Überprüfung der Hypothesen

In den vorangegangenen Abschnitten wurden die wichtigsten Daten unserer Untersuchung zu den einzelnen Variablenkomplexen (abweichendes Verhalten, objektive Situationsbedingungen, subjektive Situationsdefinitionen) dargestellt und interpretiert. Die Beschreibung einzelner Merkmale und Merkmalszusammenhänge diente dabei der Herausarbeitung wesentlicher Züge der Untersuchungsgruppe.

Die Hypothesen, deren Überprüfung Gegenstand dieses Abschnittes ist, geben spezifische Zusammenhänge zwischen den  Variablenkomplexen an. Die Hypothesen besagen, daß Mädchen mit einem bestimmten Rollenleitbild — wir nahmen drei mögliche Orientierungen an: traditionelles Leitbild, emanzipatorisches Leitbild und Konflikt zwischen beiden Leitbildern — wahrscheinlich um so eher eine bestimmte Art abweichenden Verhaltens zeigen, je mehr sie über illegitime und je weniger sie über legitime Mittel verfügen, um leitbildspezifische Ziele zu erreichen. Den Leitbildern haben wir als jeweils wahrscheinlichste Art abweichenden Verhaltens rollenstützende, rollensymbolisierende oer kompensatorische Deliktformen zugeordnet.
Die Frage, ob die Hypothesen bestätigt werden, läßt sich für unsere Untersuchung so formulieren: Können die Aussagen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Deliktformen bei Kenntnis der vorwiegenden Leitbildorientierung als empirisch gültige Aussagen beibehalten werden?

Für einzelne Delikte lassen sich verschiedene Zusammenhänge mit in dieser Untersuchung erhobenen Merkmalen aufzeigen. Sie besitzen eher deskriptiven Charakter.

Eigentumsdelikte im sozialen Nahraum, wie Betrug und Diebstahl bei Bekannten, hängen eng mit der familiären Situation zusammen. So bestehlen Mädchen dann am ehesten Bekannte, wenn sich die Eltern zuhause sehr oft stritten, wenn sie selbst ihren Geschwistern vorgezogen wurden, wenn die Mutter mehr zuhause zu sagen hatte als der Vater — vor allem wenn die Mutter dabei einen qualifizierteren Schulabschluß hat — und wenn sie nicht mehr zuhause bei den Eltern wohnen. Insgesamt bestehlen Mädchen um so eher Bekannte, je stärkere Sozialisationsdefizite sie aufweisen. Der gleiche Zusammenhang läßt sich für Betrug nachweisen, wobei Betrug eher von Mädchen mit Mittlerer Reife und Abitur begangen wird. Betrug wird auch am ehesten von den Mädchen verübt, die in ihrem Verhalten zugleich emanzipatorische wie traditionelle Verhaltensweisen zeigen. Betrug wird auch dann am ehesten begangen, wenn berichtet wird, daß Brüder anders, und zwar in größerer Freiheit erzogen würden. — Über Nacht von zuhause weggeblieben sind häufiger die Mädchen, die nicht in einer vollständigen Elternfamilie aufgewachsen sind, die Auseinandersetzungen mit ihren Eltern hatten und die mehr Geschwister, vor allem Brüder haben. — Schichtspezifische Unterschiede von Mittel- und Unterschichtmädchen sind bei den einzelnen Delikten nicht nachzuweisen. Wenn man die Schichten aber auffächert, zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Kaufhausdiebstahl und Schicht, und zwar in der Weise, daß Kaufhausdiebstahl eher und häufiger vor allem von Mädchen aus der oberen Mittelschicht und aus der unteren Unterschicht begangen wird, auch
Mädchen aus der mittleren Mittelschicht sind stark an Kaufhausdiebstahl beteiligt. Mädchen mit eher emanzipatorischem Verhalten sind zu 86% an Kaufhausdiebstahl beteiligt; hinsichtlich ihrer Zielvorstellungen begehen am wenigsten Kaufhausdiebstähle die Mädchen, die die Mutterrolle zum Ziel haben. Mädchen begehen häufig Kaufhausdiebstähle, wenn ihnen zuhause ein Bruder vorgezogen wurde.

Nun beziehen sich aber die Hypothesen, die oben formuliert worden sind (s. 2.2), nicht auf die Kovarianz isolierter Merkmale; es wurde vielmehr das Bestehen von Zusammenhängen zwischen Variablenkomplexen (Merkmalskombinationen) behauptet; die Fülle von Einzelfakten und Teilbeziehungen muß daher auf Dimensionen zurückgeführt werden, die in spezifischer Wechselwirkung hinreichend erklärend wirken.
Aus der ursprünglichen Stichprobe, deren Gemeinsames in dem Kennzeichen »Mädchen der Altersgruppe 16 bis 22 Jahre« bestand, wurden Untergruppen herauskristallisiert, die sich dadurch auszeichnen, daß die sie bildenden Mitglieder sich bezüglich erklärungsrelevanter Kriterien ähneln. Die Kenntnis solcher relativ homogener Gruppen ist ein wichtiger Schritt bei der Suche nach den konstituierenden Bedingungen abweichenden Verhaltens.
Ein erster Anhaltspunkt für die Bestätigung unserer Hypothesen zeigt sich in der Tatsache, daß wir für den dritten Variablenkomplex Gruppen von Mädchen mit jeweils ähnlichem abweichenden Verhalten im Sinne unserer Hypothesen feststellen konnten: es zeigte sich rollenstützendes, rollensymbolisierendes und kompensatorisches abweichendes Verhalten, wie wir es angenommen hatten (s. 4.5). Wir haben uns dabei auf die aus selbstberichteter und registrierter Delinquenz berechnete tatsächliche Delinquenz bezogen, da selbstberichtete wie registrierte Delinquenz allein sich jeweils nur beschränkt als Indikator für tatsächliche Delinquenz auszuweisen vermochten.

Ebenso konnten wir für den ersten Variablenkomplex, die Orientierung der Mädchen an bestimmten Leitbildern, Gruppen im Sinne unserer Hypothesen ausmachen. Die ursprünglich formulierten drei konnten genauer in fünf Gruppen differenziert werden (s. 6.3): Mädchen mit traditionell-patriarchalischem, traditionell-partnerschaftlichem sowie traditionellem Rollenleitbild mit emanzipatorischen Tendenzen, Mädchen mit emanzipatorischem Leitbild und Mädchen mit Rollenkonflikten.

Zusammenhänge zwischen zwei Variablenkomplexen

Ein weiterer Anhaltspunkt für die Bestätigung unserer Hypothesen ist in verschiedenen Zusammenhängen von jeweils zwei Variablenkomplexen zu sehen, in denen schon die Informationen mehrerer (Einzel-) Merkmale gebündelt vorliegen (vgl. Tabelle 26).
Ein Zusammenhang besteht zwischen tatsächlicher Delinquenz und Rollenleitbild. Rollenstützendes abweichendes Verhalten ist vor allem den Mädchen mit traditionell-patriarchalischem Leitbild zuzuschreiben, während kompensatorisches abweichendes Verhalten sich bei Mädchen findet, die ein traditionelles Leitbild mit emanzipatorischen Tendenzen internalisiert haben.
Mädchen mit starken Sozialisationsdefiziten weisen eher ein kompensatorisches abweichendes Verhalten auf, während bei Mädchen mit rollenstützendem abweichenden Verhalten weniger Sozialisationsdefizite festzustellen sind. Obgleich ein Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Sozialisationsdefiziten besteht, läßt sich jedoch kein Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und tatsächlicher Delinquenz nachweisen.
Ebensowenig besteht eine Beziehung der tatsächlichen Delinquenz mit den Indices »Unzufriedenheit im Beruf« und »unbefriedigende Partnerbeziehung«, hingegen ist dies der Fall mit dem Index »traditionelles und emanzipatorisches Verhalten«, denn Mädchen mit emanzipatorischen Verhaltensweisen neigen eher zu einem rollensymbolisierenden abweichenden Verhalten.
Wir können diesen ersten Schritt zur Hypothesenüberprüfung in zwei Punkten zusammenfassen.

Tabelle 26: Zusammenhänge zwischen Variablenkomplexen zur
Hypothesenüberprüfung

(A) Die Art der tatsächlichen Delinquenz ist abhängig von der Art des Leitbildes:

  • Mädchen mit traditionellem Leitbild (bei patriarchalischer wie bei partnerschaftlicher Ausprägung) zeigen eher rollenstützendes abweichendes Verhalten. Dies war eine Aussage von Hypothese I.
  • Bei emanzipatorischem Leitbild ist am ehesten, gemäß der Annahme in Hypothese II, rollensymbolisierendes abweichendes Verhalten festzustellen; desgleichen aber auch im Falle von Rollenkonflikten.
  • Das in Hypothese III definierte kompensatorische abweichende Verhalten wurde empirisch eher bei den Mädchen nachgewiesen, deren traditionelles Leitbild emanzipatorische Tendenzen aufweist.

Dies läßt im übrigen darauf schließen, daß in der von uns als traditionell mit emanzipatorischen Tendenzen bezeichneten Gruppe eher Rollenkonflikte zu vermuten sind, während die Gruppe derer, denen
wir Rollenkonflikte zuschrieben, eher zu der Gruppe mit überwiegenden emanzipatorischen Tendenzen gehört.

(B) Die Art der tatsächlichen Delinquenz ist abhängig von der geringeren Verfügbarkeit legitimer Mittel im Vergleich zur Verfügbarkeit illegitimer Mittel:

  • Besonders deutlich zeigen kompensatorisches und rollensymbolisierendes Verhalten (Hypothesen II und III) die Mädchen, bei denen starke Sozialisationsdefizite vorliegen. Sind diese jedoch gering ausgeprägt, findet man eher rollenstützendes abweichendes Verhalten.
    Dies bestätigt die Annahmen in den Hypothesen II und III, daß defizitäre Sozialisationsbedingungen eine Verfügbarkeit illegitimer Mittel erhöhen wie auch die Verfügbarkeit legitimer Mittel einschränken. Entgegen der Annahme von Hypothese I ergibt sich jedoch, daß Mädchen mit stark traditionellem Leitbild, die rollenstützendes abweichendes Verhalten zeigen, kaum Sozialisationsdefizite aufweisen.

Zusammenhänge zwischen drei Variablenkomplexen

Im zweiten Schritt zur Hypothesenüberprüfung können jeweils mehr als zwei Variablenkomplexe zueinander in Beziehung gesetzt werden, so daß sich weitere Erklärungsaspekte ergeben. Im Sinne der in Abschnitt 3.4 geschilderten Beziehungsmöglichkeiten zwischen Variablen erlaubt die Einführung einer dritten oder weiterer Variablen die Validierung signifikanter Zweierbezüge oder deren Auflösung, das heißt der Rückführung eines festgestellten Zusammenhangs auf den Einfluß der zusätzlich berücksichtigten Variablen.[1]

Durch Vergleich der Art des Rollenleitbildes und der Art der Delinquenz mit einem Index für das Fehlen legitimer Mittel zeigt sich, daß die oben angeführten Interpretationen gültig bleiben. Hinzu kommt, daß wir nun die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Variablen feststellen können.

Mit einer Zufallswahrscheinlichkeit von p = 0.02 sind die Art des abweichenden Verhaltens, die Art des Rollenleitbildes und die Ausprägung von Unzufriedenheit im Beruf voneinander abhängig. Starke bis mittlere Unzufriedenheit im Beruf bedeutet das Fehlen legitimer Mittel sowohl in bezug auf das eher emanzipatorische wie das traditionelle Leitbild bei Vorliegen von entsprechendem abweichenden
Verhalten, während geringe Unzufriedenheit im Beruf auf Rollenkonflikte (traditionelles Leitbild mit emanzipatorischen Tendenzen) hinweist, bei vorliegendem kompensatorischen abweichenden Verhalten. Es lassen sich also folgende Zusammenhänge feststellen:

  • eher traditionelles Leitbild — starke Unzufriedenheit im Beruf — rollenstützendes abweichendes Verhalten (Hypothese I),
  • eher emanzipatorisches Leitbild — starke Unzufriedenheit im Beruf — rollensymbolisierendes abweichendes Verhalten (Hypothese II),
  • Konflikte zwischen beiden Leitbildern — kaum Unzufriedenheit im Beruf — kompensatorisches abweichendes Verhalten (Hypothese III).

Starke Unzufriedenheit im Beruf ist daher ein Indiz für

  • a)  Nichterreichen beruflicher Ziele (emanzipatorisches Leitbild) — vermutlich aufgrund sozialer Benachteiligung;
  • b)  Nichterreichen familienbezogener Ziele (traditionelles Leitbild), da in diesem Fall eine Berufstätigkeit als solche von vornherein unbefriedigend bleibt, jedoch zur Existenzsicherung aufgenommen werden muß.

Wieso jedoch geringe Unzufriedenheit im Beruf bei Vorliegen von Rollenkonflikten und kompensatorischem abweichenden Verhalten geäußert wird, kann nur unzureichend und vorläufig durch eine Art Vermeidungsstrategie erklärt werden. Die soziale Erwünschtheit beruflicher Zufriedenheit dürfte der Anlaß zum Negieren von Unzulänglichkeiten im Beruf sein, um somit zusätzlich zum Rollenkonflikt belastende Konfliktpotentiale auszuschalten.

Die Indices »Unbefriedigende Partnerbeziehung« und »Traditionelles und emanzipatorisches Verhalten« erwiesen sich als Hinweise auf fehlende legitime Mittel weniger geeignet. Unsere Ergebnisse lassen vermuten, daß der Index »Unbefriedigende Partnerbeziehung« nicht genügend differenziert, während mit dem Index »Traditionelles und emanzipatorisches Verhalten« weniger Verhaltensweisen als Einstellungen erfaßt werden.

Ein bedeutsamer Zusammenhang läßt sich — wiewohl zwischen tatsächlicher Delinquenz und Schicht direkt kein Zusammenhang besteht — zwischen Schichtzugehörigkeit, Art der Leitbilder und Art der Delinquenz nachweisen (p = 0.02).

Folgende Variablenzusammenhänge treten signifikant häufiger auf:

  • Unterschicht — traditionelles Leitbild patriarchalischer Prägung — rollenstützendes abweichendes Verhalten (Hypothese I)
  • Unterschicht — traditionelles Leitbild partnerschaftlicher Prägung — rollenstützendes abweichendes Verhalten (Hypothese I)
  • Mittelschicht — emanzipatorisches Leitbild — rollensymbolisierendes abweichendes Verhalten (Hypothese II)
  • Mittelschicht — Rollenkonflikte — rollensymbolisierendes abweichendes Verhalten (Hypothese II)
  • Unterschicht — traditionelles Leitbild mit emanzipatorischen Lendenzen — kompensatorisches abweichendes Verhalten (Hypothese III)
  • Mittelschicht — traditionelles Leitbild mit emanzipatorischen Tendenzen — kompensatorisches abweichendes Verhalten (Hypothese III).

Aus diesen Zusammenhängen wird ersichtlich, daß die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht in je unterschiedlicher Art legitime Mittel zur Erreichung spezifischer Ziele einschränkt bzw. zur Verfügung stellt. Die Art abweichenden Verhaltens ist dann durch die schichtspezifisch geprägten Rollenleitbilder bedingt, nicht jedoch durch die Schichtzugehörigkeit selbst.

Zusammenfassung

Alle festgestellten Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Variablenkomplexen bestätigen im wesentlichen die in unseren Hypothesen gemachten Annahmen.

Verändert werden muß aufgrund unserer Ergebnisse die folgende in Hypothese I gemachte Annahme: Legitime Mittel stehen Mädchen dieser Gruppe weniger aufgrund von Sozialisationsdefiziten, sondern eher aufgrund sozialstruktureller Bedingungen nicht zur Verfügung. Das traditionelle Ziel kann dann nicht als verwirklicht angesehen werden, wenn zur Sicherung des Lebensunterhalts eine abgelehnte Erwerbstätigkeit dennoch ausgeübt werden muß.

Daß anhand der tatsächlichen Delinquenz bei über der Hälfte der Mädchen eher kompensatorisches abweichendes Verhalten bei Vorliegen von traditionellem Leitbild mit emanzipatorischen Tendenzen (Rollenkonflikte; Hypothese III) festgestellt werden konnte, mag im Sinne unserer Annahmen auf stärkere emanzipatorische Tendenzen bei Mädchen allgemein schließen lassen — stärker als nach dem
vorherrschenden Geschlechtsrollenstereotyp zu vermuten wäre. Die damit verbundenen Ziele jedoch sind aufgrund sozialstruktureller Bedingungen nur schwer zu verwirklichen, so daß bei weiterer Zunahme emanzipatorischer Tendenzen auf Zunahme bestimmter abweichender Verhaltensweisen
geschlossen werden kann.
Wesentlich bleibt festzuhalten, daß die Art des abweichenden Verhaltens durch die Art des Rollenleitbildes geprägt wird; entscheidend ist die sozialstrukturell bedingte Einschränkung der Verfügbarkeit legitimer Mittel im Vergleich zur Erhöhung der Verfügbarkeit illegitimer Mittel — wie in den Hypothesen formuliert.

Insgesamt hat sich das in den Thesen entwickelte theoretische Konzept als fruchtbares Erklärungsmodell abweichenden Verhaltens von Mädchen erweisen können. Welche weitere Bedeutung einige Ergebnisse dieser Untersuchung haben mögen, sei im folgenden letzten Abschnitt zu interpretieren versucht. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die Tatsache zu richten sein, daß alle Mädchen in irgendeiner Weise als delinquenzbelastet gelten können, jedoch vermehrt Mädchen aus der Unterschicht diesbezüglich der Polizei bekannt werden.