Karl VII.

26., 27. und 28. Kapitel

Der 100jährige Krieg geht weiter

Karl VII. weilte in den Tagen nach Johannas Tod in seinem Schloß Mehun-sur-Yevre. Wie ihm die Todesnachricht überbracht wurde, welche Worte er zu dem Boten sprach, es wurde nicht niedergeschrieben, oder es ging der Bericht verloren. Doch steht es in kurzen Worten bald in der einen, bald in der andern Chronik, daß der König die Einsamkeit suchte. Er sei allein in seinem Park auf und nieder, hin und her gewandert oder habe sich in seinen kleinen Zimmern eingeschlossen, auch sei er Stunde um Stunde allein zum Gebet in seiner Kapelle geblieben. Johannas Name sei nicht von seinen Lippen gekommen, und niemand habe gewagt, ihn auszusprechen. <Le silence etait une consigne>. Das Schweigen war ein Befehl. Aber daß der König sich entehrt fühlte und verachtet, weil er die Jungfrau nicht hatte retten können oder wollen, auch das wird beschrieben.* (*Du Fresne de Beaucourt: Histoire de Charles VII., Band II, Kap. 10) [87]
Karl war so gepeinigt von seiner scheinbaren Undankbarkeit und scheinbaren Tatenlosigkeit während Johannas Prozeß, daß er zur Erleichterung seines Gewissens jedem Ehre erwies, der der Jungfrau nahe gestanden war. Mit bedeutenden Geldmitteln kaufte er Johannas Bruder Jean, den Sieur du Lys, frei, der vor Compiègne in Gefangenschaft geraten war. Dem Bastard von Orléans zeigte er große Gunst und bereitete seine Erhebung zum Grafen von Dunois vor. Gérard Machet wurde zum Bischof von Castres erhoben. Reiche Einkünfte verschaffte er La Hire und Christoph d'Harcourt. Karl schrieb auch Briefe an die Bürger von Reims, in denen er ihnen Hilfe und Befreiung versprach. Viele Taten des Königs kreisten um Johannas Tod und um ihr Andenken, aber in keiner der Akten findet sich ihr Name.  Durch das Schweigen des belasteten Gewissens war ihr befeuernder Geist nicht nur dem König, sondern auch dem Heere verloren gegangen. Der <Engel> war entschwunden, aber auch die <Hexe>. Von den englischen Soldaten war die Angst gewichen, und die französischen Söldner glaubten sich machtlos ohne die Hilfe der Jungfrau. Zwanzig Tage nach ihrer Verbrennung siegten die Engländer bei Louviers, und im Juli und August 1431 wurden Karls Truppen bei Senlis und Beauvais von Warwick und Suffolk geschlagen. Auf französischer Seite herrschten Ratlosigkeit und Entsetzen. Da begannen Regnault de Chartres und La Trémoille in ihrem Zynismus das alte Spiel mit <Inspirierten> und <Stigmatisierten>. Wieder mußte ein Hirte den Soldaten vorangehen, aber trotz seiner aufgehobenen, blutenden Hände vermochte er keine Begeisterung zu entfachen. Man ließ ihn und andere seinesgleichen verschwinden und untergehen.
Die glückliche Wendung, die Johanna dem Kriege gebracht, schien umsonst gewesen zu sein. Im Dezember 1431 ließ der Regent Bedford den neunjährigen Heinrich VI., König von England, in Paris einziehen. Jetzt endlich durfte der Regent es wagen, den Knaben in Notre Dame auch zum König von Frankreich zu krönen. Die Herren, die England regierten, der alte Kardinal Winchester und die Brüder des glorreichen Heinrich V., Bedford und Gloucester, hatten lange auf diesen triumphalen Tag warten müssen; so lange, bis die Pucelle d'Orléans als Hexe verbrannt und damit Karls VII.Krönung als Zauberwerk der Hölle rückgängig gemacht war. Pierre Cauchon, der Bischof von Beauvais, der nach Ansicht der Engländer den Triumph des jungen Königs durch den hinausgeschleppten Prozeß verzögert hatte, soll in dieser Zeit unter schwerem Druck durch die Engländer und in Lebensgefahr gestanden sein. Wenn ihm nichts geschah, so war es der sorglose Siegesübermut der Fremden, der Cauchons Person unwichtig machte. Es könnte zu dieser Zeit gewesen sein, daß Pierre Cauchon sich an den burgundischen Hof begab, der zum Abfall von England schon reif war. Noch pochten die Feinde des Landes jedoch stolz darauf, daß sie jede Vorbedingung zur Krönung des kleinen Heinrich zum französischen König erreicht hätten: die Vernichtung der Jungfrau, die Entehrung Karls VII. und neue Siege über die Franzosen.

