Das Spinnennetz

Sie würde ihnen dermaßen viel Liebe geben, daß das
ganze Leben dieser Kinder, gehäkelt wie es war aus
lauter Zuneigung und Fürsorge, ohne ihre Gegenwart
den Sinn verlöre.
Der Herzausreißer, BORIS VIAN

Wie sollen wir den beschreiben, der wir nicht sind, wie können wir von dem sprechen, das wir nicht erleben? Wir können gerade das sagen, was wir vom Leben des kleinen Jungen sehen, und berichten, was der Mann uns von sich erzählt, wenn er die Maske fallen läßt.
Was ich gesehen habe? Ich habe zunächst in meiner näheren Umgebung Thierry gesehen., der im Alter von zwei bis zwölf Jahren sein kostbares »Objekt« mit seiner zu einer Muschel geformten Hand schützte. Vor wem? Vor was? Wußte nur er das? Er war zum Gegenstand der familiären Witzelei geworden: »Hast du denn solche Angst, daß er weg fliegen könnte?« »Denkst du, er sitzt nicht fest?« Und dann, eines Tages, stellt ein Onkel, der etwas Ahnung von Psychologie hat, die Fangfrage: »,»Nun sag doch mal, wem gehört er denn, daß du solche Angst hast, daß man ihn dir wegnimmt, gehört er dir denn nicht?« Und Thierry antwortet zur allgemeinen Verblüffung, einschließlich der seiner Mutter: »Er gehört Mama.« Verlegen, weil er in seiner unbewußten und offensichtlich lächerlichen Angst ertappt worden war, nahm er gewöhnlich seine Hand für einige Augenblicke fort, oder er entfernte sich von den neugierigen Erwachsenen. Ich habe in meinem Fotoalbum mehrere Kindergruppen, in denen Thierry in der Haltung der Venus von Botticelli auftritt. Denn im Gegensatz zu dem, was Botticelli glaubte, ist es nicht die Frau, die dazu neigt, ihr Geschlecht zu verstecken, wenn sie nackt ist. Viel eher ist es der Mann. Wie kommt es, daß diese Haltung bei der griechischen oder römischen Statue so oft der Frau zugedacht wird? Würde sie nicht viel eher ihre Brüste verbergen, Objekte lüsternen Begehrens des Mannes?
Es scheint natürlich, daß jeder dazu neigt, das vor den Blicken zu schützen, worauf das andere Geschlecht am meisten Lust hat. Für einen kleinen Jungen ist das sein Jungen-Geschlecht, auf das die Mutter lüstern sein kann.
Ich besitze auch einen Film von allen Vettern, die an jenem Tag auf Zelluloid verewigt wurden, bleibt nur Hervé beim Verlassen des Hauses wie angewurzelt stehen, die Hand im Hosenschlitz. Seine Lieblingsgeste. Suchte er sich durch Prüfen zu vergewissern, daß sein Objekt noch da war und daß seine Mutter es ihm noch nicht entrissen hatte?
Werden sich Thierry und Hervé überhaupt noch an ihre unbewußte Angewohnheit erinnern, wenn sie einmal erwachsen sind? Ich wette mit Ihnen, daß sie sie vergessen haben werden. Aber die Angst vor der Frau wird sich in ein aggressives Verhalten gegenüber Frauen umgewandelt haben, und man wird sie »männlich« nennen. Sie werden vergessen haben, daß sie ihre Kindheit damit verbrachten, sich vehement gegen das Begehren ihrer Mutter zu schützen, und als Erwachsene werden sie es normal finden, daß man für sie das Toilettenwasser »Sauvage«, die Wolle »Vierge«, den Slip ,»Homme«, das Auto »Sans Concessions« usw. bereithält.
Sie kennen sicher viele Hervés und Thierrys große und kleine. Unmerklich gehen sie vom Selbstschutz zur Selbstverteldigung über; das kommt ganz von selbst, ganz natürlich, ohne Erschütterungen. Aus der Furcht vor der Mutter führt ein direkter Weg zur Herrschaft über die Frau.
