Volkskultur in den befreiten Gebieten

Geschichte wird vom Volk gemacht.
Aber auf der Bühne der alten Oper (und
in der gesamten alten, vom Volk losgelösten
Literatur und Kunst) wird das Volk
als Abschaum hingestellt. Die Bühne
wird von den vornehmen Herren und
Damen und deren verzärtelten Söhnen
und Töchtern beherrscht. Nun haben Sie
die auf den Kopf gestellte Geschichte wieder
auf die Füße gestellt und die historische Wahrheit
wieder hergestellt.
Somit ist die alte Oper zu neuem Leben erweckt worden.
Mao Tse-tung, nach dem Besuch einer Aufführung von
»Gezwungen, sich den Rebellen auf dem Liang-Berg anzuschließen«,
Jenan 1944

Welchen Eindruck hat Tschiang Tsching in Jenan auf andere gemacht? Es gibt wohl kaum einen Chinesen, der es, ohne zu einem offiziellen Porträt ermächtigt zu sein, wagen würde, seine Meinung über die Frau des Vorsitzenden zu veröffentlichen; soviel bekannt ist, hat Mao aber nie jemanden dazu autorisiert. Erst nachdem Tschiang Tsching in der Kulturrevolution an die Macht gelangt war, veröffentlichten bestimmte Fraktionen der Roten Garden einige kurze schmeichelhafte Darstellungen ihrer politischen Laufbahn. Zuverlässige Hinweise auf Tschiang Tsching finden sich meist nur in den Berichten ausländischer Besucher, und diese Besuche begannen in Jenan. Dabei handelte es sich meist um Journalisten oder Diplomaten, und natürlich waren alle darauf erpicht, mit dem Mann an der Spitze zu sprechen. In mehreren Berichten wird seine Frau, die am Rande der politischen Szene ein recht angenehmes Leben zu führen schien, flüchtig erwähnt. Niemand ahnte, daß diese hübsche Frau von Mitte Zwanzig sich einmal zu der überragenden politischen Persönlichkeit entwickeln würde, die sie später war.

          

Jeder Besucher aus dem Ausland sah in ihr ein Spiegelbild seiner eigenen Kultur. Snows Berichte aus dem Nordwesten deuten darauf hin, daß Mao seine Frau den Besuchern nie aufgedrängt hat. Daher behandelt Snow Ho Tze-tschen und Tschiang Tsching nur kurz. Und Tschiang Tsching sah in Snow im Nachhinein eine verpaßte Gelegenheit. Später stellt er ihr Leben jedoch in den biographischen Anmerkungen der 1968 revidierten Ausgabe von »Roter Stern über China« dar. Einige Behauptungen aus ungenannten Quellen stehen allerdings im Widerspruch zu ihrem eigenen Bericht. Snow lernte Tschiang Tsching flüchtig in Jenan kennen - anscheinend kurz nach ihrer Heirat mit Mao. Der Amerikaner sah in ihr nur eine attraktive junge Frau, die »eine gute Bridgespielerin und eine ausgezeichnete Köchin« war.[1]
Ein etwas lebendigeres Bild von ihr zeichnete der sowjetische Regisseur Roman Karmen, der dreimal den Stalinpreis erhalten hat. 1938 schickte ihn Stalin nach China. Dort sollte er einen Filmbericht über die Revolution und den Widerstandskrieg machen. Nachdem er mehrere Monate das von der KMT beherrschte Gebiet durchstreift hatte, traf Karmen Mitte Mai 1939 in Jenan ein. Dort verbrachte er mehrere Monate und filmte revolutionäre Aktivitäten, vor allem in der Lu-Hsün-Akademie.[2]Zum ersten Mal begegnete er Tschiang Tsching am 25. Mai, als er gerade auf dem Weg zu Mao war, um mit ihm zu sprechen. Zweifellos fiel sie dem Auge des Künstlers auf. In ihrem eigenen Interview bezeichnete sie Karmen als »Stalins Photographen« und sprach sehr herzlich von ihm. Er nahm sie in vielen Posen auf, aber am besten gefiel sie ihm zu Pferde. Sein Photo erinnert uns daran, daß Reiten für eine Chinesin etwas Ungewöhnliches war (obgleich Tschiang Tsching dies nicht erwähnte) und wie wenig Pferde es im Nordwesten gab. (Als Tschiang Tsching mir das Photo gab, bemerkte sie, daß Karmen es ihr 1939 mit einigen anderen nach Jenan geschickt habe. Als sie für mich bei der Agentur Neues China eine Farbkopie anfertigen ließ, beschloß sie, eine andere Kopie der Großen Schwester Teng - Tschou En-Lais Frau - zu verehren.) Auf Karmens Photo ist sie abenteuerlich gekleidet und mit geflochtenem Haar zu sehen. Sie wirkt eher slawisch als chinesisch. Er schrieb:

  • Auf dem Weg zu Mao ritten wir quer durch die Stadt. Die neueröffnete Politische Frauenuniversität, die für mehrere tausend Mädchen und Frauen, die von überallher nach Jenan gekommen sind, errichtet worden ist, liegt oben auf einem Hügel, hinter der Lu-Hsün-Akademie und der Antijapanischen Universität. Wir mußten zweimal durch den Fluß.
    Nach der zweiten Durchquerung kam uns eine Reiterin entgegengaloppiert. Als sie mit uns auf gleicher Höhe war, brachte sie ihr Pferd mit einem Ruck zum Stehen und begrüßte uns freundlich. Sie war die Frau von Mao Tse-tung. Wie viele Tausende anderer junger chinesischer Männer und Frauen war sie vor ein paar Jahren in dieses Gebiet gekommen, um an der Politischen Universität zu studieren. Sie war früher in Schanghai eine berühmte Schauspielerin. Jetzt ist sie Kommunistin und leistet der Partei als Maos Privatsekretärin große und ehrenvolle Dienste. Sie führt seinen Terminkalender, schreibt seine Reden auf, vervielfältigt Artikel und kümmert sich um alles mögliche. Gerade ist sie von einer weiten Reise zurückgekehrt, die sie auf Maos Anweisung hin unternommen hatte. Selbstsicher sitzt sie auf dem Rücken des kleinen Pferdes, das unruhig tänzelt und am Zaumzeug zerrt. An ihrem Hinterkopf sind zwei geflochtene Zöpfe mit Bändern befestigt. Sie trägt den Mantel eines gefangenen japanischen Offiziers und an den bloßen Füßen Holzsandalen. »Ich werde Mao sagen, daß Sie auf dem Weg zu ihm sind«, sagt sie. Und dann reißt sie ihr Pferd herum und galoppiert davon. Sie winkt uns mit der Hand zu, beugt sich weit nach vorn und entfernt sich in einer Staubwolke.[3]

Von 1942 bis 1954 hielt sich ein anderer sowjetischer Journalist in Jenan auf, Pjotr Wladimirow. Sein umstrittenes Tagebuch wurde erst dreißig Jahre später veröffentlicht nachdem der chinesisch-sowjetische Haß bereits zum Himmel schrie und Tschiang Tsching offensichtlich schon an der Macht war.[4] 1942 beschrieb er sie als »eine zierliche, lebhafte Frau mit klugen, kastanienbraunen Augen, die neben ihrem Gatten ausgesprochen zerbrechlich wirkte ...« »Für Tschiang Tsching ist äußerste Zielstrebigkeit charakteristisch«, schrieb Waldimirow im selben Jahr. »Ihr Temperament unterwirft sie dem Verstand. Sie kennt kein Mitleid mit sich selbst und sorgt sich nur um ihre Karriere. Solange sie jung ist, strebt sie dem Ziel entgegen ...« Im darauffolgenden Februar stellte er fest, daß Tschiang Tsching nicht nur Maos Privatsekretärin war, sondern auch seine gesamte geheime Korrespondenz erledigte. Ihr enger Freund und Vertrauter war Kang Scheng, der ihre Ehe sehr begrüßte, da sie ihm Zugang zum Vorsitzenden verschaffte. Von Mao sagte Wadimirow, daß er keine westlichen Klassiker gelesen habe und alles, was nicht chinesisch war, verachte. Er kenne nur altertümliche Enzyklopädien, klassische philosophische Abhandlungen und ältere Romane. Seiner Meinung nach war Tschiang Tsching viel belesener, vor allem in ausländischer Literatur. Geschickt und unauffällig half sie ihrem Mann, die verschiedensten Probleme zu lösen, die mit ihrem häuslichen Leben nichts zu tun hatten. »Sie ist neugierig und machthungrig, versteht das aber geschickt zu verbergen. Ihre eigenen Interessen stellt sie über alle anderen.«
Als der Korrespondent der »New York Times«, Tillman Durdin, 1944 Tschiang Tsching kennenlernte, stellte er, wie andere auch, fest, wie sehr sie im Schatten der älteren Frauen stand, vor allem der prominentesten unter ihnen. Dies waren Tsai Tschang (die Frau von Li Fu-tschun), Kang Kotsching (die Frau von Tschu Te) und Teng Ying-tschao (die Frau von Tschou En-Iai). Sie hatten nicht nur einen höheren Rang in der Parteihierarchie, sondern auch ein viel besseres Verhältnis zu den Massen, eine Tatsache, deren Tschiang Tsching sich schmerzhaft bewußt war. Durdin sah in ihr eine klassische chinesische Schönheit - »als sei ein chinesisches Gemälde zum Leben erwacht«. Sie trug die gleiche Kleidung wie das gewöhnliche Volk. Allerdings unterschied sie sich deutlich in der Qualität des Stoffes und im Zuschnitt. Ihre Haare trug sie im Sowjetstil - das war bei den weiblichen Revolutionären im Nordwesten große Mode und stand ihr gut. (Die meisten Frauen bevorzugten dreißig Jahre später noch immer den gleichen Haarschnitt.) Damals rauchte sie in Gesellschaft von Ausländern und liebte arnerikanische Tanzmusik. Ein Amerikaner, der einmal mit ihr tanzte, fand ihr Englisch »gar nicht so unmöglich«.
Nach ihrer Heirat mit Mao bekam sie Tuberkulose. Davon hatte sie sich 1944 noch immer nicht ganz erholt. Aber ihr schlechter Gesundheitszustand konnte sie nicht davon abhalten, ihren Schauspielunterricht an der Lu-Hsün Akademie fortzusetzen. Außerdem inszenierte sie ein Repertoire von Propagandastücken, die zum Widerstand gegen die Japaner aufforderten.[5]
Ein anderer aufmerksamer amerikanischer Journalist, Harrison Forman, lernte Mao und Tschiang Tsching 1944 kennen. Seine Bemerkungen über Tschiang Tschings Lebensgeschichte, die wahrscheinlich auf dieses Treffen zurückgehen, stimmen mit ihrem eigenen Bericht von 1972 überein. Er schrieb:

