwas wie die Leerform produktiver Bedürfnisse, ähnlich wie Wahn und Halluzinationen nach Merleau-Ponty die Leerform von Wahrnehmungen in den verschiedenen Situationen des kognitiven bzw. sensorischen Wirklichkeitsentzuges sind.
Die scheinbare Irrationalität und Widersprüchlichkeit von Feindbildern und eigenen Identitäten hat sich also ein Stück weit aufklären lassen durch die Unterscheidung zweier Logiken: einer bloß semantischen Begriffs- und Vorstellungslogik, dort wo die Bedürfnisse von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgekoppelt sind, und einer anderen Logik, die in der materiellen Wirklichkeit und ihren Bewegungsgesetzen verwurzelt ist. Beide Logiken sind miteinander verschränkt. In diesem Aufsatz habe ich nur eine von verschiedenen möglichen Verschränkungsmöglichkeiten deutlich gemacht. Die Verwurzelung auch der semantischen, auf Vorstellungen und Begriffe bezogenen Logik in Bedürfnissen, die in der Wirklichkeit nicht zu stillen sind, ist (in einer Situation der Abkopplung der produktiven Bedürfnisse von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der meisten) hoffentlich deutlich geworden. Die geschilderte Verschränkung von Selbst- und Feindbildern und der von diesen »produzierten« Identitäten verdiente eine gründlichere inhaltliche Untersuchung, z. B. durch Analyse von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendungen, von Steckbriefen, von Politiker-Reden. Dazu fehlten mir Zeit und Kompetenz. Gleichwohl vermute ich, daß zwischen den jeweiligen Wunsch- und Angst-, Selbst- und Feindbildern der verschiedenen gesellschaftlichen Systeme, die sich in den Diskursen der Politiker und Journalisten in der Öffentlichkeit niederschlagen, eine ähnlich destruktive Dynamik in Gang kommen kann wie zwischen den Phantasmen der Verwahrlosung und denen der totalen Kontrolle.

VII.

Zusammenfassung.

In vielen Ländern unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, vor allem aber im Kapitalismus, erleiden Menschen Versagungen, weil ihnen die tätige Beteiligung am gesellschaftlichen Lebensprozeß ganz oder weitgehend vorenthalten wird. Bedürfnisse nach Spontaneität, Kreativität und Autonomie, die Bedürfnisse des entwickelten bürgerlichen Individuums sind, Bedürfnisse nach Ordnung, Geborgenheit, Stetigkeit, die im Feudalismus dominant gewesen sind, können in diesen Lebensprozeß nicht oder nur unvollkommen eingebracht werden. In bestimmten anachronistischen Enklaven wie festen Häusern, die Relikte der Sklavenhaltergesellschaft enthalten, zugleich aber totalitäre Kontrolle verkörpern, betrifft der Entzug tätiger Beteiligung nicht nur den Bereich gesellschaftlicher Arbeit, sondern auch den Bereich der Zirkulation, den Bereich der mitmenschlichen Beziehungen wie denjenigen privatester Intimität. Dort besonders, aber auch unter Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit, schwellen die ungestillten Bedürfnisse nach Spontaneität, Kreativität, Autonomie — aber auch nach Ordnung, Bindung, Stetigkeit — unmäßig an. Sie lassen sich aber nicht in der Realität, sondern nur auf anderen, regressiven Bewußtseinsebenen befriedigen, die durch regressive Koinzidenzen, vor allem von Autonomie und Abhängigkeit, Vorstellung und Wirklichkeit, aber auch von Spiel und Ernst, gekennzeichnet sind, d.h. in der »Phantasie«. Eine dieser regressiven Befriedigungsformen habe ich die »Zerspielung der Wirklichkeit« genannt. Ihr Handlungsraum ist aber nicht nur, wie in Rausch und Psychose, der Kopf, sondern die Wirklichkeit selber, der ihre Besetzung mit »Ernsthaftigkeit« entzogen wird. Sie verliert so ihre Widerständigkeit und wird zu beliebig des-und reartikulierbarem Spielmaterial, zu Requisiten eines »Subjektes«, das sich dabei als absolut autonom und selbstherrlich gerieren, jeder momentanen Regung nachgeben, jedes aufkommende Bedürfnis (allerdings nur szenisch darstellend) befriedigen kann. Die Selbstherrlichkeit auf der regressiven Bewußtseinsebene der Zerspielung entspricht der totalen Ausgeliefertheit und Ohnmacht in der Realität. Elemente dieser regressiven Bewußtseinsverschiebung meinte ich auch außerhalb fester