Vorwort von Helmut Schmidt

Die Katastrophe, die unser Land mit dem Zweiten Weltkrieg erlebte, bedeutete für viele Deutsche zugleich und in erster Linie Erlösung und Befreiung; denn der 8. Mai 1945 bot bei allem Unglück auch die Chance, sich auf die elementaren Werte menschlichen Zusammenlebens und auf die Menschenwürde zurück zu besinnen, auf die Freiheit und die Humanität gegenüber dem einzelnen Menschen. Nach zwölf Jahren der Unterdrückung erhielten wir erstmals wieder die Möglichkeit, nach moralischer Einsicht zu handeln. Jetzt mußte aber ein neues geistiges und moralisches Fundament für die Deutschen gefunden werden. Das war - neben dem Wiederaufbau der Städte, der Dörfer, der Betriebe und Industrien - die entscheidende Aufgabe, die sich den Überlebenden stellte. Daran haben Politiker und Gewerkschafter, Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler gleichermaßen mitgewirkt.
Albert Einstein hat einmal gesagt: »Das Beispiel großer unantastbarer Persönlichkeiten ist das einzige, was uns zu edlen Gedanken und Taten führen kann.« Einzelne herausragende Menschen haben in der Tat in den letzten vierzig Jahren durch ihr Beispiel und durch ihre Führung dazu beigetragen, daß ein menschenwürdiger, demokratischer und sozialer Rechtsstaat der Deutschen entstehen und daß er sich bewähren konnte - ein Staat, der dem einzelnen Bürger mehr Freiheit und Gerechtigkeit und ein höheres Maß an sozialer Sicherheit gewährt, als es jemals vorher in der deutschen Geschichte gelungen war. Zu denen, die das Entstehen einer neuen demokratischen Kultur nach 1945 ermöglicht haben, gehört Hildegard Hamm-Brücher. In vier Jahrzehnten politischer Aktivität ist sie als Politikerin stets, geistig unabhängig, ihrem eigenen Urteil gefolgt, aufrichtig, verläßlich, standhaft, engagiert und außerdem fleißig. Beharrlich und unermüdlich hat sie vorgelebt, wie man auch gegen den Strom schwimmen muß, wenn man für moralische Demokratie und und für demokratische Kultur kämpfen will. Ich kenne die Autorin dieses Buches seit zwanzig Jahren Zunächst hat mir ihre Rolle im Bayerischen Landtag imponiert, deswegen habe ich die Bekanntschaft mit ihr gesucht. Als sie später in den Bundestag gewählt worden war, sind wir uns vielfältig begegnet.
Als Hildegard Hamm-Brücher Staatsminister im Auswärtigen Amt war, haben wir auf das engste zusammengearbeitet. Am Ende der sozial-liberalen Koalition war ich von ihrer Stellungnahme in der Mitte des Parlaments tief beeindruckt. Insgesamt habe ich an vielen Stationen meines eigenen politischen Lebens Dankbarkeit gegenüber dieser unerschrockenen, tapferen Frau empfunden. Ich weiß, daß ihr viele dankbar sind, viele Frauen zumal und viele jüngere Menschen. Die in diesem Buche gesammelten Beiträge Hildegard Hamm-Brüchers legen Zeugnis ab von einer in ihrer Struktur sehr seltenen Person: Hier sind Verstand und Beredsamkeit, Mitgefühl und Energie eine im Laufe des Lebens entfaltete Verbindung eingegangen, die in der Politik nicht oft anzutreffen ist. Wer diese Beiträge liest, wird vieles finden, das ihn belehrt - aber auch vieles, das ihn inspiriert. Er wird in dem Menschen, der dahinter steht, ein Vorbild finden.

Bonn, im März 1986 
Helmut Schmidt

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Vorwort