Einleitung:

Verkörperte Geschichten

Zur Sprache kommen - überlieferte Geschichten und neue Perspektiven

»Ich bin die Frau, die ich bin« - diese Fest-Stellung war lange Zeit für Frauen nicht denkbar, denn sie hatten keinen Stand-Ort, von dem aus sie eine eigene Stellung hätten beziehen können. Ein unmöglicher Satz also, obwohl es zum Menschsein gehört, sich immer wieder neu zu entwerfen, Perspektiven zu bilden, welche die verschiedenen Dimensionen der eigenen Existenz begreifbar machen. Es war jedoch beinahe ausschließlich der männliche Mensch, dem dieses Entwerfen vorbehalten war. Der weibliche Mensch war, oberflächlich gesehen, in vielen männlichen Entwürfen mitgemeint, bei näherem Hinsehen jedoch ebenso stillschweigend in die Abwesenheit versetzt.
Gab es aber nicht genügend Antworten auf die Frage: Wer ist die Frau? Es gab sie, doch die entworfenen Geschichten von Frauen waren nicht ihre Geschichten, sondern männliche Geschichten über die Frauen. Sie bewegten sich zudem in einer Welt, die von männlichem Verständnis und Handeln geprägt war. Über lange Zeiträume merkten Frauen kaum, daß sie sich im Horizont fremder, ihnen auferlegter Geschichten sahen und verstanden, da sie sich unbewußt weitgehend mit ihnen identifiziert hatten. Das bedeutete jedoch gleichzeitig, daß die männlichen Geschichten über Frauen eine entfremdende und enteignende Wirkung auf Frauen hatten. Sie sahen sich selber und ihre Beziehung zum Mann, und die seine zu ihnen, mit den Augen des Mannes. Sie übernahmen die Bedeutung dessen, was »weiblich« und was »männlich« sei - und sie waren »weiblich« in dem Sinne, wie die männliche Gesellschaft diese Begriffe mit Geschichten füllte.
Diese Geschichten hatten jedoch oft die Funktion, unliebsame, abgewehrte Aspekte an die Frau zu delegieren. Je mehr sich beispielsweise der Mann seit dem Beginn der Neuzeit mit seiner Macht identifizierte, desto mehr hatte die Frau seinen Schatten zu übernehmen: Ohnmacht, Schwäche, Minderwertigkeit, Abhängigkeit. In all diesen Arrangements blieb allerdings die tiefe Abhängigkeit des Mannes von der Frau verdeckt, denn der Mann hatte sich durch seine Geschichten die Frau erschaffen, die er brauchte, um zu sein, wer er war. Oder anders ausgedrückt: Der Mann konnte nur sein, wer er war, indem er die Frau zu dem machte, was seiner Stabilisierung diente. »Der Mann« ist zunächst nicht der je individuelle Mann, sondern die männliche Gesellschaft, welche jedoch Selbstverständnis und Handlungsweisen auch des einzelnen Individuums mitprägt. Die moderne Industriegesellschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann, teilte das Leben in Arbeitswelt und häusliche Welt. Die Rolle der Frau ist zur Erhaltung dieser Strukturen unabdingbar. Die Familie hat dabei die Funktion, das bestehende System von Generation zu Generation zu reproduzieren. Was sollte werden, wenn die Frauen sich das unbewußte Einverständnis mit den ihnen auferlegten Geschichten bewußt machten oder gar aufkündigten? Diese Frage konnte und durfte sich die männliche Gesellschaft nicht stellen. Sie hätte die Illusion des einseitigen Abhängigkeits- und Machtverhältnisses zerstört.
Der Anstoß zum Hinterfragen der männlichen Geschichten über Frauen und der damit verbundenen Rollen und Funktionen mußte von den Frauen selber kommen. Schon die Parolen der Französischen Revolution wurden auch von Frauen gehört, obwohl sie nicht für diese bestimmt waren. Zunächst wagten es nur wenige mutige Frauen, ein neues weibliches Selbstverständnis zu entwerfen, auch wenn damit schmerzliche Brüche in ihrer Existenz sichtbar wurden oder sie an der Reibung mit der gesellschaftlichen Realität zerbrachen. Doch die Entwicklung war trotz der beginnenden Industriegesellschaft mit ihrer strikten Arbeitsteilung nicht mehr aufzuhalten. Gerade sie brachte die eigene »Unmündigkeit« den Frauen noch deutlicher zum Bewußtsein, deren Aufhebung Kant im Namen der Aufklärung gefordert hatte.
Was geschah? Frauen begannen immer deutlicher, die männlichen Geschichten über sie als Geschichten zu verstehen und zu begreifen, daß es nicht ihre eigenen, sondern ihnen auferlegte Geschichten waren. Dies war ein folgenschwerer Schritt. Er setzte voraus, daß Frauen allmählich ein neues, von der eigenen Wahrnehmung ausgehendes Selbstverständnis entwickelten, das sie die Differenz zwischen ihnen und den sie definierenden Geschichten spüren ließ. Ein zentrales Anliegen seit dem Beginn der Frauenbewegung ist deshalb die Auseinandersetzung mit den überkommenen Geschichten, die sie sich im kulturellen, familiären und individuellen Rahmen - oft unbewußt - immer wieder erzählen, sie
annehmend oder gegen sie kämpfend. Zu diesen Geschichten gehört, was sie sich über ihren Körper, über Sexualität, ihr In-der-Welt-Sein, über das Wesen von Mann und Frau, über ihren Wert, über die existentiellen Bereiche wie Geburt und Tod, Jugend und Alter erzählen.