Indes, als sie klein waren, war offensichtlich »sie« die Siegerin. Wie viele Male habe ich sie in meinem Büro gesehen, ihre Blicke gefangen in denen der Mutter. Diese stummen Münder, während sie sich darüber ausließ, was das Kind alles getan und gesagt oder was es nicht getan oder gesagt hätte. Sobald die Mutter gegangen ist, setzt sich das Kind wieder, nimmt ihren Platz ein und antwortet mir. Und bei dieser anscheinend so harmlosen Frage »Also, was meinst du denn so« - hat sie immer noch die Macht, dem kleinen Jungen die Tränen in die Augen zu treiben, wenn er antwortet: »Es ist mit ihr ...« , oder ihn in ohnmächtige Wut zu stürzen, wenn er eingesteht: »Es ist wegen ihr ...« Es bedarf keiner Beschreibung, keiner Erklärung, ich weiß es, ich habe es längst verstanden, ich kenne Ödipus' Antlitz (das ist das mindeste, was man von einer Psychoanalytikerin erwarten kann), aber sie, die Mütter, sie kennen es nicht, verstehen es nicht: Wer hat mit ihnen über die möglichen Folgen ihres ständigen Zusammenseins mit dem Kind gesprochen? Offensichtlich niemand, denn sie tun nichts, um daran etwas zu ändern.
Wie Freud es sagt: »Die Mütter wären sehr erschrocken«, wenn man ihnen sagen würde, daß ihr Mutterauge gleichzeitig mit der Liebe auch das Begehren des anderen Geschlechts enthält - sie begehrt also ihren Sohn - und daß dies von dem männlichen Kind nicht ohne Furcht verkraftet werden kann. Eine Furcht, die, wie wir gesehen haben,[1] nicht ohne weiteres offenbar wird, denn die frühe Symbiose erscheint dem kleinen Jungen zunächst angenehm und bestärkt ihn. in seinem Narzißmus. Die Furcht tritt erst in der Analphase zutage, in der das Kind zwei Dinge zugleich lernen und verkraften muß: Sauberkeit und die Erkenntnis des Unterschieds zwischen den Geschlechtern.
Der Geschlechtsunterschied, das ist die Mutter (die dem Kind am nächsten ist); sie ist das Anschauungsmaterial, sowohl für das Mädchen, das sie als überlegen erlebt, wie für den Jungen, der sie, bezogen auf sein Geschlechtsmerkmal, mit einem »Weniger« sieht. Wenn beim Mädchen die Feststellung der Überlegenheit der Mutter den Neid auslöst, löst beim Jungen die Minderwertigkeit der Mutter die Angst aus, weil jedes Kind glaubt, der Rest der Menschheit sei beschaffen wie es selbst, wie Freud sagt. Und wenn die Mutter ihn nicht hat, dann, weil sie ihn nicht mehr hat, weil sie ihn verloren hat. Dieses »Weniger« am Körper der Mutter wird sofort als Verlust angesehen, als Verschwinden etwa oder als mögliche Kastration. Hier ist also das große Unheil, das das ganze zukünftige Leben des Mannes bedroht: Er hat Angst vor der Kastration« ... Er hat Angst, daß alle Menschen, die »ihn nicht haben« (also die Frauen, zu denen seine Mutter gehört), sich an ihm vergreifen werden, »der ihn hat«.
Die Mutter ist also doppelt gefährlich, weil sie ihn nicht hat und weil sie den des Mannes unbewußt begehrt, selbst wenn es ihr Sohn ist. Der kleine Junge empfindet dies als Bedrohung: Kastrationsangst (dixit Freud). Hier haben wir die gesamte Freudsche Theorie: Die Kastrationsangst wird dem Mann keine Ruhe lassen, wird ihn zwingen, sich zunächst vor der »Frau« und dann vor den Frauen insgesamt zu schützen ... Es ist eine männliche Vorstellung, der Frau den »Penisneid« zuzuschreiben. Entspringt doch dieser Neid nur der Einbildung des Mannes, der verfolgt wird von der Idee, sie werde ihn ihm wegnehmen, sie werde versuchen, ihn zu kastrieren.

Falls die Psychoanalyse von einer Frau geschrieben worden wäre, hätte man ohne Zweifel nie von Kastration gesprochen: die »Kastration« ist eine Vorstellung des kleinen Jungen, der »Neid« eine des kleinen Mädchens.
Sie werden feststellen, daß die Frau im Erwachsenenalter tatsächlich versucht, soviel. Sex wie möglich zu haben, und daß der Mann andererseits versucht, seinen Sex zu bewahren, indem er sich als Mann soviel Anerkennung wie möglich verschafft. Der Neid ist auf der weiblichen Seite. Die Frauen haben haufenweise Wünsche und Träume; es scheint, sie erwarten unablässig irgend etwas anderes. Der Mann seinerseits übt sich in Abwehr: er häuft die Macht an, die seine Vorherrschaft konsolidiert. Dem steht das Bedürfnis der Frau gegenüber, zu nehmen, zu haben. (Ein sehr verbreitetes Verlangen, das nicht nur wahrscheinlich sogar kaum - das männliche Geschlecht zum Ziel hat: träumen die kleinen Mädchen denn nicht alle davon, Königinnen zu sein? Das sind die, die alles haben!) Die Furcht des Mannes, in Besitz genommen, bestohlen, gefangen zu sein, wie es der Mann so häufig sagt, kommt letztendlich von dort her. Dies drückt »er« üblicherweise auf der Couch so aus:

»Meine Mutter, die klebt mir auf der Haut, unmöglich, sich von ihr zu befreien, ich spüre, wie die immer hinter mir her ist, ich möchte brüllen, schlagen, irgendwas tun.«
»Sie ist da, immerzu da, wie denn bloß davon loskommen, selbst wenn ich 800 km weit weg renne, ich weiß, sie wird immer alles von mir wissen....«
»Wie schwierig es doch ist, sich von seiner Mutter zu lösen!«
»Werde ich es je schaffen, das zu zerreißen, was mich hält, mich einsperrt, mich immerzu mit ihr verbindet?«
»Immer mache ich diese Bewegung mit meinen Händen: diese Bewegung, als ob ich etwas weg schieben will, was mich stört, wie »sie« die immer da war.«
»Die Nabelschnur durchschneiden, das ist es; schneiden, mich von ihr trennen, nicht mehr darin gefangen sein usw.«
»Mit einer Frau schlafen, um mir zu sagen, na bitte, endlich geschafft, ich bin ein Mann, ich habe gesiegt über »sie« für mich ist das der einzige Beweis, der zählt.«

Ist der Mann, an dessen Seite wir leben, nicht mehr oder weniger immer darauf bedacht, sich von der Frau abzugrenzen, zu befreien, zu entfernen? Sucht er sich nicht mit allen Mitteln von ihr zu unterscheiden, durch unterschiedliche Rollen, durch ein unterschiedliches Wesen; auch dadurch, daß die Frau mit gewissen Qualitäten geschmückt wird, die der Mann ihr zuteilt und auf die er freiwillig verzichtet: Einfühlsamkeit, Sanftmut, Zärtlichkeit usw.?
Er, er umgibt sich mit Abwehr: er muß weder sanft sein noch zärtlich noch empfindsam, und hier bildet sich der Unterschied heraus; nur nicht der Ähnlichkeit anheimfallen, nicht ins Weibliche abgleiten, die Kastration vermeiden ... Der Mann spielt seine Männerrolle aus Angst, mit einer Frau verglichen zu werden, während die Frau ihre Frauenrolle spielt aus Angst, dein »Nichts« gleichgestellt zu werden. Jeder findet sich in eine erschreckende Stereotypie eingeschlossen, voller Angst, die Wege seines Geschlechts zu verlassen, die immer noch nicht ausreichend befestigt sind, wie es scheint.
Die Abkapselung des Jungen wie die Verweiblichung des Mädchens entstehen allein aus der Beziehung zum Geschlecht der Mutter/Erzieherin. Eine Frau hat mir heute morgen gesagt: »Eine Frau definiert sich in bezug auf eine andere Frau.« Das geht sogar noch weiter, denn beide Geschlechter »definieren« sich in ihrer Beziehung zur Frau und nur selten oder allzu verspätet zum Mann, der bei der Erziehung der Kinder ganz oder beinahe fehlt, sowohl im familiären wie im gesellschaftlichen Bereich.
Sehen wir uns noch einmal die Geschichte des kleinen Jungen an: Wir haben gesehen, daß er zum erstenmal Angstgefühle entwickelt, wenn seine Mutter seine Ausscheidungen haben will. Er stellt sich doch vor, daß sie »etwas anderes« will. Wenn er sich nämlich nicht durch eigene Anschauung vergewissert hat, daß seine Mutter keinen Penis hat, hat er gefragt (wie das kleine Mädchen wegen der Brüste), ob seine Mutter so ist wie er (was seine erste Vorstellung ist), und seine Mutter hat geantwortet, daß sie »so etwas nicht hat«. Das hat ihn schon geängstigt, und er malt sich nun eine Situation aus, in der man ihm ihn auch wegnehmen könnte, und dann kommt auch noch seine Mutter daher und verlangt von ihm, daß er etwas hergeben soll! Ausgerechnet in dem Moment etwas von jemandem zu verlangen, der Angst hat, ein Stück von sich selbst zu verlieren: Sie werden zugeben, daß das nicht der ideale Zeitpunkt ist, aber wie soll man es anders machen? Das Kind muß schließlich sauber werden. Er sieht das auf jeden Fall anders.
Er wird den Analkampf aufnehmen, und er wird alles tun, um nichts hergeben zu müssen, was es auch sei (vgl. dazu S. 105). Er wird sie überlisten, so tun, als ob er nicht müßte, wenn man ihn auf den Topf setzt, um dann alles in dem Augenblick loszulassen, in dem. er wieder Windeln anhat, oder er wird sein Geschäft vor der Zeit machen. Er wird ein Einkoter werden. Bedauerlich. Er macht sich nichts daraus: ihm kommt es nur darauf an, seine Haut vor dem mütterlichen Begehren zu retten, sich abzukoppeIn von ihr und von ihrem Verlangen. Und so dauert es lange, bis der Junge endlich sauber wird. Er wird sich erst an dem Tag fügen, an dem er ein Mittel gefunden hat, auf andere Weise über sie zu siegen. Nämlich dadurch, daß er aggressiv, launenhaft und schwierig wird (das männliche Baby mag unkomplizierter sein als das weibliche, aber das männliche Kind ist schwieriger als das weibliche): er geht laufend in Opposition, stellt sich pausenlos quer.
Dies ist der Beginn des »kleinen Krieges«. Spielt der Junge übrigens in seinen Spielen nicht ununterbrochen Krieg? Wenn er weder Soldaten noch Pferde hat, findet er trotzdem einen Weg, irgendwo einen Kampf in Szene zu setzen: alles stellt sich für ihn als »schwächer« und als »stärker« dar. Er sieht sich als der unüberwindliche Zorro, als Tarzan, als Eroberer, er träumt sich in die Rolle des Piloten, der schneller durch den Raum rast als irgend jemand sonst. Die Phantasmen des Jungen drehen sich immer um den Sieg. Allmählich wird der junge Mann auf diese Weise aggressiv-defensiv, seine Sprache, ist davon gepragt, er spricht hart, derb, vulgär, ja sogar unanständig, und manchmal behält er das als Männlichkeitsgehabe bei: Männer finden es schick, grob zu reden
Es kann aber aus verschiedenen Gründen vorkommen, daß der kleine Junge nicht den klassischen Weg beschreiten kann, ein »Mann« zu werden, und daß er eine andere Richtung einschlägt, wobei er auf den Kampf verzichtet, da »die Feindin« zu stark ist. Er wählt den Weg der Regression; angesichts der von ihm geforderten Anstrengung gibt er auf, er stirbt: er wird apathisch oder Bettnässer oder Einkoter, er interessiert sich für nichts, aus Angst, wieder den vermuteten Wünschen der Mutter oder der Eltern ausgeliefert zu sein. Mit einem Wort, er zieht es vor, lieber nicht mehr größer zu werden, als sich dem Krieg zu stellen und die Kastration zu riskieren. Er zieht es vor, ein Kind zu bleiben, wenn Erwachsensein bedeutet, sich dem Begehren einer Frau auszusetzen.
Einer Frau, das wäre ja noch nichts, aber es geht um Frauen im Plural, denn der kleine Junge ist umzingelt von Frauen! Es gibt ja eigentlich nichts anderes in seinem kleinen Universum, denn wenn er die Welt seiner Mutter verläßt, kommt er in den Kindergarten, wo er sich mit der Kindergärtnerin anfreunden muß, und dann in die Schule, wo er auf die Lehrerin trifft ... Es gibt nur Frauen um ihn herum; sein Vater erscheint für ihn sehr weit entfernt, wenn die Lehrerin hinter ihm her ist. Es ist eine Katastrophe für den kleinen Jungen, daß die Erziehung des kleinen Kindes fast ausschließlich in den Händen von Frauen liegt. Denn der Junge hat unter all diesen Individuen, die ihn nicht haben, keine Möglichkeit, seine Kastrationsangst zu überwinden. Ich werde mich mein Leben lang an das verzweifelte Gesicht meines Sohnes erinnern, als ich die Mütze hochzog, die ihm von der Kindergärtnerin absichtlich über das Gesicht gezogen worden war, um ihn zu beschämen. Ich erfaßte in dem Moment das für ihn unermeßliche Unglück, sich von ihr gedemütigt zu fühlen, von einer, »die ihn nicht hat«. Zuerst blickte er auf mich, um zu sehen, ob ich verstehen würde und auf welche Seite ich mich schlagen würde. Als er dann sah, daß ich begriffen hatte, was ihm widerfahren war, brach er in Schluchzen aus, das dann schnell in Gebrüll überging: Jérôme war damals vier Jahre alt. Sein Unbewußtes war in heller Aufregung, die Kindergärtnerin war dreißig Jahre alt und hatte keine Ahnung von der Psyche eines kleinen Jungen. Sie glaubte, zu einem der harmlosesten Mittel gegriffen zu haben, um ihn für seinen Ungehorsam zu bestrafen. In dem Augenblick wurde mir klar, daß er sich nicht so dagegen gewehrt hätte, wäre die Bestrafung von der Hand eines Mannes gekommen.
Nichts ist härter, als von jemandem bestraft zu werden, der nicht der gleichen Seite angehört. Wenn es gemischte Klassen gibt, sollte es auch immer einen gemischten Lehrkörper geben, damit sich für die Jungen und Mädchen ein Gleichgewicht gegenüber den Machtausübenden ergibt. Dies wird offensichtlich vernachlässigt oder ignoriert in einem Land wie dem unseren, in dem man die Versorgung des Kindes und seine Erziehung immer wieder der Frau zuweist, weil man für sie keinen anderen Platz in der Gesellschaft findet.
So wie der Junge heranwächst, wird sich auch seine »Anti-Frau«-Haltung weiterentwickeln, so daß er sich beim Eintritt in die Adoleszenz merkwürdig ambivalent gegenüber dem Mädchen verhalten wird, der heranwachsenden Frau gegenüber, die er doch so gern kennen lernen und auch wieder vermeiden möchte. Er wird also mit ihr ausgehen, meistens um seine Neugier auf das andere Geschlecht zu befriedigen, und dann wird er sehr schnell erklären, daß er sie hat fallen lassen, weil sie »con«[2] war. Oh, welch großartige Beleidigung, die ganz genau dem entspricht, was der Junge hier ausdrücken will: weil sie weiblichen Geschlechets ist, wurde sie abgelehnt ... Und nicht, weil sie ein Dummkopf ist ...
