Aus der Philosophie des 18. Jahrhunderts

Eine Vorstellung ist bestimmt durch das, was dem Denken gegenwärtig ist, und kann der Realität der vorgestellten Sache oder Person mehr oder weniger adäquat sein. Sie kann diese Realität entstellen und sich mit reinen Phantasieprodukten vermischen. Das Objekt der Vorstellung ist dabei immer sekundär und wird durch das Subjekt der Vorstellung vermittelt.
Unter dieser Prämisse erscheint die Frau als Objekt der Vorstellung des männlichen Subjekts, das sich an ihre Stelle setzt. Seit jeher haben Männer die Frau auf ihre Vorstellungen von ihr reduziert und damit eine erfolgreiche Strategie verfolgt. Diese Vorstellungen halten sich natürlich auch im 18. Jahrhundert, scheinen jedoch ins Wanken zu geraten.
Das Bild, das die Philosophen vom 18. Jahrhundert zeichnen, ist das einer aufgeklärten Epoche, in der jedoch - vom Gedanken der Aufklärung scheinbar weit entfernt - häusliche Knechtschaft und politischer Despotismus anzutreffen sind. Der aufgeklärte Diskurs ist ein Diskurs des Menschen, das heißt der menschlichen Gattung oder der mit Vernunft begabten zweibeinigen Art. Die Unterschiede zwischen Rassen und Geschlechtern verwischen sich, auch wenn sie einige Eigenarten behalten. Die Aufklärung bewegt jeden, der Anspruch erhebt, ein Mensch zu sein, und jeder hat dieses Recht. Aber was heißt Aufklärung?
Im Jahre 1784 schreibt Kant in der Berlinischen Monatsschrift einen kurzen Artikel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« Darin findet sich der zentrale Gedanke, daß der Mensch das Stadium der Aufklärung erreicht, wenn er aus seiner geschichtlichen Unmündigkeit heraustritt, in der ihn Mächte, die er nicht verstand, gefangen hielten: Dem militärischen Befehlshaber muß man gehorchen, dem Bankier zahlen, dem Priester glauben.
In das Stadium der Aufklärung einzutreten heißt nichts anderes, als mündig zu werden. Das Alter der Mündigkeit ist dasjenige, in dem jeder Mensch es endlich wagt, seine ihn definierende natürliche Fähigkeit zu benutzen: seinen Verstand. Das Wissen wagen ist eine Devise, kein Faktum. Dieses für die etablierten Mächte unerhörte Wagnis liegt in der Natur, und in dem Maße, wie diese im Laufe der Menschheitsgeschichte verdeckt wurde, ist es eine Pflicht, sie wieder ans Licht zu bringen. Dieses Wagnis, das untrennbar mit seinem öffentlichen Gebrauch verbunden ist, heißt Freiheit. Die Freiheit, die zuerst im Denken ausgeübt wird, steht von Rechts wegen jedem vernunftbegabten Wesen zu. Kant äußert sich theoretisch über das, was den aufgeklärten Geist beschäftigt: Die freie Rationalität definiert das Menschsein in seinem Wesen (der logische Status einer Definition) und in seiner Geschichte (der Status einer im Werden begriffenen Art.)
Wenn der aufgeklärte Diskurs sich an alle Menschen richtet, kann er nur in der Dimension des Allgemeinen stattfinden. Aus dieser unvermeidlichen Konsequenz erwachsen notwendigerweise - ebenfalls unvermeidliche - Schwierigkeiten. Denn wer hat Anspruch auf das Allgemeine? Im Prinzip alle menschlichen Wesen und, allgemeiner, alle vernünftigen Wesen, deren Existenz außerhalb der Menschheit man vernünftigerweise vermuten kann. Alle Menschen haben von Natur aus gleiche Rechte, und da dieses Prinzip in der Geschichte ausgelöscht wurde, war es notwendig, es 1789 feierlich zu erklären. Diese Sorge um das Allgemeine liegt der praktischen Philosophie Kants zugrunde: »Die ganze Menschheit muß in meiner eigenen Person wie in der Person eines jeden anderen immer auch als Ziel, nie bloß als Mittel behandelt werden. Der Grund für den allen von jedem und jedem von allen geschuldeten Respekt liegt in dieser Einsicht der Vernunft: Jedes menschliche Wesen ist ein freies oder - was auf das gleiche hinausläuft — autonomes Wesen und kann in seinem ethischen Handeln keinem fremden Willen unterworfen werden.[2] In seinem Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen behauptet Rousseau, daß nicht so sehr der Verstand den Menschen vom Tier unterscheide, sondern vielmehr sein freier Wille. Ein Tier gehorche nur, der Mensch hingegen könne willentlich zustimmen oder Widerstand leisten. Daß die Menschen seiner Zeit, so Rousseau, überall »in Fesseln« lägen, sei die tragische Konsequenz eines gesellschaftlichen Verfalls, der aber letztendlich ihre Freiheit, die sie von Natur aus besäßen und die für ihr Wesen konstitutiv sei, nicht beseitigen könnte.
Man muß jedoch eingestehen, daß diesem universalen Anspruch ein innerer Widerspruch innewohnt. Obwohl er für alle gelten soll, ist er tatsächlich das Privileg einiger weniger. Er ist kohärent genau in dem Maße, wie er abstrakt bleibt, und - wie Hegel, insbesondere in seiner heftigen Kritik der Aufklärung, hervorheben wird - ein abstraktes Allgemeines ist ein leeres Allgemeines, ohne Unterschiede.
Bereits Kants kategorischer Imperativ, andere immer nur als Ziel und nie ausschließlich als Mittel zu behandeln, konnte beunruhigend wirken. Was heißt das, jemanden als ein Mittel zu behandeln? Gibt es nicht menschliche Wesen, die mehr »Mittel- sind als andere? Zweifellos geht es hier im wesentlichen um die Gleichheit aller vor dem moralischen Gesetz, das befiehlt, seine Pflicht zu erfüllen. Aber ist dieses unhintergehbare Recht auf Pflichterfüllung nicht bedroht, wenn die Pflichten verschieden sind?
Im Jahrhundert der Aufklärung sind sich alle darüber einig, daß Frauen die Hälfte der Menschheit ausmachen. In seiner Rede an die Genfer Republik, die den Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen eröffnet, schreibt Rousseau:  »Könnte ich jene teure Hälfte der Republik vergessen, die das Glück der anderen Hälfte ausmacht und deren Sanftheit und Weisheit den Frieden und die guten Sitten in ihr aufrechterhalten?«[2]  Die Formulierung von der Hälfte der Menschheit, die Condorcet wieder aufnimmt, darf nicht in quantitativem Sinne verstanden werden: Es gab damals unterschiedliche Auffassungen darüber, ob es je nach Land, Klima, politischem Regime mehr oder weniger Frauen als Männer gibt. Der Begriff der Hälfte ist vielmehr in funktionalem Sinn zu verstehen: Die Frau ist an der Reproduktion der Art beteiligt, sie ist Gattin und Mutter, Tochter und Schwester, sie hat einen Status in der Familie und in der Gesellschaft. Aber die Formulierung von der Hälfte der Menschheit scheint in sich ambivalent, denn merkwürdigerweise ist sie nicht austauschbar: Niemand sagt von den Männern, daß sie die Hälfte der Menschheit seien. Hier beginnt eine subtile Sophisterei: Wir haben es mit einer Hälfte zu tun, die nicht genau mit der anderen zusammenzupassen scheint: die weibliche Hälfte wird in Relation zur männlichen Hälfte gesetzt, durch die sie begründet und definiert wird. Durch diese asymmetrische Beziehung wurde es zudem möglich, widersprüchliche Behauptungen aufzustellen, um den Status der Frau negativ oder positiv zu bestimmen. Wir wollen vorerst nur zwei Fälle zitieren: Nach Rousseau kann die weibliche Hälfte keinen Anspruch darauf erheben, so viel wert zu sein wie die andere; Condorcet hingegen macht den Versuch, eine zumindest präsumptive Gleichheit der beiden Hälften zu denken, ein Versuch, der in philosophischen Reflexionen über die Frauen alleine steht. Die meisten Texte bleiben hinter dem Stand der Gedanken von Poullain de la Barre zurück, der in De Vegalite des sexes (1673) und De Veducation des dames (1674, der »Grande Mademoiselle«, Mademoiselle de Montpensier, gewidmet) in cartesianischem Geist, im Namen der klaren und deutlichen Ideen, der rationalen Evidenz im Kampf gegen alle Vorurteile, die Gleichheit von Mann und Frau behauptet. Die von Descartes postulierte Einheit des Geistes garantiert die rigorose intellektuelle Gleichheit der Geschlechter. Daher besteht eines der fatalsten Vorurteile darin, den männlichen Diskurs über die Frauen für wahr zu halten: In diesem Diskurs sind die Männer zugleich Richter und Partei.
Das aufgeklärte Jahrhundert ist insgesamt weniger kühn. Die Beharrlichkeit der Vorurteile über das »schöne Geschlecht« (als ob die Schönheit sich nur auf einer Seite befände) scheint umso paradoxer zu sein, als die Aufklärung offen jede Meinung bekämpft, die sich nicht auf die Vernunft gründet, und ebenso jedes gedankliche System, das diese Prämissen nicht anerkennt. Ein weiteres Paradox liegt darin, die intellektuelle Ungleichheit der Frau zu behaupten, während es gerade Frauen (von gehobenem sozialen Rang) sind, die die Salons führen, in denen sich der philosophische Geist verbreitet, und die dadurch einen Beitrag leisten zum Aufschwung der Literatur wie zur Verbreitung der Wissenschaften. Die Marquise du Chatelet übersetzt die Principia mathematica philosophiae naturalis von Newton, Madame Lepaute, Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Beziers, verfaßt die Memoires d'astronomie und eine Table des longueurs de pendules - man könnte eine beträchtliche Anzahl intellektueller Leistungen von Frauen aufzählen.
Aber haben die Frauen wirklich gefordert, für gleich erklärt zu werden? Glaubt man gewissen männlichen Äußerungen, so fordern sie die Gleichheit deshalb nicht, weil sie kein Interesse daran haben. Montesquieu schreibt in Mes pensees: »Es ist bemerkenswert, daß außer in besonderen Fällen Frauen kaum jemals Anspruch auf Gleichheit erhoben haben: Denn sie haben bereits so viele andere natürliche Vorteile, daß die Gleichheit an Macht gleichbedeutend mit ihrer Vorherrschaft wäre.[3]

Der männliche Diskurs

Folgt man der Sicht männlichen Philosophierens, so gibt es zwei Diskurse - einen Diskurs des Mannes über den Mann und einen Diskurs des Mannes über die Frau, und damit für die beiden ungleichen Hälften der Menschheit eine jeweils andere Weise,  etwas zu sagen,  zu beschreiben oder zu definieren. Das Subjekt dieser Rede ist natürlich der Mann, der sich zum Objekt machen kann, ohne seine Eigenschaft als Subjekt aufzugeben. Die Frau ist nur Objekt eines Diskurses. Die in der Regel unbewußte Absicht dieser Diskurse besteht darin, zu rechtfertigen oder zu verteidigen, in jedem Fall jedoch, das der anderen Hälfte aufgebürdete Schicksal zu legitimieren. Wir wollen hier nicht die Existenz »neutraler« Diskurse über die Menschheit leugnen; aber solche Texte gehören in den Bereich der Naturgeschichte, welche die menschliche Art erforscht, indem sie diese mit den Tieren vergleicht, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden. Diesem Zweig der vergleichenden Forschung geht es eher darum zu bestimmen, was den Menschen im Verhältnis zum Tier ausmacht, und nicht in erster Linie darum, was den Mann von der Frau unterscheidet. Buffon studiert den Menschen von einem naturalistischen Standpunkt aus: Der Mensch ist ein Tier, das ißt, fühlt, denkt, spricht... Dieser Mensch besteht aus einem materiellen Körper und einer Seele, Organ der Erkenntnis, er bildet die gleiche Organisationseinheit, gleich ob Mann oder Frau. Buffons anthropologisches Interesse richtet sich weniger auf den Unterschied zwischen Mann und Frau als auf die Formen des Menschseins in unterschiedlichen Klimazonen.[4]
Als Naturalist behauptet Buffon auch, daß die Muttermilch die beste Nahrung für das Kind sei (eine Idee, die damals aufkam und die Rousseau in Emile verteidigen wird):

»Wenn die Mütter ihre Kinder nähren würden, so würden diese allem Anschein nach stärker und kräftiger werden. Die Milch der Mutter muß ihnen besser bekommen als die Milch einer anderen Frau. Denn die Physiologie des Embryos ist ein Hinweis darauf, daß dieser schon vor der Geburt daran gewöhnt ist, während die Milch einer anderen Frau für ihn eine neue Nahrung ist.«[5]