Die Krönung wurde mit außerordentlicher Festlichkeit vollzogen; alle fremden Gesandten waren anwesend. Der königliche Knabe ritt unter blauer Seide, die mit den goldenen Lilien Frankreichs bestickt war, dahin; die silbernen Stangen des Baldachins trugen die Meister von vier Handwerksgilden, Männer des gefürchteten Volkes von Paris. Vom französischen Adel war aufgeboten worden, wer immer zu England hielt oder zu halten vorgab. An ihrer Spitze der Herzog von Burgund, der in geheimen Verhandlungen mit dem andern König von Frankreich, Karl VII., stand, mit unbewegter Miene seine Doppelrolle spielend. Außerhalb von Paris kochte Frankreich vor Empörung. Jeanne d'Arc hatte dem Lande Sieg nach Sieg gebracht, in ihrem Namen hatte die Bevölkerung von Nord und Süd, von Ost und West zueinander gefunden, eine Nation war geboren worden, der die Jungfrau die Befreiung des ganzen Landes prophezeit hatte. Im Leben war sie das Idol des Volkes gewesen, im Tode wurde sie zu seiner Heiligen. Aber sie war nicht tot! Ein Engel konnte nicht sterben. Viele leugneten ihr Vergehen in den Flammen und warteten auf ihre Wiederkunft. Die Großen im Reiche teilten diesen Glauben nicht, aber die Krönung des englischen Königs, das erneute Beiseiteschieben Karls VII. rüttelten jeden, der nur irgend die Hand an das Steuer der Regierung zu legen vermochte, zu Taten auf. Karl setzte eine Willenskraft ein, um mit Philipp von Burgund den langersehnten Frieden zu schließen, wie sie ihm bisher nicht zu eigen gewesen. Jean Juvenal des Ursins, einer der Besten seiner Zeit, pries Karl in öffentlicher Rede und dankte Gott für die Gaben, die er dem König verliehen. Richemont, La Hire, Jean d'Orléans, d'Harcourt, Xaintrailles brannten vor Begierde, den Krieg neu aufzunehmen und die Prophezeiung der Pucelle d'Orléans zu erfüllen. Aber da war ein Hemmschuh am Siegeswagen fest angezogen, die Räder wollten sich nicht bewegen, guter Wille, große Worte, Begeisterung, Ehrgeiz, Ruhmsucht, sie waren nichts als sinnloses Peitschenknallen, bis der Hemmschuh entfernt sein würde. Worin bestand er? Im verräterischen Regiment La Trémoilles, der als Plünderer, Mörder und Wüstling bekannt war und als Verräter nach allen Richtungen. Er hatte Yolande d'Anjou, Karls hochbegabte Schwiegermutter, vom Hofe vertrieben, desgleichen Arthur de Richemont, den bretonischen Fürstensohn und kostbaren Verbündeten Karls, den Yolanda vor Jahren <erobert> und zum Connetable hatte machen lassen. La Trémoilles war auch Johannas bitterster Feind gewesen, er war von Burgund bestochen worden, um Karls Pläne, die ihm Verbündete im Reich bringen sollten, zu durchkreuzen. La Trémoilles mußte seiner Macht enthoben werden, doch war der König vor seinem Tyrann zur Reglosigkeit gebannt, wie der Vogel vor der Schlange. Da beschlossen Yolanda und Richemont im Jahre 1433, zu handeln, wie es unter den Großen der Welt, angesichts unliebsamer Mitmenschen üblich war: La Trémoille sollte nachts im Bett ermordet werden. Drei Freunde Richemonts, angeführt von Pierre de Brézé, dem kommenden Premierminister, drangen in das Schlafzimmer des Verhaßten ein. Jean de Bueil stieß seinen Degen tief in den Wanst La Trémoilless hinein, der dicke Mann schrie wie ein gestochenes Schwein, aber er enttäuschte seine Mörder - er starb nicht. De Bueil ließ in abergläubischer Angst von dem <Teufel> ab, er schleppte ihn aber auf sein Schloß und hielt ihn dort in Gefangenschaft, bis La Trémoilles viertausend Taler Lösegeld bezahlt und geschworen hatte, sich dem König nicht mehr zu nähern. Der Schwur band Trémoilles Verräterseele nicht, aber die Faust mit dem Degen hatte ihn in seiner Feigheit zusammenbrechen lassen, er verschwand von der politischen Bühne und aus Karls Leben. Die Freude über die Beseitigung dieses bösen Geistes, der den König durch Jahre gelähmt hatte, war groß. Karl atmete auf; er soll seit seiner Befreiung <ein anderer Mensch> geworden sein. Yolanda, die Herzogin und Königin, ordnete nun <die Partei Anjou> neu; es gehörten ihr die besten und tatkräftigsten Männer an: Jean Juvenal des Ursins, der Connetable de Richemont, der Kanzler Regnault de Chartres, Charles d'Anjou, der Bastard Jean d'Orléans, der Marschall de La Fayette und Pierre de Brézé. Der alte Plan Yolandas und Karls VII.: die Versöhnung mit Burgund, war das erste Anliegen des neuen Ministerrats. War die Versöhnung erreicht, so blieb dem kleinen König, Heinrich VI., keine andere Wahl, als sich auf die Fahrt über die Narrow Seas zu begeben. Der Himmel war auf Karls VII. Seite; die Vorsehung ließ Bedfords Gemahlin, die Schwester Philipps von Burgund, sterben. Damit zerriß das letzte Band, das die beiden Feinde Frankreichs verbunden hatte. Jetzt griff Philipp in die Verhandlungen zu Arras, die zwischen Karl VII. und Heinrich VI., den beiden Königen von Frankreich, den Frieden herbeiführen sollten, mit gewohnter Doppelzüngigkeit ein. Sein Vertreter an Karls Hof zögerte nicht, verlockende Worte über einen Separatfrieden zwischen Karl und Burgund fallen zu lassen. Dieser Vertreter, dem Philipp vertraute und den Karl VII. in aller Selbstverständlichkeit in seiner Ratssitzung empfing, war Monseigneur Pierre Cauchon, der gewesene Bischof von Beauvais, jetzt Bischof von Lisieux. Den ersehnten Erzbischofssitz in Rouen hatten die Engländer ihm zur Strafe nicht gegeben. Wäre Pierre Cauchon Johannas Verderber gewesen, hätte ihn Karl, der sich vom ruhelosen Geist Johannas verfolgt wähnte, nicht wie einen vertrauten Mittelsmann empfangen, aber hier waren drei Männer von französischem Blut und französischer Sprache vereint, die den Frieden im Lande, die Vertreibung der Fremden und ein neues Erblühen Frankreichs erhofften.
Der Bischof von Lisieux eilte emsig zwischen dem burgundischen und dem französischen Hof hin und her, bis alle Schwierigkeiten beigelegt schienen. Philipp pochte jetzt gern auf seine Abstammung vom Königshaus der Valois, aber der Geist seines Vaters, des ermordeten Jean sans Peur von Burgund, der Vetter des wahnsinnigen Karls VI. selig, ging noch, Sühne heischend um. Karl VII. sei als junger Dauphin sein Mörder gewesen, wie es offiziell hieß. Siebzehn Jahre waren vergangen seit dem Mord auf der Brücke von Montereau, seit siebzehn Jahren <befleckte die Schande des ungesühnten Mordes den Ehrenschild des Herzogs von Burgund>, wie es in der Sprache der Rittersitte lautete. Karl VII. anerkannte Philipps Verlangen nach Sühne. Durch Vermittlung seines Abgesandten <warf der König von Frankreich sich dem Herzog von Burgund zu Füßen>, erflehte seine Verzeihung, obgleich er selber nicht der Mörder war, versprach seine Mitschuldigen zu verbannen, und Philipp erwiderte auf einem mit Siegeln beschwerten Pergament, daß er Karl von seinen Knien aufhebe, ihm vergebe und ihn bitte, nicht mehr an das alte Verbrechen zu denken. In Anwesenheit der Gesandten Karls schwur Philipp, die rechte Hand auf ein Kreuz gelegt, er werde nie mehr ein Wort von dem Mord an seinem Vater reden. Friede zwischen Burgund und den Provinzen Frankreichs, die Karl VII. anerkannten; damit war der Herrschaft Englands der Boden entzogen. Mit höchster Beunruhigung vernahmen Bedford und Heinrichs Hof von der festen Verbindung der einst so <großen Feinde>. Die englischen Gesandten meldeten auch, daß der neugeborene Sohn Karls VII. den Namen Philipp von seinem Paten, dem Herzog von Burgund, erhalten solle und daß Karls Tochter, Radegunde, einem Sohn Burgunds verlobt worden sei, und schließlich hieß es, Philipp von Burgund sei dazu ausersehen, dem jungen Dauphin Ludwig, wenn die Zeit gekommen sei, mit eigener Hand in Reims die Krone auf das Haupt zu setzen. Aber der vernichtende Schlag sollte noch folgen. Burgund erklärte England den Krieg. Das war Bedfords Tod. Er starb ohne Krankheit, geschlagen von dem Zusammenbruch seiner jahrelangen Bemühungen, Burgund und Frankreich in Feindschaft auseinander zu halten, um England die Normandie und die Kanalküste zu sichern und, im Bündnis mit Burgund, in Flandern Handel treiben zu können. Die burgundisch-französische Partei in Paris feierte mit Freudenfeuern, Tanz und Musik die Einigung des französischen Königs und Burgunds, aber es dauerte noch zwei Jahre, bis 1437, daß Burgund die Schlüssel von Paris dem Connetable von Richemont überreichte. Jetzt konnte Karl VII. in seine Hauptstadt einziehen.[89] Wie mögen seine Gedanken gewesen sein, als er durch die verödeten Stadtteile mit den verfallenden Häusern ritt, bejubelt von einer Menge, der Not und Hunger in den Antlitzen geschrieben stand? Wie hatten die Engländer das schöne Paris, ja sein ganzes Land in Verfall gebracht. Karl ritt an den Orten des Schreckens seiner Jugendzeit vorbei: hier war der Mord an seinem Oheim, Louis d'Orléans, geschehen, hier hatte der rasende Pöbel das Palais seiner Mutter zu erstürmen versucht, in jenem Turm hielt man ihn verborgen, zwischen dem Louvre und der Notre Dame war sein wahnsinniger Vater singend dahingezogen, während Jean sans Peur ihm schon die Macht aus den Händen gewunden hatte. Und er? Ein verschüchterter, verachteter Knabe, der vor der Entehrung als Bastard stand, er war aus der Stadt geflohen. Schwer durch Armut und durch die Verachtung der Welt war seine Jünglingszeit gewesen, bis das wunderbare Mädchen Johanna kam, ihm den Glauben an sein königliches Blut zurückzugeben. Es hatte seine wenigen Söldnerscharen zu Helden gemacht, seinen Feldherren Zuversicht ins Herz gegossen. Er, Karl, hatte sie <ma bien aymée> genannt, sie hatten miteinander verkehrt wie Gleich und Gleich, er, der König, und sie, der Engel von Frankreich.
Aber dann hatte sie sich selber ins Unglück gebracht; nichts und niemand hatte sie retten können und auf ihn sank der Schandfleck, von einer Hexe und Zauberin zum König gemacht zu sein. Wohl hing das einfache Volk Johanna immer noch an, es glaubte, sie würde wiederkommen, um Frankreich ganz und gar zu befreien und das trostlose Elend des Landes zu wenden. Karl wußte, daß Johanna nicht wiederkommen konnte, aber er würde das Gewebe des Lügenprozesses zerreißen, doch mußte er zuvor die Engländer bis zum letzten Mann vertrieben haben, das Land mußte zur Ruhe gekommen sein, damit die Felder wieder von Ähren wogten, die Dörfer von den Menschen in Sicherheit bewohnt wurden, der wuchernde Wald auf sein altes Maß zurückgedrängt, und die räuberischen Banden vertrieben oder vernichtet waren. Es kann sein, daß Karl solches und anderes dachte, denn er zögerte nicht, vom Tage seines Einzuges in Paris an, den Wiederaufbau der Stadt und des umliegenden Landes als erste und dringendste Pflicht zu verkünden.

