Mädchen sind doof - Wege zur männlichen Identität

In Südafrika ist die Apartheid abgeschafft,
nicht aber in unseren Kinderzimmern.
Mädchen sind langweilig und spielen
mit Puppen aber bloß nicht mit Jungen.
Jungen sind abenteuerlustig und spielen
mit Autos aber bloß nicht mit Mädchen.
Ein Naturgesetz?

Wollt ihr wissen, wollt ihr wissen
wie's die kleinen Mädchen machen
Püppchen wiegen, Püppchen wiegen
alles dreht sich herum.

Wollt ihr wissen, wollt ihr wissen
wie's die kleinen Jungen machen
Fußball spielen, Fußball spielen
alles dreht sich herum. [1]

Eine Überraschung in der Beobachtung von 5- bis 10jährigen war für uns das hohe Maß an Apartheid, das den Umgang der Geschlechter miteinander bestimmt. Immer noch. Wer in der Pausenzeit in eine durchschnittliche erste Volksschulklasse kommt, betritt eine Zeitkapsel. Brave Mädchen zeichnen, erzählen sich leise irgend etwas, und der maximale Ausbund an weiblicher Lärmerzeugung sind Klatschreime, die mit viel Finger- und Sprachfertigkeit absolviert werden. Schlimme Buben rollen auf dem Fußboden herum, schießen Projektile durch die Luft und sind laut. Sie können keine fünf Schritte gehen, ohne sich gegenseitig anzurempeln. Manchmal ist ein burschikoses Mädchen in der Bubengruppe anzutreffen. So gut wie nie spielt ein Junge mit den Mädchen.