  • Mao erwartete mich am Eingang des kleinen umzäunten Grundstücks vor einer Reihe von etwa einem halben Dutzend gewöhnlicher Höhlen, die er mit seiner Familie und seinen engsten Mitarbeitern bewohnte.
    Er war in Begleitung seiner anmutigen jungen Frau, der früheren Lan Ping, einer bekannten Schanghaier Schauspielerin, die außerordentlich intelligent ist und seit 1933 der Kommunistischen Partei angehört. 1937 gab sie ihre Filmkarriere auf und ging nach Jenan, um an der Lu-Hsün-Kunstakademie zu arbeiten. Maos Interesse am Theater brachte sie einander näher; sie heirateten in aller Stille im Frühjahr 1939. Beide trugen einfache Kleidung - sie ein pyjamaartiges Gewand, das um ihre schlanke Taille mit einem Gürtel zusammengehalten wurde, und er einen Anzug aus grobem, handgesponnenem Tuch mit weiten Hochwasserhosen. Ich wurde in den »Salon« geführt eine Höhle mit einfachem Backsteinboden, weiß getünchten Wänden und stabilen, fast klobigen Mobeln. Es war Abend, und die einzige Lichtquelle bestand aus einer Kerze, die auf einer umgedrehten Tasse stand. Als Erfrischung erhielt ich schwachen Tee und Kuchen mit landesüblichen Süßigkeiten, sowie Zigaretten. Während unserer ganzen Unterhaltung liefen kleine Jungen hinein und heraus. Sie stellten sich hin und starrten mich an. Dann grapschten sie blitzschnell nach etwas, das auf dem Tisch lag, und flitzten davon. Mao beachtete sie gar nicht.[6]

David D. Barrett und John S. Service, Mitglieder der amerikanischen Beobachtergruppe (Dixie Mission), die sich 1944 und 1945 in Jenan aufhielt, sahen in Tschiang Tsching ebenfalls die attraktive Ehefrau. Colonel Barrett erinnert sich daran, daß Mao sie ihm anläßlich einer Militär-Veranstaltung vorstellte - »Colonel Barrett, das ist Tschiang Tsching«. Er hatte erwartet, vor einer Schwindsüchtigen zu stehen, und war erstaunt darüber, daß sie so gesund aussah. Sie begrüßte ihn freundlich - »ihre Umgangsformen hatten die Anmut und Geschliffenheit einer Schauspielerin. Sie sprach ein ausgezeichnetes kuo-yü (Mandarin), wie fast alle chinesischen Schauspielerinnen. Ich erinnere mich, daß sie viel besser und auch viel eleganter aussah als die meisten Frauen kommunistischer Führer.«[7]
Service bestätigte den allgemeinen Eindruck, daß Teng Ying-tschao und Kang Ko-tsching viel mehr an die Öffentlichkeit traten als Tschiang Tsching. Gelegentlich besuchte Tschiang Tsching die Tanzabende am Samstag, aber bedeutendere Funktionen übernahm sie nicht. Bei offiziellen Essen für die amerikanische Beobachtergruppe oder bei späteren Besuchen in Jenan repräsentierte sie nicht. An einem Abend im August 1944 hatte Service einmal ein Essen mit Mao, Tschiang Tsching und deren Dolmetscher. Mao führte und beherrschte die Unterhaltung; Tschiang Tsching beteiligte sich so gut wie gar nicht daran. »Sie war relativ jung (für die Gesellschaft von Jenan, deren Mitglieder zum überwiegenden Teil älter waren) und ziemlich hübsch (aber keine Schönheit)«, erinnert sich Service. Während seines ganzen Aufenthalts kam ihm kein einziges Mal das Gerücht zu Ohren, daß Ho Tzetschen den Verstand verloren und Tschiang Tsching ihre Ehe mit Mao auseinandergebracht haben soll. Unter den Chinesen in Jenan (und vielleicht auch andernorts) wurden Ehegeschichten als Privatsache betrachtet und nicht öffentlich diskutiert.[8]
Robert Payne stattete Mao 1945 einen Besuch ab - Mao war damals zweiundfünfzig - und schrieb später: »Seine Frau kam herein. Sie trug schwarze Hosen und einen Pullover und begrüßte mich mit >Nin hao?(im klassischen Pekinger Dialekt. Und plötzlich stellte man fest, daß ihr schmales langes Gesicht viel schöner und ausdrucksvoller war als das Gesicht der erheblich berühmteren Madame Tschiang Kai-schek. Sie brachte den Duft der Blumen herein, die sie im Hochland gepflückt hatte.«[9]
Soviel zu dem Eindruck, den sie als Ehefrau vermittelte. In Tschiang Tschings eigenen Erinnerungen an jene Zeit werden die ständigen Demütigungen, die sie hinzunehmen hatte, von ihrem Streben nach Gleichberechtigung mit Mao überdeckt. Wie Tschiang Tsching sich und Mao rückblickend in jenen Tagen gern sehen möchte, wird in den Aufnahmen aus der Zeit in Jenan deutlich. Dort strafen Schönheit und Unschuld die späteren Ereignisse Lügen: ihren Aufstieg zur Macht über das materielle und kulturelle Leben einer Milliarde Chinesen in den nächsten dreißig Jahren. Auf diesen Bildern machen Mao und Tschiang Tsching auch den Eindruck von zwei Menschen, die sich ebenbürtig sind.
In den Augen ausländischer Besucher in Jenan in der Mitte der vierziger Jahre war Mao Tsetung die herausragende vitale Figur in einer Galerie revolutionärer Persönlichkeiten, ein Mann, den Edgar Snow 1938 der Weit mit seinem Buch »Roter Stern über China« vorgestellt hatte. Seine Berichte (und die anderer) von der Natürlichkeit, dem Idealismus und Enthusiasmus dieser Gruppe selbsternannter Revolutionäre nahmen dem abstrakten Marxismus etwas von seiner frostigen Kälte und verringerten die Furcht vor der strengen kommunistischen Praxis.

