Theoretische Annahmen und Hypothesen über den Gegenstand der Untersuchung: »Kriminelle« Mädchen

Die Erhebung empirischen Materials kann nur unter ausdrücklichem Bezug auf ein theoretisches Konzept erfolgen, denn nur dann wird die Abhängigkeit von zufälligen Einsichten und unsystematischen Intuitionen vermieden. Hier geht es darum, ein theoretisches Konzept der Erklärung abweichenden Verhaltens weiblicher Jugendlicher auf der Grundlage eines allgemeinen handlungstheoretischen Konzepts zu entwickeln, das einerseits die Entstehung abweichenden Verhaltens und andererseits auch seine speziellen Erscheinungsformen erklärt. Dabei versuche ich, sowohl aus vorliegenden Theorien abweichenden Verhaltens als auch aus allgemeineren soziologischen und psychologischen Theoriekonzepten Ansätze für ein fruchtbares Erklärungsmodell der speziellen Problematik dieser Arbeit zu entwickeln. Es würde zu weit führen, sich hier eingehend mit den einzelnen Theorien auseinanderzusetzen — dazu sei auch auf die neuere kriminologische Literatur verwiesen (Cohen 1970; Matza 1973; Moser 1970; Opp 1968; Sack/König 1968) —, sondern ich beschränke mich darauf, die theoretischen Ansätze darzustellen, auf die ich mich bei der Entwicklung der Forschungshypothesen beziehe. So habe ich, unter Verwendung der Begriffssprache des symbolischen Interaktionismus und der Anomietheorie, zehn aufeinander bezogene theoretische Annahmen — hier Thesen genannt — in drei Thesenkomplexen zur Erklärung abweichenden Verhaltens von Mädchen formuliert, die ich im folgenden erläutern werde. Der erste Komplex befaßt sich mit dem sozialen Verhalten allgemein, der zweite Komplex bezieht sich auf die Entstehung abweichenden Verhaltens im allgemeinen, und der dritte Thesenkomplex zielt auf die speziellen Erscheinungsformen abweichenden Verhaltens von Mädchen ab. Auf der Grundlage dieser Thesen werden dann die spezifizierten Hypothesen entwickelt,die in dieser Untersuchung überprüft werden sollen.

2.1  Theoretische Annahmen: soziales Verhalten und abweichendes Verhalten von Mädchen

Annahmen zur Genese sozialen Verhaltens

Ziel des Abschnittes ist nicht eine allgemeine handlungstheoretische Grundlegung, sondern es sollen zwei Postulate über den Erwerb von Verhaltenszielen und über den Erwerb von Mitteln zu ihrer Realisierung eingeführt werden. Sie sind als Voraussetzung für die im nächsten Abschnitt gemachten Annahmen zu verstehen.[1]

Wenn man davon ausgeht, daß abweichendes Verhalten eine Form sozialen Verhaltens ist, so ist zunächst nach den allgemeinen Bedingungen sozialen Verhaltens oder Handelns zu fragen. Die von Cohen (1970) aufgestellte These, daß alles Handeln das Ergebnis von andauernden Bemühungen ist, Probleme der Anpassung zu lösen, liegt auch anderen Theorien zugrunde, wenngleich dort andere Begriffe verwandt werden: Soziales Verhalten ist sinnvoll am Handeln anderer orientiert (Weber), es ist auf Situationsbewältigung ausgerichtet (Thomas). Für Merton stellt sich soziales Verhalten als die Lösung eines Ziel-Mittel-Problems dar. Die Anpassungsprobleme — davon gehen diese Ansätze aus — sind sozial bedingt.

»Die Struktur des gesamtgesellschaftlichen Systems, seine Kultur und seine soziale Organisation lassen demnach für Menschen in jeder Position im Rahmen des Systems charakteristische Anpassungsprobleme entstehen und geben ihnen — in ausreichendem oder unzureichendem Ausmaß — Mittel an die Hand, um diese Probleme zu lösen« (Cohen 1970, S. 185).

Alles Handeln ist gelernt. Die von dem Konzept des symbolischen Interaktionismus ausgehenden Grundannahmen besagen, daß soziales Verhalten in einem Prozeß symbolischer Interaktion, d.h. Kommunikation mittels verbaler und nonverbaler Symbole, mit anderen Menschen erlernt wird. Man lernt durch Interaktion, wie Objekte zu bezeichnen sind und welche Erwartungen an das eigene Verhalten gegenüber diesen Objekten bestehen. Übereinstimmende Bedeutungen, die wiederum Symbolen und Symbolsystemen zukommen, entstehen durch die wechselseitige Antizipation der Rolle des anderen, woraufhin jeweils das eigene Verhalten korrigiert werden kann.

1. These:
Soziales Verhalten hat problemlösenden Charakter; es ist bewußt oder unbewußt zielorientiertes Verhalten und auf Situationsbewältigung ausgerichtet; Muster für adäquates Problemlösungsverhalten werden in einem Prozeß der Interaktion mit anderen Menschen erworben.