27. Kapitel

Karl VII. besaß von diesem Jahre 1437 an wieder eine Hauptstadt; seine Räte begannen sogleich mit den nötigen Reformen. Aber um den Krieg neu aufzunehmen, fehlte es an Geld. Der Staatsschatz war leer. Da streckte die Kirche den Sold der Truppe vor, und der Adel übernahm die Führung in Scharmützeln, die ohne Plan vom Zaune gebrochen wurden. Die Sieger plünderten jedoch die eigenen zurückeroberten Städte und Dörfer, erhoben Steuern, verkauften ihre Gefangenen und gebärdeten sich wie in den alten Zeiten des Feudalismus, wo jeder Seigneur ein unabhängiger Autokrat war. Das Feuer des Patriotismus, das Johanna, die Jungfrau, entfacht hatte, war zusammengesunken und das Bauernvolk mehr denn je der leidende Teil. Karl und seine bürgerlichen Räte gerieten in großen Zorn, denn sie wollten das Volk aus seinem Elend heben. Neben Etienne Chevalier und Jacques Coeur zog der König immer neue vernünftige Männer heran; man nannte ihn <Le Bien-Servi>, den Gutbedienten, und das war er. Karls kluges Zurücktreten von eigenen Versuchen zugunsten der praktischen Taten seiner Mitarbeiter verhalf Frankreich zu einer so raschen neuen Blüte, wie niemand sie hatte erwarten können.
Unter den umsichtigen und tatenfrohen Männern ragt vor allem Jacques Coeur hervor. Er war ein genialer Finanzmann und Handelsherr, der stets <mit einem Fuß im Orient und mit dem andern in Frankreich stand>, in der Großzügigkeit seines Handels nicht unähnlich den Mediceern in Florenz und den Fuggern in Augsburg, die später, zu ihren Zeiten, Regierungen und Kriege finanzierten. Jean Juvenal des Ursins war und blieb die Säule im Rate Karls VII. Er war allerdings keiner der bürgerlichen Räte, er war Seigneur et Baron de Trainel en Champagne. 1425 war er General-Advokat und Präsident im Exilparlament zu Poitiers geworden, als Karl noch <le Roi de Bourges> genannt wurde. Jean Juvenal hatte Johanna früh als die entscheidende Figur zur Rettung Frankreichs erkannt, er war jetzt ständig um den König und da er, Juvenal, sich nicht gegen den Gesandten Burgunds, Pierre Cauchon, gewehrt hatte, darf man annehmen, daß er während Johannas Prozeß im geheimen mit Cauchon um ihre Auslieferung an die Kirche kämpfte. Bedeutende Ratgeber des Königs waren auch Robert Le Magon, Seigneur de Tréves, auch er war ein Beschützer Johannas gewesen; ihm ähnlich, an Würde und Klugheit war Etienne Chevalier, ein geschickter Unterhändler mit der Universität von Paris und Freund aller Künstler. Sein Lieblingsschützling war Jean Fouquet, dem man die vollendeten Bildnisse der großen Zeitgenossen Chevaliers verdankt sowie die besten Porträts Karls VII. Unter den bürgerlichen Genies, mit denen Karl so vertraut verkehrte wie mit den Pairs von Frankreich, waren die Brüder Jean und Gaspard Bureau, geniale Erfinder und Ingenieure; sie verbesserten die schwerfälligen Kanonen, so daß man mit ihnen mehr ausrichten konnte, als Pferde scheu zu machen und kleine Breschen in die Mauern zu schießen. Die Artillerie wurde in aller Heimlichkeit zu einer vernichtenden Waffe ausgebaut. Als Kommandant der Artillerie wurde Pierre de Brézé ausersehen, eine echte Erscheinung der neuen Zeit: Dichter, Bauherr, Kunstfreund und militärisches Genie. Er war dreiundzwanzig Jahre alt gewesen, als er von Yolande d'Anjou dazu bestimmt worden war, La Trémoille, diesen Klotz am Bein Karls VII., aus dem Wege zu räumen. Das Werk der Reformen ging unter großen Schwierigkeiten, aber unermüdlich vom König gefördert, weiter. Das Land mußte seine alte Kraft zurückgewinnen, anders konnte man nicht daran denken, die Engländer endgültig <ins Meer zu werfen>. Karls VII. Räte schufen in unglaublicher Raschheit ein stehendes Heer mit Führern, die vom König gewählt und bezahlt wurden. Ein strenges Verbot der Plünderungen und der privaten Kriegshandlungen wurde erlassen. Die Beamtenschaft wurde nach festen Regeln zusammengestellt, unter Jacques Coeurs Leitung die Geldwirtschaft geregelt, Steuern für mehrere Jahre festgesetzt und den Landesfürsten das Prägen schlechter Münze untersagt. Der Bauernstand, der Karl vor allem am Herzen lag, wurde geschützt, belehrt und gehoben, aber um die gesteckten Ziele zu erreichen, mußten die Scharen der Zehntausende von <Schindern> und <Banditen> aus dem Lande getrieben werden. Dieses Unternehmen sollte Karl erst nach Jahren gelingen. Jetzt, im ersten Sturm der Reformen, da noch keine Kriegshandlungen gegen die englisch-besetzten Gebiete unternommen werden konnten, und das Schlachtenglück unter der Standarte der Jungfrau von Orléans wie Sonnenglanz auf fernen Höhen lag, erklangen wie schrille Mißtöne am Hof Karls VII. die immer lauter werdenden Berichte über ein Mädchen, das schon 1436, einen Monat nach Karls Einzug in Paris, aufgetreten war. Es nannte sich <Jehanne la Pucelle>, behauptete die wahre Jungfrau zu sein, die vom Feuertod errettet wurde. Auf welche Weise, das verriet sie nicht. Das Volk, das nie an den Tod Johannas hatte glauben wollen und in seinem Elend, das noch nicht behoben war, jeden überirdischen Hoffnungsschimmer zu ergreifen bereit war, das Volk hatte sich sofort um das Mädchen geschart. Wer immer diese <Johanna > war, die geplagte Menge wollte glauben, und sie glaubte. In diesem Jahre 1439, da die Heerführer sich anschickten, die Vorbereitungen zu treffen, um zu gegebener Zeit den großen Ansturm auf die englischen Besitzungen zu wagen, war das Wesen, das um die Betrügerin gemacht wurde, äußerst störend. Die strahlende Zeit Johannas konnte nicht zurückkehren; die Geschichten über die Betrüger, denen sich der verstorbene Regnault de Chartres bedient hatte, bildeten kein Ruhmesblatt in Karls Regierungszeit. Die <Falsche Johanna> kam den Räten des Königs sehr ungelegen. In den drei Jahren, seit das Mädchen erschienen war, hatte es die Öffentlichkeit mit seinen Taten und Abenteuern in Atem gehalten. Sein bester Rückhalt war das Benehmen der Brüder Jeanne d'Arcs, Pierre und Jean du Lys. Diese beiden Männer spielten in der Betrugsgeschichte eine undurchsichtige Rolle; sie waren schon - ohne ersichtlichen Grund in Metz zur Stelle gewesen, als das Mädchen auftrat. Sie erklärten, die Schwester zu erkennen und führten sie von Stund an im Triumph von Ort zu Ort. [90] Pierre und Jean du Lys, mit Würden und Ämtern beschenkt, waren in ewiger Geldnot, hatten sie doch ihren Bauernstand verlassen und vermochten unter dem Adel des Landes keine Wurzeln zu