Wilde Jungen - liebe Mädchen

Diese Beobachtung ist von unzähligen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt worden. Sie alle kamen zu demselben Ergebnis: stereotypes, geschlechtsspezifisches Verhalten und eine starre Trennurig zwischen den Geschlechtern sind im Kindergarten- und Volksschulalter die Norm. Die Forscher machen meist keinen Hell aus ihrer Enttäuschung angesichts dieser Ergebnisse. Schließlich haben sich die Erwachsenen doch so bemüht. Kinderbücher sind heutzutage weniger traditionell, es gibt darin auch mutige Mädchen und liebevolle Väter, weibliche Ärzte und geschirrspülende Männer. In vielen Elternhäusern sind die Mütter berufstätig, mitunter in anspruchsvollen, nichttraditionellen Sparten. Die Erwachsenen haben sich verändert, doch die Kinder verharren in der Steinzeit, eine Art fürchterliche Parodie auf die fünfziger Jahre, fast als ob sie uns verulken wollten: Mädchen im Puppeneck, Jungen bei der Eisenbahn, die Mädchen spielen Braut und Ballerina, und die Buben erschießen sich gegenseitig. Wenn sie diese Phänomene erklären sollen, tippen die meisten Experten auf eine offenbar vorgegebene Entwicklungsdynamik. Die Kinder, vermuten sie, müssen da einfach durch. Als Teil ihrer Identitätsfindung und ihrer Einfügung in die Gesellschaft müssen sie zunächst ihre Mitgliedschaft zur jeweiligen Geschlechtsgruppe ausleben. Dazu gehört Überzeichnung, um die Unterschiede deutlicher hervortreten zu lassen. Dazu gehört auch eine gewisse Aggressivität gegenüber der anderen Gruppe, von der man sich abgrenzen muß und der man sich überlegen fühlen will. Außerdem, merken Experten noch an, haben Kinder im Alter von vier bis sieben ein großes Bedürfnis nach Klarheit, sie sehen die Welt gerne in klaren Umrissen. Alles soll möglichst schwarz-weiß und deutlich sein, und zu Nuancierungen sind sie erst später bereit. Daher lieben sie auch klar umrissene, absolut separate männliche und weibliche Aufgabengebiete. Mit einem Wort: Wenn die emanzipatorische Sozialisation kleiner Kinder uns nicht besser gelingt, dann liegt das an den Kindern selbst und an der Dynamik kindlicher Entwicklungsprozesse. Mag sein, daß diese Erklärungen stimmen; doch wir bezweifeln, daß die Geschichte damit vollständig, erzählt wurde. Beobachtungen in Kindergärten und Schulen zeigen im Gegenteil sehr deutlich die Halbherzigkeit, mit der integrative, nicht-traditionelle Ziele verfolgt werden. Keine Kindergärtnerin wird heute mehr sagen, daß sie traditionelle Geschlechtsrollen fördern will; keine wird sagen, daß sie das getrennte Spielen von Mädchen und Jungen begünstigt. Doch zwischen der offiziellen Linie und der tatsächlichen Praxis klafft ein Abgrund. Weil dieser Abgrund oft nur in zufälligen Nebenbemerkungen von Betreuungspersonen sichtbar wird, weil Unterlassungen mehr bewirken als eine wirkliche Handlung, weil kleine Details mehr erreichen als erkennbare Signale, übersehen wir leicht die starke Lenkung, die unsere Kinder trotz gegenteiliger Rhetorik in altvertraute Bahnen schiebt. Beobachtungen in Volksschulen und Kindergärten ergaben unzählige diesbezügliche Episoden. Eine dritte Volksschulklasse. Tina, ein süßes Mädchen mit großen blauen Augen und einem langen Zopf, spielt am liebsten mit Nick, Thomas und Andreas. Sie ist sehr sportlich, und in den Pausen überbieten sie sich auf dem Schulhof mit akrobatischen Leistungen. Sie hängen vom Klettergerüst und wetteifern im Weitspringen.
Thomas äußert sich, wie seine beiden Freunde, anerkennend über Tinas Leistungen und meint dazu: »Tina spielt nicht gern mit den Mädchen. Ich glaube, sie möchte lieber ein Junge sein. Die anderen Jungen sagen, das geht nicht, aber Andreas, Nick und ich finden es in Ordnung.« Tina hat also eine Bresche geschlagen in die starre Frontenbildung und hat drei männliche Verbündete gefunden. Doch wie geht die Lehrerin mit dieser Pionierin um? Weit davon entfernt, diese positive Entwicklung zu fördern, ermahnt sie Tina. Thomas erzählt: »Es gab eine Filmvorführung im großen Auditorium. Wir sollten uns aufstellen, die Mädchen rechts, die Jungen links. Tina wollte bei uns stehen, sie stellte sich in die Jungenreihe. Doch die Lehrerin hat das nicht erlaubt, sie mußte zu den Mädchen.« Warum geht man in geschlechtsgetrennten Reihen zu einer gemeinsamen Filmvorführung? Warum wird eine Freundschaft zwischen Jungen und Mädchen erschwert, wird Tina zwangsweise den Mädchen zugeordnet? Anton geht in die erste Klasse Volksschule. Seine Eltern führen gemeinsam ein Restaurant und sind nachmittags sehr im Streß, so daß beschlossen wird, ihn nach der Schule in den Hort zu schicken. Anton ist damit einverstanden. Nach einer Probewoche trifft seine Mutter die Erzieherin. Die meint, daß Anton sich gut eingelebt habe. »Nur schade, daß die anderen Jungen alle so früh abgeholt werden, die letzte Stunde bleibt Anton nur mehr mit ein paar Mädchen zurück.« Erst auf dem Nachhauseweg fragt sich Antons Mutter, was so schlecht daran sein soll, wenn ihr Sohn einen Teil des Nachmittags mit Mädchen spielt. Er hat sich noch nicht darüber beschwert, hat im Gegenteil positiv von einer gewissen Barbara gesprochen, die ihm erklärt hat, wie man Monopoly spielt. Die traditionellen Werthaltungen von erziehenden Erwachsenen sind schlimm genug. Vielleicht noch bedauerlicher sind jedoch die Unterlassungen. Wenn wir die resignativen Studien über traditionelles Verhalten bei Kleinkindern genauer lesen, finden sich unzählige versäumte Ansatzpunkte für konstruktive Steuerung. Besonders aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist eine Studie, die sich das Spiel- und Sozialverhalten von Kindern zwischen zwei und sieben Jahren anschaute.[2] Im Alter von zwei und drei ist das Spielverhalten der Kinder noch sehr undefiniert. Sie sind gerade dabei, die Regeln zu lernen und wichtige Begriffe - zum Beispiel den Begriff der Freundschaft - auszuprobieren: »Willst du meine Freundin sein?« »Das ist mein Freund!« sind Sätze, die in diesem Alter häufig fallen, da der Begriff probeweise getestet wird.
Geschlechtsspezifisch ist das Spielverhalten noch unausgeformt, wenn auch in Konturen schon vorhanden. Das Verhalten der Jungen mit zwei und drei unterscheidet sich noch nicht merklich vom Verhalten der Mädchen. Sie tapsen liebevoll und neugierig zu anderen Kindern, vorzugsweise zu noch kleineren, und streicheln sie. Sie heben den Schnuller eines anderen Kindes auf, wenn er hinuntergefallen ist, und unternehmen den Versuch, ihn in den Mund des anderen Kindes zurückzustecken. Sie machen sich gegenseitig Geschenke. Sie drücken Besorgnis aus, wenn ein Baby weint. Die Geschlechtszugehörigkeit anderer Kinder scheint ihnen egal zu sein, und bei der Zuweisung machen sie oft Fehler, sprechen ein Mädchen als »er« oder einen Jungen als »sie« an. Das liegt zum Teil an ihrer unvollständigen Beherrschung der Sprache und zum Teil an der altersbedingten Physiognomie. Mit zwei oder drei sind die meisten Kinder noch sehr androgyn, es ist ihnen nicht unbedingt anzusehen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind. Oft ist eine Haarspange das einzige »Geschlechtsmerkmal«.