Der männliche Diskurs über die Frau benutzt in den meisten Fällen die erste Person Plural: wir. Wir steht für die Gemeinschaft der Männer, die eine Theorie über die andere Hälfte entwickelt. Es gibt mehr als genug Beispiele, die diesen nicht neutralen Standpunkt des männlichen Sprechens illustrieren. Dem wir der männlichen Gemeinschaft steht diejenige der Frauen gegenüber: die ihrige. Unser Geschlecht, unsere Tugenden, unsere Sitten, unsere Rolle sind nicht die ihrigen. Beispielhaft zeigt sich dieses Verfahren in Rousseaus Emile. Emile umfaßt fünf Bücher, deren Untertitel lautet: oder über die Erziehung. Die ersten vier Bücher entwerfen eine Theorie der Erziehung eines jungen Waisenknaben, der von einem philosophischen - also von einem aufgeklärten - Erzieher über die Natur, über die Kindheit und über den Menschen unterrichtet wird. Diese vier Bücher tragen keinen besonderen Untertitel. Nicht so das fünfte, in dem die Gefährtin auftaucht. Deren Bestimmung ist es, Emile glücklich zu machen, und ihre Erziehung ist einzig auf diesen Zweck ausgerichtet. Dieses Buch trägt den Untertitel: Sophie oder die Frau. Der Unterschied in der Behandlung der Geschlechter springt bereits ins Auge, wenn man die Anlage des Werkes betrachtet, ohne dem Inhalt vorgreifen zu wollen. Das vierte Buch, in dem Sophie noch nicht vorkommt, enthält einen Abschnitt mit dem Titel Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, der die Seele Emiles zur intuitiven, gefühlsmäßigen Erkenntnis des höchsten Schöpfers der Natur, des gerechten und guten Gottes, des Garanten für die Ordnung der Welt und die menschlichen Tugenden anleiten soll. Sophie hat kein Recht, in diesen Diskurs der Vernunft einzutreten. Sie muß sich, im fünften Buch, mit einem elementaren Katechismus begnügen, der aus Fragen und Antworten besteht, die ihr das Kindermädchen stellt und die sich auf wenige Worte beschränken. Dieser Katechismus lehrt ein Grundwissen, das für das Leben sicher von großem Nutzen ist: Ein jeder Mensch wächst auf, pflanzt sich fort, wird alt und stirbt.
Auf die komplexe, vielleicht widersprüchliche Frage nach der Natur der Frau, wie Rousseau sie sieht, ist noch zurückzukommen. Aber die Form seines Diskurses ist deutlich: Als Parodie des ersten Satzes im Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (»Ich habe über den Menschen zu sprechen, und die Frage, die ich untersuche, lehrt mich, daß ich zu Menschen sprechen werde«) kann man festhalten, daß Rousseau in Emile als Mann zu Männern über die Frau spricht. »Beginnen wir also damit, die Übereinstimmungen und Unterschiedlichkeiten unserer beider Geschlechter zu untersuchen«,[6] schreibt er zu Beginn des fünften Buches. An der gleichen Stelle wird behauptet: »In allem, was nicht mit dem Geschlecht zusammenhängt, ist die Frau ein Mann«: Hat sie nicht die gleichen Bedürfnisse, die gleichen Fähigkeiten? Die Frage ist weniger klar, als es scheint. Aber zugegeben: Man muß wohl eine gewisse Übereinstimmung zwischen Mann und Frau einräumen, und sei es nur, was ihre Fähigkeiten betrifft, denn - eine bedrohliche Perspektive - wie könnte sie sonst die Mutter unserer Söhne sein. Damit bleibt, daß die Frau sein soll, was sie ist, und nicht so tun soll, als wäre sie ein Mann. Nur der männliche Maßstab kann sie in ihrer Eigenart ermessen, und die so Gemessene kann den Maßstab nicht in ihre Macht bringen. Deshalb sollen bei der Frau nicht die Qualitäten des Mannes gepflegt werden; die Mütter sollen aus ihrer Tochter nicht einen ehrenwerten Mann machen, sondern eine ehrenwerte Frau, was, wie Rousseau versichert, »für sie und für uns besser sein wird«. Daraus folgt, »daß die Methode ihrer Erziehung in dieser Hinsicht der unsrigen entgegengesetzt sein muß«.
Aber man könnte einwenden, daß in manchen männlichen Diskursen den Frauen sehr wohl das Wort erteilt wird.  Montesquieu oder Rousseau beispielsweise lassen sie, wenn schon nicht sprechen, so doch Briefe schreiben; in den Perserbriefen kommen die Damen des Serail zu Wort, und in der Neuen Heloise äußert sich Julie. Wir haben es hier jedoch nicht mit einem weiblichen Diskurs zu tun, sondern mit einer doppeldeutigen männlichen Rede, da sie so tut, als sei sie die des anderen Geschlechts. Julie ist nichts anderes als die von Rousseau erträumte Frau, eine so vollkommene Frau, daß sie die Nicht-Transparenz ihres Schöpfers sich selbst gegenüber vergessen läßt. In der blutigen Revolte Roxanes in dem zerstörten Serail der Perserbriefe kommt vielleicht nur Montesquieus Faszination und Entsetzen vor dem unausweichlichen Schicksal des Despotismus zum Ausdruck.
Der männliche Diskurs in seiner gewöhnlichen Form (als Ausdruck vorgefaßter Ideen) findet sich in dem Artikel »Frau« der von d'Alembert und Diderot herausgegebenen Enzyklopädie. Hier werden die theoretischen Schwierigkeiten deutlich: Wer kann die Frau definieren, wenn ihr die Möglichkeit verwehrt wird, sich selbst zu definieren? Und wie, von welchem Blickwinkel aus kann man sie definieren?
Der Artikel »Frau« enthält drei Ausführungen von drei verschiedenen Autoren. Schon im ersten Beitrag aus der Feder des Abbe Mallet ist der Begriff »Frau« Gegenstand eines Systems von Verweisen. In der Enzyklopädie werden die in einem Artikel behandelten Begriffe im allgemeinen mit anderen in Verbindung gebracht, welche die erste Information erhellen, weiter ausführen und belegen sollen. Der erste Artikel »Frau« verweist auf die Artikel «Mensch/Mann«, »(Tier)Weibchen«, »Geschlecht«. Das ist nicht erstaunlich, wird die Frau doch folgendermaßen definiert: »Sie ist das Weibchen des Mannes.« Der Artikel »Mensch/Mann« enthält ebenfalls Verweise, die allerdings für die gesamte Art gelten. Über den Zustand des menschlichen Wesens vor seiner Geburt erfahren wir etwas in den Artikeln »Fötus«, »Embryo«, »Entbindung«, »Empfängnis«, »Schwangerschaft« etc.
Der Artikel «Mensch/Mann« enthält vier Teile. Der erste, von Diderot geschrieben, ist eine sehr allgemeine Definition, die für die gesamte Gattung zu gelten scheint: Der Mensch ist ein Wesen, das fühlt, reflektiert, denkt, das mit einem Körper und einer Seele ausgestattet und das fähig ist, Gutes und Böses zu tun. In diesem Sinne ist er ein moralisches Wesen, das in der Gesellschaft lebt, sich Gesetze gibt, und mitunter ist er auch Herrscher, das heißt, der Mensch ist ein politisches Tier. Der zweite Teil des Artikels, der unter dem Aspekt der Naturgeschichte ebenfalls von Diderot geschrieben wurde, besteht aus einer Beschreibung des Mannes und der Frau in anatomischer und physiologischer Hinsicht. Der eng an Buffon und Daubenton angelehnte Text betont im wesentlichen die natürlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau: Geschlecht, Kraft, Langlebigkeit etc. Ein neutraler Diskurs, aber immer von »unserem« Standpunkt aus: »Die vordere Körperpartie der Frau ist in jedem Lebensalter höher als die unsere...« Der dritte Teil behandelt den Menschen als moralisches Wesen: Er stammt aus der Feder von Charles-Georges Le Roy. Als moralisches Wesen ist die menschliche Art in dem, worin sie sich vom Tier unterscheidet, zu verstehen, nämlich durch ihre Fähigkeit, zu erkennen, zu arbeiten, sich nicht allein vom Instinkt leiten zu lassen, sondern sich bestimmten Sitten entsprechend zu verhalten. Hier kommt der Einfluß der Erziehung ins Spiel, durch die die Menschen geformt und verändert werden können. Ganz wie der Mann ist die Frau abhängig von ihrer Erziehung, aber jedes Geschlecht wird anders erzogen. Die männliche Ordnung bestimmt die Erziehung der Frau, eine Ordnung, die, wie der Autor betont, den Männern selbst schade.  Im vierten Teil behandelt Diderot den Mann/Menschen unter dem Aspekt der Politik; hier ist die Rede von den ökonomischen Aktivitäten, dem Wohlstand, dem sozialen Wohlergehen, der Bevölkerung. »Aus Kindern werden Menschen. Man muß daher dafür Sorge tragen, die Kinder zu bewahren, indem man den Vätern, den Müttern und den Ammen besondere Aufmerksamkeit schenkt.«
Der Artikel »Frau« ist hingegen in drei Teile aufgeteilt: Anthropologie (Abbe Mallet), Naturrecht (de Jaucourt), Moral (Corsambleu Desmahis). Der erste Teil, der anscheinend zusammenhangslos auf Galen, die Hebräer und auf Daubenton verweist, behandelt die Frage der Inferiorität der Frau und untersucht deren natürliche und kulturelle Gründe. Manche Philosophen (z. B. Marsilius Ficinnus) und Anatomen haben behauptet, daß vom organischen Standpunkt aus gesehen die Frau ein verfehlter Mann sei. Aber wird damit nicht der Natur zugeschrieben, was in Wirklichkeit ein männliches Urteil ist? Ist die weibliche Inferiorität mit der Gleichheit der Geschlechter unvereinbar? Abbe Mallet formuliert einen Widerspruch, indem er ihn zu lösen gedenkt: »Die verschiedenen Vorurteile hinsichtlich der Überlegenheit des Mannes entstanden durch die Bräuche der alten Völker, die politischen Systeme und die Religionen, die sie ihrerseits verändert haben. Ich nehme die christliche Religion davon aus, die (...) eine wirkliche Überlegenheit des Mannes eingeführt und gleichzeitig der Frau die Rechte der Gleichheit bewahrt hat.«
Der von de Jaucourt geschriebene Teil behandelt den Status der Frau (das Weibchen des Mannes) aus der Sicht des Naturrechts. Er definiert die Frau als Besitz ihres Mannes. Da das Ziel des gesellschaftlichen Zusammenschlusses die Vermehrung und Erhaltung der Art ist, tragen Vater und Mutter dazu bei, diesen natürlichen Zweck zu verwirklichen, aber »es ist wesentlich, daß die Regierungsgewalt dem einen oder anderen gehört«.  Das  Beispiel der zivilisierten Nationen beweist zur Genüge, daß die Frau sich dem Mann unterordnen muß. Dennoch betont der Artikel von de Jaucourt, daß die Unterordnung der Frau unter die Gewalt des Ehemannes »nicht ohne Gegenrede ist«. Der Autor stellt fest, daß das Prinzip der Gleichheit der in der Natur begründeten Rechte verletzt wird durch die Behauptung der Überlegenheit des einen Geschlechts in der Ehe, die auf einem Vertrag beruht, also auf einer freiwilligen wechselseitigen Übereinkunft. Es könnte sehr wohl möglich sein, daß die Unterwerfung der Frau nur ein Resultat der bürgerlichen Konventionen ist, die vom männlichen Geschlecht aufgestellt wurden, ohne je die Frauen nach ihrer Meinung zu fragen. Und doch - so behauptet de Jaucourt - akzeptiert die Frau mit der Heirat die Konvention und damit die Unterwerfung. In genau diesem Sinne impliziert die naturrechtliche Vorstellung von Gleichheit, daß sich die Frau in eine freiwillige Form der häuslichen Knechtschaft begibt.
Der von Desmahis verfaßte Teil behandelt die Frau unter dem moralischen Aspekt. Diesem Beitrag, einem Abriß der üblichen Ideen über »diese Hälfte der menschlichen Gattung«, scheint es nicht um theoretische Kohärenz zu gehen; er definiert ihr Wesen durch folgende Eigenschaften: die Kunst zu gefallen, das angenehme Beiwerk, die Einbildungskraft, ihr Gefallen an Herrschaft und Autorität, das sie nur auf Umwegen befriedigen kann, ihre Verstellungskunst und die hohe Kunst der Koketterie, die eher primitiver Natur zu sein scheint. Diese Allgemeinplätze werden durch die Figur der Chloe illustriert, der kretischen Kokotte, die sich durch ihre Liebeskünste auszeichnet und nur eine Sorge hat: die - oft leidvolle - Suche nach einem oder mehreren Liebhabern. Chloe repräsentiert den unglücklichen Pol der weiblichen Gefallsucht, der andere, zurückhaltende, fast stille Pol ist die tugendhafte Frau, die Gattin und Mutter, dem Mann gefällig, sanftmütig zu den Kindern, gut zu der Dienerschaft. Ihr Reich beschränkt sich auf einen einzigen Ort: Sie ist Hausfrau. Diese Gegenüberstellung der beiden Seiten desselben Geschlechts kann aber die scheinheiligen Gewißheiten - und einige Ungewißheiten - von Desmahis nicht verdecken: Die Natur hat den Männern das Recht verliehen zu regieren, und nur durch die Kunst (die kunstvolle Verstellung) können die Frauen hoffen, sich davon zu befreien. Findet sich diese Kunst daher in der Natur? Die Schönheit des schönen Geschlechts scheint den Gebrauch der edlen Fähigkeiten auszuschließen: »Das Lob des Charakters oder des Geistes einer Frau ist fast immer ein Beweis ihrer Häßlichkeit; es scheint, daß das Gefühl und die Vernunft nur eine Zugabe zur Schönheit sind.« Der Charakter der Frau kann nicht festgelegt werden, er hat keine klaren Konturen und ist unstet. Deshalb scheint es unmöglich zu sein, sie zu definieren: Definieren, heißt das nicht, über alle zufälligen Variationen hinaus ein gewisses unveränderliches Wesen auszumachen? »Wer kann die Frauen definieren? Zwar spricht alles in ihnen, aber eine zweideutige Sprache.« Es ist daher Sache des männlichen Diskurses, der das Privileg der Eindeutigkeit besitzt und damit allein die Würde der Sprache, über die Frauen zu sprechen.
Vorausgesetzt, man überließe den Frauen diesen Diskurs, von wo aus und über was würden sie sprechen? »Und wodurch, um Himmels willen! rief Mangogul aus, werden sie sprechen? - Durch den offenherzigsten Teil, der in ihnen ist«, schreibt Diderot in den Geschwätzigen Kleinoden. Dieser offenherzigste Teil ist das Schmuckstück (bijou), das dem weiblichen Körper, wie es scheint, eigen ist, das Geschlecht, das in den Bereich der Natur gehört. Aber spricht letztlich nicht bei jedem menschlichen Wesen der Kopf? Ja, aber der Kopf der Frau ist weniger der Sitz der Vernunft als der lebhaften Sinne. Befindet sich die Frau nicht gänzlich in der Gewalt ihrer umherwandernden Gebärmutter, die ihren Körper und ihren Geist beherrscht? »Die Frau besitzt einen Sinn, der bis zu den fürchterlichsten Krämpfen reizbar ist, sie beherrscht (. . .). Ihr Kopf spricht noch die Sprache ihrer Sinne, wenn diese schon stumm geworden sind.«[8]
Die Männer sprechen von den Frauen abschätzig, nicht wie von ihresgleichen, auch und vielleicht vor allem dann, wenn sie die weiblichen Tugenden loben, erlauben es diese Tugenden, einen unüberwindlichen Unterschied zu markieren. Der männliche Diskurs, der die Stelle des göttlichen Diskurses einzunehmen scheint, ist die Rede des Schöpfers, der mit einer Art Verwunderung von seiner eigenen Schöpfung spricht, dem weiblichen Geschöpf.