Frauen begannen also immer intensiver, die überkommenen Geschichten zu hinterfragen, die ihnen so viel an Entfremdung und Enteignung gebracht hatten. Und damit gingen sie auch das Risiko ein, sich selbst in Frage zu stellen. Das kann bereits eine neue Geschichte sein, die Frauen nun kennenlernen. Sie läßt sich so ausdrücken: »Ich bin fragwürdig«, das heißt »der Frage würdig«. Diese Frage ist befreiend und beunruhigend zugleich. »Sich in Frage zu stellen« bedeutet, alte Geschichten, alte Lebensformen zu verlassen und das-Ungewisse auszuhalten, ohne sich gleich eines Neuen versichern zu können. Neues läßt sich nicht erzwingen. Wir können kaum auf schon vorbereitete Modelle und Wege greifen. Deshalb ist der Weg von Frauen auch heute einer ins Unwegsame, und das heißt - wörtlich genommen - in die U-topie, die zunächst als ein »Nichts« erscheinen mag. Zugleich ist es jedoch auch ein durch alte Geschichten, Vorurteile und Konventionen verstellter Weg, der schmerzhafte Reibflächen entstehen läßt. Hier ist denn auch der Ort, wo individuelles Unterwegssein von Frauen und gesellschaftlich-politische Anliegen ineinandergreifen.
Das im Weg Stehende sind die »Geschichten des Patriarchats«. »Patriarchat« wurde zur Bezeichnung für die Herr-schaft, welche sich Frauen untergeordnet und dienstbar gemacht hatte. Es handelt sich dabei um einen ahistorischen Begriff, der jedoch eine wichtige Funktion hat:
Frauen setzten einen »allmächtigen Geschichtenerzähler« - eben das Patriarchat - ein. Sie hatten damit eine für sie fruchtbare Geschichte inszeniert, die ihnen erlaubte, sich wirksam abzugrenzen, ein neues Selbstverständnis, neue weibliche Perspektiven und Handlungsstrategien zu entwerfen. Im Laufe der Zeit wurden Differenzierungen möglich: Frauen erkannten beispielsweise, daß es nicht darum gehen konnte, sich unbesehen männliche Machtstrukturen anzueignen, weil dadurch nur nochmals deren Vorrang bestätigt wird. Ebenso gefährlich ist es jedoch, die eigene »Weiblichkeit« und deren mögliche Schädigung als Vorwand zu benutzen, um sich dadurch ebenfalls mit Hilfe männlicher Geschichten über Frauen von Macht und Handeln fernzuhalten. Immer wieder wird deutlich, wie schnell sich die entdeckten und bekämpften männlichen Muster wieder in die eigenen neu entworfenen Geschichten von Frauen einschleichen und diese zu unterlaufen drohen.
Der Begriff des »Patriarchats« beginnt sich ebenfalls zu differenzieren, auch wenn sich das Wert- und Machtgefälle als ein durchgängiges kulturelles Muster erweist, das jedoch innerhalb der geschichtlichen Entwicklung verschiedenste Akzentsetzungen und Ausprägungen erfahren hat. Wo Männer nicht von vornherein Kritik und Ansprüche von Frauen abwehren, beginnen sie selbst, ihre Geschichten zu hinterfragen. Dabei entdecken sie nicht nur den männlichen  Führungsanspruch,  sondern  ebenso  die männliche Ohnmacht der ursprünglich von ihnen selbst geschaffenen »Superstruktur«, als welche sich die moderne gesellschaftliche Realität darstellt. Hier läßt sich ein brisanter - und vielleicht auch fruchtbarer - Dialog zwischen »männlichen« und »weiblichen« Geschichten anzetteln. Sollen wir wieder Verständnis haben und uns der Männer annehmen? fragen Frauen in diesem Zusammenhang provozierend. Sie sind hellhörig und empfindlich geworden für männliche Forderungen nach emotionaler Versorgung, die ihrem überkommenen weiblichen Muster entspricht, das sie eben verlassen möchten. Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, inwiefern Frauen selbst nur die zur Schau getragene männliche Machtgebärde wahrzunehmen vermögen, in unbewußtem Einverständnis mit dem einseitigen männlichen Selbstverständnis, dem es über lange Zeit gelang, die anderen Aspekte zu verdrängen und an die Frauen zu delegieren. Mit dem Übersehen dieser Aspekte, die mit Ohnmacht zu tun haben, helfen Frauen jedoch mit, die überkommenen männlichen Geschichten zu zementieren. Wieder ist also der Umgang mit diesen Geschichten eine Gratwanderung - und zwar von beiden Geschlechtern aus gesehen. Wirksame Abgrenzung von überkommenen Geschichten ist deshalb nur möglich, wenn die darin enthaltene gegenseitige Abhängigkeit - die trotz des realen Machtgefälles besteht - mit einbezogen wird.
Für Frauen gab es eine »Macht durch Ohnmacht«, für die Männer eine »Ohnmacht aufgrund ihrer Macht«. Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, daß Männer in dem Maß, wie Frauen beginnen, die ihnen delegierte Ohnmacht zurückzuweisen, anfangen, ihre eigene verborgene Abhängigkeit von Frauen zu realisieren.
Gleichzeitig wird diesen Männern auch immer klarer, daß sie ihre reale Macht an das von ihnen geschaffene System verloren haben.