Jede individuelle Handlung ist das Resultat der Wechselwirkung von objektiven Bedingungen und individueller Entwicklung des betreffenden Mitgliedes der Gesellschaft. Die Verbindung zwischen sozialen Definitionen und psychischen Mechanismen wird begrifflich als Selbstbild bezeichnet. Das Selbstbild ist das Produkt der Definitionen, die andere über mich machen, und solchen, die ich mache, um Erwartungen der anderen zu entsprechen. Das Selbstbild entsteht nach Mead in der Interaktion dadurch, daß man die Rolle des anderen übernimmt, sich in seine Rolle versetzt und sich selbst von dieser Position her definiert und bewertet. Aus vielen solchen Rollenübernahmen und Selbstdefinitionen ergeben sich ein generalisiertes Selbstbild und ein »verallgemeinerter Anderer«, der so als soziale Kontrolle wirksam wird, indem das eigene Verhalten aus der Sicht des verallgemeinerten Anderen interpretiert wird (vgl. Mead 1968, S. 196, 198).
Nun muß man wohl den Ansatz Meads insofern erweitern, als die Definition des eigenen Selbstbildes nicht ausschließlich von den Definitionen der Partner in konkreten Interaktionssituationen bestimmt wird, sondern in starkem Maße auch dadurch, daß der einzelne sich an relevanten Bezugspersonen oder -gruppen so orientiert, daß sie sein Verhalten direkt oder indirekt mitbestimmen, ohne jedoch mit ihnen direkt zu interagieren. »Die Orientierung kann erfolgen durch Vergleich des einzelnen mit den Situations- und Verhaltensstandards anderer (komparative Bezugsgruppe) oder durch Befolgung der von diesen anderen verbindlich gemachten Normen (normative Bezugsgruppen)« (Neidhardt 1970, S. 27). Es geschieht dies durch Internalisierung der Erwartungen der jeweiligen Bezugsgruppe in einer spezifischen Situation. Wenn die Erwartungen durch eine bestimmte Position strukturiert sind, bezeichnen sie eine Rolle.

Der Prozeß der Rollenübernahme und der Entwicklung eines Selbstbildes oder einer Identität, benannt als Sozialisationsprozeß, verläuft in je besonderen Interaktionszusammenhängen.

»Die Möglichkeiten der Identitätsbildung hängen in jeder Phase von der jeweiligen sozialen Umgebung des Menschen ab. Die antizipierenden Kindheitsidentifikationen und die realen Rollenidentifikationen des späteren Lebens bestimmen sich nach dem Angebot und den Erwartungen der je anderen Bezugspersonen und -gruppen, deren Interaktionszusammenhänge ein spezifisches Lernmilieu darstellen. Dieses Lernmilieu wechselt im Laufe des individuellen Lebens und mit ihm das Selbstverständnis der Person. ... Die jeweils neu und andersartig interpretierte Zukunft verändert auch die Interpretation der Vergangenheit, beide zusammen beeinflussen die Ich-Identität und ihre Situationsdefinitionen« (Dreitzel 1968, S. 267).

Daß soziales Verhalten ohne die in ihm wirkenden Vergangenheits- und Zukunftsbezüge nicht zu erklären ist, hat schon W.I. Thomas gesehen:

»… soziale Situationen wiederholen sich niemals spontan, jede Situation ist mehr oder weniger neu, denn jede enthält eine neue Kombination menschlicher Handlungen. Der einzelne findet nicht von selbst fertige Situationen, die früheren Situationen genau gleichen; er muß bewußt jede Situation als einer früheren Situation ähnlich definieren, wenn er auf sie dieselbe Lösung anwenden will, die er auf jene früheren Situationen angewandt hat. ... Um die soziale Wirklichkeit für seine Bedürfnisse zu kontrollieren, muß der einzelne nicht eine Reihe von einheitlichen Reaktionen entwickeln, sondern allgemeine Situationsmuster; seine Lebensorganisation ist ein Bestand von Regeln für bestimmte Situationen...« (Thomas 1965, S. 214).

Dabei erübrigen es jedoch eingefahrene Bedeutungen, daß jede Situation Schritt für Schritt neu definiert werden muß. Der von Thomas geprägte Begriff der Definition der Situation meint das subjektive Moment der Situation. Thomas hat damit nicht, wie ihm oftmals unterstellt wird (z.B. Dreitzel 1968, S. f 75), den Akzent der Analyse sozialen Verhaltens so weit auf die subjektive Situationsdefinition verschoben, daß die objektiven Bedingungen, unter denen der einzelne jeweils handelt, außer Sicht geraten sind, sondern er hat auf die — häufig vernachlässigte — Bedeutung subjektiver Situationsinterpretation für das soziale Verhalten hingewiesen, wozu die von ihm hinlänglich bekannte Formulierung noch einmal zitiert sei: »Wenn die Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real« (Thomas 1965, S. 114). Situation ist bei Thomas »der Bestand von Werten und Einstellungen, mit denen sich der einzelne oder die Gruppe in einem Handlungsvorgang beschäftigen muß und die den Bezug für die Planung dieser Handlung und die Bewertung ihrer Ergebnisse darstellt« (Thomas 1965, S. 84).
Damit stellt sich die Frage nach den Verhaltenszielen, die gleichermaßen durch den Sozialisationsprozeß vermittelt werden, da sie Teile des entstandenen Verhaltensmusters sind und die Wahl von Handlungsalternativen beeinflussen. Mit der Definition der eigenen Situation und damit des Selbstbildes sind also die Definitionen bestimmter Ziele oder Werte[2] ebenfalls von den Erwartungen bestimmter Bezugsgruppen oder Sozialisationsträger abhängig. Auf diesem Hintergrund kann die zweite These so formuliert werden:

2. These:
Verhaltensziele sind definiert durch die Erwartungen, die von verschiedenen Sozialisationsträgern an das Individuum herangetragen werden, auf deren Erfüllung gedrungen wird und die in einem  Vorgang der Internalisierung zu eigenen Erwartungen des Individuums an sich selbst werden.
Damit sind die beiden Grundannahmen sozialen Handelns, von denen ich ausgehe, benannt: Erwerb von Mustern für Problemlösungsverhalten (Mittel) und Verhaltenszielen.