schlagen. Johannas Gefangennahme und Tod beendete den Glanz eines Daseins, an dem sie am Rande teil hatten, das sie nie, auch nur im Traume für möglich gehalten; sie scheinen beschlossen zu haben, die Zeit des Ruhmes und des Wohllebens zurückzubringen. Johanna wiedererstehen zu lassen, war bei der Leichtgläubigkeit des Volkes nicht schwer. Jacques d'Arc, der ehrenwerte Mann aus Domrémy, war tot, seine Frau Isabelle lebte noch, aber sie hat die angeblich zurückgekehrte Tochter nie gesehen und 1450 in der Notre Dame, auf den Knien liegend, das offizielle Gesuch um die Rehabilitierung ihrer als Hexe verbrannten Tochter ausgesprochen. Das Mädchen, das sich Jeanne d'Arc nannte, wurde von gläubigen Leuten mit Männerkleidung versehen, ein Adliger schenkte ihr ein Roß; sie prophezeite kriegerische Erfolge bis zum Fest Johannes des Täufers; sie trafen nicht ein, aber der Glaube an die neue Johanna wankte darum nicht. Einige Zeit führten die Brüder ihre angebliche Schwester in Lothringen umher, wohlweislich ohne Domrémy zu berühren. Die falsche Johanna erschien auch in Köln, wo sie sich von rauhen Sitten zeigte und allerlei Hexenkünste vollführte, so daß der Inquisitor der Stadt sie, mit Hilfe ihres jungen Verehrers, des Grafen Ulrich von Württemberg, über die Grenze entweichen ließ. Zu einem zweiten Hexenprozeß hatte niemand Lust. In Begleitung oder ohne die Begleitung ihrer Brüder - die zahllosen Berichte sind sehr unklar - suchte <Johanna>, die eigentlich Claude hieß, Zuflucht im Herzogtum Luxemburg. Hier wurde sie von der Herrin des Landes, Elisabeth von Görlitz, mit offenen Armen empfangen und - verheiratet [91]. Der glückliche junge Mann war Messire Robert des Armoises, Seigneur de Tichemont. Er nahm Johanna mit sich auf sein Schloß in Jaulny, wo die junge Ehefrau kühn das Wappen der Jungfrau von Orléans, das Karl VII. dieser verliehen hatte, neben dem ihres Mannes anbringen ließ [92]. Die Dame des Armoises hatte zwei Kinder von ihrem Gemahl; die echte Johanna hätte vermutlich niemals Kinder haben können [93]. Die Ehe der Dame des Armoises et de Tichemont endete sehr bald im Ehebruch. Wie es in der zweifelhaften Niederschrift eines Bruders, Jean Nider, heißt, dank der Entführung durch einen Priester. Bald nach dem Erscheinen der falschen Johanna war ihr Bruder Pierre nach Orléans geeilt und hatte die ganze Stadt mit der guten Nachricht in Aufregung versetzt, die Jungfrau lebe und werde ihre Freunde besuchen. In Loches, wo Karl VII. Hof hielt, hatte Pierre ebenfalls den freudigen Bericht bekannt gegeben. Der König hatte Pierre aber rasch mit dem Versprechen, ihm hundert Franken zu schenken, weitergeschickt. Der Schatzmeister bezahlte dem Sieur du Lys allerdings nur zwanzig Franken aus, worauf Pierre sich von der Stadt Orléans die fehlende Summe aushändigen ließ. Karl hat selbstverständlich den Betrügereien nicht geglaubt. Hätte nur die geringste Möglichkeit bestanden, daß Johanna dem Feuertod entgangen war, so wäre ihr Wiederauftauchen für ihn von größter Wichtigkeit gewesen. Mit der lebenden, geretteten Johanna wäre die Legende, sie sei als Hexe verbrannt worden, leicht zu widerlegen gewesen. Inzwischen war die Dame des Armoises, ohne Orléans besucht zu haben, aber wieder verschwunden. Drei Jahre lang blieb es still um die Abenteurerin. Frankreich war in seiner Genesung begriffen; die Vorbereitungen zum Krieg mit England waren beendet, als im Juli 1439 das Gerücht aus Orléans in das ganze Land drang: die Pucelle ist in der Stadt erschienen. Zehn Jahre waren vergangen, seitdem Johanna als ganz junges Mädchen, gekleidet wie ein schlanker, knabenhafter Ritter, von Hoch und Niedrig gesehen worden war. Jetzt tauchte eine reife Frau auf, die Dame des Armoises, Mutter zweier Kinder, die angeblich ein Jahr der Gefangenschaft und des Prozesses durchgemacht hatte und seitdem in Deutschland und in Rom gewesen und, wie sie behauptete, auf verschiedenen Schlachtfeldern gekämpft habe. War es ein Wunder, daß die Pucelle verändert schien? Die Brüder erkannten die Frau ja als ihre Schwester an; wie sollte man da zweifeln, besonders da jeder dem Glück glauben wollte, <die Tochter der Stadt Orléans> wieder zu haben. Die Stadtväter beschenkten und bewirteten sie wie eine Fürstin. Kurz vor einem dieser Feste hieß es, der König werde die Stadt besuchen; schon waren acht <pintes de vin> bei einem gewissen Jacquet bestellt. Die Vorfreude auf die Begegnung des Königs mit der Jungfrau war groß, aber dann mußten die Bürger die Enttäuschung erleben, daß die Dame Jeanne des Armoises ohne Abschied verschwunden war; ihre Brüder desgleichen. Orléans hat die Frau nie wiedergesehen.
Doch die Erzählungen, gläubiger und ungläubiger Menschen, wucherten weiter. Die Universität von Paris ließ die Frau kommen, um sie zu prüfen. Die Professoren, die vor Jahren nach Poitiers ausgewandert waren und dort Jeanne d'Arc verhört hatten, waren nach Paris zurückgekehrt; diese durchschauten die Betrügerin sofort. Zur Strafe wurde sie an öffentlichem Ort, auf einem Marmortisch im Hof des Palais de justice, dem Volk, das ihr zugejubelt hatte, als Betrügerin gezeigt und danach aus der Stadt gejagt. Es gab auch ein Gerücht, der König habe die Frau empfangen, ein Gerücht, das mit den Erzählungen über Johannas Erscheinen am Hof zu Chinon ausgeschmückt wurde, andere berichteten, die Dame des Armoises habe zum zweiten Mal geheiratet, einen einfachen Mann mit Namen Jean Douillet; aus Lothringen hörte man, sie sei in ein Gefängnis geworfen worden. Vier Jahre flackerte noch das Irrlicht dieses Betruges, bis es erlosch und vergessen wurde, aber mit ihm versank das verklärte Bild Johannas; zu viel Düsternis, zu viele beschmutzende Zweifel waren von der Betrügerin ausgegangen; ob der einzelne ihr geglaubt oder nicht, Johanna, die Märtyrerin, die im Feuer umgekommen war, die Retterin Frankreichs, wurde zur Legende gerade wie die Betrügerin. [94]
Zum Schweigen der Großen, die während der Friedensverhandlungen mit dem Feind den Namen Johannas vermieden, als hätte sie nie gelebt, kam das verstörte Schweigen des Volkes. Aber Karl gedachte seines Engels, er gedachte der Tochter Frankreichs. Nur noch ein wenig Geduld, nur bis die Engländer vertrieben und Rouen in seiner Hand war, dann wollte er vor aller Welt Johannas Andenken von jedem Schatten befreien und seinem Volk die Jungfrau von Orléans, die Lilie Frankreichs, in ihrer Unberührtheit zurückgeben.