  • Max ist zweieinhalb Jahre alt. Freunde der Familie sind zu Besuch und haben ihr Baby mitgebracht. Es sitzt in einer Babywippe auf dem Fußboden; anfangs blickt es interessiert herum, doch nach einer Weile wird es weinerlich. Die Erwachsenen, in ein Gespräch vertieft, schenken ihm keine Aufmerksamkeit, doch Max weiß, was zu tun ist. Er schaukelt vorsichtig die Wippe. Er hebt den Schnuller auf, den das Baby verloren hat, und steckt ihn ihm nicht ohne Schwierigkeiten wieder in den Mund. Er singt ein Lied. Er holt aus dem Nebenraum ein Stofftier und legt es dem Baby bei. Bei all diesen Zuwendungen trägt sein Gesicht einen besorgt-wohlwollenden Ausdruck. Natürlich ist das Baby für ihn nichts anderes als eine lebende Puppe, aber trotzdem: Konfrontiert mit der Situation »ein Baby weint« kann Max mit noch nicht einmal drei Jahren ein ausführliches Repertoire an möglichen Handlungen abrufen. Wenn er nächstes Jahr in den Kindergarten geht, wird er sein diesbezügliches Interesse nicht vertiefen, im Gegenteil; er wird dort lernen, daß es unmännlich ist, sich für Babys und deren Bedürfnisse zu interessieren.

    Cheryl

Mit drei und vier Jahren spielen Mädchen und Jungen noch gemeinsam, aber schon unter verhängnisvollen Aspekten. Wenn Jungen und Mädchen gemeinsam spielen, dann am ehesten in der Puppenecke, die aber bereits zum Terrain der Mädchen geworden ist. Sie spielen »Familie«. Die Mädchen sind bei diesem Spiel in der Mehrzahl und in »leitender Funktion«.
Manche Jungen würden gern mitspielen, entweder weil das Szenario sie interessiert oder weil sie eines der dort spielenden weiblichen Kinder mögen. Immer wieder verschlägt es sie in das Puppeneck, aber es gibt für sie dort nur zwei Rollen: Sie können das »Baby« spielen oder den »Vater«. Als »Baby« sind sie eine lebende Puppe. Sie werden gestreichelt, ermahnt, gefüttert. Es ist eine passive Rolle, die von den meisten Jungen verständlicherweise sehr schnell als langweilig und unbefriedigend erlebt wird. Die Rolle der »Mutter« ist begehrt, die Mädchen wetteifern darum, diese Rolle spielen zu können. Mit der Rolle des »Vaters« aber wissen die Kinder wenig anzufangen. Der Junge, der diesen Part übernimmt, fühlt sich wie ein Schauspieler ohne Text und Drehbuch. »Die Rolle der Mutter«, merken die Autorinnen Pitcher und Schultz an, »ist außerordentlich reich an Details. Mütter tragen Ohrringe. Sie telefonieren. Sie kochen. Sie gehen einkaufen, essen in Restaurants, besuchen Freundinnen, haben Hausgäste. Die >Mutter< tritt mit Autorität und Macht auf. Sie schickt die >Kinder< ins Bett oder in die Schule. Sie darf im >Haus< frei walten und die Spielsachen verteilen.« Auch die Rolle der »großen Schwester« ist bei den Kindern beliebt. Doch mit der Rolle des Vaters können die Kinder durchwegs nichts anfangen. Weder die Mädchen noch die Jungen haben eine Vorstellung davon, wie sich dieser »Darsteller« verhalten soll. Also sitzt er am Tisch. Es wird ihm Kaffee gebracht.
»Meist geht er sehr schnell wieder weg, in eine nicht näher definierte >Arbeit<. Wenn er zu Hause ist, verbringt er seine Zeit im >Bett<, oder er sitzt am Tisch und konsumiert eine Mahlzeit.«[3] Die Beobachtungen, die in dieser Studie geschildert sind, können wir aus eigener Erfahrung nur bestätigen; ähnliche Szenen spielten sich in jedem Kindergarten ab, den wir besuchten. Die »Väter« lagen vor einem imaginären Fernseher und gaben durch laute Motorengeräusche zu verstehen, daß sie ein Autorennen verfolgten. Mitunter riefen sie nach einem Getränk, das ihnen diensteifrig von einem Mädchen gebracht wurde. Die Mädchen traten geschäftig, mitunter herrisch auf, auch den »Vätern« gegenüber - sie bedienten sie zwar, behandelten sie aber gleichzeitig als potentielle Störenfriede der häuslichen Ordnung. Die Puppenecke war ein Zerrbild, eine Satire auf vergangene Epochen. Ein anderes beliebtes Spiel verwandelt die Puppenecke in ein Krankenhaus. Dort treten Jungen als »Patienten« auf, die von einer »Krankenschwester« (nicht von Arzt oder