Frauenbilder II

Die Künstlerin und ihre Identität

 

 

 

Nur allmählich veränderten sich die Vorstellungen der Frauen von ihrem Platz in den hohen Künsten und die Einstellungen der Männer zu den Künstlerinnen. Der Maler und Graphiker Edgar Degas interessierte sich so sehr dafür, den Besuch seiner Kollegin Mary Cassatt im Musee du Louvre darzustellen, daß er das Thema vierundzwanzigmal bearbeitete (Abb. 23). Er zeigt sie in Rückenansicht, den Gemälden zugewandt, ihre Aufmerksamkeit drückt sich in der Ausrichtung von Kopf und Schultern an den Achsen der Bilderrahmen aus. Degas läßt sie jedoch nicht selbst malen, sondern die Bilder nur betrachten. Edouard Manet hat elf Porträts seiner Kollegin Berthe Morisot (Abb. 24) gemalt, aber sie kein einziges Mal als Malerin dargestellt, obwohl er sowohl ihrer Klugheit als auch ihrer Schönheit Anerkennung zollte.
Die Bewegung der Impressionisten gab gleichwohl Cassatt und Morisot ein hohes, vorher undenkbares Maß an Selbstvertrauen. 1893 malte Morisot ein Bild (Abb. 25), das - wie das Bild von Best (Abb. 7) die Vielfältigkeit ihrer Identität betont. Im Hintergrund eines Porträts von ihrer Tochter reproduzierte sie rechts einen kleinen Ausschnitt des von Degas gemalten Porträts ihres Mannes, links ihr von Manet stammendes Porträt (Abb. 24). Morisot hat sich also mit ihrem Mann gleichgestellt und ihrem Kind eine Abstammung zugedacht, deren mütterliche Seite sie entschieden betonte. Darüber hinaus gibt Morisot der Mutter-Kind-Beziehung eine neue Dimension, indem sie die Bindung zwischen ihnen eher intellektuell als körperlich erscheinen läßt. Sie zeigt sich und ihre Tochter zwar im selben Bild, aber auf unterschiedlichen Darstellungsebenen. Beide, Mutter und Kind, üben sich in der Kunst - in Malerei bzw. Musik -, was sie gleichzeitig verbindet und trennt. Während Morisot einerseits anerkennt, daß ihre künstlerische Identität die Tatsache einschließt, daß sie Manets Modell ist, eignet sie sich andererseits sein Bild für eigene, neue Zwecke an.   

Frauenarbeit

 

Wieviel einfacher  erschien es, Frauen  bei  Tätigkeiten, für  die sie zuständig waren, und an Orten, von denen man glaubte, daß sie dort  hingehörten, darzustellen. Von Anfang bis Ende des 19. Jahrhunderts war Nähen die am häufigsten dargestellte Frauenarbeit, (Abb. 26, 28, 29, 31) noch häufiger als traditionelle Landarbeit (Abb. 32). Stärker mit Geschlecht als mit Klassen identifiziert, konnte Nähen konsensstiftend als weibliche Frauenarbeit dargestellt und die Kontroversen über soziale und wirtschaftliche Unterschiede sowie über Industriearbeit vermieden werden. Wollte man Frauen aus der Arbeiterklasse darstellen, so zeigte man sie gewöhnlich in der Küche bei so beruhigenden häuslichen Tätigkeiten wie Nähen oder Kochen.
Anzeigen für Nähmaschinen spekulierten auf die Identifizierung von Nähen mit Weiblichkeit und versprachen eine bessere Erfüllung tradi tioneller Rollen. In einer Anzeige der Firma Singer von 1896 wurde beispielsweise die Nähmaschine als »Mutters Maschi« und »willkommenes Hochzeitsgeschenk« bezeichnet, die »viel zum häuslichen Glück beiträgt«; ein großes »S« schlingt sich um die mollige Figur einer selbstbewußten Matrone (Abb. 28). Auf diese Weise blieb der Unterschied zwischen den Geschlechtern trotz der industriellen Revolution in der Bekleidungsbranche erhalten, wo Frauen sowohl zu Hause (Abb. 29) als auch in der Fabrik an Nähmaschinen arbeiteten.
Arthur Munby ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Munby sammelte Photos von Frauen, die Küchen reinigten, in der Fischerei und in Bergwerken arbeiteten (Abb. 33). Je schmutziger die Arbeit und je unweiblicher das Aussehen oder die Kleidung, um so stärker war er an einem Photo interessiert. In seinen Tagebüchern erklärt Munby, daß viele dieser Photos nur auf seinen Wunsch hin zustande kamen oder von ihm selbst aufgenommen werden mußten, weil die Bilder, an denen er interessiert war, so kaum existierten.
Frauen aus der Arbeiterklasse gaben sich selbst, wenn sie in das Atelier eines Photographen gingen, das Aussehen von Bürgerinnen. Arbeitsreformer, die auf bestimmten Gebieten ziemlich radikal sein konnten, bedienten sich zur Unterstützung ihrer Ziele konservativer Frauenbilder. So warb man beispielsweise für einen kürzeren Arbeitstag mit »Vorher«-/»Nachher«-Bildern, die dem Ideal einer bürgerlichen Geschlechterbeziehung verpflichtet waren (Abb. 34). »Vorher« geht ein Mann in die Kneipe, während eine abgehärmte Frau ihn anfleht, doch an seine elenden Kinder zu denken. »Nachher« sind sie als glückliche Familie in einem Heim vereint, das von einem Ehemann beherrscht und von einer Ehefrau bewältigt wird.

