Die weiße Wüste

Weiße Laken in einem Schrank
Rote Laken in einem Bett
JACQUES PREVERT

Wie soll man das Alter der kleinen Mädchen benennen, die Zeit, in der unsere Töchter in ihrem Drang, zu erobern und zu verführen, vergeblich einen Partner suchen, der ihre Person begehrt? Sie sind den mütterlichen Rockschößen schnell entflohen, da sie begreifen, daß von dort kein Heil kommt. Aber wohin gehen? Der Vater wird gesucht, der andere Pol der sexuellen Alternative des Elternpaares. Er könnte bei seiner Tochter das finden, was er nicht hat: die Weiblichkeit, deren Beginn er unter dem flachen Erscheinungsbild seines Töchterchens erahnt. Das Mädchen hat den Wunsch, als »anders« aufgefaßt zu werden, als unterschiedlich vom männlichen Geschlecht. Nur der Vater könnte diese Funktion bei ihm erfüllen. Ein kleines Mädchen, das seinen Vater dazu gebracht hat, ,seine Zeitung beiseite zu legen, das auf seine Knie geklettert ist, beweist mit seinem ganzen Körper, daß es den Ort erreicht hat, an dem all seine Unsicherheit aufhört: beim Vater endet die Sinnlosigkeit, durch ihn kann es lernen, seinen kleinen Mädchenkörper als »gut« zu akzeptieren. Der Vater ist das Ziel. Der Vater ist nur leider meistens nicht da, ist nicht zu Hause, ist den ganzen Tag über abwesend. Erst am Abend wird er zurück kommen, um mit der Mutter zu sprechen, mit der Mutter zu schlafen, und das kleine Mädchen wird nur »übertragen«[1] durch die Mutter existieren. Es verzweifelt daran, in niemandes Augen zu existieren. Zwar lieben es alle, aber niemand betrachtet es als sexuelles Wesen, und sein Leben ist ebenso flach wie sein Körper . Dann aber hat es eine Idee: da es nicht wirklich existieren kann, wird es sich eine Existenz mit seiner Puppe ausdenken (ein Glück, daß man die Puppe erfunden hat, nicht um die Mädchen auf ihre zukünftige Mutterrolle vorzubereiten, sondern weil es das einzige körperliche Bild ist, das dem Körper des kleinen Mädchens entspricht). Unauffällig hat es sich aus dem Kreis der Erwachsenen entfernt und ist ausgezogen, seinesgleichen zu finden, jemanden, der wie es selbst ist und dem nur die Sprache fehlt, die es ihm geben wird. Die Sprache als unentbehrliche Katharsis in der Wüste der Einsamkeit, die das Mädchen-Kind durchquert. Wenn Sie einem kleinen Mädchen keine Puppe geben, wird es sich in seinem Innern eine erfinden, um im Fall einer Katastrophe mit ihr kommunizieren zu können ... Denn Katastrophen wird es auf dem Weg des Mädchens geben! Es wird diese Puppe gleichzeitig seine ganze Zukunft erleben lassen, die nicht schnell genug kommt, und seine ganze Gegenwart des »ungenügenden«, also »bösen« kleinen Mädchens. Haben Sie bemerkt, wie deutlich im Spiel mit der Puppe immer wieder die zwei Persönlichkeiten vorkommen, das Mädchen und die Mutter, und wie das Mädchen unartig ist und die Mutter mit ihm schimpft? Wer aber ist denn diese garstige Puppe, wenn nicht das Abbild des kleinen Mädchens selbst? Die, die gut ist, ist die Mutter mit all den Trümpfen einer großen, geschlechtlichen Person und mit ihrem Zugang zum Begehren des Vaters. Das Leben eines kleinen Mädchens läßt sich in der Tat nur in der Zukunft leben, als zukünftige Frau. Die Gegenwart ist insoweit geschlechtsspezifisch nicht existent, als der Vater abwesend ist. Manchmal hat das Mädchen den Wunsch, in den Körper eines Jungen zu schlüpfen, der wenigstens einen authentischen Platz hat. Es ist nicht der Penis des Jungen, der geneidet wird, es ist in diesem Fall der Status des Jungen. Manchmal wollen die Mädchen nur Jungenpuppen, sei es, um sie auszuschimpfen, sei