Häuser in der Delinquenz, im verwahrlosten Handeln und Denken anzutreffen. Dieses, sowie die Bedürfnisse, die darin regressiv befriedigt werden, stellen aber für Menschen, die noch im Arbeitsprozeß stehen, eine gefährliche Versuchung und eine existenzvernichtende Bedrohung dar. Sie müssen also unterdrückt werden. Durch ihre allgemeine Tabuisierung fällt dies leichter als durch einen stummen inneren Kampf, den jeder mit sich selbst auszufechten hätte. Zudem gewährt die aktive Durchsetzung des Verbots durch Vergegenwärtigung und Verfolgung der einen selbst bedrohenden Bedürfnisse bei anderen auch eine zwiefache, durchaus lustvolle Gratifikation. Aus dem Bereich der Tabuisierung und projektiven Verfolgung sexueller Bedürfnisse sind solche Mechanismen gut bekannt. Sie führen zu Charakterprägungen, die ich als normopathisch bezeichnet habe. Normopathen sind Menschen, die Verwahrlosungen bis in ihr entferntestes Vorfeld aufspüren und durch unbedingten Gehorsam gegen kodifizierte Regeln zu unterdrücken suchen: die geborenen Kontrolleure und Revisoren bis in den intimsten Lebensbereich hinein. Diese »normopathische« Projektion gerät im Kopf der von ihr Verfolgten zu einer die Realität zuspitzenden Schreckensvision, die z. B. in Orwells 1984 ihren Ausdruck findet — wie ihr Gegenteil, das man als soziopathische Angstprojektion bezeichnen kann, im Kopf der Normopathen, ja aller, die ihre Identität in Ordnung, Bindung und Stetigkeit wiederfinden, zu einem Schreckbild von Verwahrlosung, ja von Verbrechen gerät. Im Ergebnis dialogisieren schließlich zwei Phantasmen miteinander, das normopathische mit dem soziopathischen der Zerspielung, der Verwahrlosung, wobei das eine sich als das einzige Heilmittel gegen das andere anbietet. Dabei kommt es zur gegenseitigen Verschärfung und Totalisierung. Jedes Phantasiebild nimmt die Züge des absoluten Gegenteils des anderen an. Hinsichtlich dieser beiden sich radikal widersprechenden Phantasiebilder entsteht das Bedürfnis nach Aufhebung des in ihnen verkörperten Widerspruchs in einer regressiven Koinzidenz. Diese komplizierte Verflechtung einander bedingender psychischer Prozesse in einen Bewegungszusammenhang, den ich »semantische Dynamik« nenne, entsteht nicht aus sich selbst heraus, sondern wird von einer Wirklichkeit angestoßen und aufrechterhalten, die den Menschen eine tätige Beteiligung weitgehend vorenthält. Unter solchen Umständen laufen die dialektischen Prozesse des Denkens lediglich in Form einer zunehmenden Radikalisierung von Thesen und Antithesen und nach Abschluß dieses Prozesses offenbar dann in umgekehrter Richtung: es kommt zu regressiven koinzidentiellen Verdichtungen von These und Antithese auf immer niedrigeren Ebenen. In verschiedenen Formen, in der Verwahrlosung, in der Delinquenz wie in der normopathischen Repression werden die antagonistisch scheinenden Phantasmen selber handlungsrelevant, wirken sie auf die Wirklichkeit zurück und verändern sie — zumeist destruktiv. Unter den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Faschismus werden sie in unterschiedlicher Art in einer charakteristisch regressiven Koinzidenz zusammengebracht, als welche sie sich innerhalb rechtloser Enklaven (KZs sind ein Extremfall) gleichzeitig oder alternierend als ästhetisierende Zerspielung der Wirklichkeit wie auch als normopathischer Terror ausleben können. Ich gebe nicht vor, hier handele es sich um die eigentlichen Ursachen des Faschismus, obwohl man sich fragen kann, ob es sinnvoll ist, für ihn überhaupt erste Ursachen, statt Strukturen, Artikulations- und Desartikulationsformen, Muster der Wirklichkeit und des Denkens ausmachen zu wollen. Wenn ich mich in einer mehr marxistischen Denkweise ausdrücken will, so wäre die von mir herausgearbeiteten Komponenten eher unter die ideologischen Mächte einzureihen, die sich unter Zuhilfenahme psychischer Mechanismen bei den einzelnen Geltung verschaffen und damit zu einem bewegenden Moment im dialektischen Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung werden: im Kopf der Menschen, die auch damit ein Stück weit ihre eigene »Geschichte« machen.