Die Photographie

 

Die Photographie antwortete auf das Neue. Photographen verfolgten aufmerksam die Folgen technischer Neuerungen wie Telefon und Telefonvermittlung und versuchten, bisher unsichtbare Aspekte des Lebens von Frauen einzufangen (Abb. 35). Sozialreformer wie Jacob Riis nahmen Kameras mit in städtische Elendsviertel und enthüllten eine Armut und Entwürdigung, von der sich viele Angehörige des Bürgertums nie zuvor ein Bild gemacht hatten. Die Photos von Riis schockierten, weil sie die Lebensbedingungen von Immigranten zeigten und Riis mit äußerstem Pathos arbeitete. Sein Photo Bei einer italienischen Lumpensammlerin von 1889 ist ein traditionelles Madonna-mit-Kind-Bild, nur daß Mutter und Kind zwischen Säcken voller Lumpen sitzen (Abb. 36). Die Photographie erlaubt unserem Blick, in das Leben dieser Frau einzudringen und gleichzeitig eine sichere Distanz zu wahren. Die Frau sieht schmerzvoll nach oben; Riis hat einen sehr starken Blitz verwendet.
Ärzte bedienten sich der Photographie bei Vorträgen oder in ihren Veröffentlichungen als Ersatz oder Ergänzung für Krankheitsbeschreibungen; zweifellos benutzte Jean-Martin Charcot am ausgiebigsten Photographien zur Dokumentation seiner Analyse der weiblichen Hysterie. Er glaubte, daß ein photographisches Abbild des äußeren Körpers den inneren geistigen Zustand offenbaren könne. Als Modelle wählte er Patientinnen, deren geistige Störungen sich am auffälligsten in somatischen Symptomen äußerten und die diese Symptome vor der Kamera am besten demonstrieren konnten. Chareot klassifizierte und bezeichnete jedes Bild als eine Phase der Hysterie (zum Beispiel Affekthaltungen - Bedrohung. Abb. 37), so daß es später für Lehr- und Diagnosezwecke dienen konnte.
Mit der Erfindung der Photographie entstand auch ein ihr eigentümlicher Stil der Erotik und Pornographie. Posen und Themen älterer Formen pornographischer Publikationen wurden zwar übernommen, das neue Medium legte es aber nahe, weniger Betonung auf suggestive Bewegung oder vielsagendes Dekor als auf eingehende Zurschaustellung der Geschlechtsteile zu legen. Handkolorierte stereoskopische Photographien, die man durch einen vor das Gesicht gehaltenen Apparat, der die Illusion von Dreidimensionalität vermittelte, betrachtete, riefen ein frappierendes Gefühl intimer Nähe hervor (Abb. 38). Sozialreformer, Wissenschaftler und Pornographen begründeten die Wirklichkeitstreue ihrer Photographien mit der optischen Genauigkeit des Mediums. Was aber die Kamera getreu festhielt, war das. was der Photograph vor dem Objektiv arrangierte: Er traf die Wahl des Dekors, der Pose, des Rahmens, des Lichts, des Modells und des Augenblicks. Seine Entscheidungen waren ebensosehr von kulturellen Annahmen über Armut, Gesundheit und Sexualität von Frauen geprägt, wie es die von Hand gemalten Bilder schon immer gewesen waren.

Die weibliche Begierde

 

Gleich in welchem Medium erotische Bilder realisiert wurden, sie stammten fast immer von Männern. Frauen war es selten gestattet, in Kunstschulen am Anatomieunterricht oder am Aktzeichnen teilzunehmen. Die bürgerliche Moral verbot die Darstellung des männlichen Akts von Frauen und hielt eine weibliche sexuelle Begierde für anormal - zwei Tabus, mit denen Camille Claudel mutig brach. Skulpturen von Auguste Rodin über heterosexuelle Liebe, z. B. Der Kuß von 1886 (Abb. 39), wurden begeistert als klassische Darstellungen einer universellen Lebenskraft aufgenommen. Claudels sehr ähnliches Werk, Sakuntala. Die Hingabe 1888-1905 (Abb. 40), aber trug zur Marginalisierung dieser Künstlerin bei. Hätte Claudel, wie gewöhnlich unterstellt wurde, Rodin lediglich imitiert, wäre allein diese Geste ein bemerkenswerter Beleg ciafür. daß Frauen erotische Themen ebenso gut darstellen können wie Männer. Die Hingabe unterscheidet sich aber hinreichend von Der Kuß und verweist auf ein anderes in der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts äußerst ungewöhnliches Bild von der sexuellen Begierde der Frauen. Claudel stellt die Begierde nicht als ein Machtverhältnis dar, in dem eine Frau sich von unten an einen beherrschenden Mann klammert, sondern als das gegenseitige Begehren zweier reziproker Körper. Die männliche Gestalt, von sinnlicher Schlankheit, kniet voller Leidenschaft vor der Frau; die weibliche Figur, stark und muskulös, gibt sich ihm hin. Claudels meisterhafte Beherrschung der Modellier- und Schneidetechniken gibt ihrer Vorstellung von Sexualität körperliche Präsenz. Keine andere Künstlerin, nicht einmal Suzanne Valadon, ehemaliges Modell aus der Arbeiterklasse, welche kühne weibliche Aktbilder malte, hat jemals mit so vielen kulturellen Regeln gebrochen.