Damit eröffnet sich noch eine weitere Dimension: Die Gesellschaft, die eine Superstruktur hervorgebracht hat, ist dabei, sich selbst und die Welt zu zerstören. Die Allmachtstendenz, die darin besteht, alles »in den Griff« zu bekommen, alles über Zeit und Raum hinweg zu kontrollieren, schlägt in Vernichtung um. Ich nenne dieses dem herrschenden gesellschaftlichen Denken, Fühlen und Handeln innewohnende und alles durchformende Grundmuster das »Allmachtsparadigma«, das zwar weiter besteht, jedoch auch das männliche Selbstverständnis nur noch oberflächlich zu tragen vermag. Wo Frauen sich mit ihm verbünden, werden sie zu Mit-Täterinnen.
Es reicht also nicht aus, neue Geschichten zu entwerfen, solange sie sich im Raum dieses Allmachtsparadigmas bewegen. Vielmehr geht es darum, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen, wie schwierig es auch sein mag, ein gesellschaftliches Grundmuster aufzulösen. Welches Paradigma bietet sich aber nun an, wenn dieses Allmachtsparadigma aufgelöst ist und der Weg in die U-topie, also ins Weglose, beginnt? Vielleicht ist es gerade die Art dieses Unterwegsseins, die uns eine mögliche Antwort zu geben vermag? Ich möchte dieses Unterwegssein als »Wandlungsparadigma« bezeichnen. Wandlung zu vollziehen heißt, von einer gewohnten, vertrauten Form Abschied zu nehmen und Ungewisses, Fremdes, Ungewohntes auszuhalten. Das Neue können wir nicht nur »machen«, sondern müssen es auch werden lassen. Versuchen wir, diese Phase zu überspringen, so ist das Neue meist nur eine Variation des Alten, seine Kehrseite, sein Schatten, und das bedeutet, das Alte mit anderen Vorzeichen entstehen zu lassen, auch wenn dies nicht sogleich sichtbar wird. Das Gestalten eines Neuen vollzieht sich also in der paradoxen Einheit von selbst gestalten und geschehen lassen. Wenn dieses Neue allmählich Form annimmt, braucht es eine Phase des Vertrautwerdens und der Einübung.
In dieser Sicht von Wandlung ist auch die Erkenntnis eingeschlossen, daß neue Entwürfe nicht allein einen Denkprozeß darstellen oder Handlungsstrategien bedeuten, sondern als ganzheitliche Prozesse zu verstehen sind, die wir wohl mitgestalten, jedoch nicht »im Griff« haben und steuern können. Das Wandlungsparadigma als Grundmuster unseres Lebens läßt sich also als eine Alternative zum Allmachtsparadigma verstehen.
Wenn wir das bisher Gesagte wiederum auf einen möglichen Umgang von Frauen mit ihren Geschichten beziehen, ergibt sich eine vielschichtige Dynamik: Überkommene Geschichten wollen hinterfragt und aufgelöst werden. Dabei bleibt die Anfechtung, daß sie ständig auch neue Geschichten zu unterlaufen drohen. Wir können dieser Anfechtung nicht entgehen, sondern müssen versuchen, die mit ihr verbundene Beunruhigung auszuhalten. In diesem Prozeß werden jedoch nicht nur alte männliche Geschichten in ihrer Bedeutung sichtbar. Frauen litten - und leiden - an eigenen Erfahrungen, ohne sie artikulieren zu können, weil diesen kein Raum zugestanden wurde, oder sie empfinden das Zur-Sprache-Kommen als schuldhaft, als ihr persönliches Versagen. Hierher gehören etwa die Entwicklungsgeschichte des Mädchens, der verletzende Umgang mit der weiblichen Körperlichkeit wie Inzest, Vergewaltigung und Schwangerschaftsabbruch, die Erfahrungen im Raum von Schwangerschaft und Geburt, von Mutterschaft und Partnerschaft, das innere Erleben des Älterwerdens und Alterns. Solche grundlegenden Erfahrungen fanden in männlichen Geschichten keinen Platz. Sie mußten verdrängt, verleugnet, in männliche Interpretationsschemata eingezwängt und umgedeutet werden, da nicht zuletzt das herrschende Allmachtsparadigma existentielle Erfahrungen, die Grenzerfahrungen und Wendezeiten darstellen, ausschließt. So konnten sie nie als etwas Eigenes zur Sprache kommen und wurden zu »stummen Geschichten«. Daraus entstanden viele Kränkungen und Wunden. Wenn Frauen miteinander sprechen, dann »reden« auch diese stummen Geschichten mit und wirken zunächst oft trennend, lassen Rivalität und gegenseitige Entwertung aufkommen. Und gerade dies ist ein schmerzhafter Widerspruch, daß die gemeinsamen kränkenden Geschichten solche Trennungen bewirken können. Selbst neue Perspektiven und Entwürfe rühren an alte Wunden, und wieder erleben Frauen sich als Übergangene, als Angegriffene.
Wenn über Geburt gesprochen wird, fühlen sich kinderlose Frauen ausgeschlossen, beim Thema Partnerschaft alleinstehende Frauen diskriminiert, beim Ansprechen des Berufsbereiches die nicht berufstätigen Hausfrauen und Mütter. Neue Entwürfe über natürliche Geburt rühren an Verletzungen vieler Frauen, die ganz andere Erfahrungen mit sich tragen... All unser Sprechen als Frauen stößt sich eben auch wund an diesen vielen Geschichten, die mitschwingen. Immer intensiver dürfen sie jedoch in Frauengruppen zum Ausdruck kommen. Durch Publikationen werden sie auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, so daß dadurch ein Sprachraum für Frauen geschaffen wird, in dem sie ihre eigenen Geschichten ausdrücken können. So entsteht eine Hellhörigkeit, ein wachsendes Gespür für die versehrenden Aspekte im eigenen Leben. Erst wenn es diese Erfahrungen überhaupt geben darf und sie als Geschichten artikulierbar und zumutbar werden, ist ein heilender Prozeß möglich.