1947 vertrieb die KMT die Roten Streitkräfte aus ihren Stützpunkten und legte Jenan mit ihren Bomben in Schutt und Asche. Zu Anfang der fünfziger Jahre, nachdem sich das kommunistische Regime etabliert hatte, wurde Jenan als Gedenkstätte der Partei neu errichtet. In den Museen wurden die Relikte des Langen Marsches zur Macht zur Besichtigung freigegeben. Aber vor allem diente der Wiederaufbau Jenans dem Personenkult eines Mannes: Mao Tse-tungs.
Bevor ich Tschiang Tsching traf, stattete ich Jenan Anfang August 1972 einen viertägigen Besuch ab, um mit eigenen Augen zu sehen, in welchem Ausmaß die Vergangenheit heraufbeschworen worden war. Wie Millionen Chinesen und einige wenige Ausländer vor mir wurde ich von Mitgliedern der Roten Garden, die sich als Stadtführer betätigten, durch sämtliche Ausstellungen geschleust. Es waren schmucklose Gebäude in einem kargen Gebiet. Nachdem ich viele Jahre damit verbracht hatte, mir alles über die Männer der Pionierzeit anzulesen, war ich über die Proportionen erschüttert. Riesige Bilder von Mao Tse-tung erdrückten die geradezu zwergenhaft kleinen von Tschu Te, Tschou En-Iai, Lo Jui-tsching und anderen brillanten Strategen. Weniger überrascht war ich davon, daß die Gesichter von Männern wie Liu Schao-tschi und Lin Piao, die einmal als Maos Nachfolger bezeichnet, später aber in Schande verstoßen worden waren, überall sorgfältig entfernt worden waren. Einmal ist Tschiang Tsching hinter dem Vorsitzenden zu sehen - so verschwommen, daß die meisten Besucher sie bestimmt für einen jungen Soldaten halten. Mao überragt auf seinem berühmten weißen Pferd alles andere.
Von dem weißgeschrubbten Museum aus wurde ich durch die gleißende Sonne und den roten Staub der Straßen zu den Höhlen gefahren, in denen Mao gewohnt hatte. In diesen einfachen Behausungen, die als Kultstätte sicherlich urtümlicher wirken als damals, wurde Mao Tsetung als rein intellektuelle Gestalt präsentiert. In Jenan, als Mao schon länger als ein Jahrzehnt die Rote Armee und die Kommunistische Partei führte, war er von allen militärischen Aufgaben weitgehend befreit. Er widmete sich der theoretischen Analyse seiner unmittelbaren Vergangenheit. Die Mitglieder der Roten Garden werteten jetzt die Bedeutung ihres Vorsitzenden nach der Zahl der Essays, die er geschrieben hat. Aus ihren eingeübten Standardsätzen ging hervor, daß von den einhundertfünfzig Essays, die in den »Ausgewählten Werken« des Vorsitzenden enthalten sind, einhundertzwölf während seines dreizehnjährigen Aufenthalts im Nordwesten verfaßt worden sind, davon allein zweiundneunzig in den Höhlen von Jenan.
In den Höhlen in Yang-tschia-ping tritt eine bescheidenere Seite seines Wesens - die dem Volk ebenfalls zur Nachahmung anempfohlen wird - in den Vordergrund. Man zeigte mir am Fuß des Berges den Siegesgarten, in dem er nach den vielen Stunden oder gar Tagen des Schreibens gern zu arbeiten pflegte. Er zog sein eigenes Gemüse und auch Tabak und blieb so in engem Kontakt mit der Heimaterde. Sein kleiner Garten wird noch immer bewirtschaftet. Wir aßen die vorzüglichen, in der Sonne gereiften Tomaten. Alle Höhlen waren nach dem gleichen architektonischen Prinzip angelegt: ein Raum diente zum Schlafen und zum Baden, ein zweiter diente zum Schreiben und Essen, und im dritten Raum (der sich nur in Maos Höhle befand) wurden die Gäste empfangen und die Sitzungen des Zentralkomitees abgehalten. In dem Raum, in dem Mao gearbeitet hatte, wurde man auf den kahlen Holztisch und den Pinsel und die Tinte aufmerksam gemacht, die um den leeren Platz, an dem einst seine Manuskripte gelegen hatten, arrangiert waren. Auf der einen Seite stand auch ein gebrauchter Blechbecher (nicht der ursprüngliche). Wenn es dem Vorsitzenden die Zeit erlaubte, schrieb er ganze Nächte lang, ohne zu schlafen und ohne zu essen.[10] Diese offizielle Version - in einer anderen Kultur hätte man Mao als Philosophen-König verehrt - wiederholten alle Stadtführer von Jenan immer wieder aufs neue.
In den Gesprächen mit meinen Führern hatte ich eine ganze Menge über die intellektuellen Leistungen des Vorsitzenden erfahren.
Aber was war eigentlich mit seiner Frau? War er nicht mit Genossin Tschiang Tsching verheiratet gewesen? Wie verbrachte sie ihre Zeit, während der Vorsitzende mit der Durchführung der Revolution beschäftigt war? Bestimmt waren seine Kinder nicht in dem kleinen eingegrenzten Grundstück herumgelaufen. Wo waren sie jetzt?
Bei diesen einfachen Fragen, die ein chinesischer Pilger wahrscheinlich kaum gestellt hätte, zuckten sie zusammen, lächelten und schüttelten den Kopf. (Zweifellos hatten die jungen Leute wirklich keine Ahnung.) Aber was sie mir zu verstehen gaben, war deutlich genug. In der offiziellen Geschichte, der einzigen, die in China gültig ist, tauchte der Vorsitzende Mao nicht als Ehemann oder Familienvater auf. Und Tschiang Tschings Rolle als Ehefrau oder Politikerin war einfach kein Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Tschiang Tschings Darstellung der Jahre in Jenan war fragmentarisch und emotionsgeladen. Danach war Mao Tse-tung launenhaft, ängstlich, ironisch, idealistisch und erfinderisch. Es stimmte, daß er die Gewohnheit hatte, sich lange Zeit zurückzuziehen und über theoretischen Konzepten zu brüten oder sich unter das Volk zu mischen. Und immer und überall war er von seinem Erzrivalen und ihrem gemeinsamen Feind bedroht: Wang Ming. Denn Ende der dreißiger Jahre kämpften Wang Ming und Mao noch immer, jeder nach seiner »Linie«, um die Gunst des Revolutions-Patriarchen Stalin. Wie Brüder weitteiferten sie miteinander, um sich durch ihre Zuverlässigkeit und Klugheit als revolutionäre Führer zu empfehlen.
Für Tschiang Tsching stellte Wang Ming eine andere Gefahr dar. Als sie in Schanghai gelebt hatte, war er zwar nicht in China gewesen, doch er hatte von seinem Büro in Moskau aus die Untergrundorganisation der Partei geleitet und war allwissend und mächtig gewesen. Um als Kommunistin akzeptiert zu werden, war ihr nichts anderes übriggeblieben, als seiner Politik zu folgen, die später als rechtsopportunistische Linie denunziert wurde. Außerdem war sie von den Männern, welche die tägliche Arbeit des Schanghaier Netzes kontrolliert hatten - unter ihnen Tschou Yang und Tschang Keng - unterdrückt worden. Auch später, in Jenan und in Peking, verwehrten sie ihr den Zugang zu den Massen.
Sie lernte Wang Ming erst kennen, als sie nach Jenan kam und ihren eigenen politischen Coup landete, indem sie Mao heiratete. Schon damals war abzusehen, daß jeder der beiden Männer seinen eigenen Weg zur Revolution ging. Wang Ming ging den russischen Weg. Er orientierte sich an den großen Städten und war vorübergehend auf die Unterstützung der Konkurrenzpartei und der Bourgeoisie angewiesen. Mao ging den chinesischen Weg. Er wollte zuerst die Bauern mobilisieren und die Großgrundbesitzer entmachten und danach die Städte einnehmen. Beobachtete Stalin, was geschah? Konnte er es überhaupt sehen? War nicht Maos Einladung an Stalins Hausphotographen Karmen, einen exklusiven Filmbericht über die Revolution auf dem Lande zu drehen, ein Beweis für sein Bemühen, Stalins Gunst zu gewinnen? Galoppierte nicht seine agile Frau auf ansehnlichen Filmmetern durch den roten Staub?
Um die ideologischen Differenzen zwischen Wang Ming und dem Vorsitzenden verständlich zu machen, stellte Tschiang Tsching einige Charaktermerkmale der beiden Kontrahenten gegenüber (im Sinne von Schwarz und Weiß). Dies muß hier nicht alles wiederholt werden, denn die Wahrheit liegt sicher in der Mitte. Nach ihrer Ansicht zeigte sich im Hinblick auf die Bodenreform und die Einheitsfrontpolitik der größte Gegensatz. Noch während seines Aufenthalts im Zentralen Sowjetgebiet begann der zukünftige Vorsitzende, Pläne für eine Bodenreform zu entwickeln. Am 23. Januar 1934 schrieb er einen Artikel, in dem er darlegte, wie wichtig es für die Bauern sei, im Interesse einer Produktionssteigerung in der Landwirtschaft Projekte zur Urbarmachung des Bodens durchzuführen. Im Sommer und Herbst 1934 setzte er sich mit dem Problem der Neuorganisierung der menschlichen Arbeitskraft auseinander und schlug als Lösung die Gruppen der gegenseitigen Arbeitshilfe vor.
Sie behauptete (dokumentarische Beweise gibt es dafür nicht), daß Wang Ming, bevor er von Moskau zurückgekehrt sei, bei der Komintern einen formalen Protest gegen die Agrarpolitik Maos eingereicht habe. Dann ließ der Widerstandskrieg die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen erst einmal in den Hintergrund treten, und Wang Ming setzte sich mit allem Nachdruck für eine Einheitsfront mit der KMT unter Hintanstellung des Klassenkampfes ein. (Sie erwähnte nicht, daß Wang Ming auch die proletarischen Aufstände in den Städten, beispielsweise in Wuhan, eingeleitet hatte.) Im Oktober 1935 beendete die Rote Armee den Langen Marsch. Wie triumphal dies für die Streitmacht des Vorsitzenden Mao auch immer gewesen sein mag die Auseinandersetzungen in den Reihen der Parteiführer waren damit nicht beigelegt. Auf der Konferenz der Parteiführung, die am 25. Dezember 1935 in Wai-yao-pao stattfand, wurden Wang Mings Ansichten, die er im Sommer dem VII. Kongreß der Komintern vorgelegt hatte, aus Moskau übermittelt. Mit Unterstützung Moskaus widersprach er dem Vorsitzenden Mao in allen wichtigen Punkten. Tschiang Tschings Miene verdüsterte sich, als sie von dieser Auseinandersetzung berichtete.
Aber noch bedeutsamer als dieser Streit war für sie ihre persönliche Feindschaft mit Wang Ming und dessen lästige Gegenwart im Kreis der führenden Genossen. Wang Ming habe schon Jahre zuvor das Vertrauen aller verloren, versicherte sie. Aber solange es möglich war, zeigte sich der Vorsitzende großzügig, und er sprang ihm in heiklen Situationen bei. Zum Beispiel fand sich beim VII. Parteitag von 1945, der in der Nähe ihres Hauses in Yang-tschiaping abgehalten wurde, kein einziger Delegierter dazu bereit, Wang Ming ins Zentralkomitee zu wählen. Erst als der Vorsitzende dafür plädierte, wurde er gewählt.[11] Doch als 1969 der IX. Parteitag (auf dem Tschiang Tsching in das Politbüro aufgenommen wurde und in die Politik einzugreifen begann) abgehalten wurde, lagen unwiderlegbare Beweise dafür vor, daß Wang Ming ein »Renegat« und »Verräter« war (ein Abtrünniger der Partei und folglich auch der Nation). Er hatte nicht nur keine Chance, wieder ins Zentralkomitee gewählt zu werden - er wurde sogar aus der Partei ausgestoßen. Er flüchtete in die Sowjetunion, wo er in seiner Jugend so viele Jahre verbracht hatte. Wang Ming sei jetzt ein alter Mann, sagte sie (er starb im März 1974), der eigensinnig an seinen alten Ideen festhalte. Seit er in Moskau sei, schreibe er jeden zweiten oder dritten Tag an die Redakteure von Zeitungen, um das Regime zu verunglimpfen. Aber sie beachteten ihn einfach nicht. Eigentlich, meinte sie, sei Wang Ming gar kein richtiger Chinese. So gesehen, war Anna Louise Strong, obwohl sie Amerikanerin war, chinesischer als Wang Ming.[12]

Im Zusammenhang mit der Bodenreform, von der Tschiang Tsching im Nordwesten einen ersten Eindruck gewonnen hatte, erwähnte sie einen Artikel, den der Vorsitzende am 1. Oktober 1943 verfaßt hatte und dem er den Titel gab: »Die Bewegungen zur Pachtherabsetzung, zur Produktionssteigerung und zur Unterstützung der Regierung und Sorge für das Volk in den Stützpunktgebieten entfalten«. Darin führte er die Gedanken aus, die er bereits im Januar 1934 entwickelt hatte, insbesondere die Idee, Gruppen der gegenseitigen Arbeitshilfe zu bilden (Arbeitsalistauschbrigaden, wie sie in Nord-Schensi genannt wurden). Diese Gruppen sollten sich zu Kooperativen entwickeln und den Interessen der lokalen Bevölkerung dienen. Dabei sollte die Familie die Grundeinheit bilden. Ein solcher Austausch von Arbeitsleistungen sowie der Einsatz von Teilzeit- und Ganztagsarbeitern war im Krieg unumgänglich, wenn die landwirtschaftliche Produktion und die militärische aufrechterhalten werden sollten.
Die wirtschaftliche Lage in der Mitte der vierziger Jahre entsprach im allgemeinen der neudemokratischen Wirtschaft. Die Genossenschaften waren als Arbeitsaustauschbrigaden oder als Arbeitsgemeinschaften organisiert, wobei letztere eine Variante der Arbeitsaustauschbrigaden darstellten. Alle diese Organisationen erlaubten Ganztagsarbeit und Teilzeitarbeit, und womöglich hatten sie gemeinsame Einrichtungen zum Wohnen, Arbeiten und Essen. Sie sollten sich aus Freiwilligen zusammensetzen. Neben den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden auch andere Formen der Kollektivierung gefördert, zum Beispiel Mehrzweckgenossenschaften, in denen die Funktion von Produktions-, Konsum- und Transportgenossenschaften vereinigt waren. Ihnen folgten Kreditgenossenschaften, Transportgenossenschaften und schließlich handwerkliche Produktionsgenossenschaften.
Damit ich die Zeit in den Jahren zwischen 1940 und 1950 richtig verstehen könnte, empfahl Tschiang Tsching die Lektüre folgender Aufsätze des Vorsitzenden: »Über die Neue Demokratie« (Januar 1940), »Organisieren!« (November 1943) und »Über die Koalitionsregierung« (April 1945).[13] In ihnen wollte er zeigen, daß er der Einheitsfront den höchsten Vorrang einräumte, solange in ihr die Unabhängigkeit und die Initiativkraft der Kommunistischen Partei gesichert waren. Tschiang Tsching hob auch hervor, daß die mit der Einheitsfront auftauchenden Probleme in allen Bereichen den Kampf zweier Linien (der Vorsitzende versus Wang Ming) deutlich werden ließen nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen, militärischen und kulturellen Bereich.