Annahmen zur Genese abweichenden Verhaltens

In diesem Abschnitt werden einige theoretische Annahmen formuliert, die anhand unterschiedlicher Theorien abweichenden Verhaltens eingeführt werden. Eine »selektive Rezeption« erscheint in unserem Zusammenhang legitim, da die jeweiligen Theorien kaum als ganze stringenten Prüfungen ausgesetzt worden sind.
Nach Mertons bekannter Anomiethese, die auf Durkheim zurückgeht, resultiert der Druck zu abweichendem Verhalten aus einem Zustand der Gesellschaft, in dem auf der einen Seite bestimmte Erfolgsziele stark betont werden, auf der anderen Seite aber für bestimmte Bevölkerungsgruppen die legitimen Mittel zur Erreichung dieser Ziele strukturell nicht gegeben sind. Oder — um die eingeführte Terminologie aufzunehmen —: es besteht eine handlungsrelevante Diskrepanz zwischen Verhaltenszielen und Problemlösungs- oder Verhaltensmustern, welche das Individuum erworben hat.
Dabei ist zu beachten, daß der hier von Merton verwandte Begriff »Mittel« nicht nur das gelernte Problemlösungsverhalten umfaßt, sondern auch die materielle Basis, auf der Verhalten sich entfalten kann. »Über Mittel verfügen können« meint immer beides: adäquate Verhaltensweisen gelernt zu haben (habituelle Ebene) und hinreichende sozioökonomische Möglichkeiten zu besitzen, sie auch in Interaktionen einsetzen zu können (sozialstrukturelle Ebene).

»Nur wenn das kulturelle Wertesystem bestimmte gemeinsame Erfolgsziele für die ganze Bevölkerung über alle übrigen Ziele setzt, während die Sozialstruktur für einen großen Teil dieser Bevölkerung den Zugang zu den gebilligten Mitteln zum Erreichen dieser Ziele entscheidend einengt oder sogar völlig verwehrt, haben wir abweichendes Verhalten in größerem Umfange zu erwarten« (Merton 1957, S. 298).

Dabei ist die Trennung zwischen Ziel und Mittel nur eine analytische, wie das auch Friedrichs (1968, S. 88) feststellt: »Gerade das aber ist relevant für den Zielbegriff: Ziele werden zu Mitteln, Mittel zu Zielen. Nicht nur können Mittel des einen Akteurs (z.B. Besitz) für einen anderen Ziele sein, sondern auch innerhalb eines Handlungszusammenhanges treten Umschläge auf, Ziele sind dann selbst Mittel zu anderen Zielen.«
Dies bedeutet, daß einerseits wohl bestimmte Erfolgsziele für eine ganze Bevölkerung gelten, ohne daß diese als Ergebnis einer rational-demokratischen Konsensfindung zu interpretieren sind.

»Was von den Angehörigen einer Kultur als erstrebenswertes Lebensziel angesehen wird, was sie in Bewegung setzt, was sie veranlaßt, Mühe, Versagungen und Anstrengungen auf sich zu nehmen, das sind die in der Gesellschaft als >Lebenserfolg< definierten Ziele. Diese werden von denen definiert, die die Herrengewalt an den entscheidenden Produktionsmitteln haben und die damit auch über jene Apparate verfügen, die diese Erfolgsziele verkünden, verbreiten und allgemein durchsetzen können« (Gottschalch 1971, S. 168).

So leitet Merton aus der Geltung des gemeinsamen Erfolgszieles wirtschaftlicher Erfolg einen verstärkten Druck zu abweichendem Verhalten auf die unteren Schichten ab, denen die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel verwehrt wird.

Auf der anderen Seite kann man wohl davon ausgehen, daß für verschiedene Bevölkerungsgruppen zusätzlich unterschiedliche Erfolgsziele erstrebenswert sind. So muß z.B. ein Arbeiter, bedingt durch seine ökonomische Lage, sein Bestreben primär auf die Steigerung von Lohneinkommen richten, während Angehörige der Mittelschicht, abhängig vom Grad schon vorhandenen Besitzes oder sicher garantierten Einkommens, eher Werte der persönlichen Befriedigung in den Vordergrund stellen können. Unabhängig 26 von der gruppenmäßigen Unterschiedlichkeit alternativer Zielsetzungen können jeweils Diskrepanzen zwischen Zielen und Mitteln entstehen. »Generell ließe sich also sagen, daß jedes Ziel, das in der Kultur einer Gruppe übersteigert und nur wenig eingeschränkt wird, zu einer Vernachlässigung der institutionellen Mittel und damit zur Anomie führt« (Merton 1957, S. 308). Das heißt, der Druck zu abweichendem Verhalten ist um so größer, je mehr einerseits bestimmte Ziele sozialen Erfolges überbewertet werden und je weniger andererseits Realisierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (sowohl auf der sozialstrukturellen als auch auf der habituellen Ebene).
Cloward (1959) führt Mertons Ansatz weiter: Eine Person wird am ehesten delinquent, wenn legitime Mittel zur Erreichung wünschenswerter Ziele ihr verschlossen und illegitime Mittel offen sind. Demnach sind in einer Gesellschaft nicht nur die Zugangschancen zu legitimen Mitteln unterschiedlich verteilt, sondern auch ebenso die zu illegitimen Mitteln. Merton hatte demgegenüber unterstellt, daß bei einer Einschränkung der Zugangschancen zu legitimen Mitteln illegitime Mittel für jeden gleichermaßen zur Verfügung ständen. Mit dieser Erweiterung der Theorie Mertons, die Merton selbst auch später akzeptierte, haben Cloward und Ohlin (1961) Teilaspekte der Theorien von Sutherland (1968), Shaw und McKay (1942) und Kobrin (1951) eingebracht und eine Theorie der »differential opportunity" formuliert: Wenn einem Individuum die legitimen Zugangschancen zu einem Ziel verwehrt werden, dann wird sein abweichendes Verhalten von der Verfügbarkeit illegitimer Mittel abhängen. Daraus ergibt sich die folgende These:

3. These:
Abweichendes Verhalten als Anwendung illegitimer Mittel zur Erreichung sozial erwünschter Ziele ist um so wahrscheinlicher, je mehr der Zugang zu legitimen Mitteln verhindert oder erschwert und je mehr der Zugang zu illegitimen Mitteln erleichtert wird.

