Die Geschlechterpolizei

Hinter der Fassade moderner Schulgebäude
herrschen die Gesetze des Dschungels.
Da, wird geschlagen, getreten, gedroht,
da wird unterworfen und triumphiert.
Systematisch werden empfindsame Jungenseelen
auf Härte und Roheit trainiert - und so auf den
Überlebenskampf draußen in der Welt vorbereitet.

»Mütter erziehen doch die Söhne« - aber nicht sie allein. Viele ungebetene Pädagogen wirken dabei auch noch mit.
Diese Geschlechtererziehung hat viele Schauplätze: das Fernsehen, die Verwandtschaft, die Nachbarn und natürlich die Schule. Dort verbringen Kinder und Junge Leute den Großteil ihres Lebens, und dort stehen Geschlechtsrollen zwar nicht auf dem Lehrplan, gehören aber ganz unmittelbar zum Lehrstoff. Was uns dabei erschütterte: die Brutalität, die zum Erlernen der Männlichkeit gehört. Die Männlichkeit wird unseren Söhnen im wahrsten Sinn des Wortes eingeprügelt - von der sogenannten Peer-group, der gleichaltrigen Jungengemeinschaft, und mehr noch von den etwas älteren Jungen. Gemeinsam bilden sie eine Kontrollinstanz, die wir als »Geschlechterpolizei« beschreiben können. Die Geschlechterpolizei ist allgegenwärtig, und sie ist erbarmungslos. Einfühlsam sollen unsere Söhne werden, phantasievoll, kooperativ? Das trostlose Imponiergehabe sollen sie ablegen, das Aufplustern, die Drohgebärden?
Die Geschlechterpolizei hat anderes mit ihnen vor. Unseren Söhnen werden die weichen Eigenschaften ausgetrieben; sie leben in einer Subkultur der Grobheit und Gewalt, in der sie nur mit primitiven Dschungeltaktiken überleben können. Sie unterwerfen sich einem Anführer, lernen zu bluffen, werden von den Größeren getreten, prügeln auf einen Schwächeren ein, bilden Banden und suchen Trost und Beistand in der Jungengruppe. Hinter der Fassade moderner Schulhäuser leben unsere Söhne in einer Wildnis, deren gezielte Absicht es ist, sie verrohen und abstumpfen zu lassen. Viele Eltern stört das, aber sie wissen nicht genau, was sie dagegen unternehmen sollen. Zu ihrem Unbehagen bagatellisieren manche Eltern die Probleme, - »so sind Kinder eben«. »das war schon immer so und wird immer so sein«. Gemeine Verprügelungen werden verharmlosend zu »Raufereien«, und Bosheit als jugendlicher Übermut interpretiert.
Manche Eltern, auch manche Mütter, akzeptieren gewalttätige Vorfälle sogar ganz dezidiert. »Das ist die Schule des Lebens«, war der Kommentar von mehr als einer Mutter, als gewalttätige Vorfälle beim Elternabend besprochen werden sollten. »Das härtet ab.« Was Mädchen angetan wird, stört uns mittlerweile. Wir protestieren dagegen, daß sie vor sexuellen Belästigungen nicht sicher sind, daß ihr Selbstbewußtsein in der Schule nicht genug gefördert wird. Daß unsere Töchter weich und gefügig gemacht werden sollen, wenn nötig mit Gewalt, stört uns. Unsere Söhne werden auf andere Weise gefügig gemacht, werden »abgehärtet«, und das stört uns nicht?

Wer erzieht den Sohn zum Mann?

Über die Sozialisation von Mädchen gibt es viele Studien. »Wir werden nicht als Mädchen geboren«, lautete eine frühe Einsicht (und ein gleichnamiges Buch, siehe Seite 193) der Frauenbewegung - die Eigenschaften der Bravheit, der Zögerlichkeit, der Zierlichkeit werden antrainiert in tausendfacher subtiler Weise, angefangen mit dem rosaroten Strampelanzug mit Rüschen. In der Fachliteratur ist der Mann dagegen immer noch ein unbeschriebenes Blatt. Wie wird er so, wie er ist - oder ist er einfach nur so, unhinterfragbar, eine Naturgewalt, ein unverrückbarer Felsen? Wer männliche Heranwachsende betrachtet, mag an ihnen die eine oder andere Männerallüre erkennen, mag erfreut oder irritiert bemerken, daß Jungen sich oftmals wirklich anders benehmen als Mädchen, schon sehr früh. Unter kritisch denkenden Müttern gehört es heute zum selbstverständlichen Gesprächsstoff, daß Tochter und Sohn trotz Gleichbehandlung andere Spielsachen und Spielstile bevorzugten, daß die Mädchen eitler seien und die Jungen wilder, daß sich in den Schulpausen die Jungen balgen wie kleine Hunde, während die Mädchen sich Geheimnisse zuflüstern und, oh Gott, mit Puppen, mit frisierbaren kleinen Ponies und mit allerlei sonstigen pastellfarbenen Anachronismen spielen wurden. Doch ein zweiter Blick erweitert unser Bild.
Denn männliche Kinder haben vielleicht ansatzweise einige der Verhaltensweisen, die uns an die klischeehafte Männlichkeit erinnern, aber sie haben auch reichlich all die Eigenschaften, die wir bei erwachsenen Männern so sehr vermissen. Sie sind gefühlvoll. Noch mit zehn und elf Jahren weinen sie, weil ein Freund sie enttäuscht oder irgendein Ereignis sie verletzt hat. Sie sind einfühlsam und registrieren genau die emotionale Befindlichkeit ihrer Umgebung. Sie bemerken es, wenn ihr Lehrer heute ernst, ihre Mutter traurig, die große Schwester unerklärlich schroff ist. Sie können zuhören, Rat geben, trösten. Sie wissen über die persönlichen Umstände ihrer Freunde Bescheid. Sie können vor einer Entscheidung das Für und Wider erwägen und Kompromisse vorschlagen. Oft sind sie tatsächlich viel beziehungs-, kommunikations- und liebesfähiger als ein erwachsener Mann. Die große Frage ist, was mit ihnen geschieht und wann und durch wen, um aus ihnen einen »richtigen Mann« zu machen. Aus Beobachtungen von Müttern wissen wir, daß Jungen von der Umwelt und auch von anderen Jungen sehr stark kontrolliert werden im Hinblick auf ihre Anpassung an die Normen der Männlichkeit. Es gibt so etwas wie eine selbsternannte Geschlechterpolizei, eine freiwillige Miliz aus besonders eifrigen kleinen Männlichkeitsadvokaten, die andere Jungen vor dem Ausscheren bewahren. Mit einer Strenge, die an die Revolutionswächter des fundamentalistischen Iran erinnert, kontrollieren sie das Verhalten ihrer Jungen MitMänner. Mit derselben Unerbittlichkeit, mit der erstere eine unter dem Kopftuch hervorlugende Haarsträhne ahnden, achten auch letztere auf geringfügige Abweichungen. Ihre Sanktionen: Spott, Ausschluß aus der Jungengruppe, Gewalt.

  • Achim wurde, mit vier Jahren, im Schwimmbad von etwas älteren Jungen verspottet, weil auf seinem Badetuch eine Katze - Garfield - abgebildet war. »Katzen sind für Mädchen.«
  • Karl wurde bis aufs Blut gepeinigt, als seine Klassenkameraden zufällig erfuhren, daß er am Vorabend die Hausaufgabe telefonisch bei einem Mädchen erfragt hatte. Ein Mädchen anrufen bedeutet, in sie »verliebt« zu sein.

Eltern können, müssen mit ihren Kindern über solche Vorfälle sprechen, sie relativieren, sie erklären. Sie können ihr Kind dagegen wappnen und darauf vorbereiten. Doch in der Schulklasse steht der 6jährige den Kontrollen der Geschlechterpolizei dann allein gegenüber; und wird sich hüten, den Spott seiner Altersgenossen leichtfertig auf sich zu ziehen.
Wer »erzieht« den Sohn zum Mann? Auf der Suche nach Antworten beschlossen wir, uns das Leben von Jungen in der Schule genauer anzusehen.[1] Wir hatten anekdotenhaft von Erstkläßlern im Gymnasium erfahren, daß sie häufig von älteren Schülern geärgert, herumgestoßen und sonstwie schlecht behandelt würden. Um mehr darüber zu erfahren, teilten wir einen Fragebogen aus. Er wurde von den Erstkläßlern (10-11 Jahre alt) und den Fünftkläßlern (15-16 Jahre alt), letztere in ihrer Rolle als mutmaßliche »Täter«, beantwortet. Wir sprachen bewußt alltägliche Probleme an, um Ausnahmesituationen auszuschalten. Wir wählten daher Schulen, die von Mittelschichtkindern besucht werden, in denen Waffen, Drogen, Banden und dergleichen noch nicht Einzug gehalten haben. Es handelt sich um Ganztagsschulen in Wien. Der Fragebogen bezog sich auf altershomogene und altersheterogene Gewalt. Er war anonym, lediglich die Klassen- und die Geschlechtszugehörigkeit wurden abgegeben. Hier die Fragen, die von 160 Kindern beantwortet wurden:

  • Erste Klasse Gymnasium:
    Viele Kinder in Deinem Alter erzählen, daß sie von Schülern aus den höheren Klassen geärgert (gestoßen, weggedrängt, verspottet etc.) werden. Ist dir das auch schon passiert? Was ist genau geschehen? Erzähle bitte drei Beispiele.
    Wie hast du in diesen drei Fällen genau reagiert? (Bist du einfach weggegangen, hast du mit denen diskutiert, hast du zurückgeschlagen usw.?)
    Hat sich sonst noch jemand eingemischt, um dir oder dem/der anderen zu helfen? Wer?
    Wie fühlst du dich bei solchen Vorfällen? (Hast du z. B. Angst, bist du wütend, traurig etc.)
  • Erzählst du es normalerweise irgendwem, wenn so etwas passiert? Wem? (Freunde, Lehrer, Mutter, Vater etc.) Welchen Rat geben sie dir oder würden sie dir geben?

Freunde:
Lehrer:
Mutter:
Vater:
Wie denkst du über solche Ereignisse? Stört es dich, daß so etwas vorkommt, oder findest du es nicht so schlimm?
Jetzt noch ein paar Fragen zu eurem Leben in der Klasse. Wenn du dir eine typische Woche vorstellst, wie oft kommt es da ungefähr vor, daß dir folgendes passiert: von einem Mitschüler absichtlich gestoßen, gezwickt, gewürgt, geschlagen usw. werden ... mal von einer Mitschülerin absichtlich gestoßen, gezwickt, gewürgt, geschlagen usw. werden ... mal
von mehreren Mitschülern gemeinsam verprügelt werden ... mal
Hast du dabei schon einmal richtig Angst gehabt oder bist verletzt worden? Erzähle bitte, was genau passierte.
Bist Du schon einmal von Mitschülern/Mitschülerinnen so verspottet worden, daß es dich richtig geärgert hat. Was haben die zu dir gesagt? Wann hast du selber das letzte Mal gegen einen Mitschüler/eine Mitschülerin Gewalt ausgeübt? Wie kam es dazu? Wie denkst du jetzt darüber - war das okay, oder tut es dir leid?