Wenn jemand aus der Gesprächsrunde zu gähnen begann oder Mühe hatte, nicht einzuschlafen, lebte Tschiang Tsching auf. Sie erhob sich aus ihrem breiten Korbsessel und ging hinüber zu dem Billardtisch, der auf einer Seite des Raums aufgestellt war. Sofort folgten ihr zwei Leibwächter mit Billardstöcken. Sie bekomme geschwollene Füße, wenn sie keine Bewegung habe, erklärte sie, während sie ihren Billardstock ergriff, sich aus der Hüfte heraus weit nach vorn beugte und so die Tischplatte überblickte. Eine Weile war nur das scharfe Klicken der Bälle zu hören, unterbrochen von kleinen spitzen Freudenschreien, wenn sie vor ihren Spielpartnern in Führung ging. Im weiteren Verlauf des Spiels griff sie wieder ihr Thema auf und sprach sprunghaft über die wirtschaftlichen Probleme des Nordwestens. Schon immer habe ein Kampf zwischen privater Wirtschaft einerseits und organisierter Wirtschaft andererseits stattgefunden. Ohne Organisation könne man nichts zustandebringen. Und die Organisation müsse alles mit einschließen: die Tiere, die Saat und die Arbeitskraft.

Aus einer historischen Perspektive läßt sich erkennen, daß die Große Proletarische Kulturrevolution ein Vierteljahrhundert später nicht solch grandiose Ausmaße angenommen hätte, wenn die Regeln für das proletarische Kunstschaffen, die Mao Tse-tung in einem baufälligen Hörsaal in Jenan formuliert hatte, strikt beachtet worden wären (falls dies überhaupt möglich gewesen wäre). Das gilt vor allem für den sogenannten Überbau: Erziehung, Literatur und Kunst.

Die Schwierigkeiten beim Aufbau einer rein proletarischen Kultur kennzeichneten von Anfang an eine Strukturschwäche der revolutionaren Ordnung. Obwohl Mao Tse-tung und Tschiang Tsching es niemals öffentlich zugegeben hätten, ist es Mao nicht gelungen, bedeutende Talente aus Bereichen, die ihm fremd waren, für sich zu gewinnen. Dies gilt vor allem für die Literatur und die darstellenden Künste. Der Konflikt zwischen totalitärer politischer Autorität und schöpferischer Unabhängigkeit läßt sich nicht beilegen - nirgends auf der Welt. Aber in der Rhetorik von Mao Tse-tungs Regime wurde dieser unüberbrückbare Gegensatz bagatellisiert. Auf diese Weise sollte der Beweis für den Kampf zweier Linien erbracht werden: der richtigen Linie Mao Tse-tungs und der falschen Linie des jeweiligen Widersachers. In den dreißiger und vierziger Jahren waren dies die Linien von Mao und Wang Ming; in den sechziger Jahren waren es die Maos und Liu Schao-tschis.
Die ständigen öffentlichen Versicherungen, zwischen dem Vorsitzenden Mao, der Partei und dem Volk herrsche volle Übereinstimmung, scheint jeden Zweifel beseitigt zu haben. Aber wenn das Schiff so ruhig lief, warum sollte dann Mao, »Unser Großer Steuermann«, seinen Kurs alle paar Monate oder Jahre immer wieder so ostentativ ändern? Um in Jenan die Oberhand zu behalten, mußte Mao seinen Genossen und den Massen demonstrieren, daß diejenigen, die mit ihm auf intellektueller Ebene nicht übereinstimmten, sich damit auch ihm persönlich gegenüber nicht loyal verhielten. Dissidenten wurden öffentlich angeprangert und als »Dogmatiker«, Rechtsopportunisten oder als Gefolgsleute Wang Mings beschimpft.[14] Allerdings war der Inhalt der Anschuldigung nicht immer klar. Zweifellos waren viele Dissidenten einfach nur marxistische Schriftsteller oder Künstler mit eigenen Ideen.
Um Begeisterung für Mao zu erwecken, wurden zu Beginn der vierziger Jahre in Sitzungen, die der ideologischen Umerziehung dienten, zermürbende Ermittlungen durchgeführt. Vielleicht war diese ideologische Umerziehung die tiefstgreifende und quälendste Erfahrung der gesamten Revolution. Sie war Maos Methode, schlecht informierte, skeptische oder abweichlerische Individuen - meist Intellektuelle von der Richtigkeit seiner Weltanschauung und seiner Politik zu überzeugen. Es genügte jetzt nicht mehr, der herrschenden Linie einfach nur beizupflichten oder gar ganz zu schweigen. Eine erfolgreiche ideologische Umerziehung mußte dadurch bewiesen werden, daß man sich öffentlich für Mao aussprach und andere Mitglieder der Gesellschaft dazugewann. Außenseitern, die diese Methode nicht guthießen, erschien die ideologische Umerziehung als »Gehirnwäsche«.
Maos Methode der ideologischen Umerziehung hat einen nationalen Hintergrund. Um dem Volk seine revolutionären Botschaften verständlich zu machen, benutzte er ihre Sprache, und so sprach er auch davon, »die Krankheit zu heilen, um den Patienten zu retten«. In der Behandlung des Geistes durch Umerziehung und psychologische Techniken unterschied sich Mao von Stalin, der wegen brutaler Gewaltakte und der »Liquidierung« von Dissidenten und anderen nutzlosen Personen berüchtigt war. Während Stalin die Tradition der Zaren fortsetzte, hat Maos Methode Vorbilder in der chinesischen Geschichte. Wie Konfuzius, dessen Lehre besagt, daß jeder zum Lernen fähig ist, so lehrte Mao, daß die politische Überzeugung, das »Bewußtsein«, umgeformt werden könne. Der Prozeß des Gesinnungswandels, in dem man sich auf Maos Seite und damit auf die Seite der Partei stellte, war der religiösen Bekehrung gar nicht so unähnlich: Man wird »überzeugt«, daß man einen Glauben, dem man ein Leben lang anhing, und anerzogene Verhaltensweisen preizugeben und andere anzunehmen habe - vor allem den Glauben an die Notwendigkeit eines unaufhörlichen proletarischen Klassenkampfes. Die psychologisch scharfsinnigen Aufsätze von Liu Schao-tschi (der berühmteste, 1939 veröffentlichte Aufsatz wurde unter dem Titel »Wie man ein guter Kommunist wird« bekannt) waren die Schlüssel für den Umerziehungsprozeß, der für die ununterbrochene Revolution für notwendig erachtet wurde.
Über die ideologische Umerziehung ist in China fast nichts veröffentlicht worden, weder von Journalisten noch von Romanschriftstellern oder Bühnenautoren. Und in den offiziellen Dokumentationen findet sich auch nichts Wesentliches zu diesem Thema.[15] Wahrscheinlich sind die Wunden aus der Zeit der Revolutionsgerichte zu frisch - oder noch offen -, so daß eine objektive Einschätzung dieser Dinge nicht gewährleistet wäre. Wahrscheinlich wäre es für einen Bühnenautor, der um den Preis seiner Gesundheit oder seines Lebens gezwungen wurde, im Namen der revolutionären Gerechtigkeit den Auftrag des Proletariats zu seinem eigenen zu machen, unzumutbar, die Dynamik der Zerstörung und Erneuerung einer Persönlichkeit darzustellen.
Von 1942 bis 1944 war die ideologische Umerziehung die Grundlage der Berichtigungskampagne, die in allen politischen, militärischen, erzieherischen und kulturellen Institutionen Jenans und des Grenzgebietes systematisch durchgeführt wurde.[16] Diese Methode des »Reinhaltens von Klassenwerten« wurde auch nach der Befreiun regelmäßig angewandt.
Die Berichtigung von Künstlern wurde an der Lu-Hsün-Akademie durchgeführt. Dieses revolutionäre Kulturzentrum war geprägt von persönlichen Feindschaften und ideologischen Gegensätzen, die meist zu differenziert waren, als daß sie sich in das Korsett des Kampfs zweier Linien hätten pressen lassen. Der Kluft zwischen dem, wofür der Namensgeber der Akademie, Lu Hsün, eintrat, und dem, was in der Künstlerkolonie der Emigranten vor sich ging, muß von künftigen Historikern erst noch dargestellt und untersucht werden. Einige der bedeutendsten Anhänger Lu Hsüns, unter ihnen die Schriftstellerin Ting Ling und der Romancier Hsiao Tschün, wurden in den Lehrkörper der Akademie aufgenommen. Aber ihr kompromißloses Eintreten für Lu Hsüns individualistisches Vorbild und sein unbestechliches künstlerisches Urteil wirkten sich am Ende verhängnisvoll für sie aus. Als Tschou Yang, ein Kulturkommissar, den Lu Hsün verabscheut hatte, kurz nach Tschiang Tsching in Jenan eintraf, wurden seine Verdienste in der Schanghaier Untergrundpartei und in progressiven kulturellen Organisationen durch Tschiang Tschings zukünftigen Mann belohnt, indem er ihn zum Präsidenten der Lu-Hsün-Akademie ernannte.
Unter Tschou Yangs Verwaltung gründete die Akademie vier Abteilungen: Literatur, Theater, Schöne Künste und Musik. Außerdem wurden eine Werkstatt für Schriftsteller, ein Forschungszentrum und ein Arbeitsraum für das Kunsthandwerk eingerichtet. Aber die größten Abteilungen waren die für Schauspiel und für Musik, denn die darstellenden Künste waren am ehesten in der Lage, zu den Massen vorzudringen. Wer war der Leiter der Schauspielabteilung, in der Tschiang Tsching unterrichtete? Kein anderer als Tschang Keng, ihr Vorgesetzter und Widersacher aus den Schanghaier Jahren. Und hier, in der ländlichen Umgebung, führte Tschang Keng seine frühere Tätigkeit fort. Er fürderte Stanislawskis »methodische« Dramaturgie, eine Schule, die später von den Kommunisten verworfen wurde, da sie vermeintlich individuelle Autonomie und Selbstsucht förderte - beides Todsünden für den sozialistischen Kollektivismus. Er ließ auch nicht davon ab, ausländische Stücke in ihrer ganzen Länge aufzuführen, unter anderem Gogols »Die Heirat«, ein Schauspiel, das bürgerliche Umgangsformen darstellte - wie dazu geschaffen, Intellektuelle zu unterhalten und bei einfachen Genossen, die von der Partei zu einem neuen proletarischen Bewußtsein geführt werden sollten, Verwirrung zu stiften.[17] Andererseits waren Tschang Keng, Ma Ko und andere erfahrene Bühnenschriftsteller Pioniere der Kulturrevolution. Denn sie schufen das neue Bauerntheater mit Motiven der regionalen Kultur. Auf diese Weise wurde yang-ko, ein alter Volkstanz und Fruchtbarkeitsritus aus dem Nordwesten, zum Tanz der Befreiung, und auch die Oper erhielt neue politische Inhalte. Zu den ersten Produktionen gehörten »Brüder und Schwestern zähmen die Wildnis« und »Das Weißhaarige Mädchen«, pathetische Stücke, die die großen Helden der Gegenwart verherrlichen.[18] Zwanzig Jahre später erinnerte sich Tschiang Tsching an letzteres und machte es zum Herzstück ihres neuen Modellrepertoires.
Da in Jenan Raum und Material knapp waren, mußten alte Gebäude für neue Zwecke herhalten. Die Lu-Hsün-Akademie war in einer verlassenen katholischen Kirche untergebracht, ungefähr fünf Kilometer von der Stadtmitte entfernt. Das Kirchenschiff wurde in einen Zuschauerraum verwandelt, in eine schauerlich hallende Arena für die neue Synthese traditioneller und zeitgenössischer, einheimischer und fremder Kunst. An einem gewöhnlichen Tag konnte etwa in einer Ecke der Halle ein Solo-Cellist proben, während in einer anderen Ecke ein kleines Streichorchester Töne produzierte, die fremden Ursprungs zu sein schienen. Und unweit davon - in einer der Unterkünfte - mühte sich vielleicht eine Volksliedergruppe damit ab, alten Melodien neue Gedichte zu unterlegen.[19]
Die Unterkünfte, die früher einmal von christlichen Konvertiten benutzt worden waren, beherbergten jetzt revolutionäre Musik- und Schauspielstudenten. Manche von ihnen versuchten, sich einen boh~mehaften Anstrich zu geben und kleideten sich in romantische Bilderbuch-Trachten russischer Bauern, um sich von den Militärs zu unterscheiden. Meist waren es junge Leute aus der Umgebung. Nach zweijährigem Studium wurden sie an die Front geschickt, wo sie lustige musikalische und gesprochene Stegreifspiele aufführten, um die Roten Soldaten und die Bevölkerung aufzumuntern.
Bei den älteren Künstlern, Schriftstellern, Musikern, Dramatikern und Journalisten waren lange Diskussionen an der Tagesordnung. Als der amerikanische Journalist Harrison Forrnan einmal einer solchen Diskussion bei wohnte und den Argumenten dieser städtischen Intellektuellen lauschte, die es aufs Land verschlagen hatte, erlebte er, was Mao als »hochtrabendes und großmächtiges Getue« zu attackieren pflegte:

  • Die meisten von ihnen kamen aus Schanghai, dem kulturellen Zentrum Chinas. Aber die verwestlichte »hochgestochene« Kunst und Literatur war vom Bauernvolk des chinesischen Hinterlands so weit entfernt wie James Joyce von Konfuzius. Unter den Bedingungen des Krieges, weit weg von Schanghai, waren die Literati Fische auf dem Trockenen. Sie brachten es einfach nicht fertig, auf die unkundigen Bauern, Arbeiter und Soldaten nicht von oben herabzublicken, und diese reagierten darauf mit Ablehnung. Ohne Publikum schrieben, malten und musizierten sie für sich selbst und kümmerten sich nicht um das einfache Volk, das unter ihrem kulturellen und intellektuellen Niveau stand. Wenn der Bauer gute Literatur und Kunst nicht zu schätzen wußte, dann war das eben sein Pech. Die Kunst war sich zu fein für die Massen.[20]

Zwanglose Zusammenkünfte von Führern und Geführten, die von einigen amerikanischen Besuchern »Samstagabend-Tänze« genannt wurden, fanden im »Birnen-Garten« statt - in fröhlichen Stunden von den Kommunisten so getauft, als sie noch Spaß daran fanden, Vergleiche mit ihren kaiserlichen Vorgängern anzustellen, in diesem Fall mit dem esoterischen Hoftheater des Tang-Kaisers Ming Huang. In den befreiten Zonen bewies ein Mädchen, daß es emanzipiert war, wenn es sich seinen Tanzpartner selbst aussuchte. Auch Mao war nicht tabu. »Vorsitzender Mao, möchten Sie mit mir tanzen?« pflegte sie gegebenenfalls respektvoll zu fragen.[21]
Die Musik wurde von zerkratzten Schallplatten auf einem zerbeulten Grammophon oder durch Tanzorchester geliefert. Zur Kapelle gehörten chinesische Fideln, ausländische Violinen, Blasinstrumente, eine kantonesische Zither, eine musikalische Säge und eine Orgel, die die Missionare zurückgelassen hatten. Noch faszinierender war, was getanzt wurde. Zu Ehren der ausländischen Gäste wurden französische Menuette, Wiener Walzer, Jingle Bells und Yankee Doodle intoniert - und natürlich traditionelle chinesische Volkstänze. Zu diesem musikalischen Mischmasch tanzte man Foxtrott, Walzer und yang-ko.
In diesem Stadium des unverbildeten Kommunismus mischten sich die Führer unter das tanzende Volk. Westliche Gesellschaftstänze mit Körperkontakt waren damals noch nicht verboten. Forman erinnert sich:

  • An jedem beliebigen Abend konnte es vorkommen, daß einem Mao Tsetung, der vielbewunderte kommunistische Schutzherr über neunzig Millionen Chinesen, ungekämmt und hemdsärmelig unter die Augen kam, wie er gerade mit einer niedlichen Studentin der Universität von Jenan einen schnellen Foxtrott aufs Parkett legte, während ein Lastwagenfahrer die dralle Madame Tschu Te im Tanz herumwirbelte. Und sogar Dickie-Dick Tschu Te persönlich, Chef einer halben Million Japsen-Killer, der, einem alternden Cowboy nicht unähnlich, tanzbeinschwingend mit einem strahlenden jungen Ding, das kaum halb so groß und gerade ein Drittel so alt war wie er, seinen ganz großen Spaß hatte. Kampfgestählte Generäle wie Lin Piao, Nie Yung-tschien (Jung-tschenl, Yeh Tschien-ying und ein Dutzend andere - für jeden einzelnen würden die Japaner gut und gerne eine ganze Division knallharter Krieger opfern - sprangen wie jitterbugtanzende Schuljungen durch die Gegend.[22]

Derselbe Mao, der sich inoffiziell mit dem Volk vergnügte (während er zugleich die offizielle Geschichtsschreibung vorbereitete), machte sich daran, von einer Phase seines Lebens zur nächsten überzugehen: Er verwandelte sich vom jugendlichen revolutionären Aktivisten in einen reifen Militärstrategen und politischen Theoretiker. Obwohl sein Körper sich von den Strapazen des Langen Marschs erholt hatte, behielt er ein romantisches Symbol, das ihn von den anderen unterschied, bei: die langen Haare.[23] Während er sich im Stützpunktgebiet in seiner liebsten Rolle, der eines Lehrers, zeigte, leitete die parteioffizielle Tageszeitung »Befreiung« die erste Phase des Personenkults ein, der während der nächsten Jahre bald verstärkt, bald eingeschränkt wurde. In ihrer Ausgabe vom 14. Dezember 1941 pries ihn sein Freund Hsiao San als »unseren strahlenden großen Führer, unseren Lehrer und unseren Retter«. Diese Worte wurden zur Standard-Formel.
Als Mao die Prinzipien reflektierte, mit denen er in zehn Jahren eine bedingungslos auf ihn eingeschworene Gefolgschaft um sich versammelt hatte, wurde das zentrale Thema seiner Schriften die Anpassung der angeblich universell gültigen Prinzipien von Marx und Lenin an die besonderen Gegebenheiten der chinesischen Situation: im wesentlichen die Suche nach einer »nationalen Form«. Diese Suche nach einem eigenen Weg erstreckte sich auch auf den Bereich der Kunst und führte im Mai 1942 zu lebhaften Diskussionen an der Lu-HsünAkademie, von denen es kein Protokoll gibt, abgesehen von dem ausführlichen Bericht des Vorsitzenden selbst (unter dem Titel »Reden bei der Aussprache in Jenan über Literatur und Kunst«). Inwieweit es sich dabei um eine zuverlässige Zusammenfassung der vertretenen Standpunkte oder um persönliche Polemik handelt - oder gar um eine Wiedergabe der Gedanken des verstorbenen kommunistischen Schriftstellers Tschü Tschiu-pai - ließ sich bisher nicht feststellen.