es, um sie zu liebkosen, da sie eine Stellung haben, von der das Mädchen weiß, daß es sie nicht einnehmen kann. Das Mädchen hat keine Möglichkeit , die Schranke zu überwinden, die es von dem, Bereich ödipalen Begehrens fernhält. Es hat weder die Trümpfe, denn sein Geschlecht ist nicht anerkannt, noch hat es ein Objekt, denn sein Vater (außer in seltenen Ausnahmen) beschäftigt sich nicht mit ihm. Darüber hinaus kennt es von seinem Geschlecht nur die Hälfte, der Rest ist von jeder manuellen Erweckung durch die Mutter ausgeschlossen, denn sie wird für ihre Tochter immer nur die äußere Masturbation einleiten, die klitorale (und das auch nur ziemlich schlecht, wie wir gesehen haben, weil sie die Lust ihres Mädchen-Babys an dieser Stelle verkennt, zumal die meisten Mütter ihre eigene Klitoris nicht als typisch weiblich anerkennen). Diese erste klitorale Masturbation wird sich dennoch dem Körper des Mädchens einprägen, da sie jeder Frigidität widersteht: die Frauen wissen das, sagen es, selbst wenn sie eine Art Scham empfinden, darüber zu sprechen, seitdem Freud die weibliche Masturbation »totgeschwiegen« hat. Von der zweiten Hälfte seines Geschlechts sagt man dem Mädchen (falls man überhaupt mit ihm darüber spricht), daß der Mann ihm diesen Teil erschließen wird, wenn es groß ist ... Immer diese Zukunft, immer dieser Mann, der als Erwecker auftreten soll. Erwecker wessen? Von was? Entweder seiner Lust, ihrer Lust? Die Vagina als Ort der gemeinsamen Lust für den Mann und für die Frau? Symbiotischer, psychotischer Ort? Die an den anderen veräußerte Vagina, an das Begehren des anderen, an die Lust des anderen. Die Klitoris, die klitorale Lust - von der anderen abgezogen - ist vielleicht aufrichtiger, weniger verdächtig, nur gespielt zu sein. Fragen, die man sich stellen muß, wenn man von der doppelten Lust der Frau spricht ... Ein Mädchen zu sein bedeutet also in Erwartung zu leben: psychisch das Hoffen auf die Ankunft des Mannes als sexuell entsprechendes Objekt, physisch das angespannte Warten auf Beweise für eine lange verborgen gebliebene Sexualität. Wie aber dann im Augenblick ohne Geschlechtsmerkmale leben, wenn nicht dadurch, daß man die Frau imitiert? Man übernimmt von ihr die hohen Absätze, man beginnt mit dem Schminken, man ahmt die Sprache nach: Man »spielt Dame«, denn es gibt keinen erkennbaren Wert beim kleinen Mädchen, alles ist auf der Seite der »Damen«. Alles, was dem kleinen Mädchen, das von allem so ferngehalten wird, bleibt, ist die Kopie. Während seine Identität verschwiegen und geheimgehalten wird, wird seine Identifikation für alle offensichtlich, und jedermann stößt es in diese Richtung: »Du bist aber eine liebe Mutti!«  »Es ist ja so artig, dein Baby!« Es scheint sogar, daß das Täuschungsmanöver bei gewissen Naturvölkern noch offensichtlicher ist: Die kleinen Mädchen laufen häufig mit absichtlich vorgeschobenen Bäuchen herum, und die vorbeikommenden älteren Frauen berühren sie spielerisch, »schwanger?«, scherzen sie.[2] Die Mystifizierung kommt von außen: man drängt das kleine Mädchen in Richtung Frau. Anstatt anzuerkennen, was das kleine Mädchen an Besonderem. hat, verweist man es lieber auf die Schönheit, die es haben wird, auf die Mutterschaft als Erfüllung, die Ehe als Gesetz. In der ersten Zeit hindert man es, seine Sexualität als kleines Mädchen zu leben, weil es ein »kleiner Engel« sein soll. Was tut ein, Engel? Er wohnt da oben, sehr hoch, im Himmel, als geistiges Wesen, und dementsprechend finden wir das kleine Mädchen bei der »Sublimierung«. Diese »Sublimierung«, die