  • Fünfte Klasse Gymnasium:
    Die jüngsten Schüler werden oft von den Schülern der höheren Klassen grob behandelt. Sie werden gestoßen, geärgert, vom Sportplatz verdrängt u. ä. Wie kommt es dazu?
    Habt ihr, als ihr Erstkläßler war, Ähnliches erlebt? Erzählt bitte einige Beispiele, die ihr noch in Erinnerung habt. Wie war das? War es euch egal, wart ihr zornig, gekränkt etc.?
    Was treibt euch heute dazu, dieses Verhalten zu wiederholen.> Und was macht ihr heute genau, um die Erstkläßler auf ihren Platz zu verweisen?

Das erste und sichtbarste Ergebnis, wenn man die Antwortbögen vor sich liegen hat, ist ein optisches. Die Erstkläßler haben ihren Auftrag sichtlich ernst genommen und sich echte Mühe gegeben, obwohl die Aufgabe anonym war und nicht benotet wurde. Sie antworten ausführlich, nachdenklich. Sie schreiben schön. Sie verzieren ihre Fragebögen mit originellen Illustrationen; Fabrikschlote, Dinosaurier unter Palmen, Vogelhäuser, eigenwillige Selbstporträts schmücken ihre Ausführungen, eine ungewohnte optische Freude für die auswertenden Soziologinnen. Die fünfte Klasse hingegen betrachtet diese ganze Angelegenheit sichtlich als Scherz. Sie antworten mit Sarkasmus und mit Witzen. Doch man muß kein Graphologe sein, um zu bemerken, daß ihr Schriftbild eine innere Aufwühlung verrät. Ist es die Pubertät oder das Thema? Sie versehen ihre Sätze gleich mit bis zu zwölf Ausrufe- oder Fragezeichen. Ihre Antwortbögen sind übersät von Durchstreichungen. Nur 6% antworten »normal«, d. h. ernsthaft und ohne verbale Exzesse - bei ihnen wirkt auch die Handschrift »normal«. Es ist augenscheinlich, daß die Fünftkläßler insgesamt sich in die Defensive gedrängt und provoziert fühlen. Insgesamt wirken sie wesentlich »kindischer«, unreifer und unartikulierter als die Erstkläßler. Das zweite sofort ersichtliche Resultat - jedoch nur bezüglich der altershomogenen Gewalt bezieht sich auf den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen. Die Koedukation ändert wenig daran, daß Mädchen und Jungen zwei getrennte Welten bewohnen; sie sitzen im selben Klassenzimmer, und trotzdem ist es so, als würden sie in zwei verschiedene Schulen gehen. Die Schulklasse der Jungen ist grob, gewalttätig; die Schulklasse der Mädchen ist weitgehend friedlich. Sogar dem Klischee - und unserer persönlichen Mutmaßung - daß Mädchen vielleicht verbal und psychisch böser zueinander sind als Jungen, widersprechen die Informationen unserer jungen Auskunftgeber.

  • In unserer Schule geht es nicht sehr gewalttätig zu, Gott sei Dank. Aber Zwischenfälle gibt es immer. Wie neulich mit Peter. Peter ist bei den anderen Jungen unbeliebt, ich weiß nicht waruin. jedenfalls haben sie *ihm die Jacke weggenommen und sie ins Klo getragen und dort in einen Mistkübel gestopft. Und dann haben sie noch draufgepinkelt. Das ist in meine Augen etwas, was Mädchen einfach nicht tun würden. Die sind auch häßlich zueinander und können richtig gemein sein und auch boshaft. Aber diesen primitiven Trieb, den anderen restlos zu demütigen, den haben sie nicht. Das ist einfach nicht vorstellbar, bei Mädchen, daß sie auf den vernichteten Gegner sozusagen noch draufpinkeln müssen. Da steckt noch der Urwald drin.
    Melinda

60% der Jungen, aber nur 16% der Mädchen wurden schon so sehr verspottet, daß sie sich richtig kränkten. Noch krasser wird es bei den körperlichen Ausschreitungen. Nur 6% der Jungen, im Vergleich zu 83% der Mädchen, können von sich behaupten, daß sie in einer durchschnittlichen Schulwoche nie geschlagen werden. 66% der Jungen, aber nur 16% der Mädchen sind ein- bis zweimal in der Woche der Gewalt ausgesetzt. 26% der Jungen, aber keines der Mädchen, erlebt öfter als zweimal in der Woche körperliche Grobheiten. Nicht klar ist, in welchem Ausmaß diese Grobheiten, zumindest von den Jungen, immer noch als Spiel aufgefaßt werden. Wir können jedoch annehmen, daß es nicht angenehm ist, von »mehreren Mitschülern gemeinsam verprügelt« zu werden. Einem einzigen Mädchen widerfährt dieses Schicksal. Bei den Jungen hingegen kommt das bei 26% ein- bis zweimal die Woche, bei 13% sogar mehr als zweimal vor. Die Einschätzung der eigenen Friedfertigkeit ist bei den Mädchen nicht subjektiv; auch die jungen attestieren ihnen diese Eigenschaft. 93% der Jungen geben an, noch nie von einem Mädchen angegriffen worden zu sein.
Das beruht auf Gegenseitigkeit; auch die Mädchen gaben an, von männlichen Klassenkameraden nicht attackiert zu werden. Weniger als 2% der Mädchen, aber 80% der Jungen bekennen sich zur eigenen Gewaltanwendung, wobei 26% den Vorfall bedauern, 40% ihn nicht bedauern, weil sie sich provoziert fühlten, und 13% gemischte Gefühle beschreiben. Doch dieser härtere Umgang miteinander verläuft immerhin nach gewissen Regeln. Wer bekannt dafür ist, daß er häufig ausrastet, wird oft von mehreren, darunter seinen besten Freunden zurückgehalten; wer einen anderen genügend ärgert, muß sich nicht wundern, wenn der »irgendwann zurückschlägt; eine Rauferei schließt nicht aus, daß die Streitparteien am nächsten Tag wieder die besten Freunde sind. Manches am Verhalten von Buben ist auch ihrer spezifischen Motorik zuzuschreiben und gehört in die Rubrik »Balgen«. Schlimm ist es nur für diejenigen, die aus irgendwelchen Gründen zu Außenseitern deklariert werden. Das hört sich ganz anders an, wenn es um die Übergriffe der Größeren geht. Und hiervon sind auch die Mädchen nicht verschont.
Wenn die Erstkläßler beschreiben, was ihnen von den Größeren angetan wird, wird der Ton viel ernster. Der Kräfteunterschied zu den Großen erzeugt eher Angst; dazu kommt das Gefühl der Demütigung, wenn man sich als Kleiner nicht wehren kann, zumal die Großen oft auch im Rudel attackieren.

Gorillas auf dem Schulhof

»Der andere Fall hingegen betrifft die Verletzung meiner persönlichen äußerlichen Freiheit, meines Leibes oder Lebens oder auch meines Eigentums äberhaupt durch Gewalttätigkeit.
Erläuterung: Es ist Beraubung der natürlichen äußerlichen Freiheit, sich nicht hinbegeben zu können, wohin man will, und dergleichen mehr (...) Obgleich Leib und Leben etwas Äußerliches ist, wie Eigentum, so ist meine Persönlichkeit doch darunter verletzt, weil in meinem Körper selbst mein unmittelbares Selbstgefühl ist.«
»Der Zwang, der durch eine solche Handlung gesetzt worden, muß nicht nur aufgehoben, d. h. die innere Nichtigkeit einer solchen Handlung nicht nur iiegativerweise dargestellt werden, sondern es muß auch auf positive Weise die Wiedervergeltung eintreten.«
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Texte zur philosophischen Propädeutik«

Das Kleinsein der Kinder ist nicht nur ein körperlicher Zustand, sondern auch eine soziale Statuszuweisung.
Demokratie heißt, daß alle die gleichen Rechte haben. Der moderne Rechtsstaat ist darauf gegründet, daß nur der Staat und seine Organe Gewalt ausüben dürfen, daß Bürger und Bürgerinnen, vom Staat auch voreinander geschützt, in Sicherheit ihres Weges gehen können. Im Zuge ihres Aufwachsens erleben Kinder, informell, eine sehr konträre »politische Bildung«; sie lernen, daß die Stärkeren über die Schwächeren herrschen. Ihre Bewegungsfreiheit und ihr Recht auf Meinungsäußerung werden stark und willkürlich beschnitten. Und zwar nicht nur und nicht in erster Linie durch Erwachsene, die diese Kontrolle immerhin noch im Sinne eines Erziehungs- und Schutzauftrags ausüben, sondern durch andere, größere Kinder. Die einzelnen kränkenden, ungerechten oder gewalttätigen Episoden, die uns beschrieben wurden, variierten sehr in ihrem Gewicht. Manche Menschen werden vielleicht finden, das meiste davon sei nicht so schlimm; man würde Kinder nur verweichlichen, wenn man schon die kleinen Ärgernisse ihres Alltags dermaßen ernst nähme; es gehöre einfach zum Erwachsenwerden dazu, vor allem eines Jungen, ein bißchen abgehärtet zu werden. Es ist eine interessante Übung, in Diskussionen zu beobachten, wer diesen Standpunkt vertritt: Männer viel eher als Frauen. Und wenn man bei diesen Männern nachfragt, können die meisten sich daran erinnern, als Kinder auch unter der Grobheit der älteren Jungen gelitten zu haben. Ein junger Verfechter der Abhärtungs- und Es-ist-schon-nicht-so-schlimm-Theorie erzählte später, daß er als Junge einen weiten Schulweg mit der Bahn zurücklegen mußte. Während dieser Fahrt wurden die Kleinen regelmäßig von den Großen gequält; man nahm ihnen das Jausenbrot weg und verspeiste es genußvoll, warf ihre Hefte und Hausaufgaben aus dem Zugfenster und dergleichen mehr. Vor dieser Anreise, sagt er, hat er sich jeden Tag gefürchtet. Aber auch bei diesem Mann führten die eigenen Kindheitserlebnisse keineswegs dazu, dieses Verhalten in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Er vertrat vielmehr die Meinung, das »sei eben so«; das männliche Wesen hätte einfach eine rohe Komponente, könne sadistisch und machthungrig sein. Wer die Erzählungen unserer 10- und 11jährigen studiert, kann eine andere Botschaft herauslesen. Man kann darin den Prozeß verfolgen, im Zuge dessen Sensibilität stumpf gemacht, der Gerechtigkeitssinn abgeschwächt, das humanistische Gleichheitsgefühl negiert wird. Nicht auf die halbherzigen Harmonisierungsverkündungen in manchen progressiven Lehrplänen, sondern auf das reale Miteinander auf dem Pausenhof trifft der vielzitierte Begriff zu: soziales Lernen. Soziales Lernen findet überall und immer statt. Und weil Kinder eben Kinder sind, verläuft ihr Lernprozeß in kleinen Schritten. Schritte, die, für sich genommen, dem Erwachsenen unbedeutend erscheinen. Schreiben lernt man, indem man zunächst einmal seitenweise Striche und Kreise malt; am Buchstabentag wird nicht Goethe gelesen, sondern man formt aus Fimo lauter kleine Js. Und analog dazu wird den Kindern auch durch kleine, einfache Lektionen beigebracht, wer in der Welt etwas zu sagen hat, wie man sich durchsetzt, was man sich gefallen lassen muß. Die Erstkläßler können sich noch an einer großen Schneekugel erfreuen, bis sie so oft kaputtgemacht wird, daß sie keine neue mehr bauen. Sie sind noch innerlich empört über Ungerechtigkeiten, bis sie lernen, daß man besser den Mund hält.
Im informellen Unterrichtsfach »Machtausübung« haben unsere Söhne eine Menge Stoff zu bewältigen. Sie lernen:

  • daß Rang und Hierarchie auf der Grundlage von Zwang und Macht ausgeübt werden,
  • daß Größere ihre schlechte Laune und ihr willkürliches Machtstreben an Kleinen ausagieren dürfen,
  • daß es kein Recht an sich auf faire Behandlung gibt, sondern maximal die Möglichkeit, eine Ordnungsinstanz (Lehrer) zu Hilfe zu rufen,
  • ihre elterlichen Gefühle, vor allem Gefühle wie Angst und Unsicherheit, zu verbergen und zu unterdrücken, auch vor sich selbst.

Die Fragebögen haben uns, das sollten wir eingangs sagen, sehr berührt. Die Offenheit der Erstkläßler und ihre Bereitschaft, die eigenen Gefühle zu reflektieren und ihre Verletzbarkeit einzugestehen, das ausgeprägte Gerechtigkeitsgefühl, ihre plastischen Schilderungen und natürlich ihre Situation, als »Kleine« permanent die »underdogs« zu sein, all das sprach uns sehr an. Die Fragebögen schenkten uns einen Blick in eine andere Welt, in der andere Dinge wichtig sind, man andere Sorgen hat, andere Relationen herrschen. Bei der Frage, ob sie selber auch schon gegen einen Klassenkameraden Gewalt ausgeübt hatten, gaben viele Kinder zum Beispiel das genaue Datum an. »Ja, es war am 24. 1.« Hat Dir jemand geholfen.? »Ja. Die Isabella.«
Bei den Beleidigungen, die einen ernsthaft kränken können, hielten sich manche hingegen zurück. »Solche Worte möchte ich nicht in den Mund nehmen«, meint ein Kind; »das sage ich nicht«, widersetzte sich ein anderes.
Sie vertrauten uns ihre Wertung des Zwischenfalls an und ihre Überlegungen, wie sie einen Streit mit einem Freund wiedergutmachen könnten. (»Eigentlich tut es mir leid. Wenn er immer noch böse ist, werde ich dem Georg heute eine Fanta kaufen.«) Vieles war von einer beglückenden, zufälligen Komik. Hat Herbert schon einmal Gewalt ausgeübt? »Ja, gestern. Der Thomas hat mich die ganze Zeit mit dem Fuß beim Ministrieren gestoßen. Nach der Messe habe ich ihn dann verdroschen.« Wir erfuhren von ihren Verletzungen. Sie wurden von Siebtkläßlern mit Büchern beworfen. »Seitdem habe ich eine kleine Beule am Kopf, ich glaube, für immer.« »Ein Großer kam mir entgegen. Er schimpfte mich Zwerg, was mir weiter nichts ausmachte, doch dann stellte er mir das Bein, und ich fiel um. Ich lief davon. In der Klasse bemerkte ich daß ich sogar blutete.« Ein anderer, der sich mit einer frechen Bemerkung gewehrt und dafür von den Freunden des beleidigten Größeren geprügelt wurde, verbrachte danach »eine Stunde in der Krankenstation«. Auch die Demütigungen wurden schmerzhaft registriert, und wir nahmen Anteil am Schicksal von Franz, an dessen Pullover die Größeren »einen Stock abputzten, auf den vorher sieben Leute gespuckt hatten«, und von Benni, der von einem Großen auf den Boden geschleudert wurde, während dessen Freunde »höhnisch lachten«. Doch auch der vermutliche weitere Entwicklungsweg, die Zukunft unserer empfindsamen Auskunftgeber, bedrückte uns: In zwei oder drei Jahren würden die Jungen nicht mehr zugeben, auf gar keinen Fall, daß sie »Angst« hätten. Und in zwanzig Jahren würden sie niemals mehr eingestehen, daß sie »Bauchweh« hätten vor lauter Angst oder daß ihr »Herz schneller schlägt«, wenn Größere auf sie zukommen; bis dahin werden sie diese Empfindungen unterdrücken und statt dessen Magengeschwüre, Herzanfälle bekommen. Viele der Konflikte zwischen Großen und Kleinen lassen sich unschwer als Territorialkämpfe erkennen. Die Kleinen befinden sich auf dem gemeinsamen Terrain, die Großen verjagen sie mit dem Hinweis, daß »Erstkläßler« dort keine Rechte haben. In diesen speziellen Schulen gab es verschiedene Orte, an denen dieser Konflikt entbrannte. Beim Coca-Cola-Automaten und auf dem Sportplatz ging es um die Verteilung von Gütern, aber auch um Status.
Die Kleineren standen in der Schlange, die Größeren schoben sie zur Seite und gingen vor; die Kleineren spielten auf dem eigens für sie reservierten »Erstkläßler-Fußballfeld«, die Großen verjagten sie trotzdem. Damit wurden die Kleinen um ihre Chance gebracht, in der kurzen Pause ein Getränk kaufen zu können oder an diesem Tag Fußball zu spielen, aber es wurde zugleich eine Botschaft vermittelt: Wir sind größer, wir können über euch verfügen. Auf den Gängen ging es um die »Vorfahrtsrechte« und das Sicherheitsgefühl. Große versperrten den Kleinen den Weg, vor allem dann, wenn die Kleinen in die Klassenräume oder Gebäudetrakte der Großen gehen mußten. Die Diskussionen über »Frauen und Raum« ist soziologisch gut aufgearbeitet; in der Behandlung kleiner Jungen seitens großer Jungen erkennen wir viele Parallelen. Auch den kleinen Jungen »gehört« die Straße (bzw. der Gang, die Schule) nicht. Sie sollen möglichst wenig Platz einnehmen und zurücktreten. Die eingangs angeführten Sätze Hegels zitierten wir schon einmal, in einem früheren Buch. [2] Damals untersuchten wir männliche Übergriffe gegenüber Frauen auf der Straße und in anderen öffentlichen Situationen. Die Parallelen sind zahlreich und auffallend: In beiden Fällen geht es um Macht und Status. In beiden Fällen wird signalisiert, daß der Stärkere ein Verfügungsrecht über die körperliche Sicherheit und Bewegungsfreiheit des Schwächeren hat. In beiden Fällen fühlt sich der Schwächere durch die permanente Möglichkeit solcher Übergriffe verunsichert und eingeschränkt.
Und in beiden Fällen werden diesbezügliche Erfahrungen abgewertet mit dem Hinweis, das alles sei »normal«, trivial, ohne echte Bedeutung. Was wir damals einleitend über das Alltagsverhalten von Frauen schrieben, trifft auf Kinder genauso zu: »Die alltäglichen Verletzungen der eigenen persönlichen Sphäre, die regelmäßigen, wenn auch abrupten Einbrüche in den Ablauf des Alltags werden zur Gewohnheit; es wird zur Gewohnheit, sich rasch wieder zu sammeln und des Weges zu gehen, Bemerkungen zu überhören; es wird zur Gewohnheit, sich selbst übermäßige Empfindlichkeit vorzuwerfen Man gewöhnt sich daran.« Gröbere Mißhandlungen stoßen auf allgemeine Mißbilligung, doch für die soziale Prägung wichtiger sind eigentlich die subtileren kleinen Vorfälle. Was Korda über den geschlechtsspezifischen Zusammenhang schreibt, gilt auch für die Dominanzachse kleingroß: »Eine der wichtigsten Methoden zur Aufrechterhaltung der (...) Dominanz in alltäglichen Interaktionen ist das Bemühen, den anderen durch ständige, triviale Irritierungen ein Gefühl der Unsicherheit einzuflößen (...)« [3]

  • »Als der neue Cola-Automat in der Schule war, wollte ich mir ein Cola kaufen. Ich stellte mich in die lange Schlange und wartete. Auf einmal kamen Buben von der Oberstufe und drängten sich vor. Ich sagte, >stellt euch hinten an!< Aber sie beschimpften uns nur. Als ich endlich an der Reihe war, läutete schon die Glocke.«
  • »Eines Tages spielten wir Basketball. Da kamen zwei aus der Oberstufe und wollten uns den Korb wegnehmen. Wir weigerten uns aber wegzugehen. Da nahmen sie uns den Ball weg und traten ihn weit weg. Wir liefen dem Ball nach, aber sie folgten uns. Nach einer Weile hatten sie uns eingeholt. Sie zogen uns an den Haaren, hauten uns und traten auf uns ein. Plötzlich kamen welche aus der 8. Klasse und vertrieben sie. Sie halfen uns aufstehen. Wer weiß, wie lang die anderen sonst noch auf uns gehaut hätten.«
  • »Einmal standen mein Freund und ich beim Cola-Automaten an. Da kamen Schüler aus der Oberstufe und stießen uns weg. >He, wir waren zuerst hier<, rief ich. >Na was is, Kleiner?< sagte einer von ihnen. Mein Freund wollte nach vorn gehen, aber die Großen hauten uns. Wir liefen weg und versteckten uns in der Klasse.«
  • »Einmal beim Nachhausegehen stand ich in der U-Bahn-Station, und plötzlich zog mich ein Schüler aus der 6. oder 7. bei meinem Schultaschengriff zu Boden, so daß ich in einer Pfütze saß. Ich drehte mich um und sah den Buben, der sagte spöttisch, >Du bist mir im Weg gestanden<. Dann ging er lachend an mir vorbei.«
  • »Einmal stand ich am oberen Ende einer Stiege. Von hinten wurde mir ein Stoß gegeben, und ich flog die Stiege hinunter.«
  • »Es gibt oft Vorfälle auf dem Sportplatz. Unser Ball wird weggeschossen, unsere Kappen oder Hauben werden weggenommen, und im Winter werden wir mit Schnee eingerieben. Öfters gehen wir dann weg, weil wir nicht mehr spielen können und nur mehr geärgert werden.«

Den Mädchen geht es nicht viel anders. Zwar sind sie innerhalb der Klassengemeinschaft weitgehend von Gewalttätigkeiten ausgeschlossen, aber der Gewalt der Größeren sind sie genauso ausgesetzt.