Im Heranwachsendenalter hat der Junge offensichtlich keine Angst mehr vor der Frau. Mit seiner allumfassenden Verachtung beherrscht er sie, träumt davon, sie zu unterwerfen, und dann, ein wenig später, sie zu »vögeln«. Wie sollte denn der Sexualakt für den Mann keine Beherrschungs-Phantasmen enthalten? Und wie soll dabei die Frau auf ihre Kosten kommen, wenn sie jedes Recht verliert, selbst zu entscheiden und ihn zu führen? Es wird immer der Mann sein, der bei der weiblichen Lust den Ton angeben will, und deshalb sollen wir auf die Weise Lust finden, die ihm Vergnügen bereitet: es gibt nur die Feuerstelle für die sexuelle Lust, die der Mann sich ausdenkt. Die vor nicht langer Zeit erhobenen Forderungen der »Neuen Frauen« verunsichern den Mann, der befürchtet, seine Vorherrschaft zu verlieren; deshalb ist der Mann so schwerhörig, wenn es um die Wege zur weiblichen Lust geht.
Wegen seines Bedürfnisses, über die Frau zu herrschen, ist der Mann so sehr gegen das Abtreibungsgesetz, das die Frau hat frei werden lassen und das ihr den Kinderwunsch freistellt. Er, der den Bauch auf ewig leer hat, weigert sich zu sehen, daß ein anderer Mensch dieser Sache Bedeutung beimißt ... Er lehnt es rundweg ab, anzuerkennen, daß die Frau da eine ganz persönliche Problematik hat, weil er sie unbedingt nach seinen Regeln lenken will. Er, der die Frucht der Liebe nicht in seinem Körper tragen kann, verweigert der Frau, einen eigenen Wunsch zu haben, es sei denn, er wird in das Verlangen nach einem Kind umgeformt: Wenigstens im Kind könnte er sich wiederfinden. . . Wenn sie aber abtreiben kann, scheint es ihm, als sei sie ihm mit ihrer Lust entglitten, als hätte sie in dieser Sache einmal etwas für sich selbst gewollt ... Das aber erträgt er nicht. Deshalb gibt er seine Zustimmung nur zur Empfängnisverhütung, aber nicht zur Abtreibung ... Er kommt mit moralischen oder medizinischen Einwänden, aber im Grunde stört ihn, daß die Frau die Dinge nicht so sieht wie er und daß sie sich die Freiheit nimmt, sie anders zu sehen. Und doch sind wir es kurz gesagt, die Frauen, die den Mann geformt haben, wie er heute ist, diesen. Mann, der uns auf unserem Lebensweg unaufhörlich durcheinander bringt. Unseren Frauenkäfig haben wir wohl selbst errichtet, ohne es zu wissen, ohne es zu wollen und ohne etwas dafür zu können.
Das Spinnennetz, das wir um den kindlichen Jungen geknüpft haben, ist genau das Netz, das uns später in Gefangenschaft halten wird: Wir werden nie das Recht haben, aus dem uns zugedachten Bereich herauszukommen. Er wird die »Spinne« sein und wir seine Beute auf Lebenszeit, weil wir über seine frühen Jahre herrschten und das Junge männliche Wesen mit unseren Vorstellungen formen wollten. Keine Frau dürfte die Fallen des mütterlichen Unbewußten verkennen, keine Frau dürfte damit einverstanden sein, ihren Sohn allein aufzuziehen, keiner Mutter dürfte die Feminisierung des Unterrichts bei den ganz Kleinen gleichgültig sein. Wußten Sie, was hier deutlich wird? Wer hätte das wohl aufzeigen sollen, war doch die Psychoanalyse größtenteils in den Händen der Männer. Gibt es da etwa noch das männliche Vergnügen, Macht auszuüben durch Wissen? Wir brauchen Frauen neben den Männern, damit sich die Wissenschaft nicht mehr mit der Verleugnung verbindet, und wir brauchen Männer neben den Frauen, damit sich Erziehung nicht mehr auf Einsperrung reimt...[3]