Das Auflösen überkommener männlicher Geschichten und das Zur-Sprache-Bringen von stummen weiblichen Geschichten schafft also einen Raum, in dem neue Geschichten Gestalt gewinnen können. Dabei zeigt sich jedoch eine neue Gefahr: Diese Geschichten können sich wiederum zu einer Norm verdichten, der frau zu folgen hat, um nicht neuen - oder vielmehr altvertrauten - Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen anheim zu fallen. So haben Frauen beispielsweise oft Schuldgefühle, weil sie noch immer Schuldgefühle haben, die doch im Zuge eines neuen Selbstverständnisses längst überwunden sein sollten. Das weibliche Minderwertigkeitsgefühl schleicht sich nicht nur erneut ein, sondern potenziert sich. Ebenso werden viele stumme Geschichten zu verstummten, bevor sie zur Sprache gekommen sind, weil sie längst »überwunden« sein sollten.
Dadurch wird sichtbar, daß alte Geschichten nicht einfach durch neue abgelöst werden können. Vielmehr muß die Art des Geschich-tenerzählens selbst in Frage gestellt werden. Die moderne pluralistische Gesellschaft bietet uns einen Freiraum an, der nicht nur neue Geschichten, sondern eine neue Art des Geschichtenerzählens ermöglicht. Die Vielfalt weiblicher Biographien heute bringt auch einen Reichtum zum Ausdruck und zeigt den Spielraum von Möglichkeiten zur Lebensgestaltung auf, der nicht ver-spielt werden darf.
Es wird aber auch deutlich, daß es die neuen Geschichten gar nicht mehr geben kann, sondern nur ein Spektrum möglicher Geschichten. So gesehen besteht die Chance, in der Auseinandersetzung mit überkommenen und eigenen stummen Geschichten eine je persönliche Geschichte zu entwerfen- für jede einzelne Frau wieder anders. Das bedeutet jedoch nicht un-verbindliche Vereinzelung, denn es geht letztlich nicht mehr um das Entwerfen von neuen kollektiven Geschichten, sondern von neuen Perspektiven, in denen eine persönliche Geschichte Gestalt gewinnen und aufgehoben sein kann. Zu diesen Perspektiven gehört es, sich die als »illegitim« geltenden und dadurch verdrängten und abgespaltenen Aspekte des eigenen Selbst anzueignen, mit den eigenen schöpferischen Kräften in Kontakt zu kommen und einen Sinn für die eigene Würde, Unantastbarkeit und Integrität gegen alle Verfügbarkeit zu entwickeln -eine lebendige Beziehung zu sich selbst zu finden. Dann wird es auch möglich, eine lebendige Beziehung zu anderen Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen zu formen, die Eigenständigkeit, Wider-Stand, Autonomie und das Nachholen von Welterfahrung, von Ausgreifen in die Welt mit einschließt.
Die Dynamik des »Geschichtenerzählens« hat also drei Ebenen: Geschichten - Perspektiven - Paradigmen. Am Anfang steht das Hinterfragen und Auflösen überkommener Geschichten, das Zur-Sprache-Kommen stummer Geschichten aus dem weiblichen Lebensraum mit allen schmerzlichen und herausfordernden Konsequenzen. Das Gestalten von neuen persönlichen Geschichten ist jedoch nur möglich, wenn nicht wiederum normative Geschichten entstehen, sondern Perspektiven, die Spielraum geben für ein Spektrum von verschiedensten weiblichen Lebensgeschichten. Das ist die Chance der heutigen Zeit. Doch dieses Erfinden von neuen Perspektiven bedeutet zugleich, daß wir nicht in alten Grundmustern oder Paradigmen verharren können, sondern zugleich den Übergang zu jenem Paradigma vollziehen müssen, das nicht Zu-Griff und Be-Mächtigung, sondern eine paradoxe Einheit von »Machen« und Geschehenlassen bedeutet. »Ich bin die Frau, die ich bin« ist keine statische Feststellung, sondern eine, die Wandlung - und damit Lebendigsein - einschließt. Im folgenden möchte ich diese letzte Aussage konkreter machen.

Geschichten verkörpern

Zwei wichtige Fragen sind offengeblieben: Wie kommt es, daß wir uns so schwer von überkommenen Geschichten lösen können? Und: Wie können wir uns konkret von ihnen lösen?
Die beiden Fragen lassen sich gemeinsam beantworten: Wir haben uns unsere Geschichten einverleibt, wir verkörpern sie. Um diese Aussage zu verstehen, müssen wir ebenfalls einen Paradigmenwechsel vollziehen. Das überkommene Grundmuster legt uns eine Trennung von Körper, Seele und Geist nahe und betrachtet vor allem den Körper als ein Objekt, als statische Größe. Wir »haben« einen Körper und müssen irgendwie mit ihm umgehen. Unsere Sprache ist derart von diesem Muster geprägt, daß wir für ein neues keine adäquate Sprache haben. Ich versuche, es folgendermaßen zu umschreiben:
Wir sind ein ganzheitlicher lebendiger Prozeß, der alle Ebenen unseres Daseins mit einschließt, also Denken, Fühlen, Handeln und auch die körperliche Gestalt. Wenn ich von »Verkörperung« spreche, meine ich also die menschliche Gestalt als ganze.