Die Natur der Frau

In einem Jahrhundert, in dem die Natur nicht allein als Gegenstand der theoretischen Forschung (Naturgeschichte, Physik, Chemie etc.) begriffen wird, sondern auch als normatives Prinzip fungiert, ist es wichtig, die Frage nach der Eigenart der Natur der Frau zu stellen. Die Frau unterscheidet sich in ihrer körperlichen Konstitution augenscheinlich vom Mann. Aber liegt ihr intellektueller, moralischer, sozialer und politischer Status in der Natur begründet, oder ist er vielmehr in irgendeiner Weise an die Erziehung gebunden, die sie erhalten hat? Wenn es eine weibliche Natur gibt, dann hat die Natur es so gewollt, wenn es wahr ist, daß die Natur Ziele verfolgt und sich nicht auf eine einfache Mechanik reduzieren läßt. Es versteht sich von selbst, daß der herrschende Diskurs, der sich über die Natur der Frau ausläßt, von männlichen Überlegungen ausgeht.
In philosophischen Texten gibt es unzählige Formulierungen wie: die Natur hat gewollt.... die Natur macht, daß . . ., die Frau ist von Natur aus . . . Die zielgerichtete Natur vermischt sich in dem Maße, wie sie Ordnung und Norm ist, mit der Vernunft. Der Rückgriff auf die Natur erlaubt daher, eine rationale Theorie der Weiblichkeit zu entwickeln. Alles geschieht, als habe die Frau ein unmittelbares Verhältnis zur Natur. Auch Männer sind zweifellos natürliche Wesen, aber ihr Sein steht mit der Natur in mittelbarer Beziehung. Die meisten aufgeklärten Philosophen bewegen sich im Rahmen dieses Denkens, das Levi-Strauss das »wilde Denken« nennt: Die Frau gehört zur Natur, der Mann zur Kultur. Das Verhältnis Frau-Natur ist so eng, daß die Natur metaphorisch (aber geht die Metapher nicht dem Wortsinn voraus, wie Rousseau in seinem Essay über den Ursprung der Sprachen behauptet hat?) als Frau betrachtet werden kann. Diderot ist in seiner Abhandlung Gedanken zur Interpretation der Natur erstaunt über die außergewöhnliche Fruchtbarkeit der Natur, die immer neue Formen hervorbringt und sich stets den Blicken zu entziehen scheint:

»Sie gleicht einer Frau, die es liebt, sich zu verkleiden, und deren verschiedene Verkleidungen bald den einen Teil, bald einen anderen durchblicken lassen und denjenigen, die sie unablässig verfolgen, einige Hoffnung darauf geben, einmal ihre ganze Gestalt zu erkennen.«[9]

Aber was ist eine Frau? Zuerst und im wesentlichen ein Wesen, dessen Geschlecht schon dadurch eigenartig ist, daß es nicht dasjenige des Mannes ist. Der sexuelle Unterschied, der von den Anatomen, den Medizinern etc. Studien wird, wirft bisweilen die fundamentale Frage auf: Gab es nicht ursprünglich ein unterschiedsloses Geschlecht, ein gemeinsames Organ, aus dem das Männliche und das Weibliche geboren wurden? Kann man nicht sogar vermuten, daß das männliche Geschlecht nur die Umwandlung des weiblichen Geschlechts ist? So dachte Galen. Kann man nicht behaupten, daß Gott zugleich Mann und Frau ist (vgl. den Artikel »Frau« des Abbe Mallet in der Enzyklopädie, in dem neugierig und beunruhigt zugleich über Hermaphroditen gesprochen wird)?
Die Abhandlungen über das weibliche Geschlecht sind ambivalent. Zum einen wird seine Schönheit unterstrichen, sein Charme, seine unwiderstehliche Anziehungskraft, die es auf das andere Geschlecht ausübt, zum anderen wird seine Schwäche betont, seine Zaghaftigkeit und seine Koketterie, wobei körperliche und moralische Eigenschaften miteinander vermischt werden. Die Nachteile des weiblichen Geschlechts zeigen sich in erster Linie in der Unterjochung unter den Körper, dem die Frau bis zu dem Augenblick unterworfen ist, in dem sie ihre Fruchtbarkeit verliert. Das folgende Zitat stammt aus dem Dictionnaire philosophique von Voltaire (Artikel »Frauen«):

»Körperlich ist die Frau aufgrund ihrer Physiologie schwächer als der Mann, die periodischen Verluste an Blut, die die Frauen schwächen, und die Krankheiten, die durch ihr Ausbleiben entstehen, die Zeiten der Schwangerschaft, die Notwendigkeit, die Kinder zu stillen und fleißig über sie zu wachen, die Zartheit ihrer Glieder machen sie wenig geeignet für alle Arbeiten, für alle Berufe, die Kraft und Ausdauer erfordern.«

Die weibliche Sexualität trägt ihr unglückliches Schicksal in sich. Die weibliche Inferiorität wird auf natürliche Ursachen zurückgeführt und steht in Zusammenhang mit ihrem Geschlecht. Rousseau1" behauptet, daß alles, was nicht zum Geschlecht gehört, der Art gemeinsam ist. daß aber in der Frau das Geschlecht den Vorrang hat: »Es gibt keine Gleichartigkeit zwischen den beiden Geschlechtern im Hinblick auf das Geschlechtliche. Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau ist ihr ganzes Leben lang Frau, oder wenigstens während ihrer ganzen Jugend; alles erinnert sie unablässig an ihr Geschlecht...«"[11] Beim Sexualakt ist der Mann aktiv und stark, die Frau passiv und schwach (wobei Rousseau in diesem Funkt nur die herrschende Meinung wiedergibt), der Mann muß können und wollen, die Frau begnügt sich damit, ein wenig Widerstand zu leisten. Dieses Geschlechterpaar erinnert an ein anderes Paar, an eine Denkfigur, die häufig in Erkenntnistheorien anzutreffen ist: Der aktive Verstand informiert und organisiert die passive Sensibilität. Im übrigen ist für den Mann, in diesem Fall für Emile, der von seinem Erzieher so sorgfältig nach den Gesetzen der Natur erzogen wurde, das sexuelle Bedürfnis kein körperliches Bedürfnis, es ist kein wirkliches Bedürfnis.[12] Das Geschlecht definiert nicht die Natur des Mannes, sondern die der Frau.
Die weibliche Sexualität ist, aufgrund eines komplexen Systems von »Gründen«, die Ursache für ihre Unterjochung. In diesem Punkt wird der Begriff der Natur widersprüchlich.
In der Sexualität der Frau zeigt sich die Natur hemmungslos. Das sogenannte schwache Geschlecht ist von grenzenloser Begierde, es ist verschlingend, eine Eigenschaft, die in bestimmten Klimazonen ein so bedrohliches Ausmaß annimmt, daß die Männer, aufgrund ihrer Polygamie besonders erschöpft, die Frauen um des allgemeinen Friedens willen einsperren. Montesquieu beschreibt Bräuche, die im Zusammenhang mit der stets drohenden Entfesselung der weiblichen Leidenschaften stehen, ohne sie rechtfertigen zu wollen.
Rousseau behauptet, daß sexuelle Beziehungen gewalttätig seien. Obschon der Mann die aktive Rolle spielt und die Frau einzuwilligen scheint, provoziert sie ihn doch unaufhörlich. Auf dieser Ebene ist die Koketterie verheerend, und der Mann lebt unter einer ständigen (allerdings bezaubernden) Bedrohung.
Aber die Natur hat Mittel vorgesehen, um den Zügellosigkeiten der weiblichen Natur einen Riegel vorzuschieben. Sie hat die Frauen mit Ars de«  einem Gefühl ausgestattet, von dem man nicht weiß, ob es nicht auch die zarteste Frucht des sozialen Lebens ist: ihr Schamgefühl. Das Schamgefühl ist die bescheidene Zurückhaltung, die auf dem Bewußtsein der eigenen Fehler gründet und zur Mäßigung anhält: »Alle Völker stimmen gleichmäßig darin überein, daß sie die Unzüchtigkeit der Frauen verachten: Sie hören alle auf die Sprache der Natur. Sie hat die Abwehr und den Angriff geschaffen; und da sie auf beiden Seiten Begierden erweckt, so hat sie der einen die Kühnheit, der anderen die Scham verliehen.«[13] Man findet in Emile [14] eine ähnliche Behauptung, die offensichtlich von Montesquieu inspiriert ist. Die Funktion der Scham liegt nicht nur in der Mäßigung der weiblichen Leidenschaft. Die Scham schützt die Frau auch vor den Angriffen der Männer, erlaubt ihr aber auf subtile Weise, den Mann zu beherrschen. Von Natur aus - hier ein Synonym für eine Art Instinkt - benutzt die Frau das, was ihr gegeben wurde, um scheinbar miteinander unvereinbare Ziele zu erreichen. Eine ganze Reihe von philosophischen Abhandlungen beschäftigt sich mit der (natürlichen?) Kunst der Frauen zu gefallen, zu unterwerfen und letztlich zu herrschen. Der Mann braucht nicht zu gefallen, es genügt ihm, zu sein, das ist das Gesetz der Natur." Rousseau geht davon aus, daß die Frau beinahe schon von Geburt an Schmuck liebt und daß schon das kleine Mädchen kokettiert. Wenn die Frau aufgrund ihrer Natur gefallen will, so begreift man, daß sie nur durch den Blick der anderen existiert, durch den Blick der Männer. Die Frau ist ein Geschöpf der Beurteilung, der Meinung anderer. In diesem Sinne entspricht sie Rousseaus Definition des Menschen, der sich aufgrund seiner gesellschaftlichen Denaturierung darauf reduziert, nur noch eine scheinhafte Existenz zu führen, eine Maske ohne Tiefe zu sein, ein Wesen, das sich seiner nicht mehr gewärtig ist. Dieses Unglück des entfremdeten Menschen, das Rousseau beschreibt und beklagt, ist in seinen Augen der natürliche (und nicht gesellschaftliche) Status der Frau, und Jean-Jacques findet, daß das so gut ist. Montesquieu, der die Vielfalt menschlicher Bräuche erklären will, behauptet ebenfalls, daß der Wunsch zu gefallen Teil der weiblichen Natur ist, die von gewisser sozialer Nützlichkeit ist: Das Gefallen am Schmuck kurbelt den Handel an. Und obschon Frauen die Sitten verderben, bilden sie den Geschmack und nehmen somit am sozialen Leben der Gesellschaft teil.[15] Kant untersucht in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bestimmte Charakteristika des weiblichen Geschlechts. Nachdem er eingangs ermittelt, daß die Frau insofern ein lohnendes Objekt anthropologischer Studien ist, als sie weniger leicht zu analysieren sei als der Mann, greift er einige gängige Argumente auf:  Ihre sogenannte Schwäche benutzt die Frau in Wirklichkeit dazu, den Mann zu lenken, und ihr Wunsch zu gefallen ist nur ein Mittel, um zu herrschen. Der Wunsch nach Herrschaft ist jedoch geschlechtsunspezifisch.
Kants Überlegungen über die Frau sind Teil seiner allgemeinen Theorie des Kulturerwerbs. Kultur ist ein Zustand, nach dem die Natur mit scheinbar unzweckmäßigen Mitteln strebt: Der Mensch kann, wie auch immer, durch bestimmte Verrücktheiten den Zustand der Vernunft erreichen, er wird gesellig durch bestimmte Formen der Ungeselligkeit. Bemerkenswert ist, daß außer der Funktion der Arterhaltung, die ihr zukommt, die Frau, so sehr sie auch Kind sein mag, den Mann zur Moralität führt. Die Frau gehört zur Natur, aber zu einer Natur, deren Ziel die Kultur ist; ohne die Frau ist dieser fragile, aber notwendige Übergang unmöglich:

»Da sie [die Natur] auch die feineren Empfindungen, die zur Kultur gehören, nämlich die der Geselligkeit und Wohlanständigkeit, einflößen wollte, machte sie dieses Geschlecht zum Beherrscher des männlichen, durch seine Sittsamkeit, Beredtheit in Sprache und Mienen.«[17]

Die Vernunft der Frau

Die Unterlegenheit der Frau, die in ihrem geschlechtlichen Anderssein wurzelt, wird natürlich auf ihr ganzes Wesen und vor allem auf ihre intellektuellen Fähigkeiten übertragen. Ist sie wirklich mit Geist, mit einem rationalen Vermögen ausgestattet? Gehört sie wirklich zur menschlichen Spezies, so muß die Antwort, zumindest theoretisch, ja lauten. Faktisch freilich stand der Theorie von der intellektuellen Gleichheit der Geschlechter eine einhellig ablehnende männliche Meinung gegenüber. Wenn es stimmt, daß die Schönheit das Privileg der Frau ist, und wenn Vernunft nicht ein für alle Mal gegeben ist, sondern gepflegt werden muß, dann kann die Frau nicht gleichzeitig die Schönheit (die nur so kurze Zeit währt) und die Vernunft (die für ihre Entwicklung so lange Zeit braucht) besitzen. So behauptet Montesquieu in seiner Schrift Vom Geist der Gesetze, daß zumindest in den südlichen Ländern, wo das warme Klima die Ursache für die frühreife weibliche Sexualität ist, beide Geschlechter natürlicherweise ungleich sind. Diese Ungleichheit bringt notwendigerweise die Abhängigkeit der Frau vom Mann mit sich: »Verstand und Schönheit sind also niemals bei ihnen vereint. Wenn die Schönheit die Herrschaft verlangt, läßt der Verstand sie nicht zu, und wenn der Verstand sie einnehmen könnte, dann ist die Schönheit vorbei. Die Frauen müssen in Abhängigkeit bleiben.«[18]
In Ländern mit gemäßigtem Klima, wo die Frau später als ihre orientalischen  Schwestern  heiratsfähig  wird,  bleibt  ihre  Schönheit  länger erhalten und kann mit etwas Verstand einhergehen. Das erklärt die Monogamie gegenüber der Polygamie, die in den warmen Klimazonen herrscht. Aber auch in Ländern mit gemäßigtem Klima kann es sich nur »um eine Art Gleichheit der beiden Geschlechter« handeln.
Daß die Frau keinen Verstand oder nur einen minderwertigen Verstand hat, ist für die meisten der aufgeklärten Philosophen von beruhigender Evidenz, welche sich auf Tatsachen zu stützen vermeint. Zu diesen am häufigsten zitierten Tatsachen gehört, daß es keine Erfinderinnen gibt; Frauen sind keine Genies, auch wenn sie Zugang zur Literatur und zu bestimmten Wissenschaften haben können. Diese Unfähigkeit erklärt sich aus einer »natürlichen« Psychologie. Die Frau ist das Wesen der Leidenschaft, der Vorstellungskraft, nicht des Begriffs. Rousseau karikiert geradezu die Überzeugung, daß die Frau zwar nicht ohne jeden Verstand sei, dieser aber bei ihr einfacher sei als beim Mann, sie ihn nur in dem Maße pflegen müsse, in dem sie ihn braucht, um ihren natürlichen Aufgaben nachzukommen (dem Mann zu gehorchen, ihm treu zu sein, für die Kinder zu sorgen). Die Frau verharrt nach Rousseau immer im Zustand der Kindheit; sie ist unfähig, etwas zu sehen, das sich außerhalb der Welt der Häuslichkeit befindet, welche die Natur ihr zugewiesen hat; daraus folgt auch, daß sie »exakte Wissenschaften« nicht ausüben kann. Die einzige Wissenschaft, außer derjenigen ihrer Pflichten (die sie tatsächlich intuitiv kennt), die sie kennen muß, ist die von den sie umgebenden Menschen und vor allem ihres Gatten, eine Wissenschaft, die auf dem Gefühl beruht. Die Welt, behauptet Rousseau, ist das Buch der Frauen, die kaum andere Lektüre brauchen. Nur zum Konkreten hat die Frau eine Beziehung. Die Rolle der Frau ist es, in vielen verschiedenen Herzen zu lesen, während die Männer über das menschliche Herz im Allgemeinen philosophieren. Die Unfähigkeit, wie der Mann zu denken, zeigt sich unter anderem darin, daß es der Frau nicht möglich ist, Glaubensgründe im religiösen Bereich zu verstehen. Damm soll das Mädchen die Religion seiner Mutter annehmen, und die Frau die ihres Mannes. Alles scheint klar zu sein: Der weibliche Geist hat keine begrifflichen Vorstellungen, die Vernunft der Frau ist keine theoretische Vernunft:

»Die Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten, der Prinzipien, der Axiome in der Wissenschaft, alles was darauf hinaus will, die Vorstellungen zu verallgemeinern, gehört nicht zu den Aufgaben der Frauen, ihre Studien müssen sich alle auf die Praxis beziehen; ihre Sache ist es, die Prinzipien, die der Mann erforscht hat. anzuwenden und die Beobachtungen anzustellen, die den Mann zur Aufstellung der Prinzipien führen.[19]

Rousseau und mit ihm ein Großteil der aufgeklärten englischen und französischen Philosophen schließt sich damit dem schon von Locke und Condillac aus formulierten Paradox an, das in der empiristisch-sensualistischen Erkenntnistheorie herumgeistert. Diese Theorie behauptet im Unterschied zu Descartes und Leibniz. die davon ausgehen, daß Ideen dem menschlichen Geist angeboren sind und nicht aus der Erfahrung hervorgehen, daß die Idee nur das komplexe Produkt von Vergleichen und Kombinationen sei, die das Rohmaterial der Erkenntnis, die Sinneswahrnehmung, verarbeiten und organisieren. Wie auch immer die bisweilen nicht miteinander zu vereinbarenden Unterschiede in den sensualistischen »Systemen« aussehen mögen, so lassen sie doch eine gemeinsame Absicht erkennen: Condillac behauptet, daß am Anfang die Sinneswahrnehmung stehe, ohne deswegen die Existenz eines äußeren Objektes außerhalb unserer selbst zu setzen, andere neigen im Gegenteil zu einer materialistischen Systematisierung des Empirismus, insbesondere Diderot; andere schließlich, wie etwa Rousseau, behaupten weiterhin die Spiritualität der Seele und die Dualität der beiden Substanzen. Ausgehend von der Sinneswahrnehmung soll die Genese der komplexen Ideen beschrieben werden. Dieser genetische Prozeß ist einer doppelten Bewegung unterworfen: Durch eine Analyse der Inhalte des Denkens gelangt man zum Ursprung unserer Ideen, und man entwickelt von diesem Ursprung aus den Mechanismus der mentalen Vorstellungen. In diesem Prozeß spielen Gedächtnis und Vorstellungskraft eine Schlüsselrolle. Sich erinnern, sich etwas vorstellen, das heißt, sich in der Vorstellung einen Eindruck vergegenwärtigen zu können, dessen Objekt, das ihn hervorgerufen hat, gegenwärtig abwesend ist. Die Vorstellungen miteinander zu vergleichen, ihnen Zeichen der Sprache zuzuordnen, das erlaubt, zu einem Urteil zu gelangen. Urteilen besteht daraus, Begriffe, die ein Zeichen haben, und abstrakte Vorstellungen miteinander in Beziehung zu setzen. Abstrahieren, Verallgemeinern ist die eigentliche Arbeit des Verstandes. Die Genese der Fähigkeiten von der Sinneswahrnehmung hin zur abstrakten Idee ist charakteristisch für die ganze menschliche Art und für die psychologische und intellektuelle Entwicklung des Individuums, ohne Unterschied des Geschlechtes, der Rassen und Kulturen. Aber nur in der Theorie, nicht in der Praxis. Der vorherrschende Diskurs der aufgeklärten Philosophen geht so vor, als ob in der weiblichen Natur der genetische Prozeß der Erkenntnis, der zum abstrakten Denken führt, ins Stocken geraten wäre. Der Frau die Fähigkeit zur Abstraktion und Verallgemeinerung abzusprechen, also im strengen Sinne die Fähigkeit zu denken, heißt zu behaupten, daß dieser genetische Prozeß nur für die Männer gilt. Die Frau scheint im Stadium der Imagination steckengeblieben zu sein. Aber um welche Art von Imagination handelt es sich? Weniger um diejenige, die einen Beitrag zur Erkenntnis leistet, als um die stets trügerische Imagination, die uns Wünsche für Wirklichkeit halten läßt und die unaufhörlich in die Irre führt und Trugbilder auftauchen läßt. Die Imagination, eine Meisterin des Irrtums und der Falschheit, trägt das Siegel der Kindheit. Man kann durch übersteigerte Einbildungskraft krank und verrückt werden und sogar sterben. Deshalb erklärt die Fixierung des weiblichen Geistes auf das imaginative Stadium, daß die Frau Kind bleibt, zerbrechlich und unkontrollierbar. Zu den unerläßlichen, aber immer unzulänglichen Heilmitteln gegen diese latente »Verrücktheit., des weiblichen Wesens zählt das Verbot der Lektüre von Romanen, dieser fiktiven Werke, die nur ein gefestigter männlicher Geist zu benutzen vermag.
Aber die Entwicklung der weiblichen Fähigkeiten auf ein Stadium zu fixieren, das der Mann überwindet, läuft darauf hinaus, die Kohärenz des genetischen Empirismus, der die Historizität der menschlichen Gattung und des Individuums impliziert, ernsthaft zu gefährden. Die Spezies Mensch hat eine Geschichte, ob sie nun als mehr oder minder gradliniger teleologischer Prozeß begriffen wird oder als Geschichte des Verlustes einer natürlichen Gleichheit, die der Gesellschaftsvertrag auf einer neuen Basis wiederherstellen soll. Die intellektuelle Entwicklung der Frau auf die sinnliche Intuition, auf die ungeregelte Imagination zu beschränken, ohne daß sie durch männliche Strenge normiert wird, heißt zu behaupten, daß die Frau keine Geschichte hat. Beschränkt auf ihre Funktionen und Pflichten, bleibt sie mit sich selbst identisch:

»Ihnen [den Männern] gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und achten lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, als Männer für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten: das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muß.»***449.10.20**

Rousseaus Radikalität kennt auch in diesem Punkt keine Mäßigung: Die »andere Hälfte« des Menschengeschlechts teilt gleich den »Wilden«, um mit Levi-Strauss zu sprechen, die Merkmale der kalten Gesellschaften, d. h. sie verstehen sich im Unterschied zu den warmen oder »zivilisierten« Gesellschaften nicht als Gesellschaft mit Geschichte.