Nun ist zwar die gesellschaftliche Erzeugung von Devianzdruck auf bestimmte soziale Gruppen eine notwendige Bedingung für die Entstehung abweichenden Verhaltens — unabhängig davon, wodurch dieser Druck erzeugt wird —, diese Bedingung verdeutlicht jedoch nicht hinreichend, unter welchen Umständen es tatsächlich zu abweichendem Verhalten kommt. Fragen wir daher, wann der Zugang zu legitimen Mitteln erschwert und der Zugang zu illegitimen Mitteln erleichtert wird. Nach Sutherlands Theorie der 27 »differential association« (1960, 1968) wird ein Mensch delinquent, weil für ihn die Definitionen, die Normverletzung begünstigen, gegenüber den Definitionen, die sie als unvorteilhaft erscheinen lassen, überwiegen. Jeder Mensch kommt mit beiden Arten von Definitionen in Kontakt, denn jede Gesellschaft enthält gegensätzliche soziale Definitionen der gleichen Verhaltensweisen. Dabei ist das Auftreten eines bestimmten abweichenden Verhaltens davon abhängig, wie in einer Gesellschaft oder Gruppe die Assoziation mit Mustern abweichenden oder Mustern konformen Verhaltens unterstützt wird. So liegt — auf der habituellen Ebene — eine Erschwerung des Zugangs zu legitimen Mitteln dann vor, wenn der einzelne Ziele internalisiert hat, deren Realisierungsmöglichkeiten er aufgrund seiner sozialen Situation nicht hat erlernen können.
Erleichtert wird der Zugang zu illegitimen Mitteln dann, wenn Auswege abweichenden Verhaltens angeboten werden, diese Ziele dennoch zu realisieren — sei es unter anderem auf dem Wege der Identifikation mit Personen, von deren Blickpunkt aus deviantes Verhalten akzeptabel erscheint (Glasers Theorie der »differential identification« 1956; vgl. auch die Theorien der devianten Subkultur) — sei es aufgrund erlernter Neutralisationstechniken (Sykes/ Matza 1957) zur Kompensierung der Schuldgefühle, die mit devianten Akten verbunden sein können. Daneben ist der Druck zu abweichendem Verhalten von der Intensität der Wahrnehmung der blockierten Zugangschancen zu legitimen Mitteln abhängig, wie Merton andeutet (vgl. Moser 1970, S. 58).

4. These:
Die Anwendung legitimer Mittel zur Erreichung wünschenswerter Ziele wird erschwert und der Zugang zu illegitimen Mitteln erleichtert, wenn das Individuum seine Situation anders als im Sinne der herrschenden Normen definiert: die erworbenen  Verhaltensziele (These 2) werden beibehalten, die Problemlösungsmuster (These 1) jedoch »innovativ« (Merton) verändert.

Individuelle Möglichkeiten solcher Veränderung hängen von Entwicklungen auf der sozialstrukturellen Ebene ab. Ist im Zuge zunehmender Arbeitsteiligkeit eine weitgehende differenzierte Verteilung von Wissen[3] in einer Gesellschaft entstanden, so steigt die Wahrscheinlichkeit des Mißlingens sozial erwünschter Sozialisation. Als Träger unterschiedlichen Wissens können die verschiedenen Sozialisationsinstanzen verschiedene Sichtweisen der Wirklichkeit entwickeln, die als widersprüchliche Anforderungsmuster im Sozialisationsprozeß erscheinen. Solange unterschiedliche Perspektiven derselben Wirklichkeit allein auf den individuellen Unterschieden der Bezugspersonen beruhen, mag das kaum Konsequenzen für das Gelingen oder Mißlingen von Sozialisation haben. So wird ja z.B. mit der Vermittlung männlicher und weiblicher Versionen der Wirklichkeit zugleich auch deren gesellschaftliche Anerkennung mitgeliefert. Sind aber unterschiedliche Sichtweisen der Sozialisationsträger abhängig von der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen, die unterschiedlich privilegiert sind, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit erfolgloser Sozialisation. Die Übernahme eines bestimmten Sozialisationsmusters ist dann »falsch«, wenn die Gruppe mit dem Angebot alternativer Sozialisationsmuster in einer gesellschaftlich mächtigeren Position ist und damit stärkere Sanktionspotentiale ins Feld führen kann (vgl. Berger/Luckmann 1971, S. 179).
Trotz der widersprüchlichen Erwartungen der verschiedenen Sozialisationsträger kommt es nur relativ selten dazu, daraus resultierende Konflikte in eine aktive Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen umzusetzen, sondern es werden Auswege des abweichenden Verhaltens zur Konfliktbewältigung angeboten, die das herrschende Wertsystem (allgemeine Erfolgs- und Verhaltensziele) nicht gefährden. »Mertons Typen individueller Anpassung: Konformität, Innovation, Ritualismus, Weltflucht und Rebellion stellen, mit Ausnahme des letzten Typs (der auf deutlich anderer analytischer Ebene liegt), konfliktscheue Verhaltensweisen zur Auswahl, die als Vorlage für die Definition von elastischen Rollenerwartungen in Organisationen, die sich keine Konflikte leisten wollen, dienen können« (Krysmanski 1971, S. 125).