  • »Letzten Donnerstag bin ich die Stiege hinaufgegangen, auf einmal sind fünf größere Buben gekommen. Sie überholten mich, dann sagten sie, >schaut den häßlichen kleinen Erstkläßler an!< Anschließend stießen sie mich die Stiege hinunter. Ich sagte, >ihr seid dumm<.« Hat ihr jemand geholfen? »Nein, NIEMAND«, betont sie mit Großbuchstaben.

Manchmal kommt bei Aggressionen gegen Mädchen eine quasi-sexuelle Komponente dazu. »Ich hatte mir im Turnunterricht den Finger verstaucht, und die Lehrerin schickte mich auf den Gang, um den Finger unter das kalte Wasser zu halten.

Als ich dort bei der Wasserleitung stand, kamen große Buben und wollten mir mit einem Besenstiel das Hemd hochziehen. Ich konnte nicht weglaufen. Ich genierte mich, weil sie mich auch Erstkläßler genannt haben.« »Einmal gingen mir große Jungen ins WC nach. Sie versuchten auch, die geschlossene Tür aufzumachen, aber dann kamen Leute, und sie sind davongelaufen.« Aber auch bei den Jungen gibt es vergleichbare Vorfälle; sie werden z. B. gezwungen, in die Mädchentoilette zu gehen. Manche Zwischenfälle sind ernsthaft bedrohlich. Ein Junge z. B. »ging im Winter in den Park der Schule. Am Anfang war es okay, aber dann kamen die Großen. Sie nahmen mich an den Beinen, schleuderten mich herum und ließen meine Füße los. Ich lag noch mit dem Gesicht nach unten im Schnee, da nahmen sie wieder meine Beine und rannten los. Sie rieben mich mit Schnee ein, hoben mich hoch und ließen mich fallen. Erst dann ließen sie mich gehen.« Wie hat er reagiert? »Ich konnte mich nicht wehren, weil es sieben bis acht Große waren.« Hier liegt die Botschaft in der Willkür, in der Chancenlosigkeit den Großen gegenüber und in der Tatsache, daß man allein schon infolge seiner Schwäche Aggression auf sich zieht. Oft wird das ergänzt durch die Botschaft, daß rnan sich bloß nicht wehren soll: »Einer sagte zu mir Zwerg. Ich antwortete, >hallo, großer Zwerg<. Deswegen holte er seine Freunde, und zwei hielten mich, der andere schlug mir in den Bauch.« Episoden wie die folgenden hiagegen könnte man als Bagatelle auffassen. Was ist schon passiert? Was ist schon groß kaputtgegangen? »Einmal wollte ich im Winter mit meinen Freunden einen großen Schneemann (2 Meter) bauen. Wir machten drei Kugeln. Plötzlich kamen die Großen und hauten mit dem Fuß auf die Kugel meines Freundes ein. Ich setzte mich auf meine Schneekugel, um sie zu verteidigen. Mein anderer Freund, der die größte Kugel hatte, tat dasselbe. Doch als sie auf uns zukamen, flüchteten wir. Mit schnellen Tritten wurden dann auch unsere Kugeln zerstört.« »Im Winter baute ich einmal mit meinem Freund einen riesigen Schneeball. Er ging mir bis zum Kopf. Wir hatten eine ganze Stunde für ihn gebraucht. Da kamen vier Achtkläßler. Sie vertrieben uns und zerstörten die Schneekugel. Ich hatte für diesen Tag genug.« Der 10jährige Matthias schreibt, daß er sich nach diesem Vorfall »wütend« fühlte. Auf die Frage »stört es Dich, oder findest Du es nicht so schlimm« antwortet er, »mich stört es«. Was daran störend ist, läßt sich auch aus den Antworten seiner Klassenkameraden herauslesen: das Gefühl der Hilflosigkeit, der absichtlichen Demütigung. Auch bei den meisten Einschränkungen, die Mädchen im Lauf ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation erleben, handelt es sich letztendlich um Bagatellen. Bedeutsam werden sie durch die übergreifende Botschaft, die Botschaft der Macht. Bei den Erstkläßlern kommt diese Botschaft laut und deutlich an. Und es widerstrebt ihrem Stolz und ihrem Gerechtigkeitsgefühl. »Ich bin traurig und wütend weggegangen«, schreiben sie. »Ich habe es fast allen erzählt, die ich kenne.« »Ich lief wütend weg«, schreibt der Junge, der vom Cola-Automaten mit einer Ohrfeige verdrängt wurde. »Ich fühle mich benachteiligt«, fügt er hinzu, und »es stört mich sehr«. »Es stört mich sehr, denn es kränkt mich«, schreibt ein anderer und kann seine Gefühle noch genauer beschreiben. Er fühlt sich, wenn die Großen ihn angreifen, »alleine, weil die mich so hassen«.