28. Kapitel

Bis zur ersehnten, versöhnenden Stunde in Rouen sollte Karl VII. noch durch ein Fegefeuer von Schwierigkeiten gehen; er hatte sich im Kreise seiner Ratgeber zu Weisheit und Willensstärke durchgerungen, und Mitleid war ihm immer eigen gewesen. Das schlimmste Leiden des Volkes, die Plage der plündernden und mordenden Banden bedrückte ihn seit Jahren. Die Regierung hatte auf alle Weise Abhilfe zu schaffen versucht, ohne daß ihr Erfolg beschieden gewesen. Als nun im Jahre 1439 die Generalstaaten zu Orléans über die unerträgliche Bedrängnis des Volkes klagten und in einem wahren Tumult Hilfe verlangten, wurde ein Gesetz gegen das Unwesen der <Ecorcheurs> redigiert, und Karl verpfändete seine Ehre, ihm Achtung zu verschaffen. Das neue Gesetz sagte, daß die adligen Herren fortan für das Verhalten der Söldner, die in ihrem Dienste standen, verantwortlich seien. Die schwersten Strafen würden die Seigneurs treffen, die sich nicht fügten. Das war ein Schlag in das Gesicht der Feudalherren. Wie ein Mann erhoben sie sich gegen den König, der versuchte, ihre Privilegien des eigenmächtigen Handelns und der Privatkriege zu streichen. Karl VII. sei wahnsinnig wie sein Vater, verbreitete der Adel im ganzen Lande. Die höchsten Fürsten, die Herzöge von Alencon und von Bourbon, der Graf von Vendôme, sogar der Freund und Vetter des Königs, der Bastard von Orléans und viele andere Herren verbanden sich in der sogenannten <Praguerie> und scharten sich um den wildesten der Bandenführer: Chabannes. Der siebzehnjährige Dauphin Ludwig wurde dazu verführt, sich den aufsässigen Adligen anzuschließen, aber die gesamte <Ritterschaft>, <die keine Volksliebe im Herzen und keinen Verstand im Kopfe> hatte, wurde von den gutgeführten Truppen des Königs im Poitou und im Bourbonnais geschlagen und die Anführer zur Verantwortung gezogen. Es spricht für Karls VII. Charakter, daß er den Kopf nicht verlor, sondern - <toujours bien servi> - mit starker Hand durchgriff. Seinen Sohn Ludwig, einen Jüngling von herrschsüchtigem und heimtückischem Charakter, zwang er zur kniefälligen Bitte um Begnadigung und gewährte sie. Er verzieh auch seinen Blutsverwandten, aber das Gesetz blieb bestehen. Der König mußte froh sein, daß der offne Widerstand des Adels gebrochen war, denn die Auseinandersetzung mit England hatte wieder in voller Stärke begonnen. Dank der Tatkraft der bürgerlichen Räte, der Erfindungen der Brüder Bureau, der Finanzwirtschaft Jacques Coeurs, der zweihunderttausend Goldécus vorgestreckt hatte, und der endlich abgeschafften feudalen Rittersitten, war Karls Heer der englischen Militärmacht überlegen; jedenfalls durfte man es hoffen. Es wehte ein frischer Wind der Siegeszuversicht in Frankreich, der König und Volk mitriß, aber noch manchen Adligen grollend bei seinen veralteten Vorrechtsideen zurückließ. Karl VII. sei mit zwanzig Jahren alt gewesen und mit vierzig jung geworden, so sagte seine Umgebung. Der Glaube an den französischen Sieg fand seine Erfüllung. Schon 1439 war Meaux in vierzehn Tagen erobert worden, vor dessen Mauern die Engländer neun Monate lang gelegen hatten. Die neue Artillerie vollbrachte das Wunder; ihre Erfinder waren die Helden des Landes. Mauern, die bisher im Mittelpunkt von Angriff und Verteidigung gestanden hatten, boten vor den weittragenden Kanonen keinen Schutz und kein Hindernis. Ohne daß die Brüder Bureau es wußten, bereiteten sie die stürmische Machtentfaltung des Bürgertums vor*, (*Auf weitgespannte Verteidigungsanlagen verzichteten die Städte allerdings noch lange nicht.)
denn wenn die nutzlos gewordenen Mauern um die engen, übervölkerten Städte erst einmal fielen, mußten bei einer ungehemmten Ausbreitung der Städte, Bautätigkeit, Verkehr, Handel und Selbstbewußtsein der Bürger wachsen. Aber noch kämpfte Frankreich, ohne die Muße zu haben, an künftige Zeiten zu denken. Pontoise und Dieppe unterwarfen sich Karl VII., doch war es nicht leicht, Anjou und Maine zurückzunehmen; die Engländer besaßen dort starke Garnisonen. Die Räte und Heerführer fürchteten, auf halbem Wege stehen bleiben zu müssen, aber sie hatten nicht mit Yolanda, der rastlosen Diplomatin, gerechnet. Die Herzogin verheiratete mit gewohnter Raschheit, zur Empörung des englischen Volkes, ihre Enkelin Margarethe [96], die Tochter des <Bon Roi René>, mit dem jungen König Heinrich VI. von England, unter der Bedingung, daß die englischen Besatzungen aus Anjou und Maine zurückgezogen würden. Als 1444 in Tours ein Waffenstillstand geschlossen wurde, und England darauf bestand, die Normandie und Guyenne zu behalten, hatte Yolande d'Anjou ihre geschickte Hand nicht mehr im Spiel; sie war 1442 gestorben. Nicht nur von Karl VII., sondern auch von seinen Räten tief betrauert, denn wann immer Schwierigkeiten unlösbar erschienen waren, hatte die Herzogin einen Ausweg gefunden, auch wenn sie in aller Liebenswürdigkeit einen Mord, eine unpopuläre Heirat oder eine Übertölpelung des Feindes empfahl. Yolanda war bis zu ihrem Ende die bewunderte <Virago> geblieben. Kurz vor ihrem Tode hatte sie in ihrer genialen Menschenkenntnis ihrem Schwiegersohn Karl einen viel umstrittenen Dienst erwiesen; sie hatte beobachtet, daß der König nach den ersten Siegen über England, einen Waffenstillstand befürwortend, sich auf seinen Lorbeern auszuruhen gedachte. Da begriff sie, daß dem fast vierzigjährigen Manne eines fehlte, um den neuen Lebensmut und die neue Spannkraft zu erhalten: das Glück der Liebe. Die Ehe Karls mit ihrer Tochter Marie, die auf eine Kinderkameradschaft gefolgt war, hatte sich freundlich und friedlich gestaltet und war mit einer großen Nachkommenschaft gesegnet, aber das Feuer der Liebe war Karl bisher fremd geblieben.

