Mädchenerziehung

How can you be content to be in the World
like Tulips in a Garden, to make a fine show
and be good for nothing? 

Mary Asteil, A Serious Proposal to the Ladies, 1694

Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, in einer Zeit also, in der weite Teile der Bevölkerung zumindest  grundlegend versorgt waren, versuchten fortschrittliche Kräfte, das Erziehungswesen zu verändern. Im Mittelalter hatte sich, unterschiedslos für Jungen wie Mädchen, die Erziehung grosso modo darauf beschränkt, zum Arbeiten anzuhalten und in Gebeten zu unterweisen. Erst in den folgenden Jahrhunderten, als man mit der Forderung konfrontiert ist, führende Kräfte für Staat und Kirche auszubilden, wird ein deutlicher Unterschied gemacht: Den Söhnen der adligen und später auch bürgerlichen Elite wird die klassische Bildung zuteil, die auf höheren Schulen und der Universität gelehrt wird, Lateinkenntnisse voraussetzt und glanzvolle bürgerliche und kirchliche Laufbahnen erhoffen läßt. Sowohl den Mädchen aus dem Volk als auch denen der Oberschicht sind das Wissen und vor allem jene Fertigkeiten zugedacht, die sich auf die häusliche Sphäre beschränken: Zu Hause bei der Mutter erworben, trugen sie dazu bei, die christlichen Familienzusammenhänge zu erhalten und fortzusetzen. Es gibt kaum Berührungspunkte zwischen diesen beiden Kulturen, der des Draußen und der des Drinnen, und darin besteht für zahlreiche Denker die Schwachstelle: Die zukünftigen Gattinnen gebildeter Männer sollten wenigstens in die Lage versetzt werden, Gespräche mit ihnen zu führen und sie vielleicht gar zu bereichern.
In den Jahrhunderten zwischen Renaissance und Aufklärung tendiert die geschlechtsspezifische Differenzierung der Erziehungspraxis dazu, soziale Unterschiede in den Hintergrund zu drängen. Der Ausbau und die schnell einsetzende innere Differenzierung des Schulwesens führen dazu, daß immer mehr Männer und Frauen die grundlegenden Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens erlernen. Diese relative Demokratisierung zeitigt aber nicht die gleichen Erfolge für Mädchen und Jungen. Da in die Ausbildung der Mädchen weit weniger investiert wurde, bleibt es ihnen verwehrt, sich durch Wissen zu emanzipieren. Mädchen nämlich wird lediglich ein Bruchteil des ihren Brüdern gelehrten Wissens zugänglich gemacht. Und doch, trotz aller Hemmnisse, die den Zugang der Frauen zu nützlichen und in Geld umzumünzenden Kenntnissen auf eigene Rechnung behindern: Die Fortschritte in der Alphabetisierung der Frauen im 17. und 18. Jahrhundert bezeugen, daß ein irreversibler Prozeß in Gang gesetzt worden war.

Eine neue Sorge

Obschon die Anhänger der Frauenbildung immer wieder gegen jene ankämpfen mußten, die eine Ausbildung von Mädchen für unmöglich und unnötig ansehen oder gar fürchten, ist dieser Kampf zwar langwierig, aber nicht gänzlich ohne Erfolg: Auf dem Gebiet der Erziehung ist die Praxis vorsichtig und bleibt immer hinter der Theorie zurück. Dies gilt insbesondere für die Erziehung der Mädchen.

»Eine noch nicht behandelte Sache«

Als Jean-Louis Vives 1523 De l'instüiition de lafemme chretienne publiziert, ist er sich völlig bewußt, daß er sich mit »einer noch nicht behandelten Sache- beschäftigt, über die aber auch andere Intellektuelle, die sich ebenfalls als Teil des neuen, durch Humanismus und Reformation geprägten Geisteslebens verstehen, nachdenken werden.
Vives, der den Unterricht für Frauen - seien es nun junge Mädchen, verheiratete Frauen oder Witwen - allgemein befürwortet, ist bemüht, diesen auf gewisse Gebiete zu beschränken. Die Trennung der Geschlechter, der Vorrang häuslicher Arbeit vor der Lektüre und dem Schreiben, die extreme Zurückhaltung, was den Lateinunterricht betrifft, der einer Elite vorbehalten ist: Diese Prinzipien sind zahlreichen Pädagogen stets teuer gewesen. Vives bricht aber mit sämtlichen Vorurteilen, wenn er feststellt: »Die meisten Laster der Frauen dieses Jahrhunderts und früherer Jahrhunderte rühren aus ihrem Mangel an Bildung her.« Dieses Argument sollte wiederaufgenommen werden. Erasmus teilt die Ansichten von Vives, auch wenn er sie in mehreren seiner Colloquia nicht ohne Sarkasmus behandelt. Er verteidigt die Erziehung der Mädchen im Namen eines guten Einvernehmens der Ehepaare und einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer miteinander auskommen müssen. Rabelais setzt dieses Prinzip in einer Utopie um: In der Abtei von Theleme entwickeln sich beide Geschlechter - gleich frei, wohlgeboren und wohlunterrichtet - in vollkommener Harmonie.
Luther, der sich auf die Autorität der Heiligen Schrift beruft, um seine Lehren zu bekräftigen, wünscht logischerweise, daß alle Menschen, Männer wie Frauen, sich auf diese beziehen und daher lesen lernen. In diesem Sinne trägt die Reformation zur Alphabetisierung bei. Aber während Luther die Einrichtung staatlicher Schulen für Mädchen und Jungen befürwortet, begrenzt er gleichzeitig in zweierlei Hinsicht den weiblichen Bildungsanspruch. Einerseits wertet die Reformation ein patriarchalisches Familienmodell auf, das die Ehefrau in ihrem Bewegungsspielraum einengt, andererseits untergräbt die volkssprachliche Bibelübersetzung eines der Argumente, die immer zugunsten einer Unterweisung der Frauen in den alten Sprachen angeführt worden waren. Und schließlich beraubt die Reformation mit ihrer Auflösung der Bibliotheken und klösterlichen Studienzentren Frauen, die zu diesen Zugang hatten, wichtiger intellektueller Ressourcen.

Ein vorrangiges Anliegen für die katholischen Reformatoren

Die auf dem Konzil von Trient (1545-1563) getroffenen Beschlüsse veranlassen die katholische Reaktion, auf dem Terrain des protestantischen Gegners tätig zu werden: Sie beschließen die Unterweisung der Gläubigen in der rechten Doktrin von frühester Jugend an. Gewaltige pädagogische Anstrengungen werden unternommen - im Falle der Erwachsenen mittels Predigen und Missionieren auf dem Lande, im Falle der Kinder mit Hilfe des Katechismus in Verbindung mit dem dafür erforderlichen Minimum an Alphabetisierung. Der Akzent wird sogleich auf diejenigen Kinder gesetzt, denen bis dahin jede Bildung fremd war. insbesondere die Straßenkinder in den Städten. Von 1560 an errichtet Karl Borromäus in seiner Mailänder Diözese ein Netz von Schulen, in denen Laien und Kleriker die Kinder unterrichten, die in den dunkelsten Gassen und Hinterhöfen aufgestöbert wairclen. Jahrzehnte später gründen die Jesuiten in verschiedenen Städten der südlichen Niederlande Sonntagsschulen für diejenigen Kinder, die wochentags arbeiten.
An der Wende zum 17. Jahrhundert zeichnet sich eine neue Welle von Initiativen ab. die sich speziell der Unterweisung von Mädchen widmen. Dabei wurden die Bildungsvorhaben, die sich der Unterweisung beider Geschlechter widmeten, kontinuierlich weiter vorangetrieben.
Die katholischen Reformatoren wissen, welche potentielle SchlÜSSelrolle das Mädchen im Prozeß der religiösen und moralischen Rückgewinnung der gesamten Gesellschaft einnehmen kann. In jedem Mädchen schlummert eine zukünftige Mutter und damit eine potentielle Erzieherin. Sie ist das wichtigste Glied in der kommunikativen Kette, da sie das von der Gegenreformation verbreitete Wort weitergeben sollte. Diese Erkenntnis gab der allgemeinen Unterrichtung von Mädchen entscheidende Impulse, die das Lesen und das Studium des Katechismus einschloß. Das frühere Privileg einiger weniger erstreckte sich nun auf breitere soziale Schichten dank der Neubildung katholischer Schwesterorden, die sich der Ausbildung von Mädchen annahmen. Wohlhabendere Mädchen wurden in ihre teuren Klosterpensionate aufgenommen, während die ärmeren die Schulbank in den karitativen Ordensschulen drückten. Diese Erziehung zielte darauf ab, aus den Zöglingen brave christliche Mütter zu machen. Die didaktischen Methoden, die ohne nennenswerte Entwicklung gut drei Jahrhunderte lang vorherrschen sollten, wurden von den Erziehungsprinzipien der frommen Elite geprägt, die die neuen Einrichtungen finanziell unterstützte und spirituell anleitete. »Die Unterrichtung und Erziehung armer Mädchen im frühen Alter ist eine der wichtigsten guten Taten, die Christen tun und vermitteln können, und eine der größten Missionen und notwendigsten Werke der Barmherzigkeit, die sie für das Heil der Seelen erbringen können«, verkünden die Gründer einer karitativen Gemeinschaft, die arme Mädchen aus dem Pariser Viertel Les Halles aufnimmt.[1]
Mit Beginn des 17. Jahrhunderts treten bedeutende weibliche Persönlichkeiten in den Dienst katholischer Orden ein bzw. gründen neue, die sich der Mädchenerziehung widmen. Eben erst mit ihrer renitentkatholischen Familie aus England gekommen, begründet Mary Ward im Alter von vierunclzwanzig Jahren ein christliches Institut im französischen Saint-Omer und bemüht sich mit Hilfe der Jesuiten darum, die Entwicklung ihres Instituts voranzutreiben. Sie setzt sich über die Vorbehalte der bischöflichen Obrigkeit hinweg, die wenig übrig hat für diese Nonnen ohne Tracht und Kloster, die auf den Straßen der Stadt unterwegs sind, um Unterricht zu halten. Eine andere starke Persönlichkeit war auch Jeanne de Lestonnac aus Bordeaux, eine Nichte Montaignes und lebenslustige Frau, die ihre fünf Kinder großzog und später, als Witwe auf der Schwelle zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr, 1607 die Compagnie de Marie-Notre-Dame gründete, deren Einfluß sich auf Südwestfrankreich, Spanien und Südamerika erstreckte. In Paris leiteten Madame Acarie und Madame de Sainte-Beuve die Errichtung zweier Häuser der Ursulinen in den Jahren 1610 und 1621. und in Annecy gründet die Baronin Jeanne de Chantal an der Seite von Franz von Sales 1610 den Orden der Salesianerinnen. In Lothringen gründen Alix Le Clerc und Pierre Fourier zusammen die Kongregation Notre-Dame, die 1615 approbiert wurde. Wenig später, von 1633 an, breiten sich unter der Leitung von Louise de Marillac, der rechten Hand von Vincent de Paul, die Barmherzigen Schwestern über das ganze Königreich und darüber hinaus aus. um arme Kranke zu pflegen und kleine Mädchen zu unterrichten.