Ein Mädchen, deren Gruppe jeden Tag in das Oberstufenstockwerk gehen muß und das dort jeden Tag von den Großen angepöbelt wird, »stören« diese Vorfälle, »weil alle das gleiche Recht haben.« Die Kinder registrieren sehr genau, daß es nicht um die Ereignisse selber geht, nicht um die versäumte Cola oder den kaputten Schneeball, sondern um die symbolische Aussage. Dementsprechend fühlen sie sich »wütend, weil ich nichts machen kann«. Ein Junge findet es »schrecklich, daß immer nur die Erst- und Zweitkläßler geschlagen werden. Weil ich mir dann kleiner als die anderen und dümmer vorkomme«. Sein Klassenkamerad »ärgert sich darüber sehr, denn schließlich waren die auch einmal klein«. Und er kommt zu dem Schluß, daß »es mich eigentlich schon sehr stört, denn man muß seine Wut nicht an Kleineren auslassen«.
Matthias hatte ein besonders unangenehmes Erlebnis: »Als ich in der Pause Tischfußball spielen wollte und bei einem Tischfußballspieltisch stand, kam ein Oberstufler und drückte auf der anderen Seite eine Stange hinein, so daß sie mir in den Bauch schlug. Ich fragte ihn, >warum tust du das?< Da kam der Oberstufler zurück und gab mir einen Schubser, daß ich gegen die Wand flog. Das einzige, was er sagte war, >das war für deine Frage<. Dann ging er weg.
Und schon hat Matthias gelernt, was er laut Absicht der Großen wohl lernen sollte: »Beim ersten Vorfall dachte ich mir, daß das ein Spinner sein muß, und ich war sehr wütend. Beim zweiten Vorfall fragte ich ihn, aber davon bekommt man ja nur noch mehr Ärger.« Ein 11jähriger fühlt sich »wütend und machtlos«. In der Rechtschreibung falsch, in der Interpretation richtig faßt es sein Sitznachbar zusammen: »Es ist unfähr.« Demütigend an diesen Episoden ist auch, daß man nicht adäquat reagieren kann. Von Größeren bedroht, oft sogar von mehreren Großen gleichzeitig belästigt, bleibt nur der Rückzug. Manche Kinder versuchen, wenigstens noch einen Protest anzubringen. »Ich habe mich zwar dabei nicht gut gefühlt, trotzdem habe ich ihnen gesagt, daß ich sie gemein finde. Anschließend bin ich schnell in die Klasse gegangen.« »Ich habe zuerst ein paar Wortmeldungen gegeben, und dann bin ich in unser Zimmer gegangen.«
»Manchmal schimpfe ich zurück, aber meistens laufe ich wütend weg.« Um sich von dem Vorfall abzugrenzen und ihren Stolz zu behalten, müssen Schwächere eine Reaktion entwerfen. Die häufigste diesbezügliche Reaktion können wir mit dem Begriff der »Dissoziation« beschreiben. Man distanziert sich innerlich von Vorfällen, weil man nicht die Möglichkeit hat, sich anders zu wehren. »Ich beachte sie nicht.« »Ich gehe einfach weiter.« »Ich gehe weg, ohne auf sie zu achten.«
Für Mädchen wird diese Reaktion meist eine dauerhafte Komponente in ihrem Verhaltensrepertoire; sie begleitet manche Frauen ein Leben lang und prägt ihr Verhalten in öffentlichen Situationen. Überall dort, wo eine Belästigung, ein Anpöbeln, ein kleinerer oder größerer körperlicher Übergriff möglich ist, üben sie Vermeidungsstrategien aus, und wenn sie den Vorfall nicht vermeiden können, schütteln sie ihn ab. Sie lernen, sich auf anderen Ebenen zu wehren und durchzusetzen und die primitiveren Vorfälle - ordinäre Zurufe auf der Straße, unerwartete Zudringlichkeiten u. a. - seelisch möglichst gar nicht an sich herankommen zu lassen. [4] Das geht so weit, daß sehr viele Frauen ab einem gewissen Alter gar keine körperlichen Gegenwehrreflexe mehr haben. In Selbstverteidigungskursen müssen sie sich diese erst mühsam wieder aneignen. Die Strategie der Dissoziation erlaubt es den physisch Schwächeren, trotzdem ihre Selbstachtung zu behalten. Sie sind zwar schwächer, aber die anderen sind dümmer, simpler, primitiver und außerdem noch moralisch im Unrecht. Glücklicherweise zählt im Leben nicht nur die Muskelkraft, daher kann man das Weglaufenmüssen, die Niederlage ohne allzu große Beschädigung des Selbstwertgefühls verkraften. Auch die Erstkläßler hielten sich - nicht zu Unrecht - in Konfrontationssituationen oft für die eigentlich Besseren, Klügeren.
»Ich habe mit ihnen diskutiert«, führt ein Junge an. Ein zweiter, vermutlich in einer gewissen Fehldarstellung des Ablaufs, meint, er habe die brutalen Größeren »durch geschickte Fragen bloßgestellt«. »Ich sagte, >Idiot< und ging stumm weiter«, meint Andreas. Seine Formulierung verrät, daß seine verbale Selbstverteidigung wahrscheinlich sehr leise ausgefallen ist oder überhaupt im Bereich des Wunschdenkens blieb. Thomas ist ehrlicher. »Bei solchen Vorfällen sage ich meist, >laßt mich in Ruhe<. Aber sie reagieren nicht oft.« Sein Kamerad tröstet sich mit dem Gedanken, »daß die wohl blöd sind«. Interessant an den Antworten ist die Art der Formulierung, die oft den Versuch verrät, eine etwas positivere Version der Dinge darzustellen. »Ich bin wortlos weggegangen«, zum Beispiel suggeriert eine gewisse Erhabenheit über die Vorfälle, eine innere Überlegenheit; diese anderen waren es nicht einmal wert, daß man das Wort an sie richtete. Auch Jungen lernen, wie wir an den oben genannten Beispielen sehen können, das Gefühl der Schwäche, der Ohnmacht gegenüber einem ungerechten Stärkeren kennen. Auch sie müssen die Dominanzansprüche der Größeren ertragen. Doch sie haben später die Möglichkeit, wieder von den diversen Strategien der Schwächeren abzukommen. Sie können später selber dominant sein, allerdings um einen hohen Preis. Als Erst- und Zweitkläßler haben diese Jungen einen klaren Blick dafür, was da eigentlich läuft. Sie sehen, daß die Großen sich in derber, eigentlich sehr dummer Art produzieren gegenüber einem Personenkreis, der sich gar nicht wehren kann. Sie erkennen und beschreiben das als dumm und unfair. Ihre Reaktionen darauf sind artikuliert und intelligent. Um später aber dieselben Vorrechte zu beanspruchen, müssen sie sich, sozusagen mutwillig, selber verdummen. Sie müssen die differenzierteren Überlegungen über Gerechtigkeit und ihr Mitgefühl für Kleinere und Schwächere ablegen, sie müssen mit 15 oder 16 dümmer und einfacher werden, als sie es mit 10 und 11 waren. Die primitive Vormachtstellung wird mit einem menschlichen Rückschritt erkauft. Vielleicht läßt sich die deutliche Aggressivität in den Antworten der Fünftkläßler auf das dämmernde Wissen zurückführen, daß sie zwar größer, nicht aber besser geworden sind; daß sie einen Teufelspakt mit der Macht geschlossen haben.
Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Empfindungen sind eigentlich keine auszumachen Jungen und Mädchen machen gleiche erniedrigende Erfahrungen, und beide stört das. Die Jungen sind durchaus noch sensibel für ihre eigenen Empfindungen, auch für die Botschaften ihres Körpers. »Ich habe ein merkwürdigese Kribbeln im Bauch«, beschreibt einer seine Reaktion auf bedrohliche Konfrontationen. »Manchmal fange ich an zu zittern«, schreibt ein anderer. »Wenn ich an den Großen vorbeigehen muß, schlägt mein Herz lauter«, beobachtet der nächste. Noch ist es kein Tabu für die Jungen, Gefühle wie Angst oder Kränkung zuzugeben. Durch die Vielzahl an kleinen, trivialen Übergriffen wird diesen Jungen vermittelt, daß sie in einer Hierarchie leben, in einer Hierarchie, in der sie momentan ganz unten stehen. Sie haben aber die Möglichkeit, irgendwann aufzusteigen. Was ihnen geschieht, ist zwar ungerecht. Sie können sich nicht rächen, aber sie können die Ungerechtigkeit weitergeben. Sie werden irgendwann die Großen, die Starken sein. Erste Anzeichen dafür, wie das leider laufen könnte, finden sich schon früh. Wie hat der Junge reagiert, dessen Schneeball zertrümmert wurde? Er hat »denen gesagt, sie sollen doch die Kugeln von den Mädchen zerstören«.
Auch der »Spott«, der einen »richtig ärgern« kann, hat mitunter eine geschlechterbezogene Note. Ein Junge führt als sein schrecklichstes diesbezügliches Erlebnis an, daß er gehänselt wurde mit »Du liebst XX und liegst mit ihr im Bett«. Bei der Frage nach den schrecklichsten Kränkungen erfuhren wir, daß auch die Bezeichnung »Mädchenliebhaber« äußerst beleidigend ist. Die Fünftkläßler sind, aus ihren Fragebögen wurde es deutlich, nicht nur zynisch, sie sind auch zornig. Sie sind zu Recht zornig, denn eigentlich waren sie in vieler Hinsicht interessanter, als Persönlichkeiten reicher, als sie noch Erstkläßler waren. Man hat ihnen etwas weggenommen. Was sie nicht mehr haben, sollen andere auch nicht haben. Keiner soll es besser haben. In der Physik gibt es Gesetze, die Bewegungen beschreiben. In der Soziologie könnte man auch solche Gesetze formulieren, etwa über die Gesetzmäßigkeit, mit der Menschen, die ungerecht behandelt werden, auch anderen das Leben schwermachen, um viele Mitleidende zu haben. Denkbar wäre natürlich auch, mit gemeinsamer Anstrengung einige zu unterstützen, damit es vielleicht einmal anders wird. Der Kontrast zwischen den Antworten der Erstkläßler und denen der Fünftkläßler könnte nicht größer sein. Das stimmt auch dann noch, wenn wir berücksichtigen, daß sie naturgemäß aufsässiger und weniger kooperativ sind als die Kleineren, daß sie sich durch die Art der Fragestellung vielleicht herausgefordert und in die Defensive gedrängt fühlten, daß die Pubertät sie aufwühlt und dazu veranlaßt, besonders witzig und schlau und provokant sein zu wollen. Trotzdem ist auffällig, daß sie zum Beispiel die zweite Frage - nach ihren Erlebnissen in der ersten Klasse - nicht beantworten konnten. Manche behaupteten, sie seien damals vom Cola-Automaten verdrängt worden, obwohl es den Cola-Automaten erst seit diesem Jahr in der Schule gibt. »Nein, ich bin vergeßlich«, schrieb einer und kritzelte auf den Rest des verbleibenden Platzes lauter große Fragezeichen. Doch bei der nächsten Frage kann er sich plötzlich daran erinnern, daß »wir dann immer zurückgeschlagen haben«. Dann? Wann? »Kann mich nicht erinnern«, schreibt ein anderer. Er schreibt es in ganz großen, dicken Buchstaben und unterstreicht es zweimal. Warum so heftig? Auch Hermann kann sich an keine Erlebnisse erinnern. Doch bei der Frage nach seinen damaligen Reaktionen weiß er noch, »man mußte das alles einfach übergehen«. Was alles? Unter seinen damaligen Reaktionen führt Michael an: »Ich schlage ihn, wenn ich gleich groß bin.« Doch daneben schreibt er dann, groß und mit Ausrufezeichen, »Nein!« Was bedeutet das? Daß er das damals dachte, heute aber nicht mehr? Daß er es dachte, es aber falsch war?
Andere antworten zunächst »normal«, um ihre Antwort sofort wieder zu relativieren. »Meistens fühlte ich mich ungerecht behandelt«, meint Richie. Und dann schreibt er gleich dazu: »Besonders im Krankenhaus.« Georg erinnert sich immerhin daran, solche Erlebnisse gehabt zu haben, jedoch, wie er meint, nur »selten«. Gleich bereut er seine ernsthafte Antwort, streicht sie durch und beschreibt seine damalige Reaktion mit »es war super«. Felix kann sich daran erinnern, daß ihm in der ersten Klasse einige Male ein Unrecht geschah. Aber, meint er weiter, »man lernt daraus. Man hält sich dann zurück.« Im Vergleich zu den Fragebögen der Kleineren sehen diese so aus, als hätten sie eine Schlacht hinter sich. Sie sind in orangem Buntstift ausgefüllt und mit Bleistift, Ecken fehlen und manchmal ist fast die Hälfte wieder durchgestrichen. Die Handschrift ist erbärmlich, dafür gibt es unzählige Frage- und Ausrufezeichen. Rein von der Optik, aber auch von der Art der Formulierung her würde man meinen, dies seien die Fragebögen der Erstkläßler, während deren Fragebögen, abgesehen von den kleinen Zeichnungen, fast erwachsen wirken. Das gilt natürlich nicht für alle. Harald hat zwar am oberen Rand des Fragebogens einen privaten, feindseligen Briefwechsel mit seinem Sitznachbarn ausgefochten, die Fragen selber hat er aber geradlinig beantwortet. Er erinnert sich daran, öfters vom Fußballplatz verdrängt worden zu sein, als die »sogenannten Großen spielen wollten«. Wie das damals war? »Ich habe es deppert gefunden.« Und was macht er heute? »Wir vertreiben die Kleinen vom Basketballkorb (z. B.).« Ob er das auch »deppert« findet, sagt er nicht. Elias hat beobachtet, daß bei Auseinandersetzungen »normalerweise die Älteren anfangen. Meistens kommt es dazu, weil die Älteren auch oft geschlagen wurden, als sie kleiner waren.« Und wie das war, als er selber in der Ersten war? »Wir wurden öfters von den Größeren versohlt«, schreibt er und fügt kryptischerweise hinzu, »ich konnte daraus lernen.« Darunter steht, in großen Buchstaben, »Schule kann einen fertigmachen«. Wie hat er damals auf die Übergriffe reagiert? Hier antwortet Elias zunächst in blauem Buntstift. Das radiert er dann aus, aber man kann es noch lesen: »Mir war klar, je älter ich werde, desto dümmer werde ich.« Darüber schreibt er dann in Tinte die korrigierte Fassung: »Mir war klar, je älter, desto dümmer.« Was treibt die Großen dazu, dieses Verhalten, das sie damals ablehnten, später zu wiederholen? Zuerst bemerkt Elias in Buntstift philosophisch: »Wie du mir, so ich dir.«
Doch damit ist er dann unzufrieden und lügt in Tinte hinzu: »Mich treibt nichts dazu, die Kleinen sind okay. Fast alle.« Bei der Beantwortung der letzten Frage distanziert er sich endgültig von dem Machtgehabe. »Ich komme gut mit den Kleineren aus«, schreibt er. »Und sie auch mit mir. Wenn ich will, daß sie mich in Ruhe lassen, dann tun sie es auch.« An den meisten Fragebögen erkennt man ganz deutlich das innere Schwanken der Jugendlichen. Sollen sie diese Sache nun ernst nehmen oder nicht? Es kann so oder so ausgehen. Ein anderer Fünftkläßler bezeichnet sich als »Alex Anonymous«, ringt sich dann aber doch zu seriösen Antworten durch. Warum wiederholen die Großen diese Verhaltensweisen? »Es ist so«, erläutert er. »Wenn mann älter wird, kann man sich rächen.« Sein Bogen beinhaltet so viele Rechtschreibfehler (verschafft mit nur einem f, erregt mit nur einem r usw.), daß nicht definitiv gesagt werden kann, ob seine Schreibweise des »mann« Absicht oder eine freudianische Entgleisung war. Tim wurde als Erstkläßler »brutal von einem großen Schüler an die Wand geworfen, so daß mein Ohr zum Bluten anfing«. Daran erinnert er sich, und auch daran, sich damals »gedemütigt« gefühlt zu haben. Dann streicht er das Wort »gedemütigt« wieder durch und schreibt, »gekränkt und traurig«. Warum wiederholt man später dieses Verhalten? »Härte beweisen, Aggressionen, Schulstreß«, vermutet er. »Ich persönlich mache so etwas ohnehin nicht«, fügt er hinzu. Fritz wurde als Erstkläßler »am Gang nicht vorbeigelassen«, es wurde ihm der Ball weggenommen. Er kann es auch interpretieren. Dabei geht es, sagt er, um die »Hackordnung. Es kommt halt vor. Man überlebt es.« Und was macht er heute? »Niederbrüllen, Angst einjagen«, schreibt er, vermutlich ironisch.