angeblich bei den Frauen so sehr fehlt, ist im Leben des kleinen Mädchens ungeheuer gegenwärtig: Kleine Mädchen zeichnen viel, besser als die Jungen, schreiben viel schönere Gedichte, erdenken viel lebendigere Theaterstücke als die Jungen. Später wird man ihm dann (insbesondere während der Pubertät) einschärfen, daß sein Körper dazu da ist, zu gefallen (der Kult des Körpers als Objekt der Begierde) und daß Mutterschaft das erstrebenswerte Ziel ist. Die zu Frauen gewordenen kleinen Mädchen werden sich auf dieses Ziel hin ausrichten und werden aufhören, zu sublimieren. Der Mann erwartet von der Frau nicht, daß sie mit ihm spricht (seine Mutter hat ihm genug gesagt ... ), aber er erwartet, daß sie »durch ihn« Lust empfindet und daß sie durch seine »Vermittlung« Kinder zur Welt bringt. Er kann mit den Sublimierungen seiner Frau nichts anfangen. Die einzig zugelassene, einzig empfohlene führt zu den Erziehungswissenschaften, zur Psychologie. (Vielleicht zur Psychoanalyse, wer weiß? Die Frau ist ja so erfahren in allem, was sich »Beginn« nennt. . .) Man gibt ihr alles was mit dem Beginn des menschlichen Lebens zu tun hat, alles, was es an Natürlichem gibt, da das ja in ihrem Körper vorprogrammiert ist, und gleichzeitig alles, was man sonst noch an geistig Kastrierendem für sie finden kann. Demnach erscheint nur die Sublimierung, die in den Augen Freuds für die Frau nicht existierte, nicht als weibliche Unfähigkeit, sondern als männliche Untersagung. Es ist der Mann, der der Frau die Sublimierung unmöglich macht, indem er ihr das Kind aufhalst. Das Kind, das ihr ganzes Leben ausfüllen wird, ist ein Privileg, das zur Frustration wird. Sie hat ihre Nase woanders nicht hineinzustecken; woanders sind nämlich der Mann und die Politik, sind die Ideen und die Wissenschaft, die Industrie. Mit einem Wort, die denkende Kraft der Nation. Wir, wir müssen uns an den Körper halten, an den lustspendenden Körper, den leidenden Körper. Nur dort wollen uns die Männer. Mit dem Beginn der Adoleszenz und der Begegnung mit dem Mann geht die »Sublimierung« verloren, denn von da an ist die Frau in ihren Körper eingeschlossen. Es ist eine vollkommene Umkehrung der Werte: Nach zehn oder zwölf Jahren ohne sexualisierten Körper lebt sie eingesperrt in die dreißigjährige Geschichte dieses dann doch sexualisierten Körpers, der das Interesse des anderen auslöst, dieses anderen, den sie so sehr herbeigesehnt hat! Er kommt, aber im Gegensatz zu dem, was sie hoffte, bringt er nicht das Leben, sondern den Tod. Sie wird als Körper existieren, aber sie wird für alles, was den Geist ausmacht, verloren sein, oder sie wird zumindest in große Schwierigkeiten geraten. Lohnt es nicht, einen Moment innezuhalten, anegesichts dieser Art von Leben, das der Mann uns eröffnet? Ich schlage eine beliebige Frauenzeitschrift auf und erkenne sofort die Mauern meines Gefängnisses: der Körper und seine Jugend, das Kochen und sein Gelingen, das Kind und seine Erziehung ... Ich blättere um, ich suche, ich warte ... Was denn" nichts anderes? Nein, das ist die Welt der Frau: Gefangene meines Körpers, Sklavin der Körper der anderen. Der immer störende weibliche Körper, im Anfang allzu abwesend und später allzu gegenwärtig, wo er dann den ganzen Lebensraum der Frau einnimmt. Die Frauen fühlen sich außerstande, das »Zuviel« loszuwerden oder das »Nicht genug« an Weiblichkeit, die ihr Schicksal ist. Sie lavieren ihr ganzes Leben lang hilflos zwischen dem »Zuviel« und dem »Nicht genug«. Oft ist es das »Nicht genug«, das die Oberhand gewinnt, dann wieder zeigt sich der Körper gegenüber dem Geist widersprüchlich, und auf der Couch höre ich dann:

»Wenn man mich ansieht, wenn ein Mann mich beachtet, werde ich dumm, unfähig zu denken, geschweige denn, zu antworten, sogar auf das, wozu er mich ermuntert.«
»Ich bin wie ein Blatt im Wind, Sie wissen ja, ein Blatt hat kein Gewicht ...«
»Meine Kindheit. Nichts. Da war nichts. Ich sehe sie wie etwas ganz Weißes, eine leere Welt.«
»Als kleines Mädchen sehe ich mich nicht, ich glaube, ich zählte nicht; ich erinnere mich an meine Brüder, an meine Mutter, aber ich ...?«

Wie soll man davor die Ohren verschließen, wenn man eine Frau ist? Wie nicht verstehen, daß all dies die Unmöglichkeit zum Ausdruck bringt, ein anderes Existenzniveau zu erreichen als das der Äußerlichkeit? Wie sich nicht daran erinnern, daß beim kleinen Mädchen das Äußere das Innere vertreten mußte, wenn die Frau jetzt offenbart, daß das unzureichende Äußere mit einem leeren Innern zusammenlebt? Wie kann man übersehen, daß es diese so häufig empfundene Leere ist, die die ganze Mutter-Tochter-Beziehung geprägt hat, in der das Begehren fehlte? Nicht-begehrt-Werden ist Nicht-Leben. Ist es nicht das, was uns all die magersüchtigen jungen Mädchen sagen, die sich vom Begehren weg auf den Tod zu bewegen? Warum- wohl wird das Begehren abgelehnt, wenn nicht deshalb, weil es nahezu gewaltsam kommt, als eine ganz und gar ungewohnte Sache im Leben des Mädchens, das an eine von Begehren freie, an eine weiße Beziehung mit allen, Männern und Frauen, gewohnt ist. Das Leben einer Frau ist im Anfang eine weiße Wüste, der eine farbenprächtige Oase folgt. Und in die weiße Wüste kehrt sie auch zurück. Die Frau hat es schwer, so viele gewaltsame Veränderungen ihres Körpers zu verkraften, die sie jedesmal vom Zuwenig ins Zuviel stürzen und umgekehrt. Der Wunsch der Frau, jeder Frau, ist es, so lange wie möglich in dem farbigen Teil ihres Lebens zu verweilen. Der Schrecken, das »Weiß« der Kindheit wiederzufinden, sitzt so tief, daß sie aufgrund ihrer Erlebnisse in der Kindheit alles tun wird, um sich in der farbenreichen »ödipalen.« Position zu behaupten. Das wird sie zwangsläufig mitten ins Begehren des Mannes hinein treiben, der sie beherrschen will; sein phallokratisches Lied wird fortan der Gesang der Sirenen sein, der die Frau in ihr eigenes Verderben zieht. Sehen wir denn nicht, welchen Preis die Frauen für den Verbleib in der Oase zahlen? Sehen wir nicht den bürgerkriegsähnlichen Kampf, der um diesen im Leben des Mädchens zu spät erschienenen Mann tobt? Dieser Kampf wird mit Eifersuchtsanfällen geführt, mit der Eifersucht, die an der Seite der erdrückenden Mutter-Rivalin erprobt wurde und die hier neu durchlebt wird, gegenüber jeder anderen Rivalin, die als Todfeindin erscheint. Während der Junge sich in seiner ödipalen Lebensgeschichte zuerst gegen seinen Vater-Rivalen wendet und dann gegen seine besitzergreifende Mutter, wendet sich das Mädchen nur gegen seine Mutter und dann gegen alle anderen Frauen. »Die Frauen hassen sich«, hat Annie Leclerc gesagt, aber sie hassen sich im Namen der allzu gegenwärtigen Mutter und wegen des Vaters, der in ihrer Kindheit allzu abwesend war und den sie nun nicht mehr verlassen wollen. Auffallend ist der Grad der Idealisierung des »Vaters« durch die Mehrzahl der Frauen im Vergleich zum sehr schlechten Bild von der Mutter, wie auch immer dieser Vater gewesen sein mag. Und wenn dieser Vater aus ersichtlichen Gründen nicht gerühmt werden kann, wird seine Tochter darüber depressiv, suizidgefährdet, denn sie hat keine, auch keine idealisierte Entsprechung zu ihrer Weiblichkeit. Das Fehlen des männlichen Blicks in der Kindheit macht sie zum Sklaven dieses Blicks für den Rest ihrer Tage ... Das fehlende Abbild im Spiegel der Mutter wird die Frau für alle Bilder, die man ihr vorschlägt, aufnahmebereit machen; sie wird sich in alles verkleiden, was man wünscht, wenn man mit ihr dafür das Versteckspiel des Begehrens spielt. Die Frau wird sich immer daran erinnern, wie sie ihre erste Rolle auf der ödipalen Bühne gespielt hat, um ihren Vater doch noch in den Kulissen erscheinen zu lassen, und sie wird immer die Komödie zu spielen wissen, die den Mann aus seiner Neutralität herauslocken wird. Schreckliches Schicksal, jahrelang vom Ödipus ausgeschlossen zu sein; die schrecklichen Folgen davon sind der ungenügende Narzißmus der Frau, ihre fortgesetzten Schuldgefühle gegenüber einer außerhalb von ihr aufgestellten Norm und, wie mir scheint, das Entstehen ihres Über-Ichs, welches viel ernsthafter und zwingender ist als das des Mannes (im Gegensatz zu dem, was Freud behauptet hat). Es kommt aber der Tag, an dem am Körper des Mädchens Veränderungen sichtbar werden, der Tag, an dem ein Junge auf der Straße hinter ihm herpfeift und an dem es fühlt, daß etwas umschlägt, wenn es nicht sogar »seine ganze Person« ist, die dabei untergeht. Außer Atem kommt es zu sich: Wie denn, ist das lange Warten zu Ende? Wird die Wüste sich beleben? Und wird sein kleiner Schatten, der gestern noch ruhig durch die Straßen ging, in die Lichtkegel der Scheinwerfer geraten? Für diesen Körper, der im »Weißen« lebte, wird alles plötzlich so farbenreich, daß das junge Mädchen bis zu den Ohren rot wird: wie soll es bloß damit umgehen? Wie kann es den Übergang von der Gleichgültigkeit zu dem Zuviel an Beachtung möglichst natürlich bewältigen? Während der Pubertät sind zwei Haltungen möglich: Einerseits freut sich das Mädchen außerordentlich, endlich in den Bereich des Begehrens zu gelangen (es ist zwölf oder dreizehn Jahre alt), und es spielt in nicht zu überbietender Weise mit. Es holt die verlorene Zeit nach, es fügt noch hinzu, es kehrt seine Werte heraus, um diesen berühmt-berüchtigten männlichen Blick anzulocken, der ihm wie die Antwort auf seine ewige Frage vorkommt: »Bin ich wirklich eine Frau?« Und wenn es bis hierher alles getan hatte, um Beweise seiner moralischen Übereinstimmung, mit der für das kleine Mädchen festgesetzten Norm zu erbringen - artig, flink, freundlich , so wird es sich jetzt daranmachen, alle die Beweise seiner Übereinstimmung mit dem physischen Modell des jungen Mädchens zu erbringen: nichts und niemand ist intoleranter als das Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, was das physische Aussehen und die Kleidung angeht! Hier bricht sichtbar die Opposition gegen die Mutter aus, denn ihre Tochter will eine Frau sein, aber nicht wie die Mutter, auf keinen Fall! Ihr gegenüber hat sie nur den Unterschied gekannt, und sie hat vor, das fortzusetzen. Die offensichtliche Gleichgeschlechtlichkeit existiert in Wirklichkeit zwischen Mutter und Tochter nicht: Die ehemals besser ausgestattete Mutter, als die »andere Frau« abgelehnt, wird von der Tochter weiterhin abgelehnt, während die körperliche Gleichheit immer deutlicher wird. Nur, die besser Ausgestattete ist jetzt die Tochter. Sie ist es, die man jetzt betrachtet, und die Tochter wird sich um so arroganter zeigen, je mehr sie zukünftig die »Gewinnende« ist. Mit der Gleichgeschlechtlichkeit in der Adoleszenz, die die Mutter mit Wohlwollen als mögliche Annäherung sich entwickeln sah, kann das Mädchen nichts anfangen, und es hält sich die Mutter weiterhin vom Hals, obwohl es sich ihr dem Augenschein nach angenähert hat ... Dieses Sich-ihr-Annähern und Sie-Überholen in der Adoleszenz kehrt den Mutter-Tochter-Konflikt um. »Sie ist boshaft und gemein, wenn Sie wüßten ...«, sagen mir die verzweifelten Mütter. Ja, ich weiß, aber wissen diese Mütter, seit wie langer Zeit ihre Frauenexistenz eine Bedrohung für den kleinen Mädchenkörper war? Nein, das wissen die Mütter nicht, und sie verstehen ebensowenig, daß die Stunde der Abrechnung unter Frauen geschlagen hat und daß sie sich daimit abfinden müssen ... Die, die nicht mehr »ln« ist, ist jetzt die Mutter, und ihre Tochter schämt sich nicht, es sie wissen zu lassen, ja sie sogar als »die Alte« zu behandeln. Sie, sie ist ja auch als »Kleine« behandelt worden ... Sind dies nicht dieselben Begriffe, die von der Dialektik des Begehrens ausschließen? Ist das Begehrenswerte einer Frau nicht auch immer eine Frage des Alters, und ist das Altern nicht das Schreckgespenst in den Augen der Frauen. Frauen, die sich darüber grämen, zu jung zu sein, um dann in Panik zu verfallen, zu alt zu werden ... Den Krieg, den die Mutter mit ihrer kleinen Tochter geführt hat, ohne es zu wissen, wird diese ihr heimzahlen, wenn. sie eine Heranwachsende geworden ist. Sie hat es nie- vergeben können, daß sie den Vater von ihrer Wiege ferngehalten hat. Es ist leider wahr, daß die Mutter den Vater von seiner Tochter fern hielt, weil sie die Baby-Versorgung für sich allein beanspruchte. Wenn die Tochter sich jetzt an den jungen Männern schadlos hält, ist das nicht verwunderlich. Die Tochter scheint besessen von der Vorstellung, daß ihr die Mutter ihr »Objekt« entreißen könnte, sich zwischen sie und ihre Liebe stellen könnte, so wie die Mutter damals zwischen dem Vater und der Tochter stand. Das in das Ödipusstadium eintretende Mädchen hat nur die eine Furcht, seine Mutter könnte es noch einmal daran hindern, zu leben. Deshalb bekämpft es seine Mutter. Jede von uns sollte einmal darüber nachdenken: hat nicht unsere Liebe für die Mutter einen Beigeschmack von »Versöhnung«? Die Versöhnung setzt häufig mit der Verheiratung oder der Geburt des ersten Kindes ein, wenn die junge Frau sich durch die Existenz der Mutter nicht mehr bedroht fühlt. Denn sie ist jetzt selbst Mutter. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit plötzlichen Stillstands, gibt es die Ablehnung jeder Veränderung. Das an die Neutralität gewöhnte Mädchen weigert sich, die mit Geschlechtsattributen geschmückte Arena des Begehrens zu betreten, und es zögert lange, die Farben der »Frau« anzunehmen.[3] Es kleidet sich absichtlich asexuell, indem es alles ablehnt, was es weiblich, machen könnte. Denn das macht ihm angst und beschwört die Möglichkeit herauf, für irgend jemanden in ein Objekt verwandelt zu werden. Manchmal versucht es, seine Brüste flachzudrücken, um zu verhindern, daß sie sich abzeichnen, oder es kleidet sich in wallende Gewänder, damit man seine neuen, fraulichen Formen nicht wahrnimmt. Es hat diese Frau zu sehr gehaßt, um jetzt selbst eine zu werden, es verbannt alle Zeichen der Weiblichkeit, und das kann sich bis zur Magersucht steigern, wenn es sich weigert zu essen und so seinen Körper daran hindert, sich weiterzuentwickeln, Brüste zu bilden, mit der Monatsblutung zu beginnen ... Diese jungen Mädchen zeigen im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen im allgemeinen einen ungleich höheren intellektuellen Entwicklungsstand. Das bedeutet, daß sie sich noch im Stadium der Sublimierung befinden. Die Verlagerug der Libido auf den Körper hat noch nicht stattgefunden. Die Magersüchtige wählt die Einsamkeit, denn sie empfindet sich ganz anders als ihre Altersgenossinnen, in denen sie begehrenswerte junge Mädchen sieht. Sie entscheidet sich gegen das Begehren. Zeigen uns diese jungen Mädchen nicht sehr deutlich, was auf dem Spiel steht, wenn mit dem Erscheinen der Geschlechtsmerkmale die Libido der Frau umgekehrt wird? Dieses Symptom, das nur auf Mädchen zutrifft, muß als Antwort auf eine Dialektik des Wechsels verstanden werden. Der Wechsel wird abgelehnt, weil er eine unannehmbare Identifikation mit der Mutter mit sich brächte. Während der Junge gleichen Alters seine gleichmäßige Entwicklung in Richtung »Männlichkeit« fortsetzt und seit seinem Analkampf mit der Mutter keine entscheidende Wahl mehr zu treffen hatte (dem Kampf um die Befreiung von der mütterlichen Herrschaft, der ihn zum Mann gemacht hat oder auch nicht), erlebt das Mädchen in seinem Leben eine dramatische und verspätete Wahlsituation: »Soll ich oder soll ich nicht die Farben der »Frau« annehmen?« »Die weiße Wüste« hat sich in eine anmutige Landschaft verwandelt, belebt von den Blicken der anderen: Die Einsamkeit des kleinen Mädchens verfliegt mit einem Schlag, es muß den Blicken begegnen, das Begehren ertragen, das Mädchen, das seit seiner Geburt in einer Traumwelt lebte. Es muß in der Gegenwart leben, während es doch nur die Zukunft kannte ... Und einige Jahre später, wenn sie die Arena des Begehrens wieder verläßt, wird es der gleiche, genauso gewaltsame Vorgang sein, der die Frau zwingen wird, in der Vergangenheitsform zu sprechen. Die gleiche Panik wird sich einstellen, die gleiche Ablehnung der Situation: Sie wird die Falten glätten, und sie wird die Haare färben; sie wird ihr Alter verbergen. Dies alles wird plötzlich und heftig vonstatten gehen; das Leben einer Frau hat nichts von der Kontinuität des Lebens ihres Gefährten. Ein Frauenleben ist also immer ein Zuviel oder ein Zuwenig. Nie gibt es ein Gleichgewicht zwischen diesem Körper, dem zuviel oder nicht genug Aufmerksamkeit zuteil wird, und diesem Geist, der einen Ausgleich, eine weiterführende und logische Entwicklung sucht. Dies ist es, was Mütter meinen, wenn sie sagen , ihre Mädchen seien komplizierter als ihre Jungen; es ist aber der weibliche Körper, der komplizierter ist und mehr Probleme macht. Ein ganzes Leben lang.
Es ist Wahnsinn, die Aktivität der Frauen nur auf ihr sexuelles und genitales Leben hin entwerfen zu wollen: dies kann nur zur Diskontinuität, zu einer Zusammenhanglosigkeit führen, die jeder wahren Verwirklichung abträglich ist. Wenn die Verwirklichung der Frau ein Problem darstellt, dann deshalb, weil man versucht hat, ihre Produktion mit der Reproduktion gleichzusetzen, und weil die Frau sich dadurch auf einige aktive Jahre der Reproduktion reduziert sah, gegenüber vielen Jahren voller Langeweile und Verdruß. Ihr an Versprechungen allzu reicher Körper wurde zum Handikap für ihren Geist: der Mann hat ihr die Sublimierung genommen und ihr das Kind zugewiesen. Auf eine kurze Formel gebracht: man hat sich ihres Körpers bedient, um ihren Geist zu verneinen. Dies ist es, was die Frauen gegenwärtig so wütend macht, und deshalb überlegen sie es sich zweimal, bevor sie sich auf die Reproduktion einlassen. Kontinuität-Diskontinuität ist das, was die moderne Frau zerreißt. Sie hat verstanden, daß der Mann, indem er die Wonnen ihres Körpers preist, ihn als Argument benutzt, um ihr den Geist zu nehmen.