Ein Diskussionsthema für literarische Salons

Während katholische Reformatoren vor Ort um die Frage der Mädchenerziehung rangen, gingen Literaten anders an sie heran. Im 17. Jahrhundert lassen sich verschiedene literarische Gattungen über das Thema aus: Romane, Komödien, Briefliteratur. Die Salons bestritten ganze Abende mit Polemiken über das Wissen der Frauen. Molieres Die lächerlichen Preziösen (1659) und Die gelehrten Frauen (1672) schlugen heftige Wellen. Man machte sich über die besserwisserische Frau, die pedante, lustig, während die kluge und natürlich gebildete Frau ihre Verteidiger fand. Der Gedanke, daß die gewöhnlich den Frauen vorgeworfenen Mängel aus fehlender Bildung herrühren, kommt bei denjenigen auf, die die Misogynie nicht blind gemacht hatte. Mademoiselle de Scudery und Madame de Sevigne, beides einflußreiche Literatinnen, plädierten für einen abgerundeten Studienplan, während alle möglichen Philosophen und Literaten die intellektuellen Qualitäten der Geschlechter zu vergleichen suchten. Ist die Frau mit dem gleichen Verstand ausgestattet wie ihr Gefährte? Nein, antwortet Malebranche: die Wissenschaft, die Philosophie und jegliche höheren geistigen Spekulationen seien ihr fremd. Poullain de la Barre hingegen veröffentlicht 1673 seinen Traktat De l'egalite des sexes - ein Meilenstein in der Geschichte des feministischen Denkens. Mittels der cartesianischen Methode demonstriert Poullain de la Barre, daß die weiblichen und männlichen Fähigkeiten und Anlagen identisch seien und demzufolge auch gleichermaßen ausgebildet werden sollten:

»Wenn Frauen an den Universitäten gemeinsam mit den Männern studieren würden oder in solchen, die man eigens für sie errichtet hätte, könnten sie einen akademischen Grad und den Titel Doktor oder Magister der Theologie, der Medizin und beider Rechte erwerben: Und ihr natürliches Talent, das sie so vorteilhaft zum Lernen disponiert, würde sie auch dazu disponieren, mit Erfolg zu unterrichten.[2]

Der mit Sozialkritik durchsetzte Feminismus Poullain de la Barres findet sich zwanzig Jahre später in den Schriften der Engländerin Mary Astell  wieder.   Diese  veröffentlichte 1694  A Serious Proposal to the Ladies. Ihr Text, ein Plädoyer für die Ausbildung der Frau, der vor allem von den Schriften von Mademoiselle de Scudery und Madame Dacier beeinflußt wurde, stößt auf ein größeres Echo als der von Poullain de la Barre. Im Tonfall einer freundschaftlichen und warmherzigen Unterhaltung versucht Mary Asteil, den Frauen das Ausmais ihrer aufgrund mangelnder Bildung brachliegenden Talente vor Augen zu führen. Würde man die Ausbildung der Männer ebenso vernachlässigen, könnte man ihnen mindestens genauso viele Mängel vorwerfen wie ihren Gefährtinnen. Angesichts der Hindernisse, die das Ehe- und Familienleben der geistigen Aktivität von Frauen in den Weg stellt, hofft die Autorin - freiwillig ledig geblieben -, daß Frauen, die den häuslichen Zwängen entfliehen wollen, sich in Instituten zusammentun, an denen sie sich in aller Autonomie und Genieinschaftlichkeit dem Studium widmen können.

Erste Programme

Am Rande der literarischen Diskussionen reifen gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich pragmatische Ansätze zur Mädchenerziehung heran. Die ersten damals vorgeschlagenen Studienprogramme schlössen zwar den Erwerb abstrakter Kenntnisse aus (die alten Sprachen, die Rhetorik und die Philosophie blieben den Männern vorbehalten), aber ihnen kommt das Verdienst zu, den Frauen einen gewissen Bildungsgrad zuzugestehen. Ein Grund für das wachsende Interesse an gebildeten Frauen bestand in der veränderten Bevölkerungsstruktur. Witwen, deren es damals viele gab, mußten in der Lage sein, die geschäftlichen Angelegenheiten ihrer verstorbenen Gatten weiterzuführen. Den Frauen das Recht auf Lesen, Schreiben und Rechnen zuzuerkennen, ohne indes ihre ausschließlich auf die Familie und das Haus beschränkte soziale Funktion in Frage zu stellen, eröffnet einen ersten Zugang zu einer neuen Kultur, zu neuer Macht.
Das 36. Kapitel des 1685 veröffentlichten Tratte sur le cboi.x et 1a methode des etudes des Abbe Claude Fleury handelt von den »Studien der Frauen«. Zwar fehle es diesen etwas an Fleiß, Mut und Willenskraft, aber die Lebendigkeit ihres Geistes und ihrer Auffassungsgabe, ihre Sanftmut und ihre Bescheidenheit glichen derartige Mängel aus; und sei es nur wegen des »Ansehens und der Wertschätzung, die sie in der Gesellschaft genießen«, sollten die Frauen besser unterrichtet werden. In ihren Studienplan nimmt Fleury die Religion auf (die nicht in den Aberglauben abgleiten soll). Lesen, Schreiben, ein Minimum an Kenntnissen im Verfassen gewöhnlicher Schriftstücke, etwas praktische Arithmetik, Arzneikunde, Hauswirtschaftslehre und Jurisprudenz. Mehr zu lernen wäre reine Eitelkeit, aber »es wäre indessen besser, daß sie darauf ihre freie Zeit verwenden, als darauf, Romane zu lesen, zu spielen, oder über ihre Röcke und Bänder zu sprechen«.[3] Der Traite de l'education des filles von Fenelon. der zwei Jahre später erschien, war etwas großzügiger. Disziplinen, die Fleury als reine Notlösung gegen den Müßiggang betrachtete, finden dort Aufnahme, vorausgesetzt, sie werden vorsichtig dosiert und kontrolliert. Dies schloß die Literatur, die Geschichte, das Lateinische, die Musik und die Malerei ein. Das wichtigste war für Fenelon, daß die erteilte Ausbildung der zukünftigen Bestimmung des kleinen Mädchens angemessen ist: als Gattin oder Nonne.
Auch das Unterrichtsprogramm von Madame de Maintenon, die 1686 das Erziehungsinstitut Maison royale de Saint-Cyr gegründet hatte, wurde von Fenelon beeinflußt. Zweihundertfünfzig höhere Töchter aus verarmten adligen Familien wurden dort erzogen und ihrer Bestimmung gemäß zur frommen Gattin und guten Mutter ausgebildet, die armselige Landdomänen verwalten, aber dennoch die Aura ihrer Herkunft aufrechterhalten mußten. Schülerinnen, die im Alter von sieben bis neunzehn Jahren aufgenommen wurden, durchliefen vier Klassen, die an der Farbe des Gürtels identifiziert wurden. Die »Roten«, unter zehn Jahren, erwarben die elementaren Kenntnisse und den Katechismus, die »Grünen«, zwischen elf und dreizehn Jahren, entdeckten die Geschichte, die Geographie und die Musik, die »Gelben«, im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren, vervollkommneten sich in der französischen Sprache, im Zeichnen und Tanzen, bei den »Blauen« schließlich, die siebzehn bis neunzehn Jahre alt waren und sich darauf vorbereiteten, die gefahrvolle Welt zu betreten, wurde der Akzent auf das moralische Rüstzeug gelegt. Außerdem erhielten alle, von den jüngsten bis zu den ältesten Mädchen, eine hauswirtschaftliche und handarbeitliche Ausbildung. Madame de Maintenon zufolge war der Zweck all dessen, der Familie ein »christliches, vernünftiges und intelligentes«[4] Mädchen zurückzugeben.

Abgemilderte Aufklärungshestrebungen

Als im 18. Jahrhundert die Frömmigkeit nachzulassen begann und die Philosophen sich gegen die Religion starkmachten, wird Bildung zum populären Konversationsthema. Die Aufklärungsbewegung hegte den festen Glauben an Bildung. Bildung war der Schlüssel zur Formung eines neuen gesellschaftlichen Wesens, frei von alten Vorurteilen und beseelt von der neuen Vernunft. Diese Entwicklung schien jedoch gefährdet, solange die Erziehung der Mädchen dem Zufall überlassen blieb. Als Mütter des neuen Menschen waren sie auch dessen primäre Erzieherinnen und damit Schlüsselfiguren einer dauerhaften gesellschaftlichen Erneuerung. Die katholischen Reformatoren dachten da nicht anders. In einem Jahrhundert der pädagogischen Euphorie waren Mädchen ebenso wie Taubstumme oder Landarbeiter begehrte Erziehungsobjekte von Didaktikern.
Bevor die Debatte ab 1760 richtig in Gang kommt, tritt der Abbe de Saint-Pierre mit seinem bereits 1730 vorgelegten innovativen Projet pourperfectionner l'edncation des filles an die Öffentlichkeit. Das vom Abbe vorgeschlagene Bureau perpetuel d:education publique war nichts anderes als ein nationales Erziehungsministerium im heutigen Sinne. Dieses Bureau sollte damit beauftragt werden, ein Netz von höheren Schulen für Mädchen und Jungen zu schaffen. Die Schulpflicht der Mädchen vom fünften bis zum achtzehnten Lebensjahr umfaßt dreizehn Klassen, Pro Klasse kommen 3 Lehrerinnen auf 15 Zöglinge, jede Schule sollte 39 Lehrerinnen und 195 Schülerinnen haben. Neben den Internaten sah der Abbe de Saint-Pierre kostenlose Tagesschulen vor. Das vom Autor vorgeschlagene Llnterrichtsprogramm umfaßt alle Wissenschaften und Künste, damit die Frauen sich aktiv an der Konversation der Männer beteiligen können.
Von 1760 an nimmt die Bildungsfrage in bezug auf beide Geschlechter einen zentralen Platz innerhalb des Projekts der Aufklärung ein: Während zwischen 1715 und 1759 nur 51 Werke über Erziehung erschienen waren, waren es zwischen 1760 und 1790 schon 161. JeanJacques Rousseau veröffentlichte im Jahre 1762 den Emile, der sogleich von den Zensoren der Sorbonne und anschließend auch vom Parlament als gotteslästerlich angeprangert wird. Im selben Jahr löst sich aufgrund der Vertreibung der Jesuiten aus dem Königreich das Netz der höheren Schulen auf und hinterläßt ein Vakuum. Diese beiden Ereignisse beflügelten die Phantasie und inspirierten zahlreiche Studienpläne, Erziehungstraktate und andere pädagogische Reflexionen, die den Provinzakademien zur Beurteilung unterbreitet wurden. Die Gazetten widmeten diesen Veröffentlichungen zahlreiche Spalten in Form von kritischen Berichten bzw. Leserbriefen. 1768 lancierte Sieur Leroux sein Journal d'education, die erste Zeitschrift, die sich auf dieses Gebiet spezialisierte. Ein weiteres Zeichen der Zeit ist, daß ein praktischer Führer der Hauptstadt wie das Tableau de Paris von Jeze auf den Seiten für die Dinge des alltäglichen Nutzens eine Rubrik »Bildung« aufnimmt. Sämtliche Pariser Erziehungseinrichtungen, sowohl für Mädchen als auch Jungen, werden dort für jedes Viertel aufgeführt.
Nachdem die Notwendigkeit, die Frauenbildung zu reformieren bzw. überhaupt erst zu etablieren, einmal zugestanden war, konzentrierte sich die Debatte auf den richtigen Ort dafür - elterliches Haus oder Institution - und damit einhergehend auf die Auswahl der Erzieherinnen und des zu vermittelnden Wissens. Die Kritik bezog sich auf den klösterlichen Kontext, in dem Mädchen angeblich nichts lernten und mangels frischer Luft verkümmerten, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß Nonnen, denen die Erfahrung der Ehe fremd war. damit beauftragt wurden, zukünftige Ehefrauen und Mütter heranzubilden. Das 18. Jahrhundert favorisierte eine Erziehung innerhalb der Familie. Da diese jedoch nur in privilegierten Kreisen gewährleistet war, mußte ein öffentliches Schulsystem geschaffen werden.
Das von Madame de Miremont in der Einleitung ihres umfangreichen Traue de l'education des femmes (sieben Bände, veröffentlicht zwischen 1779 und 1789) vorgeschlagene System sieht die Unterrichtung von Mädchen zwischen sieben und achtzehn Jahren vor. Die Schülerinnen sollten auf lediglich zwei Klassen verteilt werden: zum einen die Sieben- bis Zwölfjährigen, zum anderen die Dreizehn- bis Achtzehnjährigen, in denen sie wie gehabt in Religion. Tanz und Musik unterwiesen wurden, aber auch in den lebenden Sprachen, der Literatur, Geographie, Geschichte und Orthographie. Madame de Miremont legte besonderes Augenmerk auf die Ausbildung der Lehrerinnen, die sechs Jahre benötigten, um ihren Beruf zu erlernen.
Die bedingungslosen Anhänger einer häuslichen Erziehung waren von Jean-Jacques Rousseau beeinflußt. Eifrige Mütter betrachteten es als ihr Lebenswerk, ihre Töchter nach seinen Erziehungsprinzipien zu formen. Maclame d'Epinays Tochter Emilie beispielsweise stellt ein solches kreatives Meisterwerk dar. Damit andere Mütter von ihrer Erfahrung profitieren konnten, veröffentlichte sie 1774 Les Conversations d'Emilie, eine Reihe erzieherischer Unterhaltungen zwischen Mutter und Tochter zwischen dem fünften und zehnten Lebensjahr des Kindes. Madame Necker nimmt ebenfalls die Erziehung ihrer Tochter Germaine, der zukünftigen Madame de Stael. in ihre eigenen blande. Diese Rousseau verpflichteten Mütter waren in den meisten Fällen selbst bereits Produkte einer Erziehung außerhalb des Gewöhnlichen. Als Rousseau befand, daß Emile eine Gefährtin brauche, schuf er die Figur der Sophie, der er das fünfte Buch seines Werkes widmete. Die ihr vorbehaltene Erziehung geht von einem einfachen Grundsatz aus:

»So muß sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, sieh von ihnen liehen und achten lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, als Männer für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten: das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muß.«[5]

Die Worte des Philosophen illustrieren, wie die progressiven Bestrebungen um die Erziehung der Mädchen, kaum aufgeblüht, sogleich auch einem Prinzip untergeordnet wurden. Wissen war für die Frau kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, ihre Gegenwart denjenigen angenehm zu machen, die sich in ihrer Nähe aufhielten. Frauen waren nicht für die Wissenschaft gemacht, sondern ausschließlich für die Unterhaltung und das Wohlbefinden ihrer Ehemänner und ihrer Kinder zuständig.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals hatte sich John Locke bereits im vorangegangenen Jahrhundert zugunsten einer Erziehung ausgesprochen, die es Müttern erlaubte, als erste Lehrerinnen ihrer Kinder zu fungieren. Später dann, im 18. Jahrhundert, propagierten Daniel Defoe und Jonathan Swift die Ansicht, daß eine gebildete Frau eine bessere Gesellschafterin für ihren Mann abgäbe. Aufgeklärte Engländerinnen sehen mit Bedauern, wie die Notwendigkeit, Mädchen zu unterrichten, nicht etwa den hauptsächlich Betroffenen zugute kommt, sondern deren Familien. Im Rahmen ihrer literarischen Salons nehmen die blue stockings Anstoß daran, und zum Ende des Jahrhunderts kritisiert eine wachsende Anzahl weiblicher Stimmen die Frivolität und Hohlheit konventioneller Stundenpläne, die der Unterweisung junger Mädchen dienten. Rousseaus Ansichten bringen Hannah More, Maria Edgeworth, Catharine Macauley und Mary Wollstonecraft in Rage. Letztere opponierte vielleicht am vehementesten gegen die vorherrschende patriarchalische Meinung, die es Frauen verwehrte, sich im intellektuellen Wettstreit gegen die Männer zu behaupten. Sogar eine Zeitschrift, die prinzipiell eine Reform der Mädchenerziehung befürwortete, The Lady's Magazine, schreibt noch im Jahre 1773: »We can never wish that society should be filled with cloctors in petticoats to regale us with Latin and Greek.«[6]
In Frankreich waren die revolutionären Versammlungen, die beauftragt waren, ein nationales Erziehungssystem zu errichten, gezwungen, sich mit dem Problem der Frauenbildung zu befassen. Mit Ausnahme von Condorcet, der im Namen der Gleichheit der Geschlechter den gemischten Unterricht forderte, bezogen die Pläne der Revolutionäre die Ausbildung der Frau weiterhin auf den häuslichen Kontext. Politischer Rechte entkleidet und von der Wahrnehmung öffentlicher Ämter ausgeschlossen, wird Frauen lediglich eine Ausbildung auf dem Niveau der Grundschule zugestanden. Es sollte noch ein weiteres Jahrhundert dauern, bis sich ihre Situation grundlegend verbessert.

Die Orte der Erziehung

Der angemessene Ort für eine im wesentlichen auf häusliche Arbeiten ausgerichtete Ausbildung war selbstverständlich zu Hause. Obgleich diese Methode des häuslichen Unterrichts vor allem zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert verbreitet war. blieb auch danach das Zuhause der primäre Bildungsort für Mädchen. Als das Bewußtsein wuchs, daß es für Mädchen ebenfalls ratsam wäre, höheres Wissen zu erwerben, standen die Alternativen Kloster, staatliche Schule oder Internat zur Wahl. Der Wunsch, den intellektuellen weiblichen Horizont zu erweitern, ging einher mit der Schaffung spezifischer Bildungseinrichtungen, deren Wissensvermittlung sich deutlich von der den Jungen vorbehaltenen unterschied. Es entstand die Mädchenschule, die die befürchteten Risiken gemischter Einrichtungen vermeiden wollte. Da es vielen undenkbar schien, Brüder und Schwestern auf derselben Bank sitzen und dieselben Dinge hören zu lassen, wurde die Neugründung von Erziehungseinrichtungen für Mädchen vorangetrieben. Paradoxerweise kamen somit die wiederholten Angriffe der Moralisten und Kirchenleute gegen die Koedukation den Mädchen zugute.

Das Haus

Obwohl die Mädchen lange Zeit fast ausschließlich zu Hause unterrichtet wurden, gibt es leider kaum Aufzeichnungen darüber, wie sich der Hausunterricht abspielte. Das Wissen, das von Generation zu Generation von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde, hinterließ nahezu keine Spuren. Von der Mehrheit der Mädchen des 16. Jahrhunderts, die zu Hause im Verborgenen lernten, indem sie zusahen, was um sie hemm geschah, sind nur wenige bemerkenswerte Beispiele häuslicher Erziehung überliefert, wie beispielsweise die Erziehung der drei Töchter von Thomas Morus. Sie wurden ebenso wie ihr Bruder auf dem Londoner Familiensitz in Buckelsbury unterrichtet. Von den vier Kindern erwies sich Margaret als das begabteste. Ihr Unterricht war zuweilen praktischer Natur und zuweilen auch theoretisch strukturiert. Keine Erziehungseinrichtung für Mädchen bot damals bessere Bildungsmöglichkeiten als ein Heim, in dem aufgeklärte Eltern sorgfältig ausgewählte Tutoren einstellten. Familien, die sich von der Aufklärung und den Grundsätzen Rousseaus anregen ließen, verwandelten ihre Häuser in regelrechte pädagogische Versuchsanstalten.
Die Mädchen erlernten zu Hause unter den Fittichen der Mutter alles, was zum Alltag einer Mutter gehörte: Kochen, Kinderpflege, Wäsche waschen, Stopfen, Sticken, Nähen und Weben. In der Malerei wurden diese häuslichen Lektionen in Geschicklichkeit häufig abgebildet. Auf dem Land kam zu diesen haushälterischen Pflichten noch die Versorgung der Stalltiere hinzu, die traditionell der Bäuerin unterstand. Auf dem Land wie in der Stadt nahm das kleine Mädchen an der Arbeit der Familie teil, egal ob sie landwirtschaftlicher, kommerzieller oder handwerklicher Art war. Für manche kam diese Tätigkeit einer Lehre gleich. Vom Hof. vom Laden oder der Werkstatt des Vaters brachten sie ihre Fertigkeiten und Erfahrungen mit in die Ehe und damit ins Geschäft ihres Gatten. Die meisten Frauen heirateten Männer ihres eigenen Standes. Im jugendlichen Alter konnte die im väterlichen Domizil begonnene Ausbildung auch in einem befreundeten oder verwandten Haushalt vervollständigt werden. Familien nahmen oft Außenstehende in ihr Heim auf. Im England des 17. Jahrhunderts ist es selbst in aristokratischen Familien und Kreisen des Landadels üblich, junge Männer im Alter von fünfzehn bis vierundzwanzig Jahren und junge Mädchen im Alter von fünfzehn bis neunzehn Jahren zu einer Familie in Pension zu geben. So trifft die Tochter von Thomas Fenton im Jahre 1546 bei ihrer Großmutter auf drei ihrer Cousinen und drei andere junge Damen aus gutem Hause. Und die Töchter von Sir Edmund Molineux werden 1551 bei einem Cousin ihres Vaters untergebracht in der Absicht, daß sie dort »in virtue. good manners and learning to play the gentlewomen and good housewives, to dress meet and oversee their households« heranwachsen. Im 17. Jahrhundert war es für Mädchen von bescheidenerer Herkunft üblich, das väterliche Haus zu verlassen, um als Dienerinnen oder Ladenmädchen einige Jahre in der Stadt zu verbringen, während derer sie mit der guten Gesellschaft Londons oder der Badeorte in Berührung kommen sollten. Im Dienste anderer lernte man. seinen eigenen Haushalt zu führen.
Aus Autobiographien des 18. Jahrhunderts wird ersichtlich, daß manche Familie bewußt und trotz vorhandener spezialisierter Einrichtungen für die häusliche Erziehung optierte. Eltern aus privilegierten Kreisen behielten ihre Töchter zu Hause und ließen ihnen eine streng reglementierte Ausbildung zukommen. Diejenigen, die die Kompetenz und Muße dafür besaßen sowie Gefallen daran fanden, erteilten die Lektionen selbst, andere griffen auf professionelle Lehrer zurück, die zu ihnen ins Haus kamen. Mädchen, die auf solche Weise ihr Wissen erwarben, war es zuträglich, gemeinsam mit einem oder mehreren Brüdern zu Hause unterrichtet zu werden. Schwestern profitierten immer ein wenig von den Lektionen, die den Jungen erteilt wurden, ob sie nun nur hier und da etwas aufschnappten oder gar zu regulären Schülerinnen avancierten.
Die Eltern des 1786 geborenen Baron de Frenilly, begeisterte Förderer der Pädagogik und der Humanwissenschaften, richteten für ihren Sohn, dessen Schwester, zwei Cousinen und Mademoiselle Necker sogar eigens eine kleine Familienakademie ein. Man mag sich fragen, ob den jungen Mädchen allein eine solche Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre. Der Unterricht wurde sonntags abgehalten, verbunden mit Freiluftaktivitäten und geistigen Spielereien. Nach dem Essen durfte die kleine Gruppe im Garten Drachen steigen lassen und sollte sich anschließend mit einem »Geschichtstext [auseinandersetzen], den man entwickeln sollte und dabei frei nach seiner Phantasie Titus-Livius, Sallust oder Tacitus sein konnte«[8] - eine intellektuelle Übung, die damals keine Schule jungen Mädchen angeboten hätte. Frenillys Eltern beurteilten später die Arbeiten des jungen Mannes und seiner vier Gefährtinnen, die sie im übrigen auch Theaterstücke aufführen ließen.
Die außerordentliche Erziehung der 1771 geborenen Madame de Chastenay oblag einer Lehrerin für Geschichte. Musik und Zeichnen, einem Lehrer für Mathematik und einem Lateinlehrer, letzterer war für alle Kinder des Hauses eingestellt worden.[9] Die 1781 als Tochter des Grafen d'Osmond in Versailles geborene Madame de Boigne verdankte ihr ungewöhnliches Wissen ihrem Vater, einem höfischen Edelmann. Er übernahm die Erziehung seiner Tochter vollständig. Da er während der Revolution ins englische Exil ging, fand er die Muße, ihren Geist zu kultivieren:

»Mein Vater hatte sich in der Zeit dieses Rückzugs ausschließlich um meine Erziehung gekümmert. Ich arbeitete regelmäßig acht Stunden täglich an den ernsthaftesten Dingen. Ich studierte die Geschichte, ich begeisterte mich für die Werke der Metaphysik. Mein Vater ließ sie mich nicht alleine lesen, aber er erlaubte [dies unter] seiner Aufsicht (...) mein Vater, der im übrigen Gefallen daran fand, ergänzte meine Studien durch einige Bücher über politische Ökonomie, die mich sehr amüsierten.«[10]

Die Lehrjahre von Manon Phlipon, der zukünftigen Madame Roland, waren typisch für das kultivierte Pariser Bürgertum vor der Revolution. Ihr Vater, ein Kupferstecher, und ihre Mutter ließen ihr zu Hause eine vorzügliche Ausbildung zukommen, die durch ein Jahr Klosterpensionat ergänzt wurde, während dem das Kind auf seine erste Kommunion vorbereitet werden sollte. Die 1754 geborene Manon, die als einziges von sieben Kindern überlebte, konnte mit vier Jahren lesen. Mit sieben Jahren erhielt sie ganztägig Stunden von verschiedenen Hauslehrern, die sie im Schreiben, in der Geographie, im Tanz, in der Musik und im Zeichnen unterrichteten. Aufgrund ihrer schulischen Erfolge wird Latein in ihr Studienprogramm aufgenommen. Als Manon mit elf Jahren in die Klosterschule des Ordens Notre-Dame eintritt, beglückwünschen sich die Nonnen dazu, ein solch gebildetes Mädchen zu bekommen. Sie können ihr nichts weiter beibringen, als sie auf die Kommunion vorzubereiten. Im Kloster behält Manon ihre Musik- und Zeichenlehrer, von denen sie im Sprechzimmer unterrichtet wird." Ein derartiger Rückgriff auf das Kloster als Ergänzung zur häuslichen Erziehung, wie ihn die Familie Phlipon praktizierte, wurde nun als aufgeklärt und progressiv betrachtet.

Das Kloster

Das gängige Bild einer endlos hinter Klostermauern verborgenen weiblichen Kindheit verlangt nach Korrektur, will man der pädagogischen Wirklichkeit des 16. bis 18. Jahrhunderts näherkommen. Zunächst stand das Kloster nur einer relativ begrenzten Bevölkerungsschicht offen, da die Pension in einem Kloster die Eltern teuer zu stehen kam. Fehlendes oder geringes Vermögen der meisten Familien ersparte den Töchtern den Klosteraufenthalt. Das exorbitante Schulgeld erlaubte es lediglich Töchtern aus reichem Haus, in ein Kloster einzutreten. Wesentlich mehr Mädchen besuchten eine Elementarschule als ein Klosterpensionat.
In Paris mußte man um das Jahr 1750 zwischen 400 und 500 Pfund jährlich ausgeben, wollte man seine Tochter in ein Internat geben.IJ Sofern gewisse Ansprüche gestellt sowie besondere Zuwendung bzw. Privatstunden gewünscht wurden, konnte die Rechnung schnell 1000 Pfund erreichen. Ein Maurer zum Beispiel müßte dabei zwei Drittel seines Lohnes aufwenden. Aufgrund dieser nicht nur abschreckenden, sondern für gewöhnlich Sterbliche nicht erschwinglichen Tarife ist die Auslastung der Klosterschulen relativ gering. Im Jahre 1760 machten die 56 Pariser Internate 22% der schulischen Einrichtungen aus, nahmen jedoch nur 13% der Schülerinnen auf.
Die erhaltenen Schulregister zeigen, daß die Oberschicht überrepräsentiert war. In einer Einrichtung der moderateren Tarifstufe wie die der Ursulinen in der Rue Sainte-Avoye kommen 10% der Mädchen aus dem alten Adel und 34% aus der Beamtenklasse. Je höher die Gebühren, desto eher bleibt der Adel unter sich. In den großen Abteien (Penthemont, Abbaye-aux-Bois und Port-Royal), bei den Salesianerinnen und den Benediktinerinnen waren Mädchen mit adligen Vätern in der Mehrzahl.
Wie gestaltete sich nun die klösterliche Erziehung für diese Minderheit? Bereits im Mittelalter werden kleine Mädchen im Kloster erzogen. Mit der Neuzeit entwickelt sich sein pädagogischer Stellenwert weiter. Bis zum 17. Jahrhundert bietet das Kloster den Familien vor allem einen Ort des Rückzugs oder der Aufsicht und der Einführung in das Klosterleben. Während des 16. und 17. Jahrhunderts stellt das Klosterpensionat die Vorstufe des Noviziats dar. Die früh von ihren Eltern aus finanziellen Gründen - meistens um die Mitgift zu sparen - für das Kloster bestimmten Mädchen treten unmittelbar nach Abschluß der Klosterschule in die Klasse der Novizinnen ein, ohne jemals das Kloster verlassen und die Luft der Welt geschnuppert zu haben. Die Rekrutierung aus dem Pensionat spielte damals für die weiblichen Orden eine bedeutende Rolle.
Das änderte sich mit Beginn des 17. Jahrhunderts, als manche Orden anfingen, sich auf den Unterricht zu spezialisieren. Viele Familien gingen nun dazu über, ihre Tochter nur für eine begrenzte Zeit ins Kloster zu schicken. Für immer mehr junge Mädchen, die für ein weltliches und nicht für das geistliche Leben bestimmt waren, stellte dies nur eine Durchgangsstation dar. Dies führte zwangsläufig zu einer Öffnung des Klosters. Es hörte auf, als kleines Universum zu funktionieren, das mittels geschickter Manipulation seine Schülerinnen dem Nonnenstand zuführte. Tutoren wurden innerhalb der Klostermauern zugelassen, die ihren Schützlingen Privatstunden erteilen, wie im Fall Manon Phlipon. Die Nonnen des Calvaire. die sich in Paris in der Nähe des Jardin du Luxembourg niedergelassen hatten, bewiesen große Klarsicht und weise Voraussicht bei der Einschätzung ihrer künftigen Kundschaft, indem sie 1789 öffentlich erklärten:

»Wir haben uns davon überzeugen lassen, daß die jungen Mädchen, die man uns anvertraut, für die Welt geboren sind, und wir bemühen uns nicht nur darum, sie in die Pflichten einzuweisen, die sie in der Gesellschaft wahrnehmen müssen, sondern ihnen auch die Kenntnisse und Künste beizubringen, mit denen sie sich dort auszeichnen können.«[13]

Der pädagogische Wandel des Klosters kündigte sich bereits zur Zeit der Gegenreformation an, deren Stellenwert für die Ausbildung von Mädchen wir bereits hervorgehoben haben. Unter den Orden, die primär auf die Erziehung spezialisiert waren, taten sich die Ursulinen besonders hervor, sowohl aufgrund ihrer raschen geographischen Ausweitung als auch ihrer relativ frühzeitigen Etablierung. Die Nonnen dieses Ordens legten die drei traditionellen Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ab, zu denen noch ein viertes hinzukam, das sie verpflichtete, sich dem Unterricht zu widmen. Die weiträumige Verbreitung der ursulinischen Schulen im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts zeigt, daß ihre Einrichtungen auf eine tatsächlich existierende öffentliche Nachfrage reagierten. Der in Italien in Brescia von Angela Merici 1535 gegründete Orden gelangt 1572 nach Avignon. Von dort aus breitet er sich während des frühen 17. Jahrhunderts in Süclfrankreich aus. Klöster wurden 1599 in Chabreuil in der Dauphine, 1600 in Aix, 1602 in Arles. 1604 in Toulouse und 1606 in Bordeaux errichtet. Bis zum Jahre 1620 gab es bereits 65 Klöster der Ursulinen in Frankreich. Am Vorabend der Revolution hatte sich der Orden dort in 300 Städten etabliert, besonders in den Tälern der Rhone und Saöne, in der Bretagne und im Südwesten.[14]
Die Organisationsstruktur des Unterrichtsplanes eines Klosters variierte je nach dem pädagogischen Selbstverständnis. Jene Gemeinschaften, die Schülerinnen nicht aufgrund eines speziellen Bildungsauftrags in Pension aufnahmen, sondern im Hinblick auf die klösterliche Unterhaltssicherung, hatten gewöhnlich lediglich eine einzige Klasse, in der dann etwa dreißig Pensionärinnen aller Altersstufen zusammen unterrichtet wurden. Orden dagegen, die aus Berufung lehrten, richteten zumeist drei verschiedene Klassenstufen ein: die Klasse der »Kleinen«, der »Mittleren« und der »Großen«. Um hundert Mädchen unterbringen zu können, mußte man über genügend Räumlichkeiten verfügen. Während manche klösterlichen Einrichtungen sich damit begnügten, ein Klassenzimmer und einen Schlafsaal einzurichten, war bei den Ursulinen oder dem Orden Notre-Dame die schulische Infrastruktur unterteilt und spezialisiert. Die Internatsschülerinnen hatten zudem ihren eigenen Speisesaal, eigene Krankenzimmer, zuweilen sogar ein separates Sprechzimmer und eine Küche. Der Unterrichtssektor war nicht mehr nur Appendix des Klosterlebens, sondern begann einen regulären großzügigen Posten innerhalb des Haushaltsplans darzustellen und Investitionen in Personal und Räumlichkeiten zu beanspruchen.[15]

Nichtreligiöse Internatsschulen

Neben einer Erziehung im Kloster boten sich für Mädchen aus begütertem Haus auch weltliche Internate an. Allerdings eignen sich weder die englischen boarding schools noch die französischen pensions (maisons d'education) bzw. andere französische Privatschulen für eine systematische Untersuchung dieses Phänomens. Die Informationen, die uns aus der Vergangenheit übermittelt wurden, lassen sich lediglich dem privaten Briefwechsel, den Memoiren, Tagebüchern oder kleinen, in der Presse veröffentlichten Werbeanzeigen entnehmen. Die boarding schools und Erziehungshäuser waren Privatunternehmen, die unabhängig operierten und oftmals plötzlich umzogen oder ganz verschwanden. Verglichen mit den Klosterschulen, die fest in eine jahrhundertealte kirchliche Administration eingebunden waren, unterlagen die weltlichen Einrichtungen den Wechselfällen und Risiken einer frühkapitalistischen Marktdynamik.
Im England des 17. Jahrhunderts wird die Tradition des Klosterpensionats durch die Etablierung und wachsende Verbreitung von boarding schools in säkularisierter Form fortgesetzt. Um das Jahr 1650 besaß jede Stadt, die sich dieser Bezeichnung würdig erweisen wollte, innerhalb ihrer Mauern ein Internat, das vor allem dazu bestimmt war, aus den Mädchen der Handelsbourgeoisie vorzeigbare Gattinnen für Angehörige der niederen Adelsschichten zu machen. Dabei war man vor allem um ein gepflegtes Äußeres, den rechten Anstand und die schönen Künste bemüht. In London wird bereits l6l7 die erste boarding school eröffnet, und im Laufe des Jahrhunderts gab es in der Hauptstadt zeitweise bis zu vierzehn solcher Einrichtungen. Die in den Vororten Hackney, Putney und Chelsea hatten den besten Ruf. Von 1643 bis 1660 führte Robert Erwick dort eine besonders angesehene Einrichtung, die durchschnittlich etwa hundert Schülerinnen aufnahm. Man sprach damals von Hackney gemeinhin als von »the ladies university of the female arte«. Die Modewelle der boarding schools erfaßt auch die Provinz, vor allem solche Städte wie Manchester, Exeter, Oxford und Leicester. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wird die Kritik an der oberflächlichen Erziehung, die angeblich in diesen Institutionen praktiziert wird, immer lauter, Die meisten dieser Schulen ließen sich jedoch nicht von ihrem einmal eingeschlagenen Kurs abbringen. Indes unternahmen einige wenige von ihnen Anstrengungen hin zu einem gehaltvolleren Unterricht. 1673 bietet JVlrs. Bathsua Makin, eine ehemalige Gouvernante von Kindern aus dem Adel, in der Tottenham High Gross School ein bemerkenswertes Unterrichtsprogramm an, das alte sowie lebende Sprachen, Naturwissenschaften, Arithmetik, Astronomie, Geschichte und Geographie umfaßt. Im 18. Jahrhundert folgen einige boarding schools diesem Beispiel, wie etwa 1760 in Chelsea die von Mrs. Lorrington geleitete Schule und die überaus renommierte Abbey House School, die von 1796-1797 auch Jane Austen zu ihren sechzig Schülerinnen zählte.[16]
In Frankreich sind die pensions später als ihre englischen Schwesterinstitute entstanden. Sie entsprechen einem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verspürten Bedürfnis, das mit der Infragestellung der Erziehungspraktiken des Klosters und des College entstanden war. Zahlreiche Privatschulen - sowohl für Mädchen als auch für Jungen etablierten sich im Zuge dieser Entwicklung in den Städten. Sie boten den Eltern ein Modell, das enger am Familienmodell orientiert war und solche neuen Werte wie Hygiene, Naturverbundenheit oder die Privatsphäre zunehmend in den Mittelpunkt stellten. Idealerweise entsprach das Internatsleben einem von Ehemann und Ehefrau geführten Haushalt. Die Schülerinnen wurden dazu angehalten, sich an der frischen Luft zu bewegen und sich gesund zu ernähren. Das schulische Programm beinhaltete die Erziehung des Körpers, des Geistes und der Sitten. Das Reisetagebuch von Henry Paulin Panon Desbassayns, einem Kaufmann von der Insel La Reunion im Indischen Ozean, der vier seiner Kinder - zwei Mädchen und zwei Jungen - von 1790 bis 1792 in Privatpensionen in Paris unterbringt, liefert jede Menge Informationen über jene Einrichtungen.[17] Er besuchte sieben Schulen für Mädchen, bevor er sich für diejenige entschied, die von den Eheleuten Roze in der Rue Copeau unterhalten wurde. Madame hatte auf alles ein Auge, Monsieur war Musiklehrer. Panon wünschte, daß seine Mädchen rasch und gut lernen, und er besuchte sie häufig während ihrer Unterrichtsstunden: Lesen. Schreiben, Orthographie. Grammatik, Englisch, Klavierspielen, Musiklehre, Tanz, Gesang, Sprecherziehung und Zeichnen. Aber in der Pension Roze war auch für Amüsement gesorgt: Die Familien der Schülerinnen wurden regelmäßig zu Konzerten, Soupers, Feuerwerken und Bällen eingeladen. In der maison d'education wurde in heiterer Geselligkeit gelernt.