Rat und Tat

Interessant als Ergebnis der Umfrage waren auch die Meinungen, Ratschläge und Unterstützungen, die den Kindern zuteil wurden. Hier waren wirklich eklatante Unterschiede festzustellen, im Hinblick auf Ratschläge, die Jungen und Mädchen erhalten und die Mütter im Vergleich zu Vätern erteilen. Den Mädchen wird überwiegend geraten, Konflikten aus dem Weg zu gehen und Vorfälle zu ignorieren. In zweiter Linie wird ihnen empfohlen, die Hilfe fremder Autoritäten einzuholen; es dem Lehrer oder der Direktion zu melden. Von Freunden und Freundinnen erhalten sie weitgehend Trost. »Sei nicht traurig.« »Mach dir nichts draus.« »Mir ist dasselbe passiert.« »Die sind blöd.« Mitunter wird ihnen auch Unterstützung versprochen: »Ruf mich das nächste Mal an, ich helf dir.« Söhne werden öfter zur Selbstverteidigung animiert als Töchter, und zwar vorwiegend von ihren Vätern. Es ist sehr aufschlußreich, auf den Fragebögen die Ratschläge von Müttern und Vätern nebeneinander zu betrachten.
Ralphs Mutter sagt: »Das mußt du in Kauf nehmen.« Sein Vater: »Wehr dich.«
Antons Mutter sagt: »Mach dir nichts draus.« Sein Vater: »Hau ihn mit ein paar Freunden so zusammen, daß er nachdenkt.«
»Sag es dem Professor«, rät Daniels Mutter. Sein Vater: »Schimpf oder schlag zurück.«
Justin erzählt es »nur meinem Vater, und der sagt dann, ich soll zurückschlagen.«
Roberts Mutter meint, er soll »einfach weitergehen und mich nicht darum kümmern«. Sein Vater schickt ihn zum Schuldirektor.
Bei Mädchen ist der Rat der Eltern einheitlicher. Wenn überhaupt, dann sind es hier die Mütter - vermutlich feministische Mütter - die zur Gegenwehr animieren, während Väter ihre Töchter lieber unter der Ägide eines beschützenden Lehrers oder Direktors wissen wollen. Oft sagen beide Eltern Dinge wie: »Hör einfach nicht hin.« Sie trösten sie mit haltlosen Versprechungen, wie z. B., daß es »bestimmt nicht mehr vorkommen« oder »das nächste Mal schon besser sein wird«. Meist geben sie defensive Ratschläge: Das Mädchen, das in der Toilette belästigt wurde, erhielt den technisch nicht leicht durchführbaren Rat, »ab nun die Tür mit der einen Hand fest zuzuhalten.« Nicht wiederzuerkennen sind die Väter, bei ihren Söhnen so zuversichtlich und militant, wenn es um ihre Töchter geht. »Wenn du dir nichts anmerken läßt, hören sie wieder auf«, meinen die Väter dann plötzlich, oder: »Laß dich nicht ärgern, beachte sie einfach nicht.« Offensichtlich will man das Mädchen nicht einem Risiko aussetzen, indem man es zur aktiven Gegenwehr aufhetzt, ein Gedanke, der bei Söhnen ebenso berechtigt wäre, aber viel seltener erwogen wird.
Wie wir wissen, befolgen die Söhne den militanten Rat ohnehin nicht, können ihn auch gar nicht befolgen, weil er vollkommen unrealistisch ist. Wenn ein einzelner Erstkläßler von mehreren Großen geärgert wird, ist die grandiose Aufforderung des Vaters, sich zu wehren zurückzuschlagen oder gar dem Großen eine »Lektion zu erteilen«, reine Schaumschlägerei. Auch der Rat, »zum Schuldirektor zu gehen«, entbehrt einer realistischen Grundlage - ein durchschnittlicher 10jähriger wird nicht ganz allein mit einer Beschwerde zum Direktor gehen, weil die Hemmschwelle viel zu groß ist. Offen bleibt die Frage, wie solche Aufforderungen auf den Sohn wirken. Legt er das ab unter »dumme Ideen nichtswissender Erwachsener« oder mißt er sich insgeheim an der Erwartung seines Vaters, in dem Wissen, ihr nicht gerecht werden zu können? Verinnerlicht er den Ratschlag für später und nimmt sich vor, irgendwann einmal der schlagkräftige, durchsetzungsstarke Typ zu sein, den sein Vater sich vorstellt? Oder sind das alles nur Floskeln, ritualisierte Botschaften zwischen Vätern und Söhnen?

  • Ich bin ein friedfertiger Mensch, und ich will einen Sohn erziehen, der vernünftig und als Mensch angenehm ist. Doch in der Volksschule ging es dann schon los. Nach der Schule und in den Pausen haben ihm irgendwelche Kinder nachgestellt, sie haben seine Mütze in den Dreck getrampelt, die Größeren haben ihn sogar geschlagen. Ich konnte ja nicht dabeisein, um aufzupassen. Er war sehr unglücklich. Er sagte, »Mama, die hauen mich immer«. Und ich hörte mich antworten: »Hau zurück!« Es war so, als ob jemand anderer gesprochen hätte. Hau zurück? Das ist übertaupt nicht meine Lebensphilosophie. Doch was sollte ich ihm sonst sagen? Diskutier mit ihnen? Lauf davon?
    Gudrun

Unbestreitbar ist, daß hier tendenziell schon Mädchen und Jungen unterschiedliche Wege einschlagen, Wege, die eigentlich beide problematisch sind. Die Mädchen lernen - und in den kommenden Schuljahren wird dieses Wissen, wie aus vielen internationalen Untersuchuagen bekannt ist, noch gründlich vertieft werden - hinzunehmen, zu verdrängen, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Aber auch die Jungen sind keinesfalls zu beneiden. Die Mädchen dürfen immerhin ihre Sensibilitäten, ihre kritischen Gedanken, ihr Gerechtigkeitsgcfühl behalten; sie müssen das alles nur tief in sich begraben und lernen, mit ständigen Übergriffen fertigzuwerden. Die Jungen hingegen müssen abstumpfen. In den ersten Schulklassen können wir ganz genau beobachten, wie sie gezielt »abgehärtet« werden, wie sie lernen, in der Jungengruppe Trost und Unterstützung zu suchen, wie sie darauf vorbereitet werden, ihre Empfindsamkeit und ihr kritisches Denken einzutauschen gegen die Chance, am Privileg der Stärkeren teilzuhaben. Die »Wiedervergeltung«, die laut Hegel unweigerlich eintreten muß als Antwort auf erlebte Übergriffe, richtet sich jedoch nicht etwa gegen die Täter, wie man meinen könnte, sondern gegen die nachfolgenden Opfer. Unterdrückung kann politisieren, muß aber nicht. Ansatzweise führt die ungerechte Behandlung bei den jüngeren Schülern zu einem gemeinsamen Bewußtsein, zur Erkenntnis, daß sie eine Gruppe, die Gruppe der Schwächeren bilden. »Die behandeln uns Erstkläßler wie als wären wir welche vom Mars«, bemerkt eine 10jährige. »Ich und meine Freundinnen helfen zusammen!« antwortet ein anderes Mädchen auf die Frage nach ihren Reaktionen. Welchen Rat geben ihr die Freundinnen? »Wir müssen zusammenhelfen und denen zeigen, daß wir einen Willen haben.« »Die stoßen uns überall herum, dann kommen sie sich vor wie Könige«, beobachtet ein anderer Schüler. Und seine Klassenkameradin meint: »Sie stoßen alle ersten Klassen, so als wären wir nichts.«
Doch dieses keimende politische Bewußtsein entwickelt sich nicht weiter. Statt dessen eignet man sich Strategien der Vermeidung, der Anpassung an. Man gibt, sobald man in irgendeiner Hinsicht die Gelegenheit dazu hat, die Gewalt an die nachwachsenden noch Kleineren weiter. Man spaltet sich nach Geschlecht; man findet sich ab. Ihre besondere Wirkung erhält diese Prägung dadurch, daß sie von den erwachsenen Lehrpersonen bekräftigt wird - manchmal absichtlich, weil diese Lehrpersonen ein traditionelles Geschlechterbild haben und manchmal unbewußt. Eine Mutter erzählte uns, daß ein Lehrer ihr beim letzten Sprechtag warnend folgenden Vorfall, ihren 6jährigen Sohn betreffend, erzählt hatte: Das Klassenzimmer hat ein gemütliches Spieleck. Dort hielt sich Matthias auf. Der Lehrer holte ihn von dort an den Schreibtisch zurück, weil die Pause vorbei war. Matthias aber war gerade in ein Puzzle vertieft und verließ die Spielecke nur ungern. Er sagte zum Lehrer: »Nun hast du mir die ganze Freude verdorben.« Und über diesen Satz sorgte sich der Lehrer, da ihm die Formulierung »unmännlich vorkam«. Es sei nicht »normal«, daß ein Junge mit seinen Gefühlen argumentiere. Traditionell gesinnte Lehrer und Lehrerinnen weisen während des Unterrichts häufig auf geschlechtsrollenkonformes Verhalten hin und ermahnen oder verspotten Kinder, die abweichen. Doch auch junge Lehrer, die sich als modern begreifen, können unwillkürlich in dieselbe Kerbe schlagen. Herbert T. zum Beispiel ist für die Nachmittagsaufsicht verantwortlich und tut sich als Neuling manchmal noch schwer damit, die nötige Disziplin durchzusetzen. Wenn einige Jungen zu laut oder zu schlimm sind oder zu viel gerauft haben, streicht er allen Jungen an diesem Nachmittag das freie Spielen auf dem Spielplatz. Die Mädchen jedoch dürfen hinaus. Ihm erscheint diese Lösung sinnvoll, weil die potentiellen Störfaktoren in seiner Klasse eindeutig die Jungen sind. Auch wenn nicht alle Jungen gestört haben, gehören sie in den Augen der Lehrer doch zur Gruppe der potentiellen Störer und können eine Lektion vertragen. Diese Art von Sippenhaftung aber ist nicht nur ungerecht; gut ein Viertel der Gruppe wird unschuldig bestraft, durch Etikettierung werden außerdem noch Stereotypen festgelegt: »Mädchen sind brav, Jungen sind schlimm.«
Diejenigen Jungen, die nicht schlimm waren, hätten einen Ansatzpunkt geboten, um dieses alte Vorurteil zu unterwandern. Statt dessen hat der Lehrer die Linien verfestigt, die Zuschreibung zementiert. Nun bilden Hans, Fritz, jonas und Theodor heute nicht zufällig eine Minderheit, die »schlimm« war und an dem strahlend schönen Nachmittag deshalb im Zimmer bleiben muß, sondern in dem rüpelhaften Benehmen von Hans, Fritz, Jonas und Theodor hat sich rein zufällig heute das manifestiert, was eigentlich in allen Jungen drinsteckt, weshalb man auch alle junzen bestrafen kann. Mit seiner Strafe will der Junge Lehrer äas Verhalten der Jungen verändern, doch er erreicht das Gegenteil. Er bestätigt und bekräftigt ihr Verhalten, weil er es ihnen als unveränderbare Eigenschaft zuschreibt. Die Schulklasse würde unzählige positive Ansatzpunkte für Veränderung bieten.
Wir können zum Beispiel davon ausgehen, daß die Gewalt der Größeren gegenüber den Kleineren aus einer Mischung von Archaischem (Territorialdenken, Hackordnung), verdrehter Rache (die Kleineren werden bestraft für etwas, was ihnen einst von Größeren angetan wurde, oder um Streß abzubauen, der von ganz woanders kommt) und Gedankenlosigkeit entsteht. Hieraus ergeben sich viele Möglichkeiten, eine Wende herbeizuführen. Das Machtstreben der Größeren, ihr Wunsch, als Platzhirsch aufzutreten, kann auch positiv kanalisiert werden. Mancherorts erfolgreich eingeführt wurde z. B. das sogenannte »Buddy-System«. Die Schüler aus den höheren Klassen bekommen eine erste Klasse zugeteilt, die sie in das Schulleben einführen und als deren Beschützer sie auftreten sollen. Damit werden urwüchsige Hierarchiegefühle konstruktiv umgelenkt. Fürsorglichkeit ist eine Eigenschaft, die wir bei Söhnen fördern und begünstigen sollten. Die Ansätze dazu sind bei allen Kindern da.
Bei Mädchen werden sie verstärkt, bei Jungen aber systematisch abgebaut. Warum sollen Söhne nicht auf ihre zukünftige Vaterrolle ebenso vorbereitet werden, wie Mädchen auf ihre Mutterolle? Fürsorglichkeit ist auch eine väterliche Eigenschaft. Bedenken wir in diesem Zusammenhang eine Geschichte, die uns eine Mutter erzählte. Ihr Sohn wurde kürzlich drei Jahre alt und wünschte sich zum Geburtstag sehnlichst einen Puppenwagen, wie er ihn bei einer Kusine gesehen hatte. Die Mutter erfüllte ihm den Wunsch. »Viele Leute haben das beanstandet: Nachbarinnen und auch fremde Leute auf der Straße lieferten unüberhörbare negative Kommentare dazu ab. Doch das Beste daran: Oft warfen diese Leute einen Blick in den Puppenwagen. Wenn sie dann sahen, daß Tobias seinen Teddybär darin spazierenführte, waren sie sichtlich beruhigt. Wenigstens spielte er nicht mit einer Puppe, das machte die Sache irgendwie noch okay.« Eine triviale Episode, aber aussagestark. Mit einem Stofftier spielen ist noch »männlicher«, als sich mit einer Puppe zu befassen. Tierpfleger ist ein männlicher Berufsvi-unsch, Kindergärtner nicht. Eine Puppe repräsentiert ein Baby. Die Pflege und Versorgung von Kindern und Babys ist unmännlich. Botschaften, die ihre Wirkung nicht verfehlen.