Nach Tschiang Tschings Meinung war die Situation in Jenan auch in den frühen siebziger Jahren noch nicht zufriedenstellend, obwohl sie erheblich günstiger war als die Umstände, unter denen sie und der Vorsitzende dort gelebt hatten. Auch in Jenan hatte Tschou Yang ihre schauspielerische Leistung kritisiert. Ungeachtet dessen, daß man sich in Jenan damals um die Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaftsform bemühte, brachte Tschou Yang peinliche Aufsätze über ein »Klassensystem« in Umlauf, das sich seiner Meinung nach durchsetzen würde. Nach seiner Darstellung war das Volk in »drei Grade und neun Klassen eingeteilt«, was nichts anderes bedeutete, als daß es noch nicht gelungen war, die Hierarchie der Vergangenheit zu überwinden.
Als Beweis zitierte Tschiang Tsching aus einem schmalen unbetitelten Taschenbuch, das in einer begrenzten Auflage herausgekommen war. ***167.8.24 Sie blätterte darin und erwähnte, daß die Aufsätze 1941 veröffentlicht und 1958, während der Bewegung gegen die Rechten, neu aufgelegt worden seien. »Nichts als Verleumdungen!« erklärte sie. 1941 schrieb Tschou Yang, der damalige Präsident der Lu-Hsün-Akademie, ein Stück, in dem niederträchtige Forrnulierungen wie »jede Sonne hat ihre Flecken« vorkamen. (Schon in Jenan wurde Mao mit der Sonne verglichen.) Im März 1942 veröffentlichte Wang Schih-wei unter dem Titel »Die wilde Lilie« eine Reihe von Aufsätzen, in denen er darauf verwies, daß die Lilie, Jenans schönste wildwachsende Blume, aus einer Zwiebel entsteht, die bitter schmeckt.[25] Mit dieser Blumen-Metapher griff er indirekt den »Bürokratismus« und die »Korruption« unter den Parteiführern an - alte Fehler, die man schon überwunden zu haben glaubte. Zur selben Zeit veröffentlichte Ting Ling einen Artikel über den Internationalen Frauentag, der eine vernichtende Darstellung der Situation der Frau unter der kommunistischen Regierung in Jenan enthielt. »Lesen Sie das«, sagte Tschiang Tsching, »damit Sie verstehen, warum der Vorsitzende bei der Aussprache in Jenan die Initiative ergreifen mußte.«
Maos polemische Initiativen - nicht nur bei der Aussprache, sondern auch bei anderen Gelegenheiten - habe in allen Lagern große Unruhe ausgelöst, berichtete Tschiang Tsching erzürnt. Mitglieder des Zentralkomitees und der Jugendliga (wahrscheinlich steckte Wang Ming dahinter, meinte Tschiang Tsching - wie in Schanghai ) hängten Wandzeitungen auf, die die Partei, das Militär und das Volk verächtlich machten. Diese Kritik am Vorsitzenden und seinen engsten Mitarbeitern aus den Reihen verantwortlicher Genossen habe den Boden für die Aussprache in Jenan bereitet.
Unter nachdrücklichem Hinweis auf ihre schlichte Lebensweise erwähnte Tschiang Tsching, daß sie in ihrer Schanghaier Zeit auf einem Dachboden und in Jenan stets in Höhlen gehaust habe. Sie und der Vorsitzende hätten immer das gleiche Essen zu sich genommen und die gleichen Kleider getragen wie das arbeitende Volk. Und trotzdem habe man sie verleumdet und ihr nachgesagt, sie sei an einen luxuriösen »konterrevolutionären« Lebensstil gewöhnt.
In den ersten Jahren der Akademie glichen viele Lehrer Tschiang Tsching - professionelle Dramatiker, Schriftsteller und Musiker mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen, das auf Erfahrungen in den Kämpfen der letzten Jahre gründete. Den radikalen Veränderungen konnten sie sich nur langsam anpassen. Der Dramatiker Ma Ko berichtet, daß die Literaturexperten unzählige Stunden über griechische und lateinische Klassiker und das Europa des 19.Jahrhunderts diskutierten. Einige Schauspielerinnen (Namen wurden nicht genannt) waren von der Rolle der Anna Karenina so hingerissen, daß sie nichts anderes im Kopf hatten als die Schatten ihrer Augenwimpern auf dem Bühnenboden.[26]
Am besten erinnerte sich Tschiang Tsching an die progressive Arbeit, die in der Akademie geleistet wurde. Als sie Anfang der vierziger Jahre Lehrerin in der Theater-Abteilung war[27], drängte die Verwaltung darauf, die alten Opernzyklen mit überholten Themen (das Leben am Hof und die Weisheit der Gelehrten) durch das Sprechtheater, das wandlungsfähigste und meistversprechende Genre, abzulösen. Zu den neuen Stücken, die sich mit zeitgenössischen Themen befaßten, gehörten unter anderem »Feuer auf dem Flugplatz«, »Auf dem SungariFluß« und »Brüder und Schwestern zähmen die F Wildnis«.[28]
Als der Vorsitzende der Akademie seinen ersten Besuch abstattete, wurden diese Stücke gerade geprobt. Tschiang Tsching erinnerte sich daran, daß sie ihm sehr gefielen. Sie weckten sein Interesse, und er wollte sich auch mit der Arbeit in den anderen Abteilungen vertraut machen. Um sich über moderne Literatur und Kunst, womit er sich bis dahin kaum befaßt hatte, zu informieren, verwickelte er die Mitglieder des Lehrkörpers in ausgedehnte Diskussionen. Dabei entwickelte er die Thesen, die er später bei der Aussprache in Jenan vorbrachte.[29]
Kurz darauf erfolgte bei der Eröffnung der berühmten Aussprache (Ende Mai 1942) Mao Tsetungs gut inszenierter Auftritt vor der Akademie. Ma Ko erinnert sich daran, daß die bevorstehende Ankunft Maos sich wie ein Lauffeuer herumsprach. Im Frühlingsregen eilten die Leute mit Papierblökken und Tintenfässern aus ihren Höhlen zum Auditorium. Wer im Inneren keinen Platz mehr fand, setzte sich auf den Exerzierplatz vor dem Eingang. Tschou Yang führte den Vorsitzenden Mao ein, der nun vor dem Volk den Verlauf der kürzlich geführten Diskussionen zusammenfaßte. Die wichtigste Frage, die er sich stellte, war: Wem sollen die Künstler dienen? Die Akademie, sagte er scherzend, sei nur die »Kleine Lu I« (Lu I war der Spitzname der Akademie), aber die befreiten Regionen und der Kampf um das Leben seien die »Große Lu I«. Die Mitglieder der Kleinen Lu I sollten sich nicht abkapseln, sondern hinausgehen und ihre neue Kultur im Bereich der Großen Lu I propagieren. Das Grundsatzreferat des Vorsitzenden löste eine heftige Diskussion aus, die mehrere Tage anhielt, und in dieser Zeit verwandelte sich der feine Frühlingsregen in Gewitterstürme.[30]
Aber verstand man die Ironie, die darin lag, daß gerade Mao, der Bewunderer Lu Hsüns, auf diese Weise Stellung bezog? Obwohl Mao Tse-tung die Lu-Hsün-Akademie errichtet hatte, um damit Lu Hsün zu ehren, stand die Haltung, die er einnahm, in schroffem Gegensatz zu der des Schriftstellers. So kritisierte er mit seinem Plädoyer f ür die » n ationalen Formen« einer Massenliteratur, ohne es zu wissen, die Position Lu Hsüns, der nicht daran glaubte, daß alte und »feudale« Formen mit neuen politischen Inhalten gefüllt werden könnten. Mao unterstützte Tschou Yang, indem er behauptete, daß alte, dem Volk vertraute kulturelle Formen sich in hervorragendem Maße dazu eigneten, neue Ideen, d. h. die kommunistische Propaganda und die Verherrlichung Mao Tse-tungs, zu vermitteln. So stellte sich Mao auf die Seite von Tschou Yang, dem Gegner von Lu Hsün, und so attackierte er die engsten Schüler Lu Hsüns, Ting Ling, Hu Feng und Wang Schih-wei, die mutig nach Jenan gepilgert waren. Mehr noch, Tschou Yang, den Tschiang Tsching persönlich verabscheute, blieb noch zwanzig Jahre lang - bis Tschiang Tsching ihn zu Beginn der Kulturrevolution entfernen ließ - Maos rechte Hand in allen kulturellen Angelegenheiten. Als aber Tschiang Tsching endlich die Gelegenheit bekam, Lu Hsüns Vorstellungen in die Tat umzusetzen, mißachtete auch sie seine Lehre, indem sie ihr eigenes grandioses Projekt in Angriff nahm: die Erneuerung der traditionsreichen Peking-Oper durch das proletarische Ethos.
Tschiang Tsching wohnte, wie sie bei einem unserer Interviews bemerkte, der Aussprache in Jenan vom Mai 1942 bei. In welcher Funktion? Als Sekretärin des Vorsitzenden. Diese Stellung übernahm sie nach ihrer Lehrtätigkeit und Theaterarbeit in der Akademie. Die Diskussionen bei der Aussprache in Jenan, die der Literatur und der Kunst gelten sollten, bezogen auch andere Bereiche ein. Aus der Art, wie jemand argumentierte, konnte Tschiang Tsching erkennen, ob er für den Vorsitzenden oder für dessen Hauptrivalen Wang Ming eintrat. Wang Mings Forderung nach Orthodoxie leitete sich aus der sowjetischen Theorie ab, die der Vorsitzende als die Linie der rechten Opportunisten bezeichnete.[31] Tschiang Tsching kam nun wieder darauf zu sprechen, was für ihre Vergangenheit und für Chinas Gegenwart entscheidend war: Im Hinblick auf die kulturellen Fragen wurde Wang Mings Opportunismus mit der Formel »Literatur der nationalen Verteidigung« gekennzeichnet, im Gegensatz zu Lu Hsüns Parole aus den dreißiger Jahren: »Literatur der Massen für den nationalen revolutionären Krieg«. Lu Hsuns Parole besaß proletarischen Klassencharakter; sie wurde von Mao aufgenommen und war die Grundlage seines Referats bei der Aussprache in Jenan. Der Vorsitzende kleidete seine Angriffe in der Akademie in literarische Wendungen. Aber mit den gleichen Worten wandte er sich auch an das weit größere Publikum, das die Linie Wang Mings verteidigte. Dessen Feindschaft mit dem Vorsitzenden sprach sich in Jenan und im ganzen Grenzgebiet herum.[32]