Die Elementarschule

Kostenpflichtig oder gebührenfrei, ländlich oder städtisch - die Grundschule (petite ecole) war für eine breite Schicht von Schülerinnen eingerichtet worden. Was die Differenzierung der erzieherischen Praxis nach Geschlechtern betrifft, ist die petite ecole zweifellos der neutralste Ort. Die religiösen Grundkenntnisse und Lesen und Schreiben werden hier Mädchen wie Jungen gleichermaßen vermittelt. Auf dem Land war die petite ecole häufig eine gemischte Schule, ohne dadurch Anstoß zu erregen. In den Städten allerdings belegen die wiederholten Proteste gegen den gemischten Unterricht und die Unterrichtung von Mädchen durch Männer, daß Eltern das Miteinander beider Geschlechter im Klassenzimmer selbst dann ablehnten, wenn sich im Alltag tausend Gelegenheiten zu derartigem Kontakt Laoten. Dennoch verdankt die petite ecole der Mädchen ihre Existenz und systematische Verbreitung den moralischen Vorbehalten gegen das gemeinsame Lernen der beiden Geschlechter.
Obwohl wir sicherlich nie genau erfahren werden, wann die erste Schule dieser Art gegründet wurde, ist historisch belegt, daß bereits 1357 der Kantor von Notre-Dame als Direktor der Grammatikschulen oder der petites ecoles der Stadt Paris und ihrer Vororte« 25 Lehrerinnen zur Unterrichtung der Mädchen und 50 Lehrer für die der Jungen beschäftigte. Der Bischof, dessen Monopol auf die kostenpflichtigen petites ecoles ein Erbe des Mittelalters war, glich die Zahl der angebotenen Stellen allmählich einander an. Als 1672 die neuen Statuten und Ordnungen der Grundschulen erlassen wurden, konnte von etwa gleichen Zahlen ausgegangen werden. Zu dem Zeitpunkt gab es in der Hauptstadt 166 Schulen, jeweils mit einer Lehrerin für Mädchen und einem Lehrer für Jungen. Diese Parität wurde solange aufrechterhalten, wie das kirchliche Schulsystem am Leben blieb. Jedesmal wenn der Kantor seinem Netz neue Klassen hinzufügte, wurde sowohl eine Lehrerin als auch ein Lehrer benannt. 1791 gibt es 201 Lehrerinnenstellen. Sie werden von Laien, zumeist ledigen bzw. mit Kollegen verheirateten Frauen besetzt.
Auch andere Bischofsstädte besaßen ein Netz von kostenpflichtigen petites ecoles, das an den Bischofssitz angeschlossen war. In Lyon wurden 50 Lehrerinnen und 50 Lehrer in den verschiedenen Sektoren der Stadt beschäftigt, ein Verhältnis, das dem von Paris vergleichbar war. In Grenoble sind im Jahre 1789 13 kostenpflichtige Schulen für Mädchen und 14 für Jungen belegt. Amiens hatte zwischen 1715 und 1780 80 Lehrerinnen und 82 Lehrer, die dem Domkapitel unterstellt waren. Wenn wie in Paris der Unterricht im Haus der Lehrerin abgehalten wurde, waren die Aufnahmekapazitäten aufgrund ihrer engen Wohnverhältnisse begrenzt. Bestenfalls kamen zwanzig Schülerinnen in einem Raum unter, der nach den Schulstunden wieder als Wohnzimmer diente. Wenn der Schuldistrikt über eigene Räumlichkeiten verfügte, konnten dort etwa 50 Mädchen untergebracht werden.
Trotz der erhobenen Unterrichtsgebühren war die petite ecole wesentlich erschwinglicher als das Internat. In Paris bezahlten die Eltern im 18. Jahrhundert 3 Pfund 10 Sols im Monat, wenn sie ihre Tochter oder ihren Sohn in eine der Schulen von Notre-Dame schickten; das sind pro Jahr - berechnet auf 11 Monate - 38 Pfund 10 Sols pro Schüler. Eine solche Ausgabe konnten sich auch städtische Familien mit relativ bescheidenen Einkünften leisten, denen Bildung wichtig genug erschien, um auf die Löhne, die möglicherweiser von ihren Kindern erbracht werden konnten, zu verzichten. Neun von zehn der Mädchen, die die kostenpflichtigen hauptstädtischen Bildungseinrichtungen besuchten, kamen aus Kaufmanns- und Handwerkerfamilien wobei mehr Töchter von Meistern als von Gesellen waren.[18] Auch wenn man dort von Zeit zu Zeit der Tochter eines Gärtners oder Köhlers, der eines Advokaten oder königlichen Geographen begegnen konnte, sind diese sozialen Schichten stark unterrepräsentiert. Die kostenpflichtige petite ecole ist vor allem für Handwerker und Kaufleute interessant, was durch ihre räumliche Verteilung innerhalb der Stadt bestätigt wird. In den Stadtzentren und den geschäftigen Vororten, wo sich Händler und Handwerker angesiedelt hatten, sind diese Schulen dichter gesät.
Als Trägerin der Bemühungen um die Volkserziehung, wie sie in der Folge des Konzils von Trient angestrengt wurden, richtet die katholische Kirche im 17. Jahrhundert in Frankreich kostenlose Schulen ein, die Mädchen zusätzliche Bildungschancen boten. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts widmeten sich die neuen Orden, die sich mit der Mädchenbildung beschäftigten, neben ihren Internatsschulen, in denen Externe kostenlos unterrichtet wurden, der Unterweisung der Armen. Im Zuge der Gegenreformation öffneten ab 1650 weitere kostenlose Schulen ihre Pforten. Diese verdankten ihre Existenz der Initiative einer neuen,   besser   ausgebildeten   Priestergeneration   und   der   Förderung durch karitative Bruderschaften innerhalb ihrer Pfarrei. Das städtische Netz der Mädchenschulen wird damit engmaschiger. Die Armenschulen nehmen zwischen vierzig und hundert Mädchen in eine Klasse auf, In Paris zählen die -wichtigsten Schulen bis zu 500 externe Schülerinnen. Die kostenlosen Schulen werden mittels Stiftungen und anderer testamentarischer Vermächtnisse finanziert. Wohlhabende Gönner, die ihr Seelenheil mit dem erworbenen materiellen Wohlstand zu versöhnen suchen, vermachten 'feile ihres Vermögens an diese Institutionen. Einige der Schulen finanzierten sich auch teilweise über den Verkauf von Handarbeiten, die von den Schülerinnen angefertigt wurden.
Um die Gesetze der Konkurrenz zu respektieren und nicht die Mißgunst der Besitzerinnen kostenpflichtiger Internate zu erwecken, waren die kostenlosen Schulen theoretisch denjenigen Mädchen vorbehalten, deren Eltern außerstande wraren, das Schulgeld aufzubringen. In Wirklichkeit bot jedoch die Kostenfreiheit nicht genügend Motivation, auch jene Schichten am Unterricht zu interessieren, deren Existenzgrundlage nicht ausreichend gesichert war. Die zahlende und die im Namen der Barmherzigkeit aufgenommene Kundschaft glichen sich mehr, als man gemeinhin annehmen würde. Zumindest bewegen sich beide im städtischen Bereich und sind in eine Pfarrei sowie eine berufliche Tätigkeit eingebunden, die ihre Subsistenz sichert. Der größte Unterschied bestand darin, daß in den karitativen Schulen ein höherer Prozentsatz von Töchtern von Tagelöhnern und Gesellen als aus Handwerker- und Häncllerfamilien anzutreffen waren. Die Verfechter der kostenlosen Institutionen waren sich dessen bewußt, daß ihre Schülerschaft weniger homogen war, als sie zuzugeben gewillt waren. Deshalb schrieb die Schulordnung der Ursulinen ihren Lehrerinnen vor, »darauf zu achten, Mädchen von Stand nicht neben die ärmsten und unsaubersten Mädchen zu setzen, um in ihnen keinen Widerwillen zu erregen; dies sollte jedoch diskret geschehen, damit die armen Mädchen nicht glauben, man verachte sie«.[19] Die Gemeinschaft der Schwestern von Sainte-Anne in der Pfarrei Saint-Roch in Paris, die im Prinzip nur bedürftige fvlädchen aufnahm, behält lediglich eine ihrer sieben Klassen, die sogenannte »Klasse der Zeitweiligen«, armen Mädchen vor, »die von ihren Eltern und der Notwendigkeit gezwungen werden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und nicht mit Fleiß die Schule besuchen können, sondern dann kommen, wenn sie können«.211 Anscheinend haben also auch zahlungskräftige Eltern ihre Kinder in Schulen geschickt, die nur den ärmsten vorbehalten waren. Die vielen Konflikte zwischen den Verwaltern kostenpflichtiger Schulen und kostenloser Schulen zeigen, daß die Schülerzahl sich auch mit dem Argument der Kostenfreiheit nicht beliebig steigern ließ.
Auch die englischen, irischen und walisischen Städte profitierten vom Boom der karitativen Schulen in Frankreich. Dieser wirkt sich allerdings erst ein Jahrhundert später aus und geht auf die Initiative der im Mai 1699 gegründeten Society for the Propagation of Christian Knowledge (SPCK) zurück. Im 18. Jahrhundert kümmern sich fromme Adlige mit philanthropischer Gesinnung darum, die Straßenkinder in den Städten aufzugreifen. Sie blieben solange in der Schule, bis sie Gruncikenntnis.se des Lesens, Schreibens, der Religion und Sittenlehre erworben hatten, anschließend brachte man sie als Lehrlinge oder als Bedienstete unter. Die SPCK koordinierte die Gründung und Verwaltung neuer Schulen, Im Jahr 1729 wurden die 132 Londoner Schulen von 5225 Schülern besucht, und 1733 werden bereits schätzungsweise 20000 Kinder im Namen der Barmherzigkeit im ganzen Land unterrichtet. 1709 verbindet die Londoner Feministin Mary Astell Theorie und Praxis und gründet eine Mädchenschule. Es gelang ihr, die Vorsteher des Chelsea Royal Hospital dafür zu gewinnen, eine Klasse mit 30 bedürftigen kleinen Mädchen einzurichten. Mary Astells Schule unterschied sich von anderen karitativen Instituten dadurch, daß auf ihrem Stundenplan die frommen Übungen nicht an erster Stelle stehen und sie sich weigert, ihre Schülerinnen mit Handarbeiten zu beschäftigen, die verkauft werden, um das Schulgeld einzutreiben.
Auf dem Lande waren Mädchen generell weniger begünstigt als ihre Schwestern in den Städten. Sie profitierten nicht wie letztere von der Existenz mehrerer teils kostenpflichtiger, teils kostenloser Schulsysteme.
Die dörflichen Gemeinschaften, die kaum in der Lage waren, den LJnterhalt für eine Schule aufzubringen, konnten ihr Budget nicht auf das Doppelte erhöhen, um eine Mädchenschule aufzumachen. Diese finanziellen Einschränkungen führten dazu, daß man die Augen vor einer sich unbemerkt einschleichenden Geschlechtermischung verschloß. In seinen Memoiren erzählt Restif de la Bretonne, ein ehemaliger Schüler der petites ecoles im ländlichen Auxerrois, vom Unterricht, der ganz selbstverständlich von Jungen und Mädchen besucht wurde. Je kleiner das Dorf, desto toleranter verhielten sich die kirchlichen Behörden, auch wenn die Bischöfe auf dem Papier ausdrücklich empfahlen, Unterrichtsstunden für Jungen und Mädchen zu verschiedenen Zeiten abzuhalten, Trennwände einzuziehen oder die Mädchen nach Vollendung des neunten Lebensjahres aus der Schule zu entlassen. Häufig war die gemischte Schule für die kleinen Landbewohnerinnen die einzige Chance, ein Grundwissen zu erwerben. Immer dann, wenn es einem mit den Jansenisten sympathisierenden Bischof oder einem um die Moral seiner Schäfchen besorgten Pfarrer opportun erschien, den gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen zu untersagen, führte dies unvermeidlich dazu, daß Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Dies geschah im Jahre 1784 in Montigny-les-Arsures in der Franche-Comte. Die Einwohner weigerten sich, eine zweite Schule zu errichten, mit der Begründung, daß auf dem Land ohnehin kein Mädchen nach dem zehnten Lebensjahr eine Schule besuchen würde. Es sei für Mädchen sowieso kaum notwendig, schreiben oder lesen zu lernen. Angeführt wurde außerdem das durchaus richtige Argument, daß »es viel gefährlicher für die guten Sitten [sei], die jungen Mädchen zum Viehhüten in die Heide zu schicken I. . .] zusammen mit den heranwachsenden jungen Männern«.[22]
Selbst wenn die dörflichen Gemeinschaften eine weltliche Lehrerin einstellen konnten, die von den Eltern der Schülerinnen bezahlt wurde, kam diese, im Falle von Lehrern für Jungen häufige Praxis den Mädchen nicht vor 1750 zugute und blieb auch danach sehr selten. Während des ganzen 18. Jahrhunderts beschäftigten die 390 ländlichen Pfarreien der Region Doubs 66 Lehrerinnen und 3000 Lehrer. Die ländlichen Mädchenschulen waren in der Tat fast ausschließlich Sache der auf nationaler oder regionaler Ebene operierenden Kongregationen. Kongregationen, die sich der Erziehung widmeten, unterhielten in ihrem Mutterhaus zuweilen ein Seminar, das dazu bestimmt war, Lehrerinnen für ländliche Schulen auszubilden. Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern der 1633 von Vincent de Paul in Paris gegründeten Charite dienten dabei als Vorbild. Die Vinzentinerinnen mit der wohlbekannten weißen Haube schwärmten ins ganze Land aus, um arme kleine Mädchen zu unterrichten und bedürftige Kranke zu pflegen. Die Dames de Saint-Maur verbreiten sich von ihrem 1678 gegründeten Pariser Seminar aus ebenfalls über ganz Frankreich, insbesondere in den Diözesen des protestantischen Südens.
Das Muster der Barmherzigen Schwestern fand häufig Nachahmung in den einzelnen Diözesen und Regionen. Die Kongregationen, die sich in erster Linie der Erziehung widmeten und meist von lokal begrenztem Einfluß waren, entstanden um 1630 und verbreiteten sich zunehmend zwischen 1660 und 1730. Ihre bestimmende Rolle erklärt die großen regionalen Unterschiede in Frankreich, was die Schulbildung der Mädchen auf dem Lande betrifft. Immer dort, wo eine dieser Kongregationen aktiv wurde, waren Mädchenschulen zu finden, selbst in den kleinsten Dörfern. Die Vatelotes genannten Schulschwestern, deren Orden 1725 von dem Domherrn Vatelot in Toul gegründet worden war, unterhielten im Jahr 1789 in Lothringen 124 Schulen. Im Westen Frankreichs unterhielt die 1719 von Grignion de Montfort ins Leben gerufene Kongregation der Schwestern der Weisheit am Vorabend der Revolution 66 Einrichtungen zwischen der Basse-Normandie und dem Saintonge. Die Auvergne und das Velay profitierten von der Anwesenheit der Beates,[23] der Dames de l'instruction und der Schwestern von Saint-Joseph. Die Lyoner Gegend war die Heimat der Schwestern von Saint-Charles, während in der Bretagne im 18. Jahrhundert drei Orden der Karmeliterinnen in fast allen Pfarreien der Diözese von Vannes unterrichteten. All diesen Anstrengungen zum Trotz blieben dennoch Regionen, die nicht versorgt wurden.
Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage hinsichtlich Erziehungseinrichtungen für Mädchen in Paris im Jahre 1760 gibt Aufschluß über die quantitativen Ausmaße des Mädchenunterrichts im Anden Regime. Die Stadt mit den meisten kulturellen Privilegien bot damals ungefähr 11200 Plätze für Mädchen in 265 schulischen Einrichtungen: 2700 in den 153 kostenpflichtigen Schulen, 7000 in den 56 kostenlosen petites ecoles und 1500 in den 56 Klosterpensionaten. In dieser Stadt mit 600000-800000 Einwohnern zählte man zwischen 49500 und 66000 Mädchen im schulpflichtigen Alter (zwischen sieben und vierzehn Jahren). Berücksichtigen wir diejenigen, die keine Schule besuchten, und diejenigen, die anderswo lernten, und die Tatsache, daß Mädchen bestenfalls zwei oder drei Jahre in der Schule verbrachten, so kann davon ausgegangen werden, daß die Hauptstadt allenfalls einem Drittel der potentiellen Schülerinnen einen Platz bereitstellte.[24] So war es um die Bildungssituation im vorrevolutionären Frankreich bestellt.