Agnes Sorel

An seinem Hofe war im Gefolge seiner Schwägerin, Isabella von Lothringen und Bar, die junge Agnes Sorel erschienen, ein wunderschönes, liebenswertes Geschöpf, uneigennützig und von gutem Verstand. Es geschah, was Yolanda gewünscht und gefördert hatte: Karl entdeckte die Liebe. Von nun an änderte sich sein Wesen noch mehr, als es schon seit Jahren geschehen war. Seine politischen und kriegerischen Erfolge hatten ihn verjüngt, durch die Liebe zu Agnes Sorel wurde er ein Mann der Tat.
Agnes, befreundet mit Etienne Chevalier, gestützt und beraten von Jacques Coeur und Pierre de Brézé, geduldet von der Königin Marie, die sich endlich als Gebärerin königlicher Kinder zur Ruhe setzen konnte, geehrt von Richemont und Jean d'Orléans, wurde sie 1444, die erste <Maitresse en Titre>, die erste anerkannte Geliebte eines französischen Königs. [97] An der Seite der vorzüglichen Agnes Sorel erlebte Karl VII. die glücklichste Zeit seines Lebens; jetzt griff er die Zügel, die er hatte schleifen lassen, wieder auf. Jetzt endlich erfüllte er sein Versprechen, die <Banden> aus dem Lande zu jagen, die verhaßten und gefürchteten Armagnaken. Der deutsche Kaiser Friedrich III., dem die Eidgenossen ein Dorn im Auge waren, verlangte von Karl VII., mit dem er seit Jahren wegen Burgund in Unterhandlungen stand, er solle die Armagnaken auf die Schweizer <loslassen>, wie er bei seinen Jagden eine Meute losließ. Der Dauphin Ludwig wurde als Führer im Armagnakenkrieg ausersehen. Aber nun geschah, was niemand in den hohen Regierungen und unter dem führenden Adel erwartet hatte: die Eidgenossen retteten ihr Land durch die Schlacht bei St. Jakob an der Birs am 22. August 1444. Fast bis zum letzten Mann hatten sie sich aufgeopfert; es war schließlich nur noch ein Schlachten und keine Schlacht mehr gewesen, aber auch die Armagnaken hatten Verluste erlitten, wie sie noch keine erlebt hatten. Von einem Sieg sprachen sie nicht; die Kampfgeübtheit und der Todesmut der Eidgenossen erregte in ihren Kriegerherzen nur Bewunderung; solchen Kämpfern waren sie noch nicht begegnet. Der Dauphin Ludwig, der die Armagnaken ins Land gebracht hatte, begriff, daß er an Streiter geraten war, die bei aller Wildheit hoch über dem Abschaum standen, den er befehligte. Die Eidgenossen als seine Verbündeten, das wäre ein Gewinn, der sich zu erreichen lohnte, und es gelang ihm, mit den Männern aus diesem <argen und wunderbaren Land> Frieden zu schließen und ein Bündnis einzugehen [98]. Die Armagnaken zogen auf eigene Faust weiter ins Elsaß und in die Pfalz, wo sie von den Bauern in Massen erschlagen wurden. Die Partei Anjou, zu der sich Agnes Sorel gesellt hatte, immer unter den Einflüsterungen Jacques Coeurs, ließ dem König keine Ruhe. Noch war der Waffenstillstand mit England nicht abgelaufen, aber Karl wurde überredet, trotzdem den Befehl zur Rückeroberung der Normandie und der Guyenne zu erlassen. Wieder streckte Jacques Coeur ungeheure Summen vor. Richemont, Jean d'Orléans und der Herzog von Alencon wurden zu Befehlshabern des starken Heeres ernannt. Drei Freunde der verewigten Jeanne d'Arc: Arthur de Richemont, dessen Rückkehr zum Dauphin sie mit Jubel begrüßt hatte; der Bastard von Orléans, ihr Waffengefährte bei der Befreiung Orléans', und Alencon, ihr Beau Duc, dem sie in freundschaftlicher Liebe zugetan war. Auch die Berichte über die letzten Jahre des Hundertjährigen Krieges schweigen von Johanna, doch werden ihre Freunde von ihr gesprochen haben, denn der König hatte schon um 144 den Magister Bouillé beauftragt, die Prozeßakten Johannas zu studieren. Vermutlich hat auch Agnes Sorel in ihrem königlichen Geliebten, der der Gottgesandten seine Krönung und die siegreiche Wendung im großen Krieg verdankte, die Liebe zu Johanna neu entfacht. Von Agnes Sorel, der Dame de Beauté, wie sie nach ihrem Schloß, Beauté-sur-Marne, hieß, wußten die Mitlebenden nur Gutes zu berichten, wie sollte sie da nicht den Willen des Königs anfachen, seiner Heiligen, der Tochter Frankreichs, ihre Menschenwürde und ihre Ehre zurückzugeben?
Wenn doch Rouen fiele! Dort, in der Stadt ihres Leidens, wollte Karl den Prozeß neu aufnehmen! Die Normandie rang sich frei von den englischen Fesseln, im Herbst des Jahres 1449 brach in Rouen eine Revolte aus; die englische Garnison konnte sich nicht halten. Somerset und Talbot kapitulierten im Schloß, das während Johannas Prozeß in der Hand Warwicks gewesen war. Der englische Stolz war schwer getroffen. Die Normandie, seit Wilhelm des Eroberers Zeiten, die Wiege des englischen Adels und seiner Vormachtstellung auf der Insel, die Normandie, die Heimat auf dem Kontinent, durfte nicht verloren gehen. Somerset und Talbot kehrten nach England zurück, aber nur um eine Heeresrnacht aufzustellen, mit der sie über das Meer zurückzukehren gedachten. Die Sorge um die englische Rache bedrückte Karl jetzt nicht; der Hof bereitete seinen Einzug in Rouen vor, er sollte als <Charles Le Victorieux>, Karl der Siegreiche, in eine der schönsten seiner Städte einziehen. Agnes würde nicht in seinem Gefolge sein; sie weilte, nicht fern, im Schloß Anneville, wo sie der Geburt ihres vierten Kindes entgegensah; aber Jacques Coeur, dem das Land so viel verdankte, war um den König. Es kam der Tag des Einzuges, von den Malern in Miniaturen festgehalten und von den Chronisten beschrieben. Das Volk jubelte im Glück der endlichen Befreiung. Karls Antlitz leuchtete in stolzem Triumph, und doch seien Tränen aus seinen Augen geflossen, als er über den Altmarkt ritt, auf dem Johannas Scheiterhaufen geloht hatte.

Einzug in Rouen - Bemühungen um Jeanne' Rehabilitation

Die Zügel des königlichen Rosses durfte Jean d'Aulon, Johannas treuester Gefährte, halten. Als Karl durch das Tor der Kathedrale schritt, um dem Tedeum beizuwohnen, gingen Richemont, der Eroberer der Normandie, und der Herzog von Alencon neben ihm. Jean Juvenal des Ursins, der neuernannte Erzbischof von Reims und Pair von Frankreich, empfing ihn, und Nicola Midi, der Johanna die letzte Mahnrede gehalten, begrüßte ihn mit der Festrede. Karl schaute in das Gesicht eines Mannes, dem wohl nicht ohne sein Einverständnis die Ehre zuteil wurde, ihn mit einer Ansprache begrüßen zu dürfen. Nicola Midi, Doktor der Universität Paris, einer der vielen Freunde, die Johanna voll guten Willens, aber machtlos umgeben hatten. Im Schloß zu Rouen, wo Karl nach den Feiern Hof hielt, muß viel von Johannas Ehrenrettung die Rede gewesen sein, denn von hier aus schrieb der König dem Rektor der Pariser Universität, Guillaume Bouillé, einen Brief, in dem er die Wiederaufnahme des Prozesses befahl. Es war eine schwere Aufgabe, die der König dem Rektor stellte, die Hindernisse, die sich Karls Verlangen entgegenstellten, waren größer, als er bisher gedacht. Die Theologen seiner Umgebung erklärten ihm, daß der Prozeß in den Händen der Kirche gelegen habe und nur der Papst einer Revision zustimmen könne. Nikolaus V. aber wolle nicht zugeben, daß das Tribunal und die Inquisition ein falsches Urteil gefällt hätten. Karl war nicht der Mann, Hindernisse mit Hartnäckigkeit zu überwinden, wenn er trotz der Bedenken seiner Umgebung den Brief an Bouillé schreiben ließ und zwar in Tagen, da er wie von Sinnen vor Kummer war, denn Agnes, die über alles Geliebte, war im Kindbett gestorben, so zeigt sich hier in aller Klarheit, daß Johannas Wirken und Leiden ihn so nahe berührt hatte und noch berührte, daß sogar der Tod des liebsten Menschen, den er besaß, die Gedanken an seine Retterin nicht auszulöschen vermochte. Hier in Rouen hatte der zweite gute Engel seines Lebens ihn verlassen. Erhobenen Herzens hatte er die Stadt betreten; von Kummer gebeugt, verließ er sie und mußte fortfahren zu regieren, zu planen, Krieg zu führen.