5. These:
Eine veränderte Definition oder eine Neudefinition der Situation, aus der heraus abweichende Problemlösungsmuster entwickelt werden können, wird von dem Individuum um so eher vorgenommen werden, je mehr es die unterschiedlichen, sich oft gegenseitig ausschließenden Erwartungen relevanter Bezugsgruppen wahrnimmt und ihre Diskrepanzen als Ziel-Mittel-Konflikt interpretiert.

Annahmen zur Genese abweichenden Verhaltens bei Mädchen

Für die Fragestellung dieser Untersuchung, in der es um die Bedingungen für Entstehung, Art und Ausmaß speziell des abweichenden Verhaltens von Mädchen geht, sollen nun weitere Thesen entwickelt werden, die sich auf die bisherigen stützen. Bezogen auf die vorhergehende These behandeln wir zunächst die unterschiedlichen Erwartungen, die an Mädchen herangetragen werden.
Die Erwartungen der Gesellschaft gegenüber ihren weiblichen Mitgliedern sind dadurch gekennzeichnet, daß sie von vornherein eine Geschlechtsrollenpolarisation implizieren. Diese Polarisation begann mit der historischen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, die der Frau die Verantwortung für Haus und Kinder übertrug, während der Mann für die Beschaffung der Nahrung zu sorgen hatte. Das Schlagwort »Unterdrückung der Frau« meint diesen Zusammenhang zwischen fortschreitender gesamtgesellschaftlicher Arbeitsteilung, unterschiedlicher Bewertung der Relevanz von Tätigkeitsbereichen und der Entwicklung geschlechtsspezifischer Rollenmodelle. Das Ansehen des Mannes innerhalb und außerhalb der Familie wurde größer, während das der Frau in dem Maße sank, wie die Industrie die Produktion von Konsumgütern übernahm, die früher im Haushalt hergestellt wurden. Die gesellschaftlich akzeptierte Rollendefinition weist auch heute noch in den industrialisierten Ländern dem Mann die materielle Versorgung der Familie zu, der Frau dagegen die Führung des Haushalts und der Kinder. Während die Rolle des Mannes eher durch seine Berufsrolle charakterisiert ist, wird die Berufstätigkeit der Frau in der Definition der weiblichen Geschlechtsrolle kaum berücksichtigt, obwohl immerhin jede dritte Frau in der BRD erwerbstätig ist (Statistisches Jahrbuch 1971). Diese Erwerbsquote der Frauen hat sich in den letzten 20 Jahren nur unwesentlich geändert (Statistisches Jahrbuch 1950 - 1971).

Dies wird meistens nicht berücksichtigt, wenn von der starken Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit gesprochen wird (Frauenenquete 1966, S. 58 ff.; Menschik 1971, S. 100 ff.), die wohl absolut im Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum gestiegen ist, jedoch nicht bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil. Die zunehmende »Bedeutung« der Frauenerwerbsarbeit vor allem in der neueren Emanzipationsliteratur hingegen läßt sich eher aus der Veränderung der Erwerbsbereiche von Frauen erklären: Insgesamt hat die Gruppe der »mithelfenden Familienangehörigen« (überwiegend im landwirtschaftlichen Bereich) stark abgenommen, die der Lohnabhängigen demgegenüber sich wesentlich vergrößert (Frauenenquete 1966, S. 59). Allerdings ist der Anteil der Frauen vor allem unter den Angestellten und Beamten (1971: 49%) — vorwiegend im Dienstleistungsbereich — gestiegen, während der Anteil der Frauen unter den Arbeitern (27,5%) in den letzten zwanzig Jahren relativ konstant geblieben ist (Osterland et al. 1973, S. 32). Hatte historisch die Frau aus der Arbeiterschicht schon immer eine bedeutende ökonomische Position (Erwerbsarbeit zur Sicherung des Existenzminimums), bedeutete ein Ausscheiden aus dem beruflichen Bereich als Angleichung ihres Verhaltens an das der Frauen des Bürgertums einen sozialen Aufstieg, so beinhaltete das Ziel der vom Bildungsbürgertum ausgehenden Frauenbewegung (die Emanzipation der Frau zum freien Individuum) das Ergreifen eines Berufes aus vocatio. Wenn heute die Zunahme der Literatur über Frauenprobleme mit der Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit unter Angestellten und Beamten Hand in Hand geht, so lassen sich insofern Parallelen ziehen, als wiederum im Vordergrund Probleme von Frauen aus mittleren Schichten stehen.

Damit sind zwei Fragen angedeutet: einmal, ob man wirklich von der Rolle der Frau sprechen kann; zum anderen, ob man davon ausgehen kann, daß sich die Rolle der Frau in der Weise verändert hat, wie es manche Autoren vermuten. So geht z.B. Wurzbacher (1954) von einem Wandel des patriarchalischen Leitbildes der Gattenbeziehungen aus; Fürstenau (1962, S. 18) stellt fest: »Die Einbeziehung weiter Teile der weiblichen Bevölkerung in den männlich disziplinierten Arbeitsprozeß hat zu einer Annäherung der weiblichen und der männlichen Geschlechtsrolle aneinander geführt.« Hierbei sind zum einen schichtspezifische Unterschiede nicht berücksichtigt, zum anderen wird nicht beachtet, in welchen Bereichen Frauen vorwiegend erwerbstätig sind.
Allgemein kann man wohl die soziale Situation der Frau durch die Widersprüche zwischen den von dem vorherrschenden Geschlechtsrollenstereotyp ausgehenden Verhaltenserwartungen und den Anforderungen, wie sie sich etwa aus der Berufsrolle ergeben, charakterisieren, wobei schichtspezifische Einflüsse die Leitbilder von der Rolle der Frau variieren mögen. Hieraus läßt sich für d'ie Entstehung abweichenden Verhaltens mit Bezug auf die ersten fünf Thesen folgende These ableiten:

6. These:
Aus den unterschiedlich-widersprüchlichen Erwartungen, die die Rollendefinition der Frau in der gegenwärtigen Gesellschaft kennzeichnen, ergeben sich sowohl 31 unterschiedliche Verhaltensziele als auch unterschiedliche Problemlösungsmuster. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß das Individuum Inkonsistenzen bei Ziel-ZielRelationen wie auch bei Ziel-Mittel-Relationen wahrnimmt und in Verhaltensstrategien umsetzen muß.