Wissen und Umgangsformen

Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurde das dem anderen Geschlecht konzedierte Wissen nicht qualitativ, sondern lediglich quantitativ erweitert, indem mehr Mädchenschulen eingerichtet wurden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts besuchten zwar mehr Mädchen als je zuvor die Schule, jedoch hielt sich ihr Wissensstand auf demselben Niveau wie vorher. Welche Schule ein Mädchen auch besuchte, es bestand kaum jemals die Gefahr, daß sie als Gelehrte daraus hervorgehen würde. Sowohl die Klosterschulen als auch die petites ecoles vermittelten einen äußerst begrenzten Unterrichtsstoff und verwendeten ein Minimum an Zeit auf intellektuelle Bildung. Nur ein gut strukturierter Hausunterricht ermöglichte es Frauen, einen Bildungsstand zu erreichen, der sich mit dem der Jungen messen konnte, die ihr Wissen in Privatschulen erwarben. Das Durchschnittsmädchen wurde tunlichst von jeglichem intellektuellen Zeitvertreib ferngehalten, es genügte vollkommen, ihren Wissensdurst mit frommen Übungen und handarbeitlichen Fertigkeiten zu stillen.

Eine unvollständige Schulbildung

Selbst Klöster, die sich auf pädagogischem Gebiet betätigten, stießen sehr bald auf grundlegende Hindernisse bei der Wissensvermittlung, die in den langjährigen Gewohnheiten der Familien begründet lagen, die ihre Dienste teuer bezahlten und nach eigenem Gutdünken benutzten. Eltern erwarteten, daß ihre speziellen Wünsche und Ansichten respektiert wurden, und konnten gegebenenfalls ihre Kinder aus dem Internat nach Hause zurückholen. Nonnen hatten große Mühe, Unterrichtspläne für Klassen zu erarbeiten, in denen Mädchen von vier bis achtzehn Jahren zusammenkämen. Das Konzept eines Schuljahrs war damals noch unbekannt.
Die Unterschiede zwischen Rhythmus und Dauer der Schulzeit in Mädchen- und Jungeninternaten am Ende des Ancien Regime sind bezeichnend.[25] Während die Jungen gewöhnlich im Herbst bzw. Frühjahr mit der Schule anfingen, gab es keine regulären Termine für die Mädchen. Diese traten zu beliebigen Zeiten in ein Internat ein bzw. verließen es wieder. Nur die Ursulinen näherten sich dem Semesterrhythmus an. Auch durch die Dauer des Aufenthalts im Pensionat unterschied sich die Routine der Klosterschulen deutlich von der der Knabeninternate: Die meisten Mädchen blieben ein oder zwei Jahre, ihre Brüder meistens zwischen drei und acht Jahren. Der kurze Aufenthalt der Mädchen im Internat machte einen fortlaufenden Unterrichtsplan unmöglich. So wie die zukünftige Madame Roland kurz vor der Revolution verbringen Mädchen höchstens zwei Jahre im Kloster, und meist ausschließlich, um sich auf die Erstkommunion vorzubereiten.[26] Madame Campan schrieb wenig später, daß nach 1760 »fast alle Mädchen nur noch ein Jahr in den Klöstern verbrachten, und dieses Jahr war zum vertieften Studium des Katechismus bestimmt, und als Rüstzeit zur Vorbereitung auf die Erstkommunion (. . .); man hatte seit langem die Gewohnheit aufgegeben, Mädchen bis zum Alter von achtzehn Jahren hinter den Mauern des Klosters zu lassen.[27]
Die Anzahl der Schülerinnen in Klosterschulen verringerte sich allmählich; in der Hauptstadt waren nach 1750 nur wenige voll ausgelastet. Im gleichen Zeitraum geht auch der Besuch von Jungeninternaten immer mehr zurück. Aufgeklärte Familien der gesellschaftlichen Elite hatten sich längst vom Konzept der Internatsschule verabschiedet.
Dadurch, daß Klöster der Beachtung interner Regeln größeres Augenmerk beimaßen als dem eigentlichen Unterrichtsbetrieb, blieb immer weniger Zeit für akademische Belange. Die Schülerinnen, die je nach Institution und Jahreszeit zwischen 4 und 7 Uhr morgens aufstehen und zwischen 19 Uhr 45 und 21 Uhr 30 schlafen gehen mußten, wandten letztlich bestenfalls fünf oder sechs Stunden am Tag für die Schule auf.
Je stärker das Klosterleben vom Geist der Regeln bzw. von jansenistischen Skrupeln geprägt war, desto mehr wurde der Liturgie Vorrang vor der Wissenschaft gegeben. Im Stundenplan der strengsten Häuser hat der Erwerb profanen Wissens den bloßen Stellenwert eines Lückenbüßers zwischen der religiösen Unterweisung und den Andachten, den Gebeten, Meditationen und der frommen Lektüre. Der allgemeine Schulbetrieb im Kloster wird ständig durch die Glockenschläge, die zum Gebet rufen, unterbrochen.
In den petites ecoles verläuft der Unterricht nach einem anderen Rhythmus, auch wenn der tägliche Besuch der Messe zum Stundenplan gehört. Schulen, die kostenlos waren oder geringes Schulgeld forderten, konnten ihren Terminplan gegenüber den Familien durchsetzen, deren minimale finanzielle Beteiligung nicht länger rechtfertigte, daß man sich, wie etwa im Falle teurer Internate, nach ihnen richtete. Mädchen verbrachten gewöhnlich bis zu vier Jahre in kostenpflichtigen Schulen, drei Jahre in freien kommunalen Schulen und lediglich zwei Jahre in denen der Pfarrgemeinden. Aus finanziellen Erwägungen heraus konnten es sich Lehrerinnen der kostenpflichtigen Schulen nicht leisten, das Alter ihrer Schülerinnen bzw. die Zeit, die diese benötigten, um lesen und schreiben zu lernen, zu beschränken. Anders war es bei den karitativen Institutionen, denen es darum ging, möglichst viele Schüler zu rekrutieren, und die stets darum bemüht waren, ihre Schützlinge so rasch wie möglich wieder los zu werden, um anderen Platz machen zu können. Es kam zuweilen vor, daß ein Mädchen bis zur Vollendung seines achten Lebensjahres warten mußte, bevor es Aufnahme in einer solchen Schule fand. Den Gönnern karitativer Einrichtungen ging es primär um das Ertragsvolumen, d. h. in diesem Falle um eine möglichst hohe Anzahl geretteter Seelen. Dementsprechend wurden die Schüler(innen) ihrem jeweiligen Lese- bzw. Schreibvermögen nach in zwei oder drei Klassen eingeteilt. Schülerinnen der externen städtischen Schulen bekamen im Herbst drei oder vier Wochen Ferien, wohingegen die Schulen auf dem Land eine ausgedehntere Unterrichtspause gewährten aufgrund des während der Erntezeit bestehenden Bedarfs an zusätzlichen Arbeitskräften. Statt regulärer Schulferien gab es Unterbrechungen aus Anlaß der zahlreichen religiösen Feiertage, und die Unterrichtswoche wurde durch einen bzw. eineinhalb Tage der Ruhe unterbrochen. Schulen, die sich auf eine Berufsausbildung spezialisierten, mußten notwendigerweise weit mehr als die gemeinhin üblichen fünf bis sechs Stunden auf die Unterrichtung ihrer Zöglinge verwenden. Die Schülerinnen der Gemeinschaft der heiligen Agnes in Paris arbeiteten von 7 bis 11 Uhr morgens und von 12 Uhr 30 bis 18 Uhr nachmittags. Für diese Mädchen, die gleichsam Schülerinnen und Arbeiterinnen waren, wurde die Unterrichtszeit durch die Anforderungen des Marktes reguliert. Der geringe Zeitraum, der für den allgemeinen Unterricht übrig blieb, wurde zugunsten der Unterweisung in Nadelarbeiten und frommen Übungen genutzt. Immer noch befürchtete man, daß junge Damen zu viel lernen und sich überflüssige Kenntnisse aneignen könnten, die ihnen nur zum Schaden gereichen würden. Die Vernachlässigung bestimmter Fächer, die Beschränkung auf das Allernötigste bei der Wissensvermittlung sowie eine eher auf Toleranz denn Akzeptanz ausgerichtete pädagogische Einstellung bezeugen, daß man der weiblichen Bildung immer noch mit großem Mißtrauen begegnete.

Streng kontrollierte Unterweisung

Der Fächerkanon der Mädchenschulen des vorrevolutionären Frankreich setzte sich folgendermaßen zusammen: Religion und Sittenlehre, die Anfangsgründe des Lesens, Schreibens und Rechnens sowie der Umgang mit Nadel und Faden. Die verschiedenen Institutionen variierten diesen Kanon, der in den Klosterschulen dank der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel und des Rückgriffs auf Privatlehrer einige Erweiterungen erfuhr. Vor allem aber sollte den kleinen Mädchen in der Schule beigebracht werden, »Gott zu erkennen, ihn zu lieben und ihm zu dienen«. Als der katholische Pfarrer der Pariser Gemeinde Saint-Louis-en-L’Ile 1716 eine Lehrerin sucht, schließt er in seinem an die Oberin der Schwestern der Charite gerichteten »Anforderungsprofil« mit dem Satz: »Ich spreche Ihnen nicht vom Katechismus und den christlichen Unterweisungen, denn Sie wissen, daß das vor allem anderen kommt.«[28] Sowohl die unterrichtenden Laienschwestern als auch die Kongregationsschwestern waren gehalten, ihre ganze Energie, ihre Autorität, ihren Ehrgeiz und ihre Sorgfalt auf den religiösen Teil des Lehrplans zu verwenden.
Angefangen vom Erlernen der Gebete, über die Einführung in die heiligen Schriften und die Vorbereitung auf den ersten Empfang der Sakramente und die Erstkommunion bis zum täglichen Besuch der Messe, ist der gesamte Schulalltag der Mädchen durch den Glauben geprägt. Der von Gebeten unterbrochene Stundenplan (vor oder nach den Lektionen bzw. in den Pausen), die Bibliothek, in der nahezu neun von zehn Titeln der Gattung »fromme Werke« angehörten, die erbaulichen Bilder an den Wänden des Klassenzimmers - all das gehörte dazu. Aber die religiöse Komponente erschöpfte sich nicht in diesen äußeren, hörbaren, memorierbaren oder sichtbaren Zeichen, sie manifestierte sich auch in den Verhaltensweisen und Gesten der Kinder, deren spontane Reaktionen man streng im Zaum zu halten versuchte. Hier wird es schwierig, zwischen der Instruktion in allgemeiner Sittenlehre und in Verhaltensnormen und dem eigentlichen Religionsunterricht zu differenzieren: In der Mädchenerziehung waren alle drei gleichermaßen integriert. Der Erfolg eines Werkes wie der Conduite chretienne ou Formulaire de priores a l'usage des pensionnaires des religieuses Ursulines, das in zahlreichen Gemeinschaften und sogar bei weltlichen Institutionen Verwendung fand und im 18. und 19. Jahrhundert mehrmals neu aufgelegt wurde - einschließlich einer 800seitigen Edition im Jahr 1868 -, zeigt, wie stark das gesamte Schulwesen vom religiösen Dogma durchdrungen war. Die Conduite chretienne begleitete die Schülerinnen vom Aufstehen bis zum Schlafengehen.