Tschiang Tsching stellte fest, daß an der Parteischule, an der sie studierte, und am Institut für Marxismus-Leninismus keine Schriften des Vorsitzenden Mao zur Verfügung gestanden hätten. Die einzig greifbaren Werke seien jene der Achtundzwanzig Bolschewiken gewesen, deren Anführer Wang Ming war. Die einzige Möglichkeit, diese »ideologische Blockade« zu brechen, bestand für den Vorsitzenden darin, einen eigenen, unabhängigen Kurs einzuschlagen, direkt zum Volk zu gehen und mit ihm über Probleme zu diskutieren, die im Zusammenhang mit seinen eigenen persönlichen Interessen standen. Nur durch persönlichen Kontakt mit dem Volk konnte er sich Anhänger schaffen.
Tschiang Tsching kam wieder auf die Aussprache zurück und sagte, daß die Sitzungen lang und ermüdend gewesen seien. Viele (deren Namen heute nicht mehr genannt werden) referierten über ihre Fachgebiete. Der Vorsitzende wartete, bis er an der Reihe war. Wortgewandt und geschickt stellte er den Sachverstand derer (einschließlich Tschiang Tschings) in Frage, die fur die Aufführung von »Feuer auf dem Flugplatz«, »Auf dem Sungari-Fluß« und »Brüder und Schwestern zähmen die Wildnis« verantwortlich waren. Der Tenor seiner Ausführungen unterschied sich eindrucksvoll von den Stellungnahmen der anderen. Er beurteilte nicht Literatur und Kunst per se, sondern bezog sich stets auf philosophische und politische Prämissen. Der Verlauf der Diskussion und die Schlußfolgerungen, die Mao zog, wurden in den »Reden bei der Aussprache in Jenan über Literatur und Kunst« zusammengefaßt. ***167.8.33** Diesen Aufsatz hat Tschiang Tsching in den vergangenen Jahren immer wieder gelesen, und jedesmal gewann sie dadurch neue Erkenntnisse. In diesem Aufsatz stellte der Vorsitzende wichtige Fragen: Sollte man über die lichte Seite oder die dunkle Seite der Gesellschaft schreiben? In welchem Verhältnis stehen die Absichten und die Ergebnisse einer bestimmten Arbeit? Welche politischen und künstlerischen Normen erkennen wir an? Mao warnte davor zu glauben, daß diejenigen, welche die Dunkelheit beschreiben, notwendig große Geister seien, und daß diejenigen, welche die Helligkeit vorziehen, notwendig unbedeutend seien.
»Sie müssen das mehrmals lesen«, drängte sie. (Am nächsten Morgen erhielt ich, zusammen mit dem anderen »Studienmaterial«, den vollständigen Text dieses Aufsatzes.)
Im Hinblick auf die Kritik, der Mao damals ausgesetzt war, als sie dabei waren, ein gemeinsames (£ben aufzubauen, sagte sie: »Ich habe Mao verehrt.« Sie sah mich an und fragte: »Möchten Sie von Ihren Studenten denn nicht verehrt werden, Professor Witke?«
Ich war über ihre Direktheit erstaunt und erklärte ihr, daß es mir lieber sei, wenn sie mit mir diskutierten, als daß sie mich verehrten.
Sie lächelte und fügte hinzu, daß der Vorsitzende während der ganzen Kulturrevolution den Kult um seine Person bekämpft habe, denn ein solcher Kult sei immer mit Gefahren verbunden. Manche Leute, die während der durch die Kulturrevolution entfachten Kämpfe versucht hätten, sie zu vernichten, begännen jetzt plötzlich, ihr zu schmeicheln, und überschlügen sich geradezu vor überschwenglichem Lob. Eine Zeitlang sei sie so dumm gewesen, sich davon einwickeln zu lassen. Aber dann habe sie gelernt, daß eine revolutionäre Taktik immer flexibel bleiben müsse.
Tschiang Tsching kam immer wieder von der Aussprache in Jenan auf die Kulturrevolution und von dieser auf die Aussprache zu sprechen, denn Maos Abhandlungen über die Aussprache dienten ihr in erster Linie als ideologische Rechtfertigung für ihr Vorgehen in der Kulturrevolution. Doch weder Mao in seinen »Reden« noch Tschiang Tsching selbst haben je den Ursprung der Gegensätze in den Ansichten über die Literatur klären können - und erst diese Gegensätze machten die Aussprache erforderlich. Marx, Engels und Lenin haben es versäumt, sich mit dem Problemen einer Revolution im kulturellen Bereich systematisch auseinanderzusetzen. Das mag auch der Grund dafür sein, daß Maos Kurs in dieser Angelegenheit, die für den Kommunismus in China von größter Bedeutung ist, ziemlich brutal, stalinistisch und pragmatisch war. In einer Sprache, die offensichtlich darauf abzielte, den »kraftlosen« Intellektuellen kalte Schauer über den Rücken zu jagen, bezeichnete Mao die Schriftsteller als »Ingenieure der menschlichen Seele« eine Wendung, die Stalin von Gorki ausgeliehen hat. Ausgehend von Lenin sprach er von Literatur und Kunst als Zahnrädern in der revolutionären Maschine.[34] Er sagte: »Die Aussprache, die wir heute eröffnen, soll dazu führen, daß sich Literatur und Kunst als ein integrierender Bestandteil in den Gesamtmechanismus der Revolution gut einfügen, soll dazu führen, daß sie zu einer machtvollen Waffe für den Zusammenschluß und die Erziehung des Volkes, für die Schläge gegen den Feind und dessen Vernichtung werden, daß sie dem Volk helfen, einmütig gegen den Feind zu kämpfen.«[35]
Wenn Schriftsteller »Ingenieure« waren, dann war die Lu-Hsün-Akademie eine Kulturfabrik voller lästiger Gegensätze. Ihre Lehrer, in den Künsten nicht minder bewandert wie jede spätere chinesische Generation, wurden dazu angehalten, kulturelle Ausdrucksformen zu entwickeln, die schlicht genug waren, um bei Chinas ungeschulten »Massen der Arbeiter, Bauern und Soldaten« Anklang zu finden - und in den Jahren nach 1940 war dieser Ausdruck keineswegs eine Phrase. Neue Volksstücke und überarbeitete Opern, die aus der Gegend stammten, handelten vom Leben der Massen. Beliebt war die Figur des klugen Bauern, der der Roten Armee dabei behilflich ist, den verruchten Plan eines japanischen Marodeurs zu durchkreuzen. Diese einfachen Stilmittel, ganz und gar auf die Massen zugeschnitten, mußten die sensiblen Gehirne der intellektuellen Ingenieure, die daran gewöhnt waren, komplexe Handlungen mit konfliktreichen Situationen und differenzierten Charakteren zu entwerfen, auf die Dauer blockieren und lähmen. Angesichts der vorherrschenden Diskrepanz von Talent und Bildung verlangte Mao systematische Anstrengungen zur Beseitigung dieses Mißverhältnisses: die Produktion neuer Werke, von denen die Massen zu einer positiven Einstellung gegenüber Literatur und Kunst angeregt würden, und eine ideologische Umerziehung jener störrischen Intellektuellen, die sich in die neue Ordnung nicht einfügten.
Mao ermahnte die Intellektuellen (die Zirkel der Lu-Hsün-Akademie nicht ausgenommen), von ihren Elfenbeintünnen herabzusteigen. Sie sollten sich wie er unter das Volk mischen. Schriftsteller, Musiker und Künstler, die ihre eigenen elitären Kreise nie verließen, sollten doch einmal die Wandzeitungen lesen, die von den Massen aufgehängt wurden, sich Volksstücke ansehen und Volksmusik anhören. Nur wenn sie sich rückhaltslos auf die gemeinsame Kultur einließen, würden Intellektuelle und Künstler (die jetzt offiziell proletarisiert und als »kulturelle Arbeiter« eingestuft wurden) zu »wahren Wortführern« des Volkes werden. Er schrieb: »Nur wenn er ein Vertreter der Massen ist, kann er (der Spezialist) sie erziehen; nur wenn er zum Schüler der Massen wird, kann er ihr Lehrer werden. Wenn er sich aber für den Herrn der Massen hält, für einen Aristokraten, der hoch über dem )gemeinen Volk< thront, kann er über noch so großes Talent verfügen - die Massen werden ihn nicht brauchen, und seine Arbeit hat keine Zukunft.«[36]
Mao machte die Schriftsteller auch darauf aufmerksam, daß Lu Hsüns »bittere Ironie und ätzender Spott«, die er unter »der Herrschaft der finsteren Mächte«, die den Genossen das Recht zur freien Rede verweigerten, zur Vollkommenheit gebracht habe, im neuen Regime, das Demokratie und Freiheit für alle revolutionären Schriftsteller und Künstler garantiert, nicht mehr angebracht seien: »Heute können wir laut und offen sprechen, brauchen keine versteckten Anspielungen, die den Volksmassen das Verständnis des Gesagten erschweren ... Ironie ist immer notwendig. Aber es gibt verschiedene Arten von Ironie, eine, die sich gegen die Feinde wendet, eine an die Verbündeten adressierte, eine, die sich auf Menschen aus unseren eigenen Reihen bezieht ... Wir müssen damit Schluß machen, die Ironie wahllos zu verwenden.«
Diese Warnung Maos wurde immer wieder in den Wind geschlagen und immer wieder geltend gemacht - am nachdrücklichsten während der Kulturrevolution. Dies war einer der Gründe, warum dieser Aufsatz für Tschiang Tsching von überragender Bedeutung war.