Alfred Adler ist bereits davon ausgegangen, daß Erinnerungen, vor allem frühe Kindheitserinnerungen, als »Geschichten« aufzufassen sind, welche das gegenwärtige Selbst- und Weltverständnis eines Menschen gleichnishaft zum Ausdruck bringen. Dieses Verständnis drückt sich in Denken, Fühlen und Handeln aus. Es besteht aus einem Spektrum von Grundmustern, die uns individuell zur Verfügung stehen, um unser Leben zu bewältigen. Wir bilden sie in der Kindheit als Antwort auf die Erfahrungen in Familie und Gesellschaft aus, bis sie sich zu unserem ganzheitlichen Lebensstil oder Bewegungsgesetz verdichten. In diesem Prozeß sind wir zugleich Gestaltende und Gestaltete, Künstler und Werk in einem. Eine späte Formulierung Alfred Adlers über den Lebensstil oder das menschliche Bewegungsgesetz lautet: »In dieser Betrachtung... lassen sich die Einflüsse der angeborenen Fähigkeiten, ob nun angeboren oder modifiziert menschlich, sowie die Einflüsse der Umgebung und Erziehung als Bausteine betrachten, aus denen das Kind in spielerischer Kunst seinen Lebensstil aufbaut.«[1]
Diese Formulierung erschien mir lange als eine kühne und unrealistische poetische Metapher. Doch durch die Begegnung mit der körperbezogenen Psychotherapie, vor allem derjenigen des Amerikaners Stanley Keleman, lernte ich die Entstehung des individuellen Bewegungsgesetzes als formschaffenden Prozeß verstehen, in dem jedes Kind im vorgegebenen Rahmen, zu dem genetische und milieubedingte Faktoren gehören, seine eigene leibhafte Form oder Gestalt entwirft. Was bedeutet das? Als meine Tochter im Alter von etwa zweieinhalb Jahren tanzte, sagte sie plötzlich »Rugge« (Rücken) und strich sich über ihre Wirbelsäule, tastete sie ab. Dann richtete sie sich wieder auf und tanzte weiter, doch die Qualität der Bewegungen hatte sich verändert. Sie tanzte sicherer um ihre eigene Achse, und die Bewegungen wurden fließender. Was war geschehen? Das kleine Mädchen hatte einen neuen Bezug zum menschlichen Aufrechtsein gewonnen. Es hatte seine neue Form für Aufrechtsein gefunden. Das war eine aufregende Schöpfung, durch die es eine differenziertere Qualität von In-der-Welt-Sein entdeckte und sich für seine Bewegungen einen leibhaft neuen Spielraum gab. Ich begann zu begreifen, daß wir das Wachsen des Kindes als einen Prozeß verstehen können, in dem es laufend neue Formen seines In-der-Welt-Seins hinzugewinnt. Daß dies ein aufregender schöpferischer Prozeß ist, läßt sich im Kontakt mit jedem Kind verstehen.
Im Laufe unserer kindlichen Entwicklung verdichten wir diese ständig sich erweiternde und vertiefende Formbildung zu unserem Bewegungsgesetz. Es ermöglicht uns, mit Hilfe der geschaffenen Muster in unserem Leben Orientierung zu finden, ihm eine Struktur zu geben. Wie wir also konkret und in jeweiligen Situationen in der Welt Stellung nehmen, Wider-Stand geben, auf andere zugehen und uns zurückziehen, Erregung aufbauen und wieder lösen, unseren Raum wahren, uns schützen oder verletzbar machen - all dies ist Ausdruck unseres leibhaft-ganzheitlichen Gesetzes, nach dem wir uns in unserem Leben bewegen. Dieses Bewegungsgesetz erfahren wir jedoch auch als Einschränkung: Es »packt« uns immer dieselbe Angst, es »überfällt« uns dieselbe Wut und dieselbe Mutlosigkeit »zwingt uns in die Knie«. Wie ist das zu verstehen? Eine Frau erzählte die folgende Kindheitserinnerung:
»Ich sehe mich als zweieinhalbjähriges Kind vor dem Christbaum. Die bunten Kugeln, in denen sich die Lichter spiegeln, faszinieren mich. Sie erscheinen mir als der Inbegriff aller Köstlichkeit.
Ich greife nach einer dieser Kugeln, doch, o weh, sie zerbricht in meiner Hand. Die Eltern schreien mich an. Ich zucke entsetzt zurück, versteife mich, und so geht es mir heute noch: Wenn ich neugierig nach etwas greifen will, halte ich an mich, wage es nicht. Angst überfällt mich.«
Wir können diese Kindheitserinnerung als eine Geschichte verstehen, welche die Frau sich jetzt im Sinne einer Warnung erzählt: Wenn ich neugierig in die Welt ausgreife, mache ich es bestimmt falsch und werde dafür gerügt. Ich wage es lieber nicht. Gleichzeitig wird in der Erinnerung der zugehörige leibhafte Prozeß sichtbar: Die Welt enthält wunderbare Dinge. Das kleine Kind antwortet darauf mit einer neugierigen Erregung, beginnt die Geste des Ausgreifens zu formen, noch ungeübt. Im Ergreifen zerbricht der Gegenstand. Das kann in sich schon enttäuschend sein, doch viel einschneidender ist hier die Reaktion der Eltern. Das Mißgeschick wird zum Unglück. Auf die Enttäuschung folgt Erschrecken ... So etwa ließe sich der Vorgang darstellen, als eine Erfahrung, die das Kind wohl häufiger gemacht hat. Daraus bildet sich ein Aspekt des Bewegungsgesetzes, der eine klare Anweisung gibt, wie mit der Dynamik »Neugier - Ausgreifen« umzugehen ist: Der Impuls des Ausgreifens muß durch Versteifung zurückgehalten werden, die von Angst begleitet ist.