Die religiöse Unterweisung reichte sogar in die Zeit hinein, die im Prinzip dem Erwerb weltlichen Wissens vorbehalten war: Lesen wurde gelernt, indem Gebete Silbe für Silbe buchstabiert wurden, ebenso erlernte man das Schreiben durch das Abschreiben frommer Sprüche. Den Mädchen das Lesen und, wenn sie lange genug auf der Schulbank blieben, das Schreiben und Rechnen beizubringen war von zweitrangiger Bedeutung und diente bestenfalls als Anreiz für den Schulbesuch. Die Unterrichtsprogramme erläuterten ausführlich das religiöse Curriculum, um lakonisch hinzuzufügen: »Die Studenten werden auch das Lesen und Schreiben erlernen.«
Das Lesen war in erster Linie ein Instrument im Dienste der religiösen Unterweisung. Es half dem schlechten Gedächtnis auf die Sprünge und verhinderte das Stammeln beim Aufsagen von Bibelversen. Die Lektüre diente zur Unterstützung der christlichen Botschaft, die von den Müttern an ihre Kinder weitergegeben wurde. Ihrer frommen Verwendung entkleidet, war sie etwas suspekt. Erzieher warnten immer wieder vor dem schlechten Gebrauch, der von ihr gemacht werden konnte. Als um das Jahr 1750 die ersten Romane für Mädchen aufkamen, fanden sie ihre Befürworterinnen unter Hauslehrerinnen und aufgeklärten Müttern. Die institutionelle Praxis blieb in dieser Hinsicht jedoch sehr weit zurück. Im Gegensatz zu frommen Büchern konnten Romane eventuell anstößige Inhalte haben und fielen somit unter die strenge Zensur sowohl der weltlichen als auch der Klosterschulen. Jedes neue Buch, das Einlaß ins Koster begehrte, wurde vorher aufs sorgfältigste von der Mutter Oberin überprüft.
Die um 1650 in den Lehrplan von Port-Royal eingeführte Neuerung, das Lesen mittels des Französischen und nicht mehr mittels des Lateinischen zu unterrichten, wurde bald auch von anderen Mädchenschulen übernommen. Angesichts einer Zwangssituation triumphierte die Logik: Da Mädchen generell nicht allzu lange in der Schule blieben, schien es ohnehin sinnvoller, das Lesen nur noch in der Muttersprache zu erlernen. Auch wenn auf dem Papier die Fächer Französisch und Latein existierten, so waren die Mädchen, die in diesen Fächern einen Abschluß erwarben, in der Minderheit. Ein akademisch ambitionierter Orden wie die Ursulinen tat sich dadurch hervor, daß der Lektüre in lateinischer Sprache Priorität eingeräumt wurde. Grund hierfür war deren ausgeprägtes Interesse an der klassischen Kultur. Obwohl die Schule im allgemeinen das Lesen und Schreiben lehren sollte, wurde letzteres, zumindest im 17. Jahrhundert, nicht immer in die Tat umgesetzt. Zum einen beherrschten manche Lehrerinnen die anspruchsvolle Kunst des Schreibens selbst nicht ausreichend, um sie unterrichten zu können. Zum anderen gehörte das Schreibenlernen der zweiten Phase der Schulzeit an, erst nachdem das Lesen bereits gemeistert worden war. Nicht alle Schülerinnen brachten es so weit. Die schulischen Einrichtungen verfolgten unterschiedliche Methoden des Schreibenlernens, die auf den Gebrauch, den die Schülerinnen vermutlich davon machen würden, zugeschnitten waren. Während die privilegierten Zöglinge der Ursulinen individuell lernten und mit äußerster Sorgfalt betreut wurden, übten sich die Schülerinnen der karitativen Schulen mehr schlecht als recht im Schreiben, indem sie auf Pappkarton vorgemalte Beispiele kopierten. Sie lernten auch nicht, wie die Schülerinnen der Kongregation von Notre-Dame, »Formeln für Versprechungen, Quittungen für gelieferte Waren und andere Schriftstücke, was ihnen in ihrem jeweiligen Stand von Nutzen sein wird«,[29] abzuschreiben.
In den meisten Fällen mußten die knappen Kenntnisse im Lesen, Schreiben oder Rechnen, die einem Mädchen zuteil wurden, außerhalb der Schule vervollkommnet werden, wenn sie nicht dem Vergessen anheimfallen sollten. Ohne die entsprechenden Anwendungsmöglichkeiten konnte der elementare Unterricht nicht auf fruchtbaren Boden fallen.
Beim Verlassen der Grundschule sollte ein Mädchen einen gewissen Geschmack am Arbeitsalltag gefunden haben. Durch die Omnipräsenz von Faden, Stoff und Nadeln, durch Unterweisung in das Sticken, Spitzenklöppeln, Gobelinsticken, Nähen, Stricken und Flicken wurde in der Schule auf diesen Arbeitsalltag vorbereitet. Die Bedeutung solcher Arbeiten war verschieden, je nachdem, ob sie in den Händen adliger Mädchen, die die Klosterpensionate besuchten, oder in denen von Schülerinnen der Charite entstanden. Im Hinblick auf die ersteren wird die Arbeit als gesunde Beschäftigung gewertet, als ein Mittel gegen Müßiggang. Bei den letzteren liegt der Zweck der in der Schule erlernten Fähigkeiten in der Möglichkeit eines ehrbaren Broterwerbs und damit der moralischen und spirituellen Läuterung.
»Mädchen in die Lage zu versetzen, auf ehrbare Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen«, diese Formulierung kehrt leitmotivisch in den Veröffentlichungen der Gründer karitativer Institutionen wieder. Man lehrt sie daher »die kleinen Gewerbe, die ihren Fähigkeiten entsprechen«, wie es bei den Schwestern von Saint-Maur heißt, oder auch »die minderen Wissenszweige, die Mädchen angemessen sind«, laut dem Pariser Waisenhaus des Enfant-Jesus. Diese minderen Gewerbe, in denen Mädchen nach der Schulzeit eine Anstellung finden konnten, garantierten ihnen bescheidene Einkünfte, jedoch bestand keine Gefahr, daß sie sich über ihre Herkunft erheben würden. Aus den ehemaligen Schülerinnen werden Arbeiterinnen, die allerdings nicht die Mittel haben, einen Meisterbrief zu kaufen. Und da das Erlernen der Handarbeiten vom Einfachen zum immer Kunstvolleren fortschreitet, waren die erworbenen Fertigkeiten wiederum abhängig von der Dauer der Schulzeit. Viele Schülerinnen kamen über das Stadium elementarster Fähigkeiten nicht hinaus, die auch dementsprechend schlecht vergütet wurden. Die Berufsausbildung der karitativen Einrichtungen befriedigte zwar das gute Gewissen ihrer Gönner, gefährdete jedoch die strengen Gesetze des Arbeitsmarktes nicht. Außerdem gewährleistete die Ausbildung von Schülerinnen auf dem Gebiet der Textilverarbeitung die Bereitstellung ausreichender Arbeitskräfte zur Deckung eines besonders in den Städten wachsenden Bedarfs an Kleidung.
Klöster, deren Zöglinge ihren Lebenstinterhalt gewöhnlich nicht mit Nadelarbeiten verdienen mußten, sondern eine standesgemäße Ehe anstrebten, lockerten den praktischen Unterricht auf. Der Internatskontext eignete sich vorzüglich für die Einführung in die Aufgabe, einen großen Haushalt zu führen, und geriet leicht zu einem Experimentierraum. In einer angesehenen Institution wie der Abbaye-auxBois durchlaufen die jungen Damen, die zu Hause keinen Finger rühren müssen, die verschiedenen Klostereinrichtungen, um von den Laienschwestern zu lernen, wie man das Hauspersonal anleitet. Helene Massalska, die zukünftige Prinzessin von Eigne, wird so nacheinander den neun Bereichen der Abtei zugeteilt: der Abteikirche, der Sakristei, dem Sprechzimmer, der Apotheke, der Wäscherei, der Bibliothek, dem Speisesaal, der Küche und dem Gemeinschaftsraum[30] — Domänen, über die eine perfekte adlige Hausfrau herrschen können muß. Während die Schülerinnen karitativer Schulen sich in ihren zukünftigen Stand als Arbeiterin schickten, wuchsen diejenigen der Klosterpensionate in ihre Rolle als Hausherrin hinein.
Klöster ergänzten ihren Unterrichtsplan, indem sie Privatlehrer anstellten, um den Zöglingen die Schönen Künste und einige Wissenschaften beizubringen. Diese »Extras«, mit denen die Eltern auf ihre Kosten die Ausbildung ihrer Töchter anreichern, bilden eine interessante Erweiterung des üblichen Programms der Elementarschulen, und gelten als unerläßlich für die Ausbildung derjenigen Kreise,  die  zur Kundschaft des Internats gehören. Die Klosterbehörden bleiben mißtrauisch gegenüber denjenigen Fächern, die eher in den Bereich des Frivolen fallen: Es galt, sich vor eitlen und unnützen Kenntnissen in acht zu nehmen, die nur dazu dienten, den Geist hochmütig zu machen. Dennoch setzten aristokratische Eltern ihre Forderungen durch und verfaßten für ihre Töchter Lehrpläne »ä la carte«. Selbst in einem so streng reglementierten Haus wie Port-Royal erteilten 1773 sieben Lehrer Privatstunden im Sprechzimmer: Fünf Männer unterrichteten Tanz, Musik, Cembalo, Harfe und Laute, und zwei Frauen lehrten Geographie und Zeichnen. Zwischen den Gemeinschaftsstunden und dem Privatunterricht erhielten Helene Massalska und ihre Mitschülerinnen in der blauen Klasse (von sieben bis zehn Jahren) in der Abbaye-aux-Bois Unterricht in Katechismus, Lesen, Musik, Zeichnen, Geschichte und Geographie, Schreiben, Rechnen, Tanz, Harfe oder Cembalo, der jeweils zwischen einer halben und einer Stunde dauerte. Hinzu kommen Theaterstücke, die regelmäßig von den Schülerinnen aufgeführt werden. Nach dem Erfolg in Saint-Cyr wird Athalie in allen großen Mädchenpensionaten aufgeführt. Überall schätzte man die Schönen Künste, wobei die Musik die meisten Anhänger fand. Die Klosterinternate wurden für manche Musiker zu einer regelmäßigen Einnahmequelle. Sie wandten einen großen Teil ihrer Arbeit dafür auf und komponierten Stücke »für die jungen Damen, die in den religiösen Häusern erzogen werden«. Wenn man von den Beschlagnahmen während der Französischen Revolution in Paris ausgeht, waren das Cembalo und das Pianoforte diejenigen Instrumente, die in den Klöstern am gebräuchlichsten waren.