Umwege

Frauen fanden viele Möglichkeiten, die ihnen verbotenen künstlerischen Bereiche zu umgehen. Gertrude Jekyll war lediglich die erfolgreichste unter vielen Landschaftsgestalterinnen, welche die Natur selbst in räumliche und zeitliche, der Architektur vergleichbare Kunstwerke verwandelte. Jekyll entwarf nicht nur berühmte Gärten wie Munstead Wood, der die Gebäude des hervorragenden Architekten Edwin Lutyens umgab, sondern machte auch selbst Photos von ihren Werken, die sie als Illustrationen in ihren vierzehn zwischen 1899 und 1925 veröffentlichten Büchern über Gartenarchitektur verwandte (Abb. 41). Frauen wie Isabella Stewart Gardner und Nelie Jacquemart gründeten Museen, um die gemeinsam mit ihren Ehemännern zusammengetragenen Kunstsammlungen zu institutionalisieren. Nach dem Tod ihres Ehemannes entwarf Gardner ein Museum, dem sie ihren Namen gab: ein Zusammenspiel von Architektur, Gemälden, dekorativen Künsten und Pflanzen, das die private weibliche Innensphäre auf die öffentliche Sphäre projizierte. Das Museum öffnet sich nach innen auf einen zentralen Hof (Abb. 42) und schließt eine Direktionswohnung ein. Wie bei allen aus einem Privathaus hervorgegangenen Museen ähneln die Gallerien den Zimmern eines Hauses. Doch Gardner ging mit der Unterordnung von Meisterwerken der Malerei in ihre selbst entworfenen Installationen (Abb. 43), die sie per Testament schützte, weiter als andere Museumsgründer.

Öffentlichkeit

Am Ende des Jahrhunderts forderten Frauen einen direkteren Zugang zur öffentlichen Sphäre. Die ersten Frauen-Colleges wurden Mitte des Jahrhunderts in den USA und in England gegründet. Die Photoalben dieser Colleges und später ihre Jahrbücher belegen die Formung der Frauen zur akademischen Persona. Anfangs stellten sich Frauen nur anläßlich von Maskeraden in akademische Roben gehüllt vor die Kamera. Später tauchen Hüte und Roben immer häufiger, vor allem anläßlich von Universitätsritualen, auf, und in den 1880er Jahren schließlich posieren Frauen für Gruppenporträts bei Studienabschluß durchgängig in akademischer Aufmachung und bekräftigen damit selbstbewußt ihre Zugehörigkeit zur intellektuellen Gemeinschaft und Tradition (Abb. 44).
Mit spektakulärem Auftreten erregten Frauen bei ihrer Wahlrechtskampagne internationales Aufsehen. Besonders in England setzten Frauen Banner (Abb. 45), Abzeichen, Plakate, Bänder mit symbolischen Farben (Abb. 46), Pomp und vor allem sich selbst ein, um ihre Sache sichtbar zu machen. Zum ersten Mal übten organisierte Frauengruppen Kontrolle über Bilder aus, um sich eine eigene öffentliche und politische Identität zu schaffen.
Julia Margaret Camerons Photographie von Stella Duckworth aus dem Jahre 1867 (Abb. 47) faßt das künstlerische Erbe, das die Frauen des 19. denen des 20. Jahrhunderts hinterlassen haben, zusammen. Wie so viele emporstrebende Künstlerinnen verfügte auch Cameron über ein enormes Talent, aber so gut wie keine professionelle Ausbildung. Sie machte kurz, aber voller Energie auf einem marginalen Gebiet Karriere, das es ihr gestattete, zu Hause zu arbeiten und Familienpflichten mit ästhetischen Ambitionen zu verknüpfen. Sie photographierte wie ihre Nichte Stella Duckworth Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder. Für Virginia Woolf, die Tochter von Stella Duckworth, war Cameron Exzentrikerin und Vorbild zugleich. Woolf schrieb über ihre Großtante eine Komödie, war aber auch die erste, die die Photographien Camerons nach deren Tod neu herausgab. Victorian Photographs of Famous Men and Fair Women erschien 1926 mit einer Einführung von Woolf. Die Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts schufen die kulturelle Basis, auf der nachfolgende Frauen bis heute weitergebaut haben.

Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff

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