Schließlich habe ich die politische Nutzung von radikalisierten    Wunsch- und Horrorphantasien zu skizzieren gesucht. Dabei zeigte sich im »Westen« folgende Artikulationsform von psychischen Voraussetzungen (»Structures d'accueil«) und den Subjekt-Effekten ideologischer Anrufungen: Die Verdrängung bzw. die Verleugnung des Mangels an realitätsbezogenen gesellschaftlichen Verwirklichungsmöglichkeiten für Spontaneität, Kreativität, Autonomie und Individualität sowie der Bedingungen dieses Mangels führt dazu, daß diese Bedürfnisse als identitätsstiftende Illusionen wirksam werden, die gegenüber realen oder vermeintlichen Versuchen totaler Kontrolle als »persönliche und individuelle« Freiheit erbittert verteidigt werden. Gleichzeitig werden diese Bedürfnisse aber in der eigenen Gesellschaft projektiv an Menschen verfolgt, die sie, wenn auch nur regressiv, zu verwirklichen suchen (als Verwahrlosung, Verrücktheit, Rausch, Delinquenz etc.), oder aber dort, wo sich aus dürftigen tatsächlichen Anknüpfungspunkten ein derartiger Eindruck speist. Die ideologischen Anrufungen zu dieser Verfolgung können an frustrierten Bedürfnissen nach Geborgenheit und Eingebundensein in natürlichen Ordnungen anknüpfen. Die politischen Propagandisten versuchen also, die totale Kontrolle vorwiegend auf den äußeren Feind, Verwahrlosung, Asozialität, Delinquenz, Verrücktheit hingegen vorwiegend auf den inneren Feind zu projizieren. Dasjenige aber, was für einen selbst (solange es abstrakt bleibt) eine identitätsstiftende Illusion abgeben kann (diejenige von Spontaneität, Autonomie, »Freiheit« oder diejenige von Ordnung und Bindung) muß an anderen — dem inneren oder äußeren Feind —, falls es sich zu verwirklichen sucht, als gefahrenbringend und zerstörerisch verfolgt werden. Eine solche Propaganda hat auch Erfolge, weil die Befriedigung solcher Bedürfnisse in der Wirklichkeit einem die vitale Lebensgrundlage (Arbeitsplatz, Lebensunterhalt) zu entziehen droht und weil der Kampf gegen den »inneren« Feind — wie derjenige gegen den »äußeren« — die Selbstidentifikation mit frustrierten Bedürfnissen, demjenigen nach Einbehaltensein in »natürlichen Ordnungen«, bzw. demjenigen nach Spontaneität und Autonomie erlaubt.
Es gibt, meine ich, nur den einen Weg, aus diesen selbstzerstörerischen Widersprüchlichkeiten herauszukommen: sich gemeinsam die individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß zu erkämpfen und von dieser Teilhabe getragen einer Wirklichkeit ins Auge zu sehen, die durch Vielfalt (eine verwirrende Vielfalt vielleicht) und nicht nur durch gegenseitig sich polarisierende und zuspitzende begriffliche Gegensatzpaare im eigenen Kopf gekennzeichnet ist. Dies kann vielleicht dazu beitragen, die phantasmatische Pseudowirklichkeit der semantischen Dynamik, die diese Gegensätze als ihr ideologisches Gerüst aufrechterhält, ein Stück weit zu entmachten.

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