Eine »natürlicherweise« natürliche Rolle

Aus der sexuellen und intellektuellen Unterlegenheit der Frau, aus ihrer natürlichen Rolle bei der Fortpflanzung und der Aufzucht der Kinder folgt natürlicherweise eine Definition ihrer Funktion und ihrer Rolle. Die Frau ist im wesentlichen Gattin und Mutter (was den gerne antiklerikalen Aufklärern erlaubt, das naturwidrige klösterliche Leben zu kritisieren, und dies um so mehr, als die jungen Mädchen aus bestimmten sozialen Schichten in Klöstern von Nonnen erzogen werden, die nicht wissen können, was es heißt, Mutter und Gattin zu sein, da sie nur Braute Jesus Christi sind). Es ist überflüssig, hier die vielen Abhandlungen aufzuzählen, die die Frauen an ihre Pflichten gemahnen: Kinder zu gebären und sie zu stillen, wie die Natur es fordert. Man kann sich nur schwer vorstellen, daß eine Frau nicht verheiratet ist, daß sie keine Kinder hat. Die Rolle der Gebärerin geht einher mit dem Status einer Dienerin des Hauses. Die Sorge um den Mann, die Kinder und das Haus beinhaltet so viele Pflichten, daß es grausam wäre, die Frauen mit anderen Sorgen zu belasten. Montesquieu behauptet - unter dem Schleier der orientalischen Frau -  daß diese Aufgaben so zeitraubend seien, daß Frauen besser darauf beschränkt bleiben sollten; daher sei es von großem Nutzen, die Frauen in einem Serail einzusperren.[21] Rousseau wird durch eine ganz andere Kultur inspiriert, aber seine Idee ist ähnlich. Die jungen Frauen Spartas blieben nach ihrer Heirat in ihren Häusern eingeschlossen und waren nur für ihren Haushalt und für ihre Familie da: »Das ist die Lebensweise, die dem weiblichen Geschlecht von Natur und Vernunft vorgeschrieben wird.«[22]
Die Aufklärung teilt das in Sparta ebenso wie im Orient praktizierte Modell der Geschlechtersegregation, das vorsah, Frauen einzuschließen und von den Männern abzusondern, die sich um die öffentlichen Angelegenheiten, um die Regierung, den Staat kümmern und deren Ruhe durch das weibliche Geschlecht nur gestört wird. Diese Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern gehört auch zum aufgeklärten Jahrhundert. Natürlich gibt es etliche Proteste von philosophischer Seite gegen willkürliche Heiraten, die sich nicht auf das gegenseitige Einverständnis gründen, wie es der Begriff des Vertrags erfordert (obwohl Rousseau meint, daß das Urteil eines Vaters bei der Verheiratung seiner Tochter weiser sei als das Urteil der zukünftigen Gattin, glaubt man dem Vater von Julie in der Neuen Heloise). Aber abgesehen von einigen Einzelfällen ist der Status der Ehegatten zutiefst ungleich. Der Ehemann ist das Oberhaupt der Familie, Herr über seine Frau, seine Kinder und gegebenenfalls über seine Dienerschaft. Rousseau legt dem Erzieher von Sophie folgende Ratschläge in den Mund: »Nun, da Emile Ihr Gatte geworden ist, ist er Ihr Oberhaupt geworden; an Ihnen ist es, zu gehorchen, so hat es die Natur gewollt.«[23] Entspricht eine Frau dem Idealbild Sophie, so ist es gut, wenn der Mann von ihr geführt wird; auch das ist ein Gesetz der Natur. Das Gesetz der Natur ist gekennzeichnet durch eine subtile Dialektik von Beherrschung und Unterwerfung. Aber Sophie kann den Mann nur in dem Maße fuhren, in dem sie für ihn entworfen und geformt wurde. Das formale Argument, das sich in vielen »aufgeklärten« Schriften findet, in denen die Ungleichheit der Geschlechter in der Institution Ehe Ars der Philosophie des 18. Jahrhunderts    351 gerechtfertigt wird, beruht auf der unhinterfragten Vorstellung, daß eine Partei der anderen überlegen sein muß, wenn die Verbindung unauflöslich sein soll. Durch die Gleichheit würde sich die Verbindung sehr schnell auflösen. Die Ehe ist anscheinend nicht kompatibel mit der Vorstellung einer Demokratie unter den Gatten. Das Paradox liegt darin, daß die Ehe zwar als ein freiwilliger Vertrag aufgefaßt wird, aber tatsächlich auf einer vertraglichen Unterwerfung beruht. In einem Jahrhundert, in dem bestritten wird, daß ein Mensch sich durch einen Vertrag unterwerfen kann, und in dem jede Theorie denunziert wird, die Sklaverei auf einem Willen begründet sieht, läßt man es zu, daß es zwischen der Frau und ihrem Herrn einen Knechtschaftsvertrag gibt. Dazu Kant:

»Ein Teil muß im Fortgange der Kultur auf heterogene Art überlegen sein: der Mann dem Weibe durch sein körperliches Vermögen und seinen Mut, das Weib aber dem Manne durch ihre Naturgabe, sich der Neigung des Mannes zu ihr zu bemeistern; da hingegen im noch unzivilisierten Zustande die Überlegenheit bloß auf der Seite des Mannes ist«.[24]

Zusätzlich zu ihren Pflichten als Gattin und Mutter und als Hüterin des Hauses ist die Frau in der Ehe vor allem zur sexuellen Treue verpflichtet. Über diesen Punkt gibt es zahllose Abhandlungen, die alle einen einfachen Grund anführen: Die weibliche Untreue erschüttert die Grundfesten der Gesellschaft, das heißt der Familie. Die Untreue läßt den Mann im Unklaren darüber, ob das Kind von ihm ist. Wie aber kann man Oberhaupt der Familie bleiben, wenn man sich des Rechtes der Vaterschaft und des Besitzes an den Kindern nicht sicher ist? Die Untreue des Mannes wird weniger strikt untersagt, man mag sich fragen, warum. Wenn ein Mann sexuelle Beziehungen mit einer anderen verheirateten Frau hat, gefährdet er dann nicht die Rolle des von ihm mit betrogenen Ehemanns als Vater und Familienoberhaupt? Auch hier zeigt sich die Asymmetrie insofern, als der Diskurs des Mannes über seine Frau vergißt, daß es andere Männer gibt, die auch eine Frau haben. Wie dem auch sei, daß größte Unglück, das Emile trifft, ist weniger, daß Sophie ihn betrogen hat. als die Tatsache, daß sie schwanger ist von einem anderen Mann. Ist hier der Gatte oder das Familienoberhaupt mehr verletzt?
In der Neue Heloise legt Rousseau Julie das Plädoyer für die eheliche Treue, vor allem die der Frau, in den Mund: Wer an die Existenz Gottes und an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, kann auch nicht den kleinsten Verstoß hinnehmen, der das heilige, unzerstörbare Band der Ehe gefährdet. Daß beide Ehegatten einige Freiheiten haben könnten - sexuelle Libertinage außerhalb dieses heiligen Bandes! -, ist eine der katastrophalen Konsequenzen der materialistischen Philosophie! Dieser perversen Philosophie stellt sich die Stimme der Natur entgegen: Ein Vater kann kein Kind akzeptieren, das nicht von seinem Blut ist. Julie verteidigt ihr Geschlecht gegen die Theoretiker: Welch naive Subtilität Rousseaus, der eine Frau einen Diskurs führen läßt, der in Wahrheit von den Interessen des Mannes diktiert wird.

»Betrachte ich insbesondere mein eigenes Geschlecht, wieviel Übe! nehme ich nicht in dieser Unordnung wahr, von der sie vorgeben, sie richte nichts Übles an! Wäre es auch nur die Erniedrigung einer schuldigen Frau, welcher der Verlust der Ehre auch bald alle anderen Tugenden nimmt!«[25]

Gefangene

Hume behandelt in seinem Traktat über die menschliche Natur die Frage der Keuschheit und Treue der Frau im Rahmen einer Theorie der Leidenschaften. Indem er die menschliche Natur genetisch analysiert, stellt er fest, daß kein Trieb wirklich angeboren ist, sondern immer nur das Produkt verschiedener Eindrücke. Der Mechanismus der Anziehungskraft der Schönheit zwischen den Geschlechtern ist nicht komplizierter als die Anziehungskraft eines guten Gerichts auf einen Menschen, der Hunger hat. Mann und Frau haben von Natur aus dieselben Wünsche und Leidenschaften. Aber die nackte Natur ist kaum beschreibbar. Unsere Natur besteht aus einem Gewebe von Beziehungen, dessen Grundlage vielleicht im wesentlichen gesellschaftlicher Natur ist. So konnte sich die weibliche »Natur« herausbilden. Es ist eine Tatsache, daß es ein Schamgefühl (shame, modesty) gibt, das sich vor allem mit der Untreue der Frau verbindet. Aber warum wird die Überschreitung des ehelichen Gesetzes durch die Frau als das schlimmere Übel betrachtet? Kein objektiver Grund scheint eine solche Betrachtung rechtfertigen zu können. Wenn die Theorie versagt, muß man sich auf die Praxis, die Sitten berufen. Die Keuschheit der Gattin und ihre Treue sind keine Verpflichtung, die durch die Natur gerechtfertigt wird, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Die völlige sexuelle Freiheit der Männer wäre gegen die Interessen der bürgerlichen Gesellschaft, umso mehr noch die sexuelle Freiheit der Frauen. Denn wer könnte sich dann seiner Vaterschaft sicher sein? Hume rechtfertigt nichts, er gibt vor, lediglich zu beschreiben, was sich nach einem langen Prozeß eingebürgert hat. Es handelt sich zweifellos um die menschliche Natur, aber diese seltsame Natur beruht auf der allmählichen Annahme von Gewohnheiten. Daher wird der Begriff der Natur nur dann ganz verständlich, wenn er in einen Prozeß der Relativierung eingebettet wird.
In Vom Geist der Gesetze entwickelt Montesquieu eine Theorie, die diesen Prozeß erklären soll. Der allgemeine Geist, der die Menschen leitet, wird von zahlreichen Faktoren - Klima, Religion, Gesetze, Maximen der Regierung, Sitten und Gebräuche - beeinflußt, die sich gegenseitig durchdringen und beeinflussen. Was hat eine solche Theorie mit der Frage zu tun, ob es eine weibliche Natur gibt? Die Natur der Frau, wie im übrigen auch die des Mannes, ist vom jeweiligen Klima, der Regierungsform, der Gesetzgebung und den Sitten abhängig. Die weibliche Natur erscheint auf den ersten Blick als im wesentlichen bestimmt durch ihre Lebensbedingungen, besonders durch die Regierungsform, die wiederum vom Klima abhängig ist. Doch um welches politische System es sich auch handeln mag, sei es die antike Republik, in der die Triebfeder des politischen Handelns die Tugend ist, sei es die Monarchie, deren Prinzip die Ehre ist, oder der Despotismus, in der die Triebfeder die Furcht ist: Die Frau hat nie denselben Grad an Freiheit wie der Mann. In gewissen Sinn ist sie immer eine Gefangene. Dies ist, nach der »objektiven« Methode, die Montesquieu anwenden will, eine Feststellung, nicht eine wie auch immer geartete Rechtfertigung. In den antiken Republiken sind die Frauen »nach den Gesetzen frei, aber durch die Sitten gebunden«.[26] Sie sind im Gynäkeion eingeschlossen, und die Gefühle der Männer ihnen gegenüber haben mehr mit Freundschaft als mit Liebe zu tun, welche zwischen Männern praktiziert wird. In den Monarchien (Montesquieu behandelt hier nur die Frauen, deren sozialer Rang es ihnen erlaubt, am Hof empfangen zu werden) sind die Frauen für die Männer in erster Linie Mittel, ihr Vermögen zu vermehren. Die Frau als ökonomisches Subjekt-Objekt trägt zur Entwicklung des Luxus bei. Im Despotismus schließlich ist die Frau nichts als eine Sache. Aber ist Despotismus eine Form der Regierung? Eher ist er deren Negation, ein Grenzfall der Politik, wo die erbärmlichste absolute Gleichheit zu herrschen scheint: Alle sind Sklaven, die Eunuchen, die Frauen, die Wesire, selbst der Sultan wird versklavt durch immer neue Wünsche. Hier spürt man den mächtigen Einfluß des warmen Klimas. Im Despotismus mit seinen riesigen Reichen ist alles Wüste: der Boden wie die Herzen, die nur die Furcht kennen. In diesem Staatstyp »führen die Frauen nicht den Luxus ein, sondern sie sind selbst ein Gegenstand des Luxus. Sie werden als völlige Sklavinnen gehalten.«[27]
Für den Despotismus charakteristisch ist die Angst vor den Frauen, die immer bereit sind zu intrigieren. Deshalb müssen sie im Serail eingesperrt werden. Die Angst vor den Frauen ist die Angst vor ihrer Freiheit, die kopflose Angst eines jeden Despotismus vor der Freiheit als solcher. Die despotische Regierung ist ein Monstrum, das nur durch seine eigenen Mittel zugrunde gehen kann, durch die Gewalt, die Entfesselung eines Vergnügens, das mit dem Tod abgeschlossen wird. Der      letzte Brief der Sultanin Roxane an ihren fernen Gatten setzt eine Katastrophe in Szene: Die Sultanin hat die Eunuchen verführt, das Serail in einen Ort des Vergnügens verwandelt, sie proklamiert ihre Freiheit im Namen der Gesetze der Natur gegen das versklavende Gesetz des Mannes. Nachdem sie diese neue Sprache gesprochen hat, stirbt sie an dem von ihr eingenommenen Gift.2" Gewiß, es handelt sich hier um eine fiktive Katastrophe, ausgedacht von einem Mann aus der gemäßigten Klimazone. Aber für Montesquieu sucht das Gespenst des Despotismus, ebenso wie diese versklavten Frauen, die sich nur unter Strömen von Blut befreien können, jede Regierung heim, die die Gewalten nicht gegeneinander abwägt, die kein Gegengewicht findet gegen die Tendenz zum Mißbrauch, die in der Natur einer jeden Gewalt liegt.
Ausgewogenheit und Mäßigung sind die besten Prinzipien der Politik. Von diesem Standpunkt des Besten aus analysiert Montesquieu: »Es verstößt gegen Vernunft und Natur, daß die Frauen Herrinnen des Hauses sind, (...) aber es steht nichts im Wege, daß sie ein Reich regieren.« Die traditionelle Vorstellung — die Frau als Herrin im Haus, aber ausgeschlossen von der politischen Regierung - findet sich hier auf den Kopf gestellt. Der Grund dafür ist einfach: Die Schwäche der Frau ist unvereinbar mit der Stärke, die das Oberhaupt der Familie besitzen muß, aber dieselbe Schwäche ist eine Garantie für Mäßigung in der Ausübung politischer Macht: »Im ersten Falle gestattet ihre angeborene Schwäche ihnen solch einen Vorrang nicht; im zweiten gewährt ihnen gerade ihre Schwäche größere Milde und Mäßigung, und eben das vermag eher zu einer guten Regierung zu führen als harte und rauhe Tugenden.«[29]
Gibt es unter den vielfältigen Bedingungen, die die weibliche Natur konstituieren, einige wesentliche Merkmale, die die Frau in ihrer Eigenart definieren? Stärke und Vernunft sind von Natur aus männlich, Anmut ist das Merkmal der Frau und die Quelle ihres Einflusses. Aber entwickelt sich die Anmut nicht den Umständen entsprechend unterschiedlich? Der Relativismus verweist wohl auf unveränderliche Merkmale, die aber immer abgewandelt werden können. Hier liegt eine der größten theoretischen Schwierigkeiten von Montesquieus Vom Geist der Gesetze, die auf der Ambivalenz des Begriffs Natur beruht. Montesquieus wissenschaftliches Projekt impliziert, daß die Natur nur ein Prinzip der kausalen Erklärung ist. Alles, was ist, ist in der Natur und kann rational verstanden werden. So gibt es Ursachen für die Schamlosigkeit gewisser Völker und für die Polygamie . . . Aber Natur bedeutet immer auch einen Komplex primitiver Gesetze, die es erlauben, positive Gesetze zu normieren und zu beurteilen, insbesondere in den Fällen, in denen die positiven Gesetze durch die Gesetzgeber verbessert werden müssen.
Verbesserungen vorzunehmen ist in dem Maße notwendig, in dem Mann und Frau Wesen sind, die sich von der Natur entfernt haben. Sich von den Gesetzen der Natur zu entfernen ist nur einem Wesen möglich, das die Natur (oder Gott, das spielt hier keine Rolle) frei gewollt hat. Die ursprüngliche natürliche Vernunft kann unterschiedliche historische Formen annehmen, sie selbst steht der Bewegung und der Zeit fremd gegenüber. Von diesem normativen Gesichtspunkt aus kann Montesquieu die Polygamie, den Despotismus etc. negativ beurteilen und gleichzeitig eine »objektive« Erklärung liefern. Das gilt auch für die Sklaverei in allen ihren Formen.
Die Ambivalenz Montesquieu» liegt darin, daß er zwei Thesen zusammenbringt: Man muß die ursprünglichen Gesetze der Vernunft erhellen, und die Geschichte wird durch die Gesetze erhellt."" Man kann die vielgestaltige Natur der Frau durch das erklären, was mit ihr passiert ist. Aber die Geschichte ihres Geschlechts bietet keine vollständige Erklärung für den Rest, der sie vom Mann unterscheidet und der sich eben nicht auf das Geschlecht allein reduzieren läßt. Damit ist der »objektive« Diskurs, den man über die Frau halten kann, im wesentlichen derjenige, der alle Ursachen betrachtet, die sie dazu gebracht haben, das zu sein, was sie ist. Montesquieu schreibt in Mes pensees: »Die Frauen sind falsch. Das kommt von ihrer Abhängigkeit. Es ist mit ihnen wie mit den Gesetzen des Königs: Je mehr ihr sie verschärft, um so mehr gebt ihr dem Schmuggel Auftrieb.«