Dieses Beispiel zeigt, wie Geschichte, Gefühl und körperliche Formgebung eine ganzheitliche Bewegung darstellen, die heißt: Halt dich zurück! Reiß dich zusammen! ..., und die konfliktbringende Lebendigkeit unterdrücken.
Es kann sein, daß die Eltern nicht verstanden, wie ein kleines Kind »Ausgreifen« einübt. Sie mißverstanden es als willentliche Unachtsamkeit. Vielleicht konnten sie seine Lust und Neugier nicht aushalten, weil sie diese selbst verloren hatten. In diesem Fall handelt es sich um ein Familienmuster, das in einem leibhaft-emotionalen Dialog an die nächste Generation weitergegeben wird. Möglich wäre es jedoch auch, daß das Verbot an das Geschlecht des Kindes geknüpft ist: Mädchen müssen sich zurückhalten. Sie dürfen nicht so zupacken wie Buben. Dann spiegelt die Erinnerung ein geschlechtsspezifisches Familienmuster wider, das nur für seine weiblichen Mitglieder gilt: Weil ich ein Mädchen bin, darf ich nicht... So entsteht ein Bewegungsgesetz, welches vom Thema der Geschlechtszugehörigkeit durchformt ist, vielleicht sogar ohne daß diese besondere »Färbung«, die sich auf verschiedenste Situationen bezieht, bewußt wird.
Auf diese Weise bilden sich weibliche Geschichten oder geschlechtsspezifische Färbungen von Geschichten im Zusammenhang mit entsprechenden Körpermustern. Diese haben ihre Wurzeln niemals nur in der familiären Dynamik, wenn sie ihnen auch spezielle Nuancen verleiht. Sie sind auch Ausdruck gesellschaftlicher Geschichten.
Mit den bisherigen Überlegungen ist mindestens eine Antwort auf die Frage nach der Hartnäckigkeit überkommener Geschichten möglich: Eine Einsicht bedeutet noch nicht, daß die zugehörigen körperlich-emotionalen Muster aufgelöst sind. Wenn es gelingt, mit ihnen in Kontakt zu kommen, sie aufmerksam und nicht wertend zu erspüren und mit den jeweiligen Erfahrungen in Kindheit und Jugend in Verbindung zu bringen, lassen sie sich zumindest zu einem Teil auch auflösen. Das ist in einem therapeutischen Prozeß möglich, ein Stück weit jedoch auch im täglichen Umgang mit sich selbst.
In diesem Buch möchte ich verkörperten Frauen-Geschichten in den verschiedensten Bereichen nachgehen, um den formbildenden Prozeß in Familie und Gesellschaft deutlich werden zu lassen. Die Beispiele, die ich eingeflochten habe, entstammen Gesprächen mit Frauen und Männern und sind Ausschnitte aus meiner therapeutischen Arbeit. Dabei handelt es sich nicht um klinische Beispiele, sondern um Probleme, die viele Frauen - und Männer - als Mitglieder unserer Gesellschaft haben. Sie zeigen exemplarisch typische verkörperte Geschichten, manchmal auch deren Auflösung, das Gestalten neuer Perspektiven und persönlicher Geschichten, einer persönlichen leibhaften Form. Doch sind es immer nur prägnante Ausschnitte aus längeren Prozessen, die zeigen, wie sich alte Muster auflösen lassen, wie etwas Neues werden und sich formen kann. Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß für uns alle die Art, wie wir gelernt haben, uns zu verkörpern, die subjektiv beste Möglichkeit war, mit unseren frühen Erfahrungen umzugehen und spätere ein-zubeziehen. Das gilt ebenfalls für die Verkörperung als Frau und Mann. Auch wenn wir sie in Frage stellen, auflösen und umgestalten möchten, geht es darum, einen sorgsamen und freundlichen Abschied von ihnen zu finden, um nicht Spalt- und Kampfmuster zu provozieren. Die familiäre und gesellschaftliche Herkunft unserer verkörperten Geschichten zu kennen ist für den Umgang mit ihnen wichtig. Daß es dabei nicht nur auf Einsichten, sondern auch auf die mit unseren Geschichten verbundenen Gefühle und Körperreaktionen ankommt, die ausgedrückt sein wollen, wurde in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher. Dabei halte ich den Übergang zu einer ganzheitlichen Auffassung unseres Bewegungsgesetzes für besonders wichtig. Ein neues Paradigma stellt jedoch auch das formative Verständnis unseres Wachstumsprozesses dar.[2] Ich möchte es folgendermaßen umschreiben:
Wir formen unser In-der-Welt-Sein von Kindheit an leibhaft, formen uns in Beziehungen und durch sie, formen unsere Beziehung zu uns selbst, zum anderen Geschlecht, zu den eigenen Kindern, zur Gesellschaft. In Wendezeiten und Krisen wird besonders deutlich, daß unsere menschliche Aufgabe auch darin besteht, unser bisheriges Bewegungsgesetz immer wieder umzugestalten und zu spüren, was werden will. Dabei kann es sich um eine persönliche Wendezeit handeln oder um eine, die mit dem Übergang von einer Lebensphase zur anderen verbunden ist. In diesem Buch geht es mir jedoch auch um die Wendezeit, in der wir uns als Frauen unserer Gesellschaft und Kultur befinden und die unsere individuellen Wendezeiten umgreift. Sie hat uns hellhöriger und auch wachsamer für die je eigenen Fragestellungen gemacht, ohne sie als nur individuelle Probleme zu verstehen. Wer bin ich? ist eine zulässige Frage geworden. Sie läßt sich jedoch nicht im luftleeren Raum angehen, als gäbe es ausschließlich diese »Ich-Frau«, sondern nur vom grundlegenden Bezogensein her, das unser Leben ausmacht. Wer bin ich? heißt immer, wer bin ich in Beziehung zu ...? Beziehung bedeutet jedoch nicht nur Hingabe, Aufopferung, Erfüllen von Ansprüchen - dies sind bereits typisch weibliche Geschichten -, sondern ebenso Abgrenzung, Zurücknahme, Distanz. Aber sie bedeutet auch nicht nur das. Sie ist ein Spektrum von Möglichkeiten, von Übergängen, die geformt sein wollen.