Zu den Schriftstellern, die sich Mao bei der Aussprache widersetzten und sich weigerten, sein Diktat zu befolgen, gehörte die berühmt-berüchtigte und eigensinnige Ting Ling. Als wir über die Hintergründe der Aussprache in Jenan sprachen, verwies Tschiang Tsching auf Ting Lings feministische Hetzschrift »Gedanken zum Achten März« (dem Internationalen Frauentag) hin. Diese Schrift war ein Schlag ins Gesicht einer Gesellschaft, die stolz darauf war, ein gewisses Maß an Gleichheit zwischen den Geschlechtern ebenso wie im ökonomischen und politischen Bereich hergestellt zu haben. Da Tschiang Tsching auf Ting Lings Kritik nicht näher einging, ist zu vermuten, daß es sich dabei um heikle Fragen handelte, zu heikel, um von ihr in einem größeren Kreis diskutiert zu werden. Auch über die Verfasserin selbst ließ sie sich nicht weiter aus. Ein Blick auf Ting Lings Leben zeigt, warum ihre Einsichten und ihre Offenheit in einer unvollkommenen revolutionären Gesellschaft einen empfindlichen Nerv treffen müssen.
Sie war acht Jahre älter als Tschiang Tsching und wurde in Hunan geboren - wie Mao Tsetung und viele ältere revolutionäre Führer. Sie besuchte die modernen Schulen der Provinzhauptstadt Tschangscha. Dort begann sie ihre Karriere als Feministin, Künstlerin, intellektuelle Dissidentin und linke Politikerin. Diese Kombination von Interessen ließe sie wohl für jede Regierung, die von Männern geführt wird und Einmütigkeit und Konformität sprich Unterordnung - verlangt, als untauglich erscheinen.
Als Studentinnen begannen beide, Tschiang Tsching und Ting Ling, zu schreiben. Dies bot ihnen eine Möglichkeit, mit einer antitraditionellen und nachkaiserlichen Welt Kontakt aufzunehmen. Ting Ling machte das Schreiben zum Beruf und wurde in den dreißiger Jahren Chinas geistreichste Autorin aus dem radikalen Lager. Tschiang Tsching gab das Schreiben zugunsten der Schauspielerei auf und begann schließlich eine nicht ganz makellose Filmkarriere. In der Mitte der zwanziger Jahre hatte Ting Ling ebenfalls mit dem Gedanken gespielt, Filmstar zu werden. Sie ließ ihn aber wieder fallen, weil sie über die sexuelle Ausbeutung der Frauen durch die Filmproduzenten empört war. Beide studierten an den Universitäten von Peking und Schanghai, Tschiang Tsching weniger ernsthaft. Beide waren Mitglieder der Liga Linker Schriftsteller, und Ting Ling war seit 1931 Mitglied der Kommunistischen Partei.[37] Als Dissidentin war sie weitaus prominenter als Tschiang Tsching. Auch sie wurde von der KMT verfolgt. 1933 wurde sie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Man entließ sie erst nach den Sian-Ereignissen vom Dezember 1936, als Tschiang Kaischek gezwungen wurde, bekannte kommunistische Politiker freizulassen. Die sexuellen Beziehungen beider Frauen waren offenbar recht verwickelte, doch nur Ting Ling machte ihre Erfahrungen zum Thema ihrer literarischen Arbeiten. Beide waren mit dem KurzgeschichtenAutor Sehen Tsung-wen befreundet, Tschiang Tsching als Studentin an der TsingtaoUniversität und Ting Ling als Beteiligte eines ménage à troi - zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Hu Ye-pin, der 1931 von der KMT hingerichtet wurde. Beide verehrten Lu Hsün, Ting Ling aus der Nähe und Tschiang Tsching aus der Ferne. Als Schriftstellerin und persönliche Bekannte verstand Ting Ling ihn und das, wofür er eintrat, besser als Tschiang Tsching; und ihre Verstimmung darüber, daß die KPCH Lu Hsün, der doch zunächst als Gegner des Totalitarismus und des Bürokratismus bekannt war, zum Kronzeugen einer strengen Kulturpolitik machte, war sicher in ihrer geistigen Verbundenheit und persönlichen Loyalität gegenüber Lu Hsün begründet.
Bei Ausbruch des Krieges flohen beide Frauen nach Jenan und arbeiteten an der Lu-Hsün-Akademie. Jede kam auf ihre Weise mit Mao in Berührung. Seine enge Freundschaft mit Ting Ling und ihre langen Gespräche in seiner Höhle wurden von vielen als Beweis für ein Liebesverhältnis gedeutet, so daß Ting Ling als eine Frau dastand, der Mao den Laufpaß gegeben hatte.[38]  Wie dem auch sein mag - Mao heiratete Tschiang Tsching, zeigte aber immer offen seinen Respekt für Ting Ling, trotz ihrer Meinungsverschiedenheit während der Aussprache in Jenan. Alle Kampagnen zur ideologischen Umerziehung der nächsten fünfzehn Jahre vermochten ihre unabhängige Haltung nicht zu erschüttern. Sie erhob ihre Stimme während der Hiindert-BlumenBewegung von 1956 bis 1957 (als jeder aufgefordert wurde, offen seine Meinung zu sagen), und es sollte bis zur zweiten Bewegung gegen die Rechten (1957-1959) dauern, bis auch sie in Ungnade fiel. Gerüchten zufolge soll das strahlendste Symbol weiblicher Unabhängigkeit in revolutionärer Zeit dazu verurteilt worden sein, in den Räumen des Schriftstellerverbands als Putzfrau zu arbeiten. Über eine spätere Rehabilitierung ist nichts bekannt - nur soviel, daß sie gegen 1975 noch am Leben war.
Tschiang Tsching und Ting Ling waren sich in Schanghai nicht begegnet, denn Ting Ling saß fast die ganze Zeit im Gefängnis. Ihre Wege kreuzten sich zum ersten Mal in Jenan, wo Ting Ling als Redakteurin der Parteizeitung »Befreiung« großes Ansehen und Vertrauen genoß. Aber sie und ihre intellektuellen Freunde erregten bei den führenden Genossen Anstoß, weil sie die Institution der Ehe ablehnten. Sie traten für die vollkommene Gleichberechtigung ein, da sie diese in einer kommunistischen Gesellschaft für unbedingt erforderlich hielten. Doch mußten sie feststellen, daß manche kommunistischen Führer, nicht anders als die konfuzianischen Führer der Vergangenheit, noch immer glaubten - vielleicht nur unbewußt, Frauen müßten von ihnen geführt werden. In den »Gedanken zum Achten März«, geschrieben nach Maos Heirat mit Tschiang Tsching, machte Ting Ling sich darüber lustig, daß die Parteiführer sich allen Ernstes einbildeten, die Stellung der Frau revolutioniert zu haben. Ting Ling zeigte, daß der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter, der von modernen gebildeten Chinesen seit dem Beginn dieses Jahrhunderts geführt wurde, den männlichen Chauvinismus noch immer nicht erschüttert hatte. Ohne Namen zu nennen, behauptete sie, daß die Frauen der Parteiführer am meisten zu bedauern seien.
In Jenan habe man der Stellung der Frau viel Beachtung geschenkt, schrieb Ting Ling, und angeblich solle es hier besser um sie bestellt sein als sonstwo in China. Dennoch bilde Jenan keine Ausnahme. Durch sozialen Druck würden die Frauen auch heute noch in die Ehe getrieben, und wer sich dem widersetze (so wie sie selbst), werde geächtet. Man dränge die Frauen, Kinder zu bekommen. Dabei seien die Mütter nicht in der Lage, jemanden zu finden, der sich um die Kinder kümmere, damit sie ihre Aufgaben in der neuen Gesellschaft erfüllen könnten. Derartige soziale Mißstände zwängen die Mütter, sich wie klassische Spießbürgerinnen aufzuführen - wie »Noras, die nach Hause zurückkehren«. Nach einem Jahrzehnt familiärer Häuslichkeit hätten sich Frauen, die vor ihrer Ehe progressiv und aktiv gewesen seien, in »rückständige Hausfrauen« verwandelt. Im heutigen Jenan seien »Rückständigkeit« oder »politische Unzuverlässigkeit« die Gründe, welche die Ehemänner am häufigsten anführten, um sich von ihren Frauen scheiden zu lassen.
Früher, fuhr Ting Ling fort, habe man eine Frau nur bedauern können. Aber heutzutage werde eine Frau, die man zwinge, Leid zu ertragen, ihre Ressentiments in Rachgefühle verwandeln. »Das geschieht dir ganz recht«, werde sie zu ihrem Mann sagen. Ting Ling sympathisierte ganz offen mit den schwachen und hilflosen Vertreterinnen ihres Geschlechts. Erdrückt von gesellschaftlichen Zwängen gelänge es den Frauen nicht, »sich über ihre Zeit zu erheben«, systematisch nachzudenken und entschlossen zu handeln. Frauen, die nach Gleichberechtigung strebten, müßten auf ihre Gesundheit achten, ihren Verstand gebrauchen, verantwortungsbewußt und resolut handeln und darauf vorbereitet sein, Leid zu ertragen.
Es hat den Anschein, als hätten Ting Ling und Mao längere Zeit eine starke Anziehung aufeinander ausgeübt. Aber Maos Bedürfnis, fast jede Kritik an Jenans neuer Gesellschaft und somit an sich selbst zu unterdrücken, brachte ihn am Ende dazu, diese unkonventionelle und unbezähmbare talentierte Frau aus der revolutionären Elite auszustoßen, so wie er schon zuvor ganze Scharen von Genossen, die ihm politisch abträglich waren, verbannt hatte. Wie die Frauen, über die sie geschrieben hatte, mußte nun Ting Ling dafür büßen, daß sie sich über ihre Generation erhoben hatte, zuerst in Schanghai unter der Herrschaft der KMT, dann in Jenan und schließlich in Peking. Aber solange sie noch Zugang zu den Medien hatte, erhob sie ihre Stimme als unabhängige Revolutionärin. Schließlich wurde sie gegen Ende der fünfziger Jahre zur Zeit der Bewegung gegen die Rechten zum Schweigen gebracht endgültig, wie es schien.
Als Ehefrau, die im Schatten ihres Mannes stand, aus den intellektuellen Kreisen ausgeschlossen war und keinen festen Platz in der kommunistischen Partei oder der Frauenbewegung hatte, dürfte sich Tschiang Tsching über Ting Lings Aufsatz sehr geärgert haben. Trotzdem folgte sie langfristig dem Rat Ting Lings. Nachdem sie jahrelang in Maos Haus ein Dasein im verborgenen geführt hatte, fiel sie aus der Rolle, die ihr neidische Kollegen nach sagten, aus der revisionistischen Rolle der »Nora, die nach Hause zurücki kehrt«. Sie benutzte ihren eigenen Verstand, entwarf ihre eigenen politischen Konzepte und ging ihre eigenen Wege. Aber selbst als Mitglied der nationalen Führung mußte sie für ihre Auflehnung gegen die einseitig festgelegten und scheinbar unauflösbaren sexuellen Normen bezahlen.