Eine notwendige Erziehung

Betrachtet man die bildende oder verbildende Funktion der Erziehung, dann wird deutlich, daß die Frage nach der Natur des Menschen nicht länger nur als Frage nach seinem Wesen begriffen werden kann, sondern immer auch nach seiner Geschichte. Was für den Mann zutrifft, scheint noch zutreffender für Mädchen und Frauen, denen eine andere Erziehung mit anderen Zielen zuteil wird. Hier sei nur daran erinnert, daß die Mädchen darauf vorbereitet werden sollen, ihrer »natürlichen« Rolle als Gattin und Mutter gerecht zu werden, und daß alle im 18. Jahrhundert sich häufenden Abhandlungen über die Erziehung (von denen einige von Frauen geschrieben sind) im wesentlichen auf dem praktischen Aspekt ihrer Ausbildung insistieren. Die Erziehungsvorschläge betonen, zumeist mit den besten Absichten, die Ungleichheit der Geschlechterrollen. Es ist zweifellos möglich, an die natürliche Ungleichheit zu glauben und gleichzeitig die schädlichen Auswirkungen der traditionellen Erziehung (die Klöster etc.) auf die zerbrechliche und formbare weibliche Natur anzuprangern. Diese aufrichtige Verurteilung geht jedoch kaum über eine moralische Kritik hinaus. Sie ist blind dafür, daß die Erziehung zu einem großen Teil für das Verhalten, ja für das Wesen der Frau verantwortlich zu machen ist, wobei es leicht und beruhigend ist. dieses Wesen für ihre Natur zu halten.

Ganz anders bei den Philosophen, die die Gleichheit von Mann und Frau behaupten. Diese Behauptung setzt natürlich voraus, daß alle Fakten, welche die Ungleichheit manifestieren, außer acht gelassen werden. Aber wenn die Fakten sind, was sie sind, so sind sie nur ein Resultat und haben als solche keine erklärende Kraft. Die Gleichheit wird daher gewissermaßen apriori gesetzt, aber welche Gleichheit? Folgen wir zuerst den Gedanken von Helvetius in Vom Geist (dessen erste Ausgabe im Jahre 1758 anonym erschien), der behauptet, die Methode Bacons zu praktizieren, die von den Tatsachen ausgehend zu den Ursachen zurückgeht, in der Absicht, die Natur des Geistes zu beschreiben. Aber was versteht man unter Tatsachen? Eine Tatsache kann beobachtet werden, in diesem Fall die Fähigkeiten des Mannes, seine Handlungen und Leidenschaften etc. Aber die Beobachtung wird geleitet von einer Theorie der Erkenntnis und der Sitten, die den sensualistischen Empirismus radikalisiert: Alle unsere Vorstellungen und alle unsere Handlungen wurzeln in den Sinnen. Das a priori bei Helvetius ist die Idee, daß nichts dem Menschen von Natur aus gegeben ist, alles ist erworben, mit Ausnahme seiner Konstitution als fühlendes Wesen, das fähig ist, alles zu erwerben. Daraus folgt, daß alle menschlichen Wesen, unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, ursprünglich gleich sind. Helvetius begründet diese Gleichheit nicht mit den Naturgesetzen, sondern mit der Identität des Geistes. Alle Männer und alle Frauen haben unter normalen Bedingungen die gleichen Gehirne, also die physische Möglichkeit, zu den höchsten Gedanken Zugang zu finden, Der Motor jedes menschlichen Verhaltens ist Eigennutz, ein Interesse, das unter einer guten Gesetzgebung dem allgemeinen Interesse nicht widerspricht. Aber woher rührt die Ungleichheit? Diese Frage stellt sich für beide Geschlechter, aber auch für das Verhältnis der Menschen untereinander. Die Ungleichheit verdankt sich nicht physischen, klimatischen oder anderen Bedingungen, sie liegt einzig im Bereich des »Moralischen«, das heißt der sozialen und politischen Faktoren, die die menschliche Gattung in ihrer Geschichte bestimmt haben. Die historische Entwicklung hat zu Unterschieden zwischen den Menschen geführt, insbesondere zu »Lastern«, die eher einem Geschlecht eigen zu sein scheinen. Ein Beispiel dafür ist die weibliche Galanterie, aber ist sie wirklich ein Laster? Der Luxus, den die galante Frau ermöglicht und begünstigt, ist für die Gesellschaft nützlich, er schafft Arbeitsplätze für alle möglichen Gewerbe...
Wie dem auch sei, was eine schlechte Gesetzgebung hervorgebracht hat, kann eine gute Gesetzgebung wieder abschaffen, wenn Helvetius recht hat, daß allein die Kraft der Gesetze die Individuen und die Völker formen kann. Die grundlegende Funktion der Gesetzgebung ist aber die Erziehung, die »uns zu dem gemacht hat, was wir sind«.[31]
Die weibliche Ungleichheit, die Unterschiede in ihrer »Natur» und in ihrem »Verhalten«, die die Philosophen so stark betonten, sind nur die Auswirkungen der schlechten Erziehung der jungen Mädchen, die diese daran hindert, Fortschritte in den Wissenschaften und den Künsten zu machen, zu denen sie durchaus fähig sind. Die Frau wurde so geformt, daß sie nur »vorurteilshafte Tugenden« besitzt, deren Opfer sie ist. Ein Vorurteil kann aber per definitionem keine Gründe liefern. Man kann die der Frau auferlegte Verpflichtung, keusch zu sein, genauso wenig rechtfertigen wie die Praktiken der Fakire in Indien. Die sexuelle Freizügigkeit, insbesondere diejenige, die zwischen den Geschlechtern praktiziert wird, mag dem Theologen als Korruption erscheinen. Aber dem Philosophen? Helvetius stellt fest, daß die sexuelle Freizügigkeit, die in manchen Ländern und Religionen sehr wohl akzeptiert wird, weit davon entfernt ist, dem Glück einer Nation im Wege zu stehen.
Die Gleichheit der Gehirne von Männern und Frauen sollte eine gleiche Erziehung der Geschlechter nach sich ziehen. Ohne im einzelnen ein Erziehungssystem zu entwerfen, behauptet Helvetius, daß den Frauen nichts von dem, was ein Mann lernen kann, untersagt bleiben darf. Schließlich muß die Erziehung öffentlich sein und daher vom Staat organisiert werden. Nur eine gute Gesetzgebung kann für ein gutes Erziehungssystem bürgen. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß man, um ein solches System errichten zu können, die Form des Staates ändern muß:

»Die Kunst, Menschen heranzubilden, hängt in jedem Land so eng mit der Regierungsform zusammen, daß es vielleicht nicht möglich ist. irgendeine bedeutende Veränderung in der öffentlichen Erziehung herbeizuführen, ohne eine Veränderung in der Verfassung der Staaten selbst zu bewirken.«[32]

Vom Geist wurde 1759 von Papst Clemens XIII. verboten und schließlich, zuerst auf Geheiß des Parlaments von Paris, später durch die theologische Fakultät der Sorbonne, feierlich verbrannt.

Bürgerinnen?