Wenn wir das formative Paradigma ernst nehmen, stellt sich nicht nur die Frage, warum wir unser Bewegungsgesetz so und nicht anders gebildet haben, sondern auch diejenige, wie wir es in der konkreten Situation formen und was jetzt neu Form gewinnen will. Es war vor allem der amerikanische Psychotherapeut Stanley Keleman, der uns diese »Wie-Frage« in seinen Seminaren unermüdlich und provozierend gestellt hat. Jemand sagt: »Ich habe Angst.« Die Gegenfrage lautet: »Wie formst du deine Angst leibhaft?« Das war zunächst eine ungewohnte Frage. Wir sind geneigt zu denken: »Ich habe doch einfach Angst. Es ist ein Gefühl. Es überfällt mich.« Doch dieses »Es« gibt es nicht- ich bin es selbst. Wir mögen hinzufügen: »Ich kann doch nichts dafür!«, und damit kommt bereits eine Geschichte ins Spiel: Wenn ich mein Gefühl »forme« oder »mache«, bin ich daran schuld. Doch um Schuld geht es nicht, sondern um »Urheberschaft«. Bezugspersonen mögen mein Angstmuster provoziert haben, aber ich forme es-jetzt. Diese Einsicht allein hilft nicht viel weiter, wohl aber die Frage, wie ich es forme.
Stanley Keleman hat eine Methode entwickelt, die es möglich macht, dieses »Wie« zu erspüren. Da ich mich im folgenden öfter auf diese Methode beziehe, möchte ich sie kurz beschreiben:[3] Wir können versuchen, mit einem Muster, das wir wahrnehmen, Kontakt aufzunehmen. »Ich habe Angst« ist eine Feststellung. Die Frage: Wie forme ich meine Angst? bedeutet zunächst, sich auf die leibhafte Ebene einzulassen: Wie mache ich meine Angst körperlich? Vielleicht spüre ich, wie ich die Schultern hochziehe und meinen Brustkorb dabei einsinken lasse, den Atem verringere et cetera. Häufig werden dabei das eigene »Machen« und die Auswirkung nicht so deutlich. Zudem versuchen wir meist, die Angst sofort zu verringern, gegen sie zu »kämpfen«. Keleman bietet das Gegenteil an: dieses Angstmuster körperlich in kleinen Schritten zu verstärken, um es zu »dramatisieren«, deutlicher hervortreten zu lassen. Nur wenn wir erspüren, wie wir beispielsweise das eigene Angstmuster aufbauen, können wir es auch wieder auflösen. Dieser Prozeß läßt sich folgendermaßen darstellen:

  1. Was mache ich?
    2. und 3. Wie mache ich es?
  2. Stufenweises Verstärken des wahrgenommenen Musters (in drei Stufen)
  3. Stufenweises Auflösen des wahrgenommenen Musters (in drei Stufen)
  4. Was geschieht, wenn ich aufhöre, es zu tun? Was will werden?
  5. Wie benütze ich das, was ich gelernt habe, konkret in meinem Leben, in meinem Alltag?

Das Auflösen eines Musters bedeutet also, daß wir an einem anderen »Ort« ankommen, als wir vor dem Beginn des Prozesses waren. Das Entscheidende ist, jetzt im Zustand von möglichst wenig Form zu bleiben. Das ist die eigentliche Phase des Übergangs. Es handelt sich bei diesem Prozeß zwar darum, den Organismus etwas zu lehren, aber es ist nicht einfach eine Umkonditionierung. Vielmehr geht es in der Phase des Übergangs darum zuzulassen, was jetzt geschehen will. Es ist ein Zustand jenseits des nur »Machbaren«. Viele Menschen haben Mühe, dabei zu bleiben, zu warten und achtsam zu erspüren, was jetzt werden will. Es ist eine schöpferische Pause, eine Art »Schwangerschaft«. Es tauchen Bilder, Impulse aus dem Unbewußten auf, die sich dem bemächtigenden Zugriff entziehen und einfach aufgenommen werden wollen, damit sich etwas Neues formen kann. Machen und Geschehenlassen bilden eine paradoxe Einheit. Doch auf diese Weise läßt sich eine neue Form einüben, sonst bleibt es höchstens bei einem aufregenden - und wirkungslosen -Erlebnis. Zahlreiche Beispiele dieses Buches werden das Gesagte weiter verdeutlichen, und das heißt auch: verleiblichen.