Exkurs: Ist Biologie Schicksal?

Hat es überhaupt einen Sinn, sich über Erziehung Gedanken zu machen? Wird man einfach als »Junge oder Mädchen geboren«, und sind damit die Würfel gefallen für den weiteren Entwicklungsweg? Unvermindert brisant ist diese Fragestellung, unvermindert groß die Freude, mit der Emanzipationsgegner uns irgendwelche unterwürfigen weiblichen und irgendwelche herrschsüchtigen männlichen Primaten vor die Nase halten. Testosteron. Evolution. In alle Ewigkeit.
Wie groß ist der Anteil der Biologie, wieviel an der Situation von Männern und Frauen ist (hormonelle) Vorbestimmung, gegen die wir Weltveränderungsbesessene sinnlos ankämpfen?
Zum einen: Diese Frage ist auch nach vielen Jahrzehnten der Forschung weitgehend offen geblieben. Zum anderen: Veranlagung heißt noch lange nicht Schicksal, nicht einmal für Affen. Diejenigen, die biologistisch argumentieren, schummeln meist, und sie können es sich leisten, weil wir alle im Biologieunterricht zu wenig aufgepaßt haben und ihren Behauptungen nichts entgegenhalten können. Ein sorgfältiges Studium anderer Säugetiere beweist letzten Endes überhaupt nichts, sondern führt uns nur die unendliche Vielfalt des möglichen Verhaltens und der möglichen sozialen Organisation vor Augen. Die Natur gibt keine dezidierte Antwort, und selbst wenn sie ein Muster erkennen läßt, hebt sie deren Aussagewert durch unzählige Ausnahmen wieder auf. Die männlichen Tiere sind sexuell die Aggressoren? Nicht bei den braunen Kapuzineräffchen. Dort werden die Männchen von den Weibchen tagelang verfolgt. »Das Weibchen geht ihm nach, sie rennt auf ihn zu, er läuft davon, sie hinterher, und wenn er schließlich einhält, kommt es zur Paarung.« Männliche Tiere sind dominant? Nicht bei den Lemuren. »Die Aggressivität ist ausgeprägt, und die dominanten Tiere herrschen sichtlich über die anderen. Untergeordnete Männchen gewöhnen sich einen gebückten Gang an und krümmen sich, wenn ein dominantes Tier erscheint... Aber die Weibchen sind davon nicht betroffen, jedes Weibchen kann beliebig jedes Männchen verdrängen oder ihm schlechtgelaunt auf die Nase schlagen oder ihm sein Essen wegnehmen.« [5] Es gibt Erkenntnisse, die man verallgemeinern kann, doch diese bekommen wir nur zu hören, wenn sie zufällig auch in das politische Konzept des vortragenden Biologen passen. Zum Beispiel geht aus der Fachliteratur eindeutig hervor, daß die »alleinerziehende Mutter« bei den Säugetieren die weitaus häufigste Familienform darstellt. »Fast alle Säugetiere organisieren sich in Gruppen von weiblichen Tieren mit ihrem Nachwuchs. Die männlichen Tiere erscheinen nur zur Paarung. Was die grundlegende Sozialstruktur anbelangt, sind die männlichen Tiere nur von einer schattenhaften Präsenz. [6] Doch davon hören wir interessanterweise nichts, nie hören wir, daß die »Familienform« der alleinerziehenden Mutter buchstäblich etwas sehr »Natürliches« ist. Wer biologistisch argumentiert, vertritt in der Regel ein konservatives Weltbild und gibt nur diejenigen Ergebnisse an die breite Öffentlichkeit weiter, die dieses Weltbild untermauern. Ferner ist Veranlagung nur ein Teil des Entwicklungsmotors. Zur großen Spannweite des möglichen Verhaltens trägt der Einfluß von Umweltbedingungen, tragen Erziehung und »Kultur« maßgeblich bei. Das gilt auch für Tiere. So weist zum Beispiel ein und dieselbe Affenart, je nach ihrer sozialen Situation, grundverschiedene Verhaltensweisen auf. Carl Sagan und Ann Druyan kontrastieren drei Lebenssituationen, in denen Hamadryasaffen sich jeweils sehr unterschiedlich benahmen. Im Jahr 1925 entstand im Zoo von London die Idee, statt ein oder zwei müder Affen, eingezwängt in einen Käfig, einmal etwas ganz anderes zu versuchen und eine große Anzahl von Affen in einem offenen Gehege zu halten. Es sollten ausschließlich Männchen sein, was vermutlich schon schlimm genug ausgegangen wäre, da das eine sehr unnatürliche, spannungsgeladene Situation dargestellt hätte. Doch durch einen Irrtum befanden sich unter den 100 angelieferten Tieren auch 6 Weibchen. Um das Ungleichgewicht etwas zu schmälern, wurden 30 weitere Weibchen nachbestellt. Diese Affengruppe hatte also denkbar schlechte Voraussetzungen. Das Gehege war zu klein und bot, da es von einem Wassergraben umgeben war, den schwächeren Tieren keine Fluchtmöglichkeit. Man hatte die Tiere einfach irgendwie und irgendwo zusammengefangen, es gab keine gewachsenen Hierarchien oder Verwandtschaftsbindungen, die aggressionshemmend gewirkt hätten. Das große zahlenmäßige Mißverhältnis zwischen Männchen und Weibchen verursachte wilde Schlachten und Kämpfe, in denen die Weibchen buchstäblich zwischen zwei männlichen Rivalen zerrissen wurden. Nach einiger Zeit waren 64% der Männchen und 92% der Weibchen diesen Kämpfen erlegen. Die englische Fachpresse ließ sich damals über das grauenvolle Wesen der Affen und über die Brutalität des »Naturzustandes« aus, doch mit Natur hatte das nichts zu tun. Im Londoner Zoo bestand eine katastrophale Sozialstruktur, gepaart mit schlechten Umweltbedingungen - Umstände, die auch das Verhalten der Menschen entscheidend beeinflussen. Der zeitgenössische Zoologe Solly Zuckerman stellte im Anschluß an dieses katastrophale Experiment Vergleiche an. In der echten afrikanischen »Wildnis« bildeten diese Tiere meist einigermaßen stabile Gruppen. Kämpfe waren selten. Weibliche Tiere wurden von männlichen Tieren dominiert und mitunter grob behandelt, aber niemals getötet. Unter wiederum anderen Umweltbedingungen, nämlich dort, wo sie in sehr kleinen Gruppen zusammenlebten, entstanden bei einer weiteren Gruppe von Hamadryasaffen »eheähnliche«, monogame Verhältnisse; diese Exklusivbeziehungen wurden von größeren, stärkeren Männchen, die in der Wildnis bei der Partnerwahl das ausschließliche Sagen gehabt hätten, respektiert. Seine Beobachtungen führten Zuckerman zu dem Schluß, daß das Verhalten von Affen keine Aufklärung verspricht über das Wesen der Primaten, geschweige denn der Menschen.
Konrad Lorenz, Desmond Morris und Robert Ardrey drei Erfolgsautoren, die Verhaltensveisen von der Tierwelt auf den Menschen projizieren, arbeiteten in seinen Augen mit oberflächlichen, zum Teil konstruierten Analogien. Andererseits scheint tatsächlich erwiesen, daß das männliche Hormon Testosteron zu bestimmten Verhaltensweisen prädisponiert. Testosteron macht aggressiv, das weibliche Hormon Östrogen macht friedlich, und Progesteron steigert die Bereitschaft, den Nachwuchs zu beschützen und versorgen. »Männliche Tiere«, schreiben Sagan und Druyan, »ertragen den Kampf nicht nur, sie scheinen ihn auch zu genießen. Mäuse laufen durch ein Labyrinth, wenn ihre einzige Belohnung dafür in der Chance besteht, mit einem zweiten männlichen Tier zu kämpfen.« Das ist ein evolutionärer Vorteil, wenn es gilt, sich selber und die eigene Gruppe unter schwierigen und gefährlichen Umständen zu verteidigen. Doch es kann zum Nachteil werden, wenn andere Aufgaben anstehen. Zwei Tierforscher stellten dazu ein interessantes Experiment an. Sie entwickelten für Ratten einen Test, der nur zu lösen war, wenn die Tiere kooperativ vorgingen, und dann erprobten sie, welche Art von »Team« diese Aufgabe am schnellsten erlernen konnte. Das Ergebnis?