Wenn Mann und Frau gleich sind und wenn sich aus dieser Gleichheit der Geschlechter die Notwendigkeit einer gemeinsamen Erziehung ergibt,  so scheint daraus auch das Recht zu folgen,  daß Frauen am politischen Leben teilnehmen dürfen - das Bürgerrecht. Der Begriff des Bürgerrechts ist mit dem der Republik verknüpft, auch wenn die sogenannte republikanische Regierungsform nicht immer die gleiche Bedeutung hat. So ist Genf sehr wohl eine Republik, die Rousseau in seiner Vorrede zum Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen würdigt. Genf, das mutmaßliche Land der Freiheit, der Herrschaft der von allen gewollten Gesetze (Rousseau sollte später, nach dem Verbot von Emile, seine eigenen Illusionen über diese »Republik« anprangern), setzt sich aus Bürgern, aus dem ganzen Volk zusammen. Aber was ist mit den Frauen, die Rousseau als liebenswerte und tugendhafte Bürgerinnen bezeichnet? Bürgerinnen sind sie nur deshalb, weil sie Gattinnen von Bürgern sind, was ihnen aber kein anderes Recht verleiht, als die Keuschheit der Sitten zu wahren und über das gute Einvernehmen in der Familie zu wachen. Das Recht der Frauen bleibt damit auf die private Sphäre beschränkt und ist von der politischen Wirklichkeit ausgeschlossen. Das Gleiche gilt für Sophie. Sie hat kein Recht auf den politischen Diskurs des Erziehers, der, bevor er sie verheiratet, Emile, das zukünftige Familienoberhaupt, in sein Leben als Staatsbürger einführt: Was heißt es, an der Regierung zu sein, was ist ein Vertrag, was heißt es, Bürger zu sein? Das Bürgerrecht der Frau ist nur der passive Schatten des Bürgerrechts des Gatten und Familienoberhaupts. Rousseaus Diskurs ist von eigensinniger Kohärenz: Die Frau ist dem Manne nicht gleichgestellt, sie erhält nicht die gleiche Erziehung, sie ist Bürgerin nur aufgrund eines metaphorischen Wortgebrauchs.
In einer Republik, in der alle Bürger die gleichen Rechte haben, ist die in der Natur begründete Gleichheit der Rechte, die Gleichheit der Geschlechter, die Gleichheit des Unterrichts das Fundament für das Bürgerrecht der Frau, das heißt für ihre politischen Rechte. Condorcet ist zweifellos der Philosoph, der im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts die radikalste Form der Aufklärung vertritt: Wenn nur einem Individuum seine Rechte vorenthalten werden, wird dadurch das allgemeine Prinzip der Gleichheit der Menschen gestört.
Im Juli 1790 veröffentlicht Condorcet in der Nummer 5 des Journal de la Societe de 89 einen Aufsatz mit dem Titel »Sur l'admission des femmes au droit de cite«. Er beginnt damit, daß Philosophen und Gesetzgeber ständig das natürliche Recht eines jeden Menschen auf Gleichheit verletzt haben: »Sie haben in aller Ruhe der Hälfte der Menschheit das Recht abgesprochen, bei der Entstehung der Gesetze mitzuwirken, indem sie den Frauen das Bürgerrecht vorenthielten.«[33] Condorcet polemisiert schonungslos gegen das Vorurteil, wonach die Frau ein körperlich schwaches und damit minderwertiges Wesen sei. Die weibliche Sexualität ist mit vorübergehenden Unpäßlichkeiten (Menstruation, Schwangerschaft etc.) verbunden, aber das Bürgerrecht kann den Frauen deshalb ebensowenig verweigert werden, wie Schnupfen, Gichtanfälle und andere gesundheitliche Störungen die Männer davon abhalten, von ihm Gebrauch zu machen. Ein anderes Vorurteil, daß es in Wissenschaft und Kunst nie geniale Frauen gegeben habe, hat nicht mehr Gewicht. Stellen wir uns vor, daß nur geniale Männer Stimmrecht hätten. Es wäre wohl schwer, in diesem Fall eine vernünftige Zahl von Bürgern zu finden! Frauen konnten ihre politischen Talente zeigen, wenn sie aufgrund der Regierungsform dazu die Möglichkeit hatten. Es gab große Königinnen und Kaiserinnen - um nur Elisabeth von England, Katharina von Rußland und Maria-Theresia von Österreich zu nennen. Frauen sind fähig zu philosophieren, sich literarisch und wissenschaftlich zu betätigen. Das aufgeklärte Jahrhundert ist der augenfällige Beweis, denn Condorcet, der mehrere Salons frequentiert, darunter auch den von ihm sehr geschätzten seiner Frau Sophie de Grouchy, glaubt, daß diese von Frauen organisierten Salons der bevorzugte Ort für die Verbreitung der Aufklärung sind.
Condorcet unterwirft alle Vorurteile, die zur Entstehung einer Pseudo-Wahrheit über die Natur und die Sitten der Frau beigetragen haben, einer genauen Analyse. Diese Natur und diese Sitten sind in Wirklichkeit das Ergebnis einer langen Geschichte, einer heimtückischen Sedimentierung von Gewohnheiten. Die Frau ist genauso wenig von Natur aus frivol, verlogen, hinterhältig, durchtrieben etc., wie der schwarze Sklave von Natur aus ein Feigling und Drückeberger ist, unfähig, ein gegebenes Wort zu halten (im übrigen bittet man ihn auch nicht darum!). Die Frau und der Neger als menschliche Wesen, deren Rechte Condorcet unbeirrt verteidigt, sind nur die traurigen Produkte einer tyrannischen Ordnung, einer irrationalen Macht. Der Schwarze erhält keine Erziehung, er ist der rohen Gewalt seines Herrn unterworfen; die Frau wird unglücklicherweise vor allem von den Priestern erzogen, die ihre Sexualität und ihren Geist einer Autorität unterwerfen, die die Frau nicht verstehen soll. Über die Frau wollen sich die Priester die ganze Menschheit gefügig machen. Die Autorität des Vaters und des Ehemannes setzt die weibliche Knechtschaft fort - aber eine Autorität, die auf ein Wesen ausgeübt wird, das dazu erzogen wurde, sich willenlos zu unterwerfen, ist keine verantwortungsvolle Autorität. Condorcet, der von der Allgemeinheit der Vernunft überzeugt ist, hält einer jeden Theorie, die behauptet, die Frau habe weniger Verstand als der Mann, entgegen, daß die Frauen »sich nicht durch die Vernunft der Männer leiten lassen, sondern durch ihre eigene«.31 Heißt das, daß es sich um zwei von Natur aus verschiedene Formen der Vernunft handelt? Die Vernunft beruht bei jedem menschlichen Wesen auf seinem Interesse. Wenn es einen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt, so den, daß die Frau ihre eigenen Interessen verfolgt. Aber die Interessen der Frau sind durch die Gesetze der Männer gemacht worden. Die Frau schminkt sich nur deshalb, weil sie auf den Schein reduziert wurde. Ihre Vernunft muß sich schmücken.
Bedeutet das Bürgerrecht der Frau nicht eine Gefahr für den Zusammenhalt der Familie? Wird sie dann nicht den ihr von der Natur bestimmten heimischen Herd vernachlässigen, den privaten Bereich, um sich im öffentlichen Bereich an der Gesetzgebung zu beteiligen? Dieses Argument scheint die letzte Bastion derjenigen zu sein, die glauben, die Ungleichheit der Geschlechter müsse im Namen des öffentlichen Nutzens, des allgemeinen Interesses aufrechterhalten werden. Condorcet stellt diesen Trugschluß in Frage:

»Im Namen des öffentlichen Nutzens stöhnen Handel und Industrie in ihren Ketten und wird der Afrikaner als Sklave gehalten; im Namen des öffentlichen Nutzens wurde die Bastille gefüllt, wurden Zensoren für Bücher eingesetzt und geheime Prozesse abgehalten, wurde gefoltert.•[35]

Condorcet ist der Ansicht, daß die öffentliche Verantwortung einer Frau, die Mitglied einer Nationalversammlung wäre, dem Familienleben keineswegs schaden würde, da diese dadurch besser in der Lage wäre, ihre Kinder zu erziehen und Menschen aus ihnen zu machen.
1790/91 veröffentlicht Condorcet in der Bibliotheque de l'homme public Cinq Memoires sur Instruction publique. Die Nationalversammlung beauftragte ihn, einen Entwurf zum öffentlichen Unterricht vorzubereiten, den er im April 1792 vorlegte, der aber nicht angenommen wurde. Dieser Entwurf ist von beträchtlicher Tragweite, ein Monument der Aufklärung. Der Unterricht verfolgt eine klare politische Zielsetzung: Da die Unwissenheit immer die Tyrannei begünstigt hat, ist der Unterricht das einzige Mittel, die Freiheit und Gleichheit eines Volkes zu garantieren. Der Unterricht muß öffentlich, weltlich und kostenlos sein. Eine solche Auffassung ist untrennbar von einer Regierungsform, die die Gleichheit aller vor dem Gesetz erklärt und deren Bürger nur den Gesetzen gehorchen, an deren Entstehung sie beteiligt waren, in einem Wort: von der Republik. Der Unterricht trägt zur Vervollkommnung der Menschheit bei und beschleunigt den unumstößlichen Fortschritt der Freiheit und Rationalität. Dieser Fortschritt führt, wenn auch mit Krisen und Einbrüchen, zum allgemeinen Glück. In seinem Entwurf eines öffentlichen und weltlichen Unterrichts trennt Condorcet zwischen Unterricht und Erziehung. Der Unterricht ist Sache der Schule, die allein die gleiche Behandlung der Schüler, was den zu unterrichtenden Stoff betrifft, garantieren kann; die Erziehung ist Sache der Familie. Condorcet argumentiert folgendermaßen: Da sich Familien je nach ihrer sozio-ökonomischen Lage unterscheiden, tragen sie zur Ungleichheit bei. Wenn die Schule sich in die Erziehung einmischen würde, so geriete sie nur in Konflikt mit der Familie. Für Condorcet gibt es keinen »privaten« Raum, der im öffentlichen Raum so etwas wie einen Staat im Staate bilden könnte. Wenn er das Feld der Erziehung der Familie überläßt, so deshalb, weil er davon überzeugt ist, daß mit dem Fortschritt der Aufklärung diese Anschauungen verschwinden werden. Was zweifellos eine Illusion der Aufklärung ist...
Im ersten Teil seiner Memoires betont Condorcet, daß Männer und Frauen gemeinsam unterrichtet werden sollen; »Da jeder Unterricht sich darauf beschränkt, Wahrheiten darzulegen und Beweise zu entwickeln, ist nicht einzusehen, warum der Unterschied zwischen den Geschlechtern Unterschiede in der Auswahl dieser Wahrheiten oder in der Art der Beweisführung erforderlich machen sollte.«[36]
Wesentlich ist, daß die Frau im Namen der Gleichheit der Rechte den gleichen Unterricht wie der Mann erhalten soll. Gleicher Unterricht für Frauen und Männer ist von öffentlichem Nutzen - hier geht es nicht mehr um ein Prinzip, sondern um eine pragmatische Überlegung. Eine gebildete Frau kann die Erziehung ihrer Kinder überwachen, und da sie aufgrund ihrer Kenntnisse ihrem Mann gleich ist, kann sie das Glück der Familie vermehren. Und sie macht es ihrem Gatten möglich, seine in der Jugend erworbenen Kenntnisse nicht zu vergessen(!).
Aber vor allem: Wenn die Ungleichheit der Frau aufrechterhalten würde, wäre es nicht möglich, die Ungleichheit unter den Männern abzuschaffen. Das bedeutet, daß auch die Männer nicht frei und gleich sein können, wenn die Hälfte der Menschheit nicht von ihren jahrhundertealten Fesseln befreit wird. Die Aufklärung ist nicht allein Sache der Männer. Wer dies glaubt, geht unvernünftigerweise davon aus, daß ein Geschlecht der Endzweck des anderen ist, für Condorcet eine mittelalterliche Denkweise. »Der Starke ist in seinem Stolz leicht geneigt zu glauben, daß der Schwache für ihn geschaffen wurde; aber das ist weder eine Philosophie der Vernunft noch der Gerechtigkeit.«[37]
In seiner Histoire socialiste de la Revolution francaise sagt Jean Jaures, daß Condorcets großes Denken die Zukunft eröffnet hat. Aber die von ihm entworfene großartige Theorie des Fortschritts der Menschheit ist nicht so radikal, als daß nicht einige Anachronismen in ihr fortlebten. So haben die Frauen wie die Männer das Bürgerrecht. Aber um das Recht zu haben, ihre Vertreter zu wählen (und selbst wählbar zu sein), müssen beide Geschlechter bestimmte Bedingungen erfüllen, darunter als erste, Besitz zu haben, und als fünfte, nicht von einer Person oder Körperschaft abhängig zu sein. Das Bürgerrecht gilt also nicht für alle, im Gegensatz zu dem, was die naturbedingte Gleichheit der Rechte erwarten läßt. Während der Zeit der Revolution ist die Vorstellung geläufig, daß das Wahlrecht aller Bürger sich auf dasjenige der aktiven Bürger reduziert, die in der Lage sind, den Zensus zu zahlen. Dieses Zensuswahlrecht gilt nur für die Männer, Frauen sind davon ausgeschlossen. Condorcet vertritt die Auffassung, daß das Geschlecht beim Bürgerrecht keine Rolle spielen soll. Die Frau soll es erlangen können, wenn sie Besitz hat. Das alte Feudalrecht, das den Frauen, die ein Lehen besaßen, das Recht einräumte, zum Beispiel an der Wahl der Vögte teilzunehmen, sollte nach Condorcet nicht abgeschafft, sondern auf alle über Besitz verfügenden Frauen, die einem Haushalt vorstehen, ausgedehnt werden.
Vom allgemeinen Unterricht erwartet Condorcet das Verschwinden der Vorurteile, die die Vorstellung von der intellektuellen Minderwertigkeit der Frau aufrechterhalten. Aber hinter dem generösen Prinzip der Gleichheit der Geschlechter bleibt ein Unterschied bestehen: Bestimmte Berufe sind den Männern vorbehalten, die Frauen haben eigene Berufe (so sind sie zum Beispiel geeigneter, Schulbücher für die Anfangsklassen zu schreiben und die Wissenschaften durch ihr natürliches Beobachtungstalent vorwärtszubringen). Die Frau ist von Natur aus und aus Neigung ein häusliches Wesen, daher nimmt sie die Rolle der Hauslehrerin ein. Die Frau fühlt sich wohl in ihrem Heim, und die aufgeklärte Frau empfängt in ihrem Salon.
Es bleibt zwischen den Geschlechtern ein Unterschied bestehen, den Condorcet nicht als Ungleichheit sehen will. Er vermutet, daß Frauen aufgrund ihrer geschlechtsbedingten Verschiedenheit die Menschheit zu Formen des Wissens führen können, die den Männern vorenthalten sind:

»Wer weiß, ob nicht, wenn eine andere Erziehung die natürliche Entwicklung des weiblichen Verstandes möglich macht, die intimen Beziehungen der Mutter und der Amme zu dem Kind, Beziehungen, die die Männer nicht haben, der Frau erlauben, Entdeckungen zu machen, die für die Erkenntnis des menschlichen Geistes und für die Kunst, diesen zu vervollkommnen und seinen Fortschritt zu befördern, bedeutender und notwendiger sind, als man glaubt?.[38]

Kommt man damit nicht gewissermaßen auf eine Definition der weiblichen Eigenart zurück, die auf »natürliche« Weise mit ihrer Funktion der Arterhaltung verbunden ist? Vielleicht; aber was hier als scheinbar unbedeutend außer acht gelassen wird, ist die Rolle der Ehefrau.

Das irritierte Allgemeine

Der Diskurs der aufgeklärten Philosophen kann bei allen Unterschieden nicht außer acht lassen, daß es trotz der Erklärung der natürlichen Freiheit und Gleichheit eines jeden menschlichen Individuums einen letzten, nicht mehr verstehbaren Rest gibt, der den selbstverständlichen Anspruch der Vernunft auf Allgemeingültigkeit irritiert. Der großartige Gedanke der Gleichheit der Rechte birgt in sich eine Kraft, die das etablierte gesellschaftliche Gleichgewicht zu sprengen vermag. Daß unfreie Männer frei und gleich werden, ist nicht so erschreckend. Aber was ist mit den Frauen, wenn das Prinzip der Gleichheit auf alle menschlichen Wesen angewandt werden soll? (Und was mit den Sklaven, wenn man sie befreit?) Die Schwierigkeit dabei ist, daß es zwei Geschlechter und unterschiedliche »Rassen« gibt. Welch ein Traum, sich ein einziges Geschlecht vorzustellen, das in der Lage wäre, sich unterschiedslos selbst zu reproduzieren wie in dem Mythos des Aristophanes die Kugeln, die alle gleich aussahen und von Zeus zur Strafe in zwei Hälften geteilt wurden, um diese unmögliche Art zu zwingen, einander näherzukommen?[39] Und welch ein Traum, sich vorzustellen, die Gattung Mensch sei autochthon. dem Boden entsprossen und alle hätten die gleiche Farbe...
Aber die Unterschiede existieren. Ob man sie betont oder zu reduzieren versucht, in die männlichen Diskurse schleichen sich, mehr oder weniger verstohlen, immer Widersprüche ein.
Um die theoretischen Schwierigkeiten lösen zu können, die der Unterschied der Geschlechter dem aufgeklärten Geist bereitet, scheint sich die Möglichkeit zu bieten, der Frau einen ambivalenten Status zuzuschreiben. Kant ist diesen Weg zweifellos am weitesten gegangen, nicht ohne Gefahren.
Die Frau ist wie der Mann eine Person im ethischen Sinn des Begriffs. Als autonome Wesen sind Mann und Frau vor dem moralischen Gesetz gleich, welches allgemein durch den freien Willen konstituiert wird und welchem dieser sich unterwirft. In diesem Sinne ist jedes menschliche Wesen Bürger in der ethischen Gemeinschaft, die Kant als das »Reich der Zwecke« bezeichnet. Aber kann eine solche Gleichheit in der rechtlichen Ordnung aufrechterhalten werden? Das Recht wird nach Kant durch ein System von Zwängen definiert. Jede Freiheit findet dort ihre Grenze, wo die Freiheit des anderen beginnt. Die innere ethische Freiheit muß sich aber in Handlungen realisieren, sich manifestieren können, wenn sie nicht pure Absicht bleiben will; die Manifestation einer Freiheit impliziert ihre »Verkörperung« in einer Sache. Diese Sache ist ein Besitz (nach Kant im wesentlichen der Besitz des Bodens, der einen »substantiellen« Wert hat). Wir betreten hier die Sphäre des Privatrechts. Dieses Recht unterscheidet sich dadurch vom öffentlichen oder politischen Recht, daß es die Beziehungen der Individuen zu den Sachen regelt (dingliches Recht) sowie die Beziehungen der Eigentümer untereinander (persönliches Recht, Vertragsrecht). Es impliziert nicht per se eine den Individuen übergeordnete staatliche Instanz, bezieht sich aber notwendigerweise insoweit darauf, als nur der politische Staat das Eigentum und die Gültigkeit der Verträge garantieren kann. Nur derjenige kann eine juristische Person sein, der seine Freiheit im Eigentum veräußerlicht. Auf politischer Ebene haben nur die Eigentümer das Wahlrecht in einem republikanischen Regime, das nach Kant nichts zu tun hat mit einer wie auch immer gearteten Demokratie. Kann die Frau als Eigentümerin die gleichen Rechte haben wie ein Mann, der Eigentum besitzt? Strenggenommen nein. Um den Status der Frau darzulegen (aber auch den der Diener und der Lohnempfänger, die von einem Meister oder einem Arbeitgeber abhängig und daher in der Gesellschaft nicht autonom sind), führt Kant eine juristische Neuheit ein, das »auf dingliche Art persönliche Recht», das er folgendermaßen definiert: »Es ist das Recht des Menschen, eine Person außer sich als das Seine zu haben.«[40] Im Klartext erlaubt diese Form des Rechts, ein Wesen, das eine Person ist, wie eine Sache zu besitzen. Besser kann man die rechtliche und soziale Ungleichheit nicht begründen, und zwar nicht nur die der einen Hälfte der Menschheit, sondern die eines jeden Individuums, das einen Lohn empfängt. Im Zentrum der Macht steht der Besitzer, als Ehemann, Vater, Hausherr... Der Beweis dafür ist, daß man eine Person wie eine Sache (res) behandeln kann. Wenn die Frau oder der Diener fliehen (Kant analysiert nicht die Gründe dieser Flucht), hat der Besitzer ein Recht, sie zu verfolgen. Die Absicht dieser seltsamen Kantschen Neuerung liegt darin, eine faktische Beherrschung von Rechts wegen zu begründen. Die Untersuchung der ehelichen Gemeinschaft bringt die wahre Natur dieses »neuen« Rechts ans Licht. Die eheliche Gemeinschaft, deren Zweck die Fortpflanzung ist - wobei Unfruchtbarkeit kein Grund für ihre Auflösung ist -, erlaubt beiden Geschlechtern, den Körper des Partners zu benutzen und zu genießen. Die natürliche Sexualität hat immer etwas Tierisches an sich:

»(...) ist der fleischliche Genuß dem Grundsatz (wenn gleich nicht immer der Wirkung nach) cannibalisch. Ob, mit Maul Lind Zähnen, der weibliche Teil durch Schwängerung, und daraus vielleicht erfolgende, für ihn tödliche Niederkunft, der männliche aber durch, von öfteren Ansprüchen des Weibes an das Geschlechtsvermögen des Mannes herrührende Erschöpfungen aufgezehrt wird, ist bloß in der Manier zu genießen unterschieden, und ein Teil ist in Ansehung des anderen, bei diesem wechselseitigen Gebrauche der Geschlechtsorganen wirklich eine verbrauchbare Sache (res fungibilis) (. . .).[41]

Den Anderen und seinen Körper als Sache zu behandeln widerspricht dem Recht des Menschen, nicht nur als ein Mittel behandelt zu werden. Aber wenn aufgrund einer freien Übereinkunft des beiderseitigen Willens beide damit einverstanden sind, als Sache behandelt zu werden, macht diese Wechselseitigkeit zwischen den Parteien eine beiderseitige sexuelle Benützung unmöglich. Eine solche Übereinkunft definiert einen Vertrag: Durch die Heirat erklären sich beide Gatten damit einverstanden, von ihrem Ehepartner benutzt zu werden. Die monogame Ehe normiert den Kannibalismus der natürlichen Sexualität. Ein seltsamer Vertrag, der die Eigenschaft hat, unaufhebbar zu sein! Diese Gleichheit der Ehegatten in bezug auf den körperlichen Besitz schließt nach Kant weder die gesetzmäßige Herrschaft des Mannes über die Frau aus noch widerspricht sie ihr. Denn der Mann ist der Frau von Natur aus überlegen, ohne daß es nötig wäre, einen solchen Anspruch zu legitimieren.
Abgesehen von dieser legalisierten Sexualität und ihrer moralischen Würde, die sie ihre Pflicht tun läßt, bleibt die Frau unterlegen. Das Allgemeine stößt hier an seine am meisten irritierende Grenze: Auch wenn es für jedes menschliche Wesen gilt, so herrscht es nur in der Ordnung der reinen praktischen Vernunft, in der der moralischen Autonomie.

Es ist ein Anliegen der Aufklärung, die weibliche Verschiedenartigkeit zu denken, eine Verschiedenartigkeit, die immer mehr oder weniger als Minderwertigkeit gesehen wird, wobei gleichzeitig versucht wird, sie mit dem Prinzip einer Gleichheit zu versöhnen, die im Naturrecht begründet ist. Es soll der Frau eine gesellschaftliche Rolle als Gattin und Mutter zugewiesen werden. Jeder aufgeklärte Denker betont, daß dies für die Frauen eine Notwendigkeit ist. Durch diese von der Natur gewollte Funktion ist es der Frau in gewisser Weise möglich, Bürgerin zu sein. Ein politischer Status wird der Frau nie unmittelbar zuerkannt (außer vielleicht von Condorcet). Man kann sagen, daß die am meisten vertretene Ideologie im 18. Jahrhundert die Annahme ist, der Mann sei der Endzweck der Frau. Rousseau treibt diese Theorie sicherlich auf die Spitze, da die Erziehung Sophies (man heißt nicht zufällig Sophie!) gänzlich auf das Glück Emiles ausgerichtet ist. Aber indem er sie auf die Spitze treibt, zerstört er sie. Die Erziehung Sophies hat einen fatalen Fehler: Niemand hat sie über die Herrschaft der Notwendigkeit aufgeklärt. Zweifellos bestand ihre Erziehung aus einem System sanfter Zwänge, da es ihr Schicksal als Ehefrau sein wird, Zwängen zu unterliegen, aber es wurden ihr nicht die Mittel an die Hand gegeben zu verstehen, daß es Dinge gibt, die nicht von uns abhängen. Deshalb kann sie sich nicht mit dem Tod ihrer Eltern abfinden und vor allem nicht mit dem Tod ihrer Tochter. Emile führt die untröstliche Sophie nach Paris-Babylon, in das Zentrum aller Laster, denen Sophie nicht widerstehen wird - man hat es sie nicht gelehrt.
In Emile et Sophie ou les Solitaires sprengt Rousseau das ganze Erziehungssystem, das das Schicksal von Emile und Sophie bestimmt hat. Emile verläßt die untreue Gattin, findet Arbeit, entzieht sich seiner Familie und seinem Vaterland, wird Sklave in Algier, lernt den harten Stand einer irrationalen Knechtschaft kennen, organisiert den Aufstand seiner Gefährten und hält schließlich dem Herrn über die Sklaven einen aufgeklärten Vortrag (der Text ist zwar unvollendet, aber konnte es anders sein?). Dadurch daß er aufhört, Familienvater und Bürger zu sein, wird Emile immer mehr zum Menschen. Aber hat sich Sophie befreit? Die Frage ist in dieser Form anachronistisch. In ihrem Unglück wird die Nichtigkeit von Sophies Erziehung offensichtlich. Sophie hat weder verraten noch gelogen, aber sie hat aufgehört, Emile alleine zu gehören; dadurch erfährt der Mann endlich die prosaische Wirklichkeit der Welt und gelangt so - warum nicht? - zum Bewußtsein seiner selbst.

Aus dem Französischen von Roswitha Schmid