Die Frage, wie wir unsere jeweiligen Muster verkörpern, läßt sich auch auf das Thema weiblicher und männlicher Formgebung anwenden. Die zentrale Frage lautet hier: Wie verkörpere ich mich als Frau, als Mann? Ich möchte einen möglichen Prozeß zusammenfassen:
Menschen beiderlei Geschlechts verbinden mit der Verkörperung von »weiblich« oder »männlich« entsprechende überkommene Geschichten, die in den Prozeß der Umformung einbezogen werden müssen. Es gibt eine große Anzahl von Geschichten, welche in unserer männlichen Gesellschaft in spezifischer Weise die Lebensgestaltung von Frauen und Männern bestimmten - wenn auch mit je individuellen Akzenten. Die Chance für Emanzipation besteht in der kritischen Distanzierung von diesen Geschichten - oder, noch pointierter, darin, daß sie überhaupt als Geschichten und nicht mehr als Gegebenheiten behandelt werden. Ein Beispiel: Solange ich mir erzähle, meine geistigen Interessen seien männliche Tendenzen in mir, solange enteigne ich mich als Frau. Erst wenn ich merke, daß es sich um eine Geschichte handelt, kann ich wahrnehmen, daß ich ein Spaltmuster verkörpere, mit dem ich mich um meine eigene Potenz bringe. Der zweite Schritt besteht darin, diese verkörperten Geschichten aufzulösen, um dadurch Raum für den Entwurf einer neuen Geschichte zu gewinnen. Das kann etwa heißen: Meine geistige Potenz oder mein Bedürfnis nach kultureller Wirkmächtigkeit ist nicht Ausdruck von Männlichkeit in mir, psychologisch gesprochen nicht Ausdruck des Penisneides oder des männlichen Protestes. Den dritten Schritt sehe ich darin, eine neue und persönliche Geschichte zu entwerfen und leibhaft zu formen. Ich kann wirkmächtig sein. Ich wage es auszugreifen, muß mich nicht zurückhalten. Diese persönliche Geschichte ist jedoch ihrerseits Ausdruck einer neuen weiblichen Perspektive: Meine geistige Potenz ist ein Aspekt meiner selbst - als Frau. Dies bedeutet Aneignung und Legitimation einer bisher unterdrückten Möglichkeit von weiblicher Selbst- und Weltgestaltung.
Zum ersten Mal in unserer Geschichte haben wir heute die Möglichkeit, eine persönliche Geschichte zu verkörpern, eine Geschichte also, welche die emanzipatorischen Perspektiven als Rahmen für das eigene Gestaltungsvermögen versteht. Es ist ein wichtiges Kennzeichen unserer emanzipatorischen Übergangszeit, daß neue Perspektiven immer wieder als neue Normen mißverstanden werden. Diesem normativen Verständnis von Emanzipation möchte ich wieder das formative entgegensetzen.
Die folgende Grafik zeigt den möglichen formativen Prozeß nochmals im Überblick:

  1. Schritt: Wahrnehmen der überkommenen Geschichten als Geschichten.
    Erspüren des damit verbundenen spezifischen körperlich-emotionalen Musters
  2. und
  3. Schritt: Verstärken und Auflösen des mit der entsprechen
den Geschichte verbundenen Musters
  4. Schritt: Innehalten: Bilden und Wachsenlassen von neuen Perspektiven
  5. Schritt: Verkörperung einer je persönlichen Geschichte im Horizont emanzipatorischer Perspektiven [4]

So gesehen, können wir uns auch als Frauen nicht über die bestehende gesellschaftliche Realität hinwegsetzen und schmerzhafte Reibeflächen vermeiden. Die Anfechtung bleibt: Wie können wir heil sein in einer unheilen Welt? Auch die Psychologie darf kein
Heils- und Erlösungsversprechen abgeben. Als Psychologin kann ich individuelle Prozesse in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen, kann fragen, wie Frauen sich leibhaft auf die gesellschaftliche Realität in ihren verschiedenen Ausprägungen beziehen können. Doch letztlich bleibt der Weg eine Utopie, ein Gang ins Weglose, den wir auch als Frauen nicht im Alleingang bewältigen können.
Je tiefer und konsequenter wir die durch unsere Kultur und Gesellschaft hervorgebrachten Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Bewegungsgesetz ausloten, desto deutlicher wird die versehrende gegenseitige Verstrickung und Abhängigkeit. Doch auch eine Umkehrung wird sichtbar: Je ganzheitlicher wir uns auf Emanzipation einlassen, desto klarer kommt das existentielle Verwiesensein der Geschlechter aufeinander in den Blick. In einem endgültigen Sinn ist das Verbindende größer als das, was uns trennt - auch wenn es zur Sprache kommen muß. Es geht heute für alle um das Bewahren und Schützen des Lebens, des Lebendigen in und um uns. Das Verständnis von Emanzipation als Befreiung aus Rollenzwängen greift auf Dauer zu kurz. Es geht vor allem um eine Befreiung aus verkörperten Mustern, die das Lebendige bei beiden Geschlechtern schmälern und beeinträchtigen. Lebendig sein und Überleben fallen heute zusammen. Wir können nicht überleben, ohne lebendig zu sein. Jene Ohnmacht, welche die Kehrseite der Allmacht darstellt, führt wie diese in Ver-nichtung, und zwar in einem totalen Sinn. Und das ist eine andere Dynamik als diejenige des »Stirb und Werde«, die mit Wendezeit und Wandlung verbunden ist. Die Emanzipation der Frauen - und schließlich auch der Männer - kann vielleicht ein not-wendender Schritt sein, wenn er nicht auf die Privatsphäre einiger weniger oder den Raum der Psychotherapie beschränkt bleibt. Das ist meine Anfechtung und auch meine Hoffnung als Therapeutin und als Frau. Ich bin die Frau, die ich bin - das ist keine Fest-Stellung allein, es ist vorerst und vor allem eine lebendige Frage-Stellung.

Texttyp

Einleitung