»Weibliche Tiere und kastrierte männliche Tiere lernten ziemlich schnell. Männliche Tiere und kastrierte Tiere, denen man Testosteron gegeben hatte, lernten sehr viel langsamer. Es gab auch eine Anzahl von männlichen Tieren die es überhaupt nicht lernen konnten.« Männliche Tiere, die bis zum Zeitpunkt des Experiments allein gelebt hatten, lernten am schlechtesten. Die naheliegende Erklärung: Sie waren es einfach nicht gewöhnt zu kooperieren. Aber weibliche Tiere, die ebenfalls allein gelebt hatten, lernten sehr wohl. »Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Wenn du ein männliches Tier bist und Einzelgänger, und plötzlich sollst du eine komplizierte Aufgabe gemeinsam mit jemand anderem lösen, dann macht Testosteron dich blöd.« Die restlichen männlichen Teams lernten deshalb so langsam oder gar nicht, weil sie kämpfend ineinander verkrallt waren. Das typische Testosteron-induzierte Verhalten ist nützlich, wenn es um Territorialkämpfe, um Hierarchien, um die Einschüchterung von Eindringlingen und das Abschrecken sexueller Rivalen geht. Es ist kontraproduktiv, wenn es um Kooperation, innovative Strategien und Streitschlichtung geht. Aber »Testosteron«, schreiben Sagan und Druyan, »ist nicht die ganze Geschichte« - nicht für die Tiere und schon gar nicht für den Menschen. Bei zahlreichen Tieren schwankt der Testosteron-Spiegel je nach Bedarf - steigt an während der Paarungszeit und der ersten Tage nach der Geburt von Nachwuchs, weil das männliche Tier dann Rivalen vertreiben und seine Partnerin mitsamt dem Nachwuchs beschützen soll, und sinkt danach wieder ab. In anderen Fällen spielt das östrogeninduzierte Verhalten der weiblichen Tiere eine sichtlich mildernde Rolle; die Weibchen bestimmen in relativ harmonischer Weise das Leben der Gruppe, während die Männchen eine bloß marginale Rolle spielen, oder sie entwaffnen sogar buchstäblich die kampflustigen männlichen Tiere, indem sie ihnen die Steine und Zweige aus den Fingern nehmen, mit denen sie sich bereits für einen Kampf gerüstet haben. Möglich, daß männliche Lebewesen eine »Anlage« zu Gewalt, zu Dominanzverhalten, zu Risikoverhalten haben. Was wir aus unseren Anlagen machen, liegt jedoch zum großen Teil an uns. Vieles ist eine Frage der Lenkung, der Steuerung. Nicht jeder, der musikalisch ist, wird Opernsänger; wer jähzornig ist, kann sich gehenlassen oder kann lernen, sich zu beherrschen. Manche Extremberufe erfordern, wie Verhaltensforscher glauben, einen leicht pathologischen Ansatz. Nicht jeder Mensch kann Blut sehen, kann mit dem Messer in den Körper eines anderen Menschen hineinschneiden - wer es doch kann, kann Attentäter werden, oder Herzchirurg. Manche Menschen wissen, daß sie eine angeborene Neigung haben zu Suchtverhalten; sie sind aufgrund einer genetischen Veranlagung mehr gefährdet als andere. Es ist sehr gut, das zu wissen, denn dann kann man der Gefahr aus dem Weg gehen, kann gegensteuern. Als Menschen, die wir in sozialen Verbänden leben, hat unsere Situation nur noch teilweise mit »natürlichen Veranlagungen« zu tun. Kultur und Erziehung haben unter anderem auch den Sinn, diese Veranlagungen zu steuern. Es ist der »natürliche Impuls« eines neugeborenen Menschen, seinen Gefühlen hemmungslos Ausdruck zu geben - zu schreien, Gegenstände herumzuschleudern, um jeden Preis den eigenen Willen durchzusetzen, und zwar sofort. Wenn wir in der Gruppe leben wollen, ist Affektkontrolle erforderlich. Wir leben schon lange nicht mehr in der Wildnis, und unsere ganze Gesellschaft ist darauf aufgebaut, daß wir in die Natur, auch in unsere eigene Natur, eingreifen: daß wir steuern urid gegensteuern, kanalisieren und lenken, dies verbieten und das begünstigen, dies verhindern und jenes fördern. Die Zlyllisation ist ein Prozeß der Selbstkontrolle, der Organisation, der Strukturierung. Bei unseren Exkursionen in die Welt Junger Männer sind wir auf massivste Interventionen gestoßen. Keineswegs wurden männliche Menschen in ihrem Naturzustand belassen; deutlich zeichnete sich zwischen dem Alter von Null bis Neunzehn der Prozeß ab, der sie in eine harte und kalte Welt hinein erzog. Der männliche »Naturzustand«, wo er sich überhaupt manifestieren konnte, war eher sehr ermutigend. Um so bedrückender war es mitzuerleben, wie ihre Vielseitigkeit und ihre Sensibilität ihnen weggenommen wurden, wie sie begrenzt und verhärtet wurden, durch Spott, Zwang und Abwertung. Die Kinder lehnten sich dagegen auf, aber der Druck war übermächtig und kam von so vielen Seiten. Manche, die diesen Druck ausübten, waren sich dessen gar nicht bewußt, z. B. Kindergärtnerinnen, die meinten, sie würden gar nicht beeinflussen, die aber in Wahrheit unentwegt steuerten. Andere, darunter oft die Väter, gingen bewußt von einem sehr engen, sehr definitiven Bild der anzustrebenden männlichen Persönlichkeit aus. In der Erziehung und in der Lebenswelt männlicher Kinder kamen neue Ziele, neue Wertvorstellungen, neue charakterliche Richtlinien nicht wirklich vor. Es wurde nichts, rein gar nichts unternommen, um ein besseres Zusammenleben dieser Kinder in ihren zukünftigerl Familien vorzubereiten, um Eigenschaften zu fördern, die männliche Kinder noch besitzen und die einer späteren Vaterschaft zuträglich sein v"ürden, oder auch nur um zu gestatten, daß die Kinder ihr eigenes Wesen entfalten können, daß ihren Empfindungen und Gefühlen Respekt entgegengebacht wird. Wenig an der männlichen Kindheit war beneidenswert; ihre Sozialisation war anders, aber keinesfalls freier als die der Mädchen. Evolution ist nichts anderes als die Anpassung von Lebewesen an ihre Umwelt. Das heißt, Lebewesen entwickeln körperliche, aber auch soziale Eigenschaften, die ihr Überleben begünstigen. Wenn sich die Umwelt verändert, was sie laufend tut, muß sich auch das Lebewesen mit verändern. Das Wohlbefinden und Glück des einzelnen spielte bei diesen Prozessen keine besonders große Rolle, und nur so sind auch die Anforderungen an die klassische Männlichkeit zu verstehen. Männliche Menschen bildeten eine Art Kriegerkaste, jederzeit bereit, zu kämpfen und notfalls zu sterben, hart im Umgang mit sich selbst und gewillt, ein reduziertes Leben zu führen. Einige menschliche Grundeigenschaften wurden in Männern zu diesem Zweck begünstigt, andere unterdrückt. Dieser Prozeß erforderte viel Mühe, woran wir auch schon erkennen können daß die von der Gesellschaft geforderte Männlichkeit für den Mann nichts »Natürliches« war. Sie verlangte einen hohen Preis und war oftmals äußerst unangenehm. Es gab Belohnungen, zu denen wesentlich die Dominanz und die Bevorzugung Frauen gegenüber gehörte. Die Umwelt hat sich geändert. Wir haben heute ein anderes »Berufsbild« für den erwachsenen Mann. Er soll intelligent sein und fair, famillenfähig und väterlich, kreativ und flexibel, und Lebensqualität gestehen wir ihm heute auch noch zu. Doch offensichtlich hat sich diese neue Stellenbeschreibung noch nicht überall herumgesprochen, sondern man will den Mann wie gehabt, denn unsere Söhne werden auf das alte Muster zugeschnitten, ohne viel Rücksicht darauf, was ihnen dabei verlorengeht.
Sind Söhne also irgendwie anders, von der genetischen, hormonellen Ausstattung her? Sie sind motorisch aktiver, aber das wird auch gefördert - in der Bekleidung, in den geäußerten Meinungen der Umwelt und auf viele andere subtile Arten werden Mädchen immer nock zur größeren körperlichen Zurückhaltung, zur Vorsicht und zum Stillhalten erzogen, während ein Junge sportlich und agil sein soll, sich schmutzig machen und etwas riskieren darf. Sie sind territorialer und wettbewerbsorientierter, wobei auch hier die bestätigende Beeinflussung durch die Umwelt, auch durch die typischen Spiele, unübersehbar ist. Männliche Menschen müssen Erfolg haben, sollen siegen - das hören sie mittlerweile seit jahrtausenden, und es wäre verwunderlich, wenn diese Botschaften nicht auch in ihr Unterbewußtes, in ihre psychische Konstitution eingegangen wären. Aber auch die konträren Anlagen sind da. Wer mit Jungen zu tun hat und sich mit ihnen befaßt, kann sehen, was ihnen angetan wird. Sie werden deformiert, gezielt und mit Absicht und unter dem Vorwand, daß ihnen etwas Gutes angetan wird, weil sie so zu besseren, richtigeren Männern würden und ihrer Natur mehr entsprächen. Das behaupteten früher auch jene Gesellschaften, die Mädchen die Füße zu kleinen schmerzhaften Stummeln zusammenbanden, und das behaupten heute noch diejenigen Gesellschaften, die eine Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsteile vornehmen. Beide behaupten, damit dem »weiblichen Wesen« zu größerem Ausdruck zu verhelfen, es attraktiver und »richtiger« zu machen. Die Verhärtung der Jungen, ihr gezieltes Weglenken von mitmenschlichen Qualitäten und Gefühlen, von Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit läuft unter derselben Devise. Sie sollen so ihrem eigentlichen Wesen nähergebracht werden; eine paradoxe Logik, denn seiner eigenen Natur entspricht man selbstredend sehr viel mehr, bevor die anderen an einem herumgewerkt und herumgeschnitten haben.