Die Unterschrift als Wissensspiegel

Historiker und Historikerinnen, die untersuchen wollen, wieviel in den Schulen oder zu Hause gelernt wurde, nehmen oft die Fähigkeit zu unterschreiben als Maßstab ihrer Beurteilung. Es ist riskant, eine eindeutige Beziehung herzustellen zwischen der Fähigkeit, eine Unterschrift zu leisten, und der Fähigkeit, die Buchstaben und den Sinn eines geschriebenen Textes zu entziffern oder die Feder zu handhaben, aber man kann davon ausgehen, daß die Unterschrift von einem Minimum an Alphabetisierung zeugt. Die uns für ganz Frankreich unter dem Ancien Regime zur Verfügung stehenden Zahlen geben Auskunft über zwei durch ein Jahrhundert getrennte Perioden: die erste für die Jahre 1686-1690, die zweite zwischen 1786-1790. Als erstes lernen wir daraus, den statistischen Berechnungen von Durchschnittswerten zu mißtrauen. Hinter diesen Durchschnittswerten nämlich verbergen sich bedeutende Unterschiede zwischen einzelnen Regionen, zwischen Stadt und Land und zwischen den Geschlechtern.
Die erste große Konstante der Alphabetisierung der Franzosen vor der Revolution ist die privilegierte Stellung Nord- und Ostfrankreichs, oberhalb einer imaginären Linie, die Saint-Malo mit Genf verbindet. In den Jahren 1786-1790 unterzeichneten nördlich dieser Linie 71% der Männer und 44% der Frauen ihre Heiratsurkunde, während es im Süden nur jeweils 27% und 12% waren. Hundert Jahre früher war die fast überall im Norden erreichte Alphabetisierungsrate von 20% im Süden außergewöhnlich. Innerhalb dieser beiden Regionen sind die privilegierte Stellung der Stadt gegenüber dem Land einerseits und der höhere Wissensstand der Männer gegenüber dem der Frauen andererseits, überall und in allen Schichten, die beiden anderen großen Konstanten, die sich beobachten lassen.
Wenn die Männer überall häufiger als die Frauen unterschreiben, so ist es besonders interessant zu beobachten, daß zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert die Alphabetisierung der Frauen - relativ gesehen - schneller voranschreitet als die der Männer. Im 18. Jahrhundert holten die Frauen gewaltig auf. Im aufgeklärten Nordfrankreich, wo die Männer im 17. Jahrhundert angefangen hatten zu schreiben, begannen die Frauen, ihre Benachteiligung wettzumachen, indem sie sich rascher entwickelten als jene. In Südfrankreich, unter weniger günstigen ökonomischen und kulturellen Bedingungen, machten Frauen ähnliche Fortschritte wie die Männer. Überall ist die Alphabetisierung der Männer eine notwendige Voraussetzung dafür, daß dieser Prozeß auch bei den Frauen ausgelöst wird. Francois Furet und Jacques Ozouf bemerken richtig, daß »die Alphabetisierung mehrere Generationen braucht, bis sie von einem Geschlecht auf das andere übergeht«.[31]
Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung eines Netzes von Mädchenschulen und der Zunahme des Bildungsstandes bei den Frauen im Jahrhundert der Aufklärung ist evident, selbst wenn man davon ausgeht, daß ungefähr 20% der Alphabetisierung außerhalb der Schule stattfand. In Paris, wo die Zahl der Mädchenschulen bekannt ist und wo die Unterschriften auf Inventarisierungen nach Todesfällen gezählt wurden'2, ist der hohe weibliche Alphabetisierungsgrad auf die 11200 den Mädchen angebotenen Schulplätze zurückzuführen. Unter der Regierung Ludwigs XIV. unterschrieben 61% der Männer und nur 34% der Frauen der lohnabhängigen Bevölkerung die Liste der Güter ihrer verstorbenen Gefährtin oder ihres verstorbenen Gefährten. Unter Ludwig XVI. erhöhte sich dieses Verhältnis auf 66% zu 62%. Dieses spektakuläre Aufholen seitens der Frauen ist das Ergebnis der Bemühungen der Lehrerinnen in der Hauptstadt. Die Verbreitung von Schulen innerhalb  der Stadtviertel trug Früchte,   zumindest bei  den  sozialen Gruppen, denen an einer kulturellen Verwurzelung gelegen war. Lesen zu können erleichterte das Leben in einer Stadt wie Paris. Aber in der kulturell so begünstigten Hauptstadt blieben dennoch dunkle Flecken: Zwischen 1770 und 1789 waren nur 16% der Delinquentinnen, die den Richtern des Châtelet vorgeführt wurden, in der Lage, ihre Aussagen zu unterschreiben. Der Trend zu einem höheren Bildungsstand in den Städten sowie zur Privilegierung der Hauptstadt waren keine Besonderheit Frankreichs. Er findet sich im 17. und 18. Jahrhundert auch in England, wo die Alphabetisierung allgemein schneller voranschritt als in Frankreich und mit weniger regionalen Unterschieden. 60% der Engländer und 40% ihrer Ehefrauen sind zum Ende des 18. Jahrhunderts in der Lage zu unterschreiben, zu einer Zeit, als der nationale Durchschnitt in Frankreich bei 47% für die Männer und 27% für die Frauen liegt. Um 1690 unterzeichneten aber bereits 48% der Londoner selbst gegenüber nur 20% der Provinzbewohner.
Es ist nicht nötig, weitere langweilige Statistiken zu bemühen, um zu erläutern, weshalb die Alphabetisierung der Frauen immer hinter derjenigen der Männer zurückblieb. Die Frau, die einer rein reproduktiven Funktion diente, brauchte zu diesem Zwecke keine höhere Bildung. Sie sollte um jeden Preis Mutter werden, und im Hinblick auf diese Rolle mußten ihr die religiösen und moralischen Werte eingetrichtert -werden, die die Gesellschaft leiteten, um diese an ihre Kinder weitergeben zu können. Die Notwendigkeit einer weitergehenden Ausbildung war Anliegen einiger aufgeklärter Geister, wurde aber nie zu einer kollektiven Forderung. Erst im 18. Jahrhundert, als die geringe Kindersterblichkeit mit dem schwindenden Einfluß der Kirche auf die öffentliche Moral einhergeht, begannen immer mehr Eltern, die vorgezeichnete Zukunft ihrer Töchter zu überdenken. Aber solange das Prinzip der Gleichheit der Geschlechter Utopie blieb, wurde Frauen, auch bei einem beachtlichen Aufgebot an talentierten Lehrern, der Wissenserwerb schwer gemacht.

Aus dem Französischen von Roswitha Schmid

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