Johanna soll rehabilitiert werden

Guillaume Bouillé verlor keine Zeit. Wenige Wochen, nachdem er den königlichen Brief erhalten hatte, setzte er die Räder in Gang, die durch fünf Jahre, bis zur Ehrenrettung Johannas, laufen sollten.
Nachdem das erste Jahr unter mühseligen Verhandlungen hingegangen war, wurde die Aufmerksamkeit des Königs, seiner Räte, der Heerführer, der Universität von Paris, und wer immer um die Aufnahme des alten Prozesses wußte, von diesem Anliegen abgelenkt: eine englische Flotte hatte nochmals die <Narrow Seas> überquert und war bei Cherbourg gelandet. Die Boten berichteten, daß die Feinde mit Triumphgeschrei und Spottliedern in die Stadt eingezogen seien. In Karls Umgebung herrschte weder Schrecken noch Furcht, die Heerführer kannten ihre Stärke; der französische Siegeszug war nur unterbrochen gewesen, er war nicht mehr aufzuhalten. Die Engländer wurden bei Formigny vollständig geschlagen (1450). Nun kapitulierten auch Cherbourg und Caén. Jean d'Orléans drang in die Guyenne ein, offne und befestigte Städte ergaben sich ihm, nur Bordeaux, das den Weinhandel mit England nicht missen wollte, rief den Feind zur Hilfe. Der achtzigjährige Talbot, Jeanne d'Arcs berühmter Gegner, erschien mit achttausend Mann. Bordeaux empfing ihn als Befreier, aber Karl VII. selber und einer seiner Söhne lockten die Engländer aus Bordeaux fort zu einer offenen Schlacht. Bei Castillon, im Jahre 1453, zerschmetterte die französische Artillerie den heldenhaften Widerstand der Engländer. Der alte Talbot starb, wie er es gewünscht hatte, auf dem Schlachtfeld; nicht als Sieger fiel er, aber als einer der großen Helden der Weltgeschichte.
Karl VII. hielt einen triumphalen Einzug in Bordeaux; kein Bürger dachte mehr an seine eigennützigen Interessen; das reiche und mächtige Bordeaux nannte sich stolz eine französische Stadt. Der Krieg zwischen der Insel und dem Kontinent, der mehr als hundert Jahre gedauert hatte, war beendet, aber kein eigentlicher Friedensschluß zog den versöhnenden Strich unter das lange Kapitel englischer und französischer Geschichte. Und doch war so viel Blut geflossen, so viel Elend über Frankreich gekommen; Jeanne d'Arcs strahlende Gestalt war erschienen, hatte wie ein Licht in tiefer Nacht geleuchtet und war wieder erloschen, gewaltsam erstickt von den Feinden, die nun auf ihrer Insel in dem fürchterlichen Kriege der Weißen und der Roten Rose das Elend des Bürgerkrieges erlebten. Frankreich wendete sich von der Insel ab; es gab auch eine Welt im Osten des Landes und mancherlei Sorgen im eigenen Haus. Während der drei letzten Kriegsjahre hatten die Bemühungen in Rom um die Rehabilitierung Johannas keine Fortschritte gemacht. Die französischen Gesandten waren auf alle Weise bemüht gewesen, einen Ausweg aus dem Konflikt, in den der König den Heiligen Vater gebracht, zu finden. Umsonst; denn selbst, wenn der Papst dem Willen Karls VII. hätte nachgeben wollen, die Engländer wehrten sich durch ihre Gesandten gegen die Abklärung des Prozesses, und England stand, seit der langen kirchlichen Wirren in Frankreich, in größerer Gunst beim Vatikan als Karls VII. Reich. Guillaume Maurice, der die Verhandlungen mit Rom leitete, verfiel schließlich auf den Ausweg, den König ganz aus dem Spiel zu lassen und Johannas Familie als gekränktes Opfer eines irregeführten Tribunals vorzuschicken. Die Mutter der Jungfrau und ihre Brüder sollten die Ehrenrettung der Tochter und Schwester verlangen. Die gute, einfache Bäuerin, Isabelle Romée, lebte seit einigen Jahren in Orléans. Wo ihre Söhne Pierre und Jean du Lys sich befanden, wird nicht berichtet; nur von Isabelle Romée heißt es im Protokoll, sie habe durch Vermittlung hoher Geistlicher den Papst Nikolaus V. um die Revision des Prozesses angefleht.
Bevor der Heilige Vater ja oder nein sagen konnte, nahm ihn der Tod hinweg, und sein Nachfolger, Calixtus III., der den Bitten der Isabelle gnädig gestimmt war, befahl Jean Juvenal des Ursins, dem neuen Erzbischof von Reims, die Überprüfung des Prozesses von 1430-31 in Gemeinschaft mit dem Inquisitor Frankreichs, Jean Bréhal, zu übernehmen. Daß Johannas Mutter die Ehrenrettung ihrer Tochter ohne zu zögern, ja, mit Eifer aufgriff, läßt die Legende von der verheirateten Johanna, der Dame des Armoises, wie einen Dunst, der vom Licht aufgezehrt wird, vergehen.
In der Kathedrale Notre Dame zu Paris herrschte am 7. November 1450 trotz der ewigen Lampen und der aufgesteckten Opferkerzen vor dem Hochaltar das Dämmerlicht, das zu allen Zeiten die riesigen Kirchenschiffe an dunklen Wintertagen zu erfüllen pflegt. Nur um die hohe Geistlichkeit, die an diesem Tage in der Notre Dame den Rehabilitationsprozeß eröffnete, war mit Fackeln eine helle Insel geschaffen worden. Das Licht ließ die Festgewänder und Mitren, die nur an hohen Festtagen getragen wurden, aufleuchten; sie schmückten und krönten

  • den Erzbischof von Reims,
  • den Bischof von Paris und
  • Jean Bréhal, den Inquisitor.

Hinter ihnen drängten sich die Theologen und Juristen der Universität. Die Seitenschiffe brausten vom Flüstern der Bürger und Bauern, die zusammengeströmt waren, um zu hören, wer dieses Mädchen Jeanne d'Arc gewesen, vor dem die Eltern der jetzigen Generation auf den Knien gelegen, der man in den Landkirchen Standbilder errichtet hatte, die den Kriegern heilig und hilfreich waren. Sie konnte keine Hexe, keine Abenteurerin gewesen sein, alte Leute nannten sie die Retterin Frankreichs, und doch war sie als <Kind der Hölle> verbrannt worden. Würde man je die Wahrheit erfahren? Das Flüstern verstummt; tiefe Stille erfüllt den weiten Raum der Kathedrale: die Zeugen nahen. Ein langer Zug einfacher Menschen aus kleinen Dörfern und Städten Lothringens, begleitet von Geistlichen der niederen Priesterschaft. Wie Bürgerliche es in Königssälen tun würden, so schüchtern bewegen sich die Leute im breiten Mittelschiff des Gotteshauses dem Chore zu, wo die Abgesandten des Heiligen Vaters, Calixtus' III., und das neuerstandene Tribunal thronen. Die Fürsten der Kirche waren über das Spiel unterrichtet, das nun anhob.
Die Mutter der Jungfrau von Orléans tritt vor. Sie wirft sich ächzend auf ihre alten Knie und spricht in ihrem heimatlichen Dialekt nach, was ein befreundeter Priester ihr, von einem Pergament ablesend, zuflüstert*
(*Gekürzter Text, aus »Prozeß der Jeanne d'Arc 1431-1456«; dtv-Dokumente Nr. 24, München, 1961. Der französische Text erschien 1959 bei Ed. Denoel, Paris, unter dem Titel: Les Procés de Jeanne d'Arc)

«Ich hatte eine Tochter, sie war getauft und gefirmt, so wie es sich gehört. Ich hatte sie in der Furcht Gottes erzogen und zur Achtung vor der Kirche. Obwohl ihr die Arbeiten des Feldes und gelegentlich das Hüten der Tiere oblag, hat sie darum die Kirche nicht weniger besucht. Sie betete und fastete mit Inbrunst und hatte mit dem Elend der Menschen jener Tage Mitleid. Sie hat nie irgend etwas gegen den Glauben gedacht oder getan. Und dennoch haben die Feinde des Königreiches sie vor Gericht gezerrt. Sie haben sie zum Feuertod verurteilt, und die Schande ist auf uns gekommen, bis es der göttlichen Gnade gefallen hat, die Stadt Rouen, dann die ganze Normandie ihrem gesetzmäßigen Herrn zurückzugeben und zu vollenden, was in Johannas Zeit in Orléans und in Reims begonnen war ...»

Dann reichte die alte Frau schluchzend und zitternd das Antwortschreiben des Papstes auf ihr Gnadengesuch der ersten Hand, die sich ihr hilfreich entgegenstreckte. Das Schreiben des Heiligen Vaters wurde laut verlesen, so daß die Stimme des Priesters widerhallte von Gewölbe und Pfeilern, aber der Leser kam nicht bis zum Ende des Briefes, denn die Erschütterung der alten Isabelle war so groß, und ihr Weinen so herzbrechend, daß die Menge wie bei einem Begräbnis einzufallen begann. Vor dem Gestöhne, das in eine Massenhysterie umzuschlagen drohte, zog sich das hohe Tribunal schnellstens in die Sakristei zurück. Auch die Greisin wurde in einen Nebenraum geführt und von ihren Freunden beruhigt.
Als am 12. Dezember 1450 der zweite Prozeß in Rouen begann, und das Tribunal, wie es in den Jahren 1430 und 1431 mehrfach geschah, im erzbischöflichen Palais tagte, waren Pierre Cauchon, der Bischof von Beauvais und der Promotor Jean d'Estivet, nicht mehr am Leben. Ihr Tod kam dem zweiten Tribunal sehr gelegen, denn man brauchte Sündenböcke, denen die Schuld aufgeladen werden konnte. Zwar ging das Bemühen Pierre Cauchons um Johanna und die Wut der Engländer über sein Vorgehen deutlich aus den Akten des ersten Prozesses und den Aussagen der Zeugen von 1450 bis 1456 hervor, aber Pierre Cauchon hatte ein unklares Spiel gespielt, das so oder so ausgelegt werden konnte. Es war ratsam, nicht zu tief in die Absichten des Bischofs von Beauvais und in die Hintergründe seines Handelns hineinzuleuchten, die dem König nur schaden mußten. So wurden dem Toten, dessen Mund für immer geschlossen war, alle Fehler, die begangen worden waren und der Tod der Jungfrau als schwere Schuld auf das Grab gewälzt. Die Zeugen aus Johannas Verwandtschaft und aus ihrem Lebenskreis erzählten von ihrer Jugend und ihrem Leben im Dorf, von ihrer Frömmigkeit und ihren Fahrten nach Vaucouleurs. Es sprachen Patinnen und Freundinnen, Priester, Bauern und der Onkel Durand Lassois, die Wirtin in Vaucouleurs, die Reisegefährten Johannas nach Chillon, ihr Beichtvater, Jacques Paquerel und viele der Richter, Advokaten, Beisitzer und Priester des ersten Prozesses. Ferner ihre adligen Gefährten, ihr Beau Duc, Jean d'Alencon, Herzog und Vetter Karls VII., der Bastard von Orléans, jetzt Graf Dunois und von Longueville, Raoul de Gaucourt, Johannas Haushofmeister, der einundachtzig Jahre alt war, Louis de Contes, ehemals Page der Jungfrau von Orléans, nun ein Mann in reifem Alter und Herr auf Nouvions und Rugles, und der Oberstallmeister Thibault. Der lange Bericht Jean d'Aulons, der Johanna bis zu ihrer Gefangenschaft begleitet hatte, vom König zum Oberhofmeister und Seneschall erhoben, mußte verlesen werden, denn Jean d'Aulon hatte sich nach Karls Einzug in Rouen in ein Dominikanerkloster in Lyon zurückgezogen. Ihn hatte Johannas grausames Ende aus der Welt in die Stille des Klosters getrieben. Auch die Ärzte, Jean Tiphaine und Guillaume de la Chambre, erzählten von der Jungfrau. Wie ein offnes Stundenbuch, mit Bildern verziert, lag das Leben Johannas vor den Augen des Tribunals: von ihrer Kindheit bis zum Tod, von ihrem Aufstieg aus der Dunkelheit des Volkes bis zum hellsten Licht ihres Ruhmes auf dem Schlachtfeld und in der Kathedrale zu Reims. Oft war Stunde um Stunde geschildert; die Zeugen sagten mehr, als die Richter von ihnen erwarteten, so blieb die Schwäche der Umwelt, die Johanna hatte fallen lassen, bevor ihr heiliges Werk vollendet war, nicht verborgen. Alles kam ans Licht: der Niedergang in die Finsternis der Gefangenschaft, die peinigende Befragung, die Schwäche ihrer Freunde, die qualvolle Verwirrung des gehetzten Opfers, bis es noch einmal in den lodernden Flammen hell um sie wurde, und der dreifache Schrei: Jesus, Jesus, Jesus sie wie auf Stufen ihres Glaubens über alles menschliche Irren hinauf hob.
Fast sechs Jahre lang, von 1450 bis 1456, hatte der zweite Prozeß schon gedauert, bis die höchsten Herren, die ihm vorgestanden, sich im großen Saal des erzbischöflichen Palastes versammelten, um den letzten Spruch zu hören. Jean Juvenal des Ursins führte von seinem erhöhten Throne aus den Vorsitz, er verlas das Urteil, das Jeanne d'Arc als gläubiges Kind der Kirche anerkannte [100]
Karl VII. war von einer Gottgesandten zum König von Frankreich erhöht worden. Als Schuldiger wurde der Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, geopfert. Johannas Mutter und ihren Brüdern widerfuhr als Klägern gegen den ersten Prozeß Gerechtigkeit. Um der Mutter Isabelle Rornée die Tochter und ganz Frankreich die Jungfrau als Heldin des Landes zurückzugeben, erhob sich Jean Juvenal des Ursins. Aufrecht stand er vor seinem Thronsessel und laut und deutlich erklang es von seinen Lippen:

«Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.
Wir, Jean, durch Gottes Erbarmen Erzbischof von Reims, Guillaume, Bischof von Paris, Richard, Bischof von Coutances, Jean Bréhal, einer der Inqusitoren im Königreich Frankreich, durch Unsern Heiligsten Vater, den Papst, beauftragt, erklären, in Anbetracht des von uns feierlich geführten Prozesses, der durch die ehrbare Witwe, Isabelle d'Arc und des Pierre und des Jean d'Arc an uns ergangen ist, nach Einsicht in die Tatbestände, die auf Ungerechtigkeit jenes angemaßten Glaubensprozesses hinzielen, der seinerzeit in dieser Stadt durch die verstorbenen Herren, Pierre Cauchon, damals Bischof von Beauvais, Jean Le Maitre, angemaßten stellvertretenden Inquisitor, und Jean d'Estivet, den Promotor, angestrengt wurde. In Anbetracht der gebührend studierten Originalakten, der vorgelegten Briefe und Schriftstücke, der Zeugenaussagen über die Sitten und Herkunft Johannas, wie über die wunderbare Befreiung der Stadt Orléans, den Marsch auf Reims und die Königskrönung, über die Umstände des Prozesses selbst, seine Artung und Verfahrensweise, erklären wir die Unterlagen des gefällten Urteils als einen fälschlichen, verleumderischen, listigen, bösartigen Auszug des vorgegebenen Prozesses, denn sie verschweigen die Wahrheit und weisen Falsches in wesentlichen Punkten auf. Wir erklären diese Artikel für ungültig, heben sie auf, annullieren sie und verfügen, daß der Text dieser Artikel von Gerichts wegen zerrissen werden soll. Wir erklären, daß besagter Prozeß und seine Urteile wie der besagte Widerruf null und nichtig waren, sind und sein werden. Was aber Johanna, deren Verwandte und Verteidiger betrifft, so haben sie keinerlei Schimpf noch Makel auf sich geladen und sollen frei und ledig davon sein. Wir verfügen, daß die feierliche Bekanntgabe dieses Urteils unverzüglich an zwei Stätten dieser Stadt vorgenommen wird: auf dem Platz von Saint-Quen nach vorausgegangener Prozession und Predigt. Die andere morgen auf dem Altmarkt, an der nämlichen Stelle, an der Johanna grausam und schrecklich im Feuer erstickte.* Dort soll der Jungfrau zum ewigen Gedächtnis ein ehrenvolles Kreuz errichtet werden und Johannas und der andern Verstorbenen Heil erfleht werden.»

(* Hier wird deutlich ausgesprochen daß Johanna erstickte, bevor ihr Körper in den Flammen verbrannte)

Das Werk Jeanne d'Arcs und ihr Andenken waren gerettet. In Rouen, in Compiégne, in Reims, in Tours, in Orléans und im Dorfe Domrémy, wo immer ihre lichte Gestalt das Dunkel und die Angst der Zeit vertrieben hatte, feierten die Menschen die Tochter Frankreichs.
Karl VII. weilte mit seinen Räten in Gannat, ungeduldig wartend, bis ihm endlich ein Bote die Nachricht brachte, daß Johannas Ehre wiederhergestellt und sein Königtum vor aller Welt als gottgewollt dastand. Der König saß unter dem Baldachin zu Gericht, im Rücken das gestickte Lilienwappen seines Hauses, als die Boten aus Rouen, Guillaume Bouillé und Jean Bréhal, die Dokumente der Rehabilitierung in den Händen, vor ihn traten; die Pergamente wurden feierlich verlesen. Karl drückte seine schmächtige Gestalt tief in den Thronsessel; die Augen halbgeschlossen, lauschte er dem Bericht, der, lang und verschnörkelt, von Johannas Unschuld und der List und Bosheit der Richter sprach; Karls Geist begann zu wandern und die Jungfrau zu suchen, diese schönste Lilie in seinem Königswappen. Er schaute zurück und sah sich selber, wie er vor einem Vierteljahrhundert gewesen: verhöhnt, entehrt, verarmt, ohne jegliche Macht, und er sah die Jungfrau, die vor ihm kniete, um ihm mit ihrem Glauben die Ehre zurückzugeben, die liebsten Städte seines Landes und die Krone Frankreichs. Leise, so daß nur der Beichtiger neben seinem Hochsitz ihn verstand, sagte Karl, sich zu den Stufen des Thrones neigend:

«Pucelle, m'amye, vous, soyez la trés bien revenue, au nom de Dieu, qui scayt le secret qui est entre vous er moy.»
«Jungfrau und Freundin, du Wiedergekehrte, sei herzlich willkommen; im Namen Gottes, der das Geheimnis kennt zwischen dir und mir.»