Vorwort

Ich möchte nur ein kurzes Vorwort schreiben; dieses soll lediglich dazu dienen, die Bedingungen zu erklären, unter denen die »Memoiren« übersetzt wurden; es sind derer zwei: das Vorhandensein einer bereits einmal überarbeiteten deutschen Übersetzung und die persönlichen Faktoren, die ich als Übersetzer-Laie mitbringe und die meiner Wahrnehmung als Leserin eines Buches in meiner Muttersprache unterliegen.
Die deutsche Übersetzung, die mir als Vorlage diente, heißt »Buch vom Bagno« und wurde 1962 in der DDR veröffentlicht. Dieses Buch enthält nicht nur die »Memoiren«, sondern auch Teile aus anderen Schriften von Louise Michel, die in den Text themenadäquat eingestreut wurden.
Bis auf einige Gedichte, die sich auf den Kampf beziehen, wurden in der DDR-Ausgabe keine Gedichte übersetzt, obgleich sie zahlreich und sehr schön sind. Im allgemeinen ist darin die Tendenz wahrnehmbar, alles Lyrische aus dem Text der »Memoiren« auszuklammern. Dies gilt auch für persönliche Details, die oft am Anfang oder am Ende eines Kapitels im französischen Text standen, und für Wiederholungen, die Louise Michel selbst nicht gescheut hat.
Ein Beispiel für die Selektion der DDR-Ausgabe betrifft die Beschreibung des kaledonischen Waldes, der kaledonischen Pflanzen und Tiere. Die frühere deutsche Ausgabe fand es des Guten genug mit zweieinhalb Seiten dieser Beschreibung, während Louise Michel dazu in Wirklichkeit sieben Seiten brauchte und diese Größenordnung vermutlich noch zu knapp fand, um dem, was sie daran bewegte, gerecht zu werden. Eine solche in der Zoologie wichtige (besonders im Hinblick auf die beliebte Schlußfolgerung auf die menschliche Gattung) und widersprüchliche Beobachtung, wie die des braunen Spinnenweibchens, die das Spinnenmännchen nach der Liebe auffrißt, wurde z.B. in der ersten deutschen Ausgabe vorsichtshalber weggelassen.
Der größte Mangel jedoch und für Louise Michel der vielleicht verräterischste besteht darin, daß die »Memoiren« nach Themen zerlegt und chronologisch geordnet wurden: Kindheit, Schulzeit, Lehrerinnenschule, Lehrerzeit in Paris, Kommune, Prozesse, Reise in die Deportation, Deportation, Rückkehr nach Frankreich. Das ergibt eine starke Verzerrung der »Memoiren« und der stilistischen Art von Louise Michel, die sich gerade dadurch charakterisiert, daß sie schreibt, so wie es ihr einfällt. Louise Michel weist selbst öfter darauf hin, läßt sich jedoch von etwaiger zu erwartender literarischer Kritik nicht beirren.
In Abgrenzung zu dieser deutschen DDR-Ausgabe war ich bemüht, sowohl Stil wie Inhalt von Louise Michels »Memoiren« zu respektieren. Ich habe nicht versucht, im Französischen unverständliche Stellen zu interpretieren und in einen deutschen verständlichen Text umzusetzen. Außerdem ist die schnelle Abwechslung von Präsens und Imperfekt entsprechend dem französischen Text, bis auf einige Stellen, bei denen diese Abwechslung nicht mehr zumutbar war, geblieben.
Weiterhin habe ich mich für eine möglichst wortgetreue Übersetzung der Gedichte entschieden auf Kosten irgendeines zwanghaften Versuchs zu reimen. »Jeder nach seinen Fähigkeiten...« und so überließ ich die Lyrik den Lyrikern.
Wenn ich der Ansicht war, daß die Übersetzung der DDR-Ausgabe nicht ohne Einbußen übertroffen werden konnte (was häufig der Fall war), habe ich sie zum Teil mit geringfügigen Veränderungen übernommen.
Zunächst hatte ich einen recht starken Widerwillen gegenüber einer Übersetzungsarbeit, die ich als langwierig und beschwerlich betrachtete. Was die sprachlichen Hindernisse betrifft, so hat sich das Problem bewahrheitet: in der deutschen Sprache sind - entgegen der französischen - kaum ausgefallene Wortkombinationen möglich, die z.B. eine Atmosphäre verdeutlichen oder ahnen lassen; das gab Anlaß zu einigem Ärger, da die französische Sprache in dieser Hinsicht viel lebendiger und/weil lässiger ist, und ich deswegen im Deutschen von einigen »selbstgebastelten hübschen« Wörterzusammensetzungen ablassen mußte.
Aufgewogen wurden diese Schwierigkeiten dadurch, daß die Übersetzung mir immer mehr Freude bereitete, was zweifellos am Inhalt der »Memoiren« und an der faszinierenden Persönlichkeit von Louise Michel lag.
Im Vorwort der ersten französischen Ausgabe von 1886 (das Buch wurde erst nach fast hundert Jahren in Frankreich zum zweiten Mal veröffentlicht) schrieb der Verleger:

»Für viele Leute und - warum es nicht gestehen? - für die Mehrheit dieser, besonders in der Provinz, ist Louise Michel eine Art Vogelscheuche, ein unbarmherziges Mannweib, eine Menschenfresserin, ein Ungeheuer in menschlicher Gestalt, die bereit ist, Schwert, Feuer, Petroleum und Dynamit zu säen... notfalls würde man sie anklagen, kleine Kinder lebendig aufzufressen...
Das ist die Legende.
Wie unterschiedlich davon ist die Realität:
Diejenigen, die sich ihr zum ersten Mal nähern, sind ganz überrascht, eine sympathische Frau vorzufinden, die eine weiche Stimme und intelligent funkelnde Augen hat und viel Güte ausstrahlt. Sobald man sich mit ihr eine Viertelstunde unterhalten hat, entschwindet jede Vorsicht und jedes Vorurteil: man fühlt sich bezwungen, bezaubert, fasziniert, erobert.«
Claude Acinde Münster, April 1977.
Widmung
MYRIAM!
Myriam! ihrer beider Name:
Meiner Mutter!
Meiner Freundin!
Geh, mein Buch zu den Gräbern, in denen sie ruhen!
Möge sich mein Leben schnell erschöpfen, damit ich bald bei ihnen schlafe!
Und wenn nun meine Tätigkeit zufälligerweise einiges Gute ausrichten sollte,
seid mir dafür nicht dankbar, ihr alle, die ihr nach den Tatsachen urteilt:
ich betäube mich, weiter nichts.
Eine große Langeweile befällt mich. Da ich nichts mehr zu hoffen,
nichts mehr zu fürchten habe, eile ich zu meinem Ziel wie die Menschen,
die den Becher mit der Neige wegwerfen.
LOUISE MICHEL.