Es stellt sich die Frage, wie weit es dem einzelnen Individuum gelingt, die unterschiedlichen Leitbilder von der Rolle der Frau zur Integration zu bringen. Bei Überbetonung des einen oder des anderen Zieles können sich Anpassungsprobleme in dem jeweils entgegengesetzten Bereich ergeben, während es bei einer Dichotomie der Leitbilder zu Rollenkonflikten kommt, die ebenfalls abweichendes Verhalten auslösen können.
Das bedeutet aber auch, daß die Art des jeweiligen abweichenden Verhaltens von der Definition der eigenen Rolle bedingt ist. Die bereits angeführten geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Begehungsformen von Delikten (s. 1.1) zeigen diesen Zusammenhang zwischen Formen abweichenden Verhaltens von Mädchen und der Definition der weiblichen Geschlechtsrolle. Daß auch die Rolle als Jugendliche eine gewisse Bedeutung hat, läßt sich daran ablesen, daß die Kriminalitätsrate der weiblichen Jugendlichen — bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil — höher ist als die der weiblichen Erwachsenen.

7. These:
Abweichendes Verhalten — als eine Möglichkeit problemlösenden Verhaltens — bei Mädchen ist in Ausmaß und Erscheinungsform von der Definition der Rolle »weibliche Jugendliche« bedingt, umfaßt also sowohl geschlechts- wie auch altersspezifische Erwartungsmuster.

Die Situation der Jugend ist vor allem durch die Lösung aus der an die Herkunftsfamilie gebundenen Sicherheit des Status und der emotionalen Bindung definiert (vgl. Parsons 1964, S. 80). Unsere Gesellschaft stellt keine klar definierte Rolle für das Jugendalter bereit. Das Problem der Statusunsicherheit als Jugendliche ist jedoch für die Mädchen sehr viel weniger bedeutsam als für Jungen, da sie im allgemeinen auf ihre Erwachsenenrolle als Ehefrau und Mutter in der Familie relativ gut vorbereitet werden können.
Die Sicherheit, die die Orientierung auf die traditionelle weibliche Rolle hin für das Mädchen im Rahmen der familialen Sozialisation bedeutet, verliert jedoch bei Beginn einer Berufsausbildung oder bei Berufseintritt an Gewicht. Dies gilt in verstärktem Maße, wenn sich mit der beruflichen Tätigkeit auch Verhaltensziele verändern, so daß Orientierungen bezogen auf das Leitbild der berufstätigen Frau entwickelt werden. Statusunsicherheit stellt sich beim Eintritt in das Berufsleben als eine vergrößerte Diskrepanz zwischen privatem und öffentlichem Bereich dar, da das Mädchen weit weniger als der Junge mit Verhaltensmustern für den außerfamiliären Bereich ausgestattet ist. Bei Mädchen, die traditionelle Zielorientierungen beibehalten, ist aber zu vermuten, daß die mit der Berufstätigkeit verbundene Statusunsicherheit bei Aufbau einer befriedigenden Partnerbeziehung bzw. Gründung einer eigenen Familie wieder abnimmt.

8. These:
Die Situation der Jugend ist vor allem durch die Lösung aus der an die Herkunftsfamilie gebundenen Sicherheit des Status und der emotionalen Bindung definiert; das Problem der Statusunsicherheit als Jugendliche ist für Mädchen weniger bedeutsam als für Jungen. Als Diskrepanz zwischen Zielorientierung (These 9) und tatsächlichem Verhalten (Berufstätigkeit) kann es jedoch — bei Beibehaltung traditioneller Rollenvorstellungen — für die Entwicklung spezifischer Problemlösungsmuster relevant sein.

Mit den Thesen 6 bis 8 wurde schon angedeutet, was jetzt explizit formuliert werden soll. Als Erfolgsziel für Mädchen aus den verschiedensten Bevölkerungsgruppen gilt gleichermaßen: Ehe und Familie stehen im Vordergrund alles Erstrebenswerten oder doch zumindest die Herstellung einer befriedigenden Partnerbeziehung — befriedigend insofern, als sowohl der Partner wie die Beziehung sozial wie individuell anerkannt werden. Diesem Ziel werden andere Erfolgsziele, die vor allem für Jungen gelten, wie beruflicher Erfolg, sozialer Aufstieg, Erhöhung des Lebenstandards usw. untergeordnet, da ihr Erreichen als abhängig von der Partnerwahl (vom Status des Partners) gesehen wird.

»Bei einer Befragung von Stuttgarter Abiturientinnen sahen 80 Prozent 'die eigentliche Bestimmung der Frau' hauptsächlich in Ehe und Familie. Bei einer repräsentativen Mütterbefragung in der BRD stimmten zwei Drittel der Befragten der Aussage zu, das Reich der Frau sei der Haushalt, alles andere sei Männersache« (Schmidt et al. 1973, S. 25).

Als Gründe für die Betonung des traditionellen Geschlechtsrollenstereotyps sind sicherlich nicht nur ein cultural lag, sondern auch eine spezifische funktionale Bedeutung für unsere Gesellschaft anzunehmen.

9. These:
Die Sozialisationsträger unserer Gesellschaft stimmen bei der Definition des Erfolgszieles für Mädchen im wesentlichen über ein: die Herstellung einer stabilen, sozial akzeptierten Partnerbeziehung. Auf der Verhaltensebene sind von Mädchen daher Problemlösungsmuster (These 1) zu entwickeln, die dieses Ziel bei gegebenen Möglichkeiten (sozioökonomischer Lage) dergestalt realisierbar machen, daß statuserhöhende, zumindest aber statussichernde Partner gefunden werden.

Im Hinblick auf abweichendes Verhalten spricht für diese These, daß der Anteil der Witwen und Geschiedenen an der weiblichen Kriminalität höher ist als der der verheirateten Frauen (Halter 1965; Krille 1931) und daß häufig mit der Eheschließung eine kriminelle Laufbahn eines Mädchens abbricht (Cavan 1962). Diese These erklärt auch, warum es so gut wie keine weiblichen Gangs gibt (Fiedler 1969), da diese dem Mädchen nicht den gewünschten Status gewähren könnten.
Nun scheinen die Bedingungen für eine adäquate Identifikation mit dem vorgegebenen Geschlechtsrollenstereotyp für Mädchen nicht nur anders, sondern auch weniger schwierig zu sein als für Jungen, da dem Mädchen im Gegensatz zum Jungen in der Mutter ein unmittelbares Identifikationsobjekt zur Verfügung steht. Als Folge des gesellschaftlich definierten Erfolgszieles stehen in der Sozialisation von Mädchen persönliche Beziehungen im Vordergrund, und die, Erwartungen, die an Mädchen herangetragen werden, beziehen sich in erster Linie auf den häuslichen Bereich und können daher natürlich viel leichter als andere Erwartungen in der Familie vermittelt werden. Mit anderen Worten heißt das, daß die legitimen Mittel, das gesellschaftlich definierte Erfolgsziel zu erreichen, für Mädchen leichter zugänglich sind als entsprechend für Jungen. Das bedeutet, daß die Integration der Familie für Mädchen wichtiger zu sein scheint als für Jungen, was auch dadurch unterstützt wird, daß in verschiedenen Untersuchungen festgestellt wurde, daß der Anteil der kriminellen Mädchen, die aus »broken homes« kommen, höher ist als der entsprechende Anteil der Jungen (Brauneck 1961; Cockburn/ Maclay 1965). Hinzu kommt, daß Mädchen einer stärkeren sozialen Kontrolle unterliegen als Jungen (Kagan 1964); zudem wird offenbar allgemein abweichendes Verhalten von Frauen wesentlich negativer als abweichendes Verhalten von Männern beurteilt (Morris 1965). So sind illegitime Mittel zur Erreichung wünschenswerter Ziele für Mädchen schwerer zugänglich. Das erklärt, warum die Frau im Hinblick auf abweichendes Verhalten weniger gefährdet zu sein scheint als der Mann.

10. These:
Die legitimen Mittel zur Erreichung des gesellschaftlich definierten Erfolgszieles für Mädchen sind für diese aufgrund ihres andersartigen Sozialisationsprozesses leichter, die illegitimen Mittel aufgrund stärkerer sozialer Kontrolle schwerer zugänglich als entsprechend für Jungen; damit besteht die Wahrscheinlichkeit für Mädchen, in geringerem Maße abweichendes Verhalten zu zeigen als Jungen.

Die hier entwickelten zehn Thesen gehen insofern über Mertons und Clowards Ansatz hinaus, als sie Aussagen zu der — dort unklar gebliebenen — Frage bieten, wie unterschiedliche Formen abweichenden Verhaltens realisiert werden. Maßgebend für die Herausbildung unterschiedlicher Formen abweichenden Verhaltens sind spezifische Wechselwirkungen zwischen objektiven Bedingungen und individuellen Entwicklungen. Als Vermittler zwischen objektiven Bedingungen und individueller Entwicklung wurde hier der Prozeß der Entwicklung eines Selbstbildes, der Sozialisationsprozeß, eingeführt, dessen jeweils unterschiedlicher Verlauf von drei Faktorenkomplexen abhängig ist: einmal die Art der Orientierungsmuster, die vermittelt werden, zum zweiten die Art der Bezugspersonen, die als Verhaltensmodelle dienen, und zum dritten die Art und Weise der Vermittlung selbst.

2.2  Hypothesen der Untersuchung

Aus den dargestellten theoretischen Annahmen (These 1 — 9) werden die folgenden drei Hypothesen abgeleitet, deren Überprüfung Ziel der empirischen Erhebung ist.[4] Dabei ist zu beachten, daß die Thesen 1 — 5 eine allgemeine Theorie abweichenden Verhaltens skizzieren, während die Thesen 6—9 spezifische Erklärungsmuster für die Devianz weiblicher Jugendlicher liefern, denen als zentrale Annahme die Formulierung eines allgemeinen Erfolgszieles für Mädchen zugrunde liegt. Wir waren davon ausgegangen, daß — einerseits — für Mädchen im wesentlichen als Erfolgsziel die Herstellung einer stabilen, sozial akzeptierten Partnerbeziehung gilt, ein Ziel also, welches die Möglichkeit von Statusgewinn nur bezogen auf andere Menschen impliziert. Jedoch treten — andererseits — aufgrund der Entwicklung spezifischer Berufsrollen und einer zunehmenden Relevanz der Forderung nach Gleichberechtigung veränderte individualisierte Erwartungen an Mädchen heran, in denen nun ein (Verhaltens-)Ziel bestimmt wird, welches die Möglichkeit von Statusgewinn aufgrund eigener Leistung, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit impliziert. Es ist anzunehmen, daß diese beiden Leitbilder — einmal das traditionelle, zum anderen das eher emanzipatorische — für Mädchen alternativ an der Spitze vorhandener Zielhierarchien stehen und gerade im Jugendalter relevant für die Statusfindung von Mädchen werden.

Entsprechend formuliere ich die Hypothesen anhand von drei Möglichkeiten der Zielorientierung:
—  Überwiegen des traditionellen Leitbildes (Hypothese I),
—  Überwiegen des emanzipatorischen Leitbildes (Hypothese II),
—  Gleichstarke Betonung beider Leitbilder (Hypothese III).

Hypothese I:
Die Wahrscheinlichkeit,
daß Mädchen, die ein eher traditionelles weibliches Rollenleitbild internalisiert haben,

aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Orientierung an bestimmten Bezugspersonen, die dieses Leitbild vertreten — in diesem Falle ist zu vermuten, daß am ehesten untere bis mittlere Bevölkerungsschichten das traditionelle Leitbild vermitteln,

sich abweichend verhalten, ist um so größer, je weniger legitime Mittel ihnen zur Erreichung der diesem Leitbild entsprechenden Ziele zur Verfügung stehen

aufgrund bestimmter Sozialisationsbedingungen, durch die sie nicht gelernt haben, befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, wie unter anderem fehlende oder konfliktreiche Elternbeziehungen, zu starke Identifikation mit den ungelösten Problemen der Mutter, zu starke Identifikation mit dem Vater,

und je eher ihnen illegitime Mittel zur Erreichung der diesem Leitbild entsprechenden Ziele verfügbar sind

aufgrund sozialer Definitionen, wie sie unter anderem Massenkommunikationsmittel und veränderte Sexualmoral anbieten.

Das hieraus resultierende abweichende Verhalten kann als rollenstützend bezeichnet werden: zu erwarten sind vor allem Diebstähle von Attributen, die für eine Partnersuche als wichtig angesehen werden (Kaufhausdiebstahl).

Hypothese II
Die Wahrscheinlichkeit,
daß Mädchen, die ein eher emanzipatorisches weibliches Rollenleitbild internalisiert haben,

aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu oder Orientierung an mittleren und oberen Schichten der Bevölkerung, weil zu vermuten ist, daß dieses Leitbild am ehesten von diesen Gruppen vermittelt werden kann,

sich abweichend verhalten, ist um so größer, je weniger legitime Mittel ihnen zur Erreichung der diesem Leitbild entsprechenden Ziele zur Verfügung stehen

aufgrund sozialer Definitionen, wie sie durch die allgemeine Unterprivilegierung der Frau bedingt sind,

und je eher ihnen illegitime Mittel zur Erreichung der diesem Leitbild entsprechenden Ziele verfügbar sind

aufgrund bestimmter Sozialisationsbedingungen, durch die sie Verhaltensmuster erlernt haben, die ein Abweichen ohne Aufgabe des Ziels erlauben, wie z.B. bestimmte Neutralisationstechniken.

Das hieraus resultierende abweichende Verhalten kann als rollensymbolisierend bezeichnet werden: zu erwarten sind unter anderem Drogen- und Alkoholmißbrauch wie Prostitution als Illusion scheinbarer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.

Hypothese III:
Die Wahrscheinlichkeit, daß Mädchen, die beide weiblichen Rollenleitbilder — das traditionelle und das emanzipatorische — gleichermaßen internalisiert haben, so daß ein Rollenkonflikt besteht,

aufgrund der widersprüchlichen sozialen Definitionen, denen sie ausgesetzt sind,

sich abweichend verhalten, ist um so größer, je weniger legitime Mittel weder für die Erreichung des einen noch des anderen Ziels zur Verfügung stehen

aufgrund nichtgelernter Möglichkeiten der Konfliktbewältigung,

und je eher illegitime Mittel zur Verfügung stehen, die eine Konfliktlösung bedeuten

aufgrund bestimmter Sozialisationsbedingungen, durch die sie gelernt haben, Konflikte in irgendeiner Form abweichenden Verhaltens auszuagieren.

Das hieraus resultierende abweichende Verhalten kann als kompensatorisch bezeichnet werden: zu erwarten sind alle Formen abweichenden Verhaltens, die in irgendeiner Art Kompensation der Konflikte bedeuten; sehr groß ist die Wahrscheinlichkeit von Delikten im sozialen Nahraum, die eine Ausnutzung von Vertrauensverhältnissen bedeuten.[5]
Als feststellbares Indiz für das Zutreffen überhaupt einer der drei Hypothesen kann die Diskrepanz zwischen Selbstideal und Selbstbild gelten, also die Diskrepanz zwischen den internalisierten Erwartungen und Zielen (These 2)und den konkreten Selbstdefinitionen (These 5)[6]

Die Hypothesen können als verifiziert gelten, wenn sich Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Rollenleitbild, dem Mangel an Realisierungsmöglichkeiten und dem Vorliegen entsprechenden abweichenden Verhaltens feststellen lassen.

Aus der in These 9 gemachten Aussage, daß für Mädchen von allen Sozialisationsträgern im wesentlichen das traditionelle weibliche Rollenbild als Erfolgsziel definiert wird, läßt sich ableiten, daß wahrscheinlich in den meisten Fällen abweichenden Verhaltens von Mädchen Hypothese I zutreffend ist. Gibt es jedoch (und dies war eine der im Vorwort gestellten Fragen) für die Zunahme abweichenden Verhaltens von Mädchen Gründe, die in einer stärkeren Emanzipation[7] der Frau liegen, so müssen in der untersuchten Stichprobe sich größere Gruppen von Mädchen finden lassen, für die die Hypothesen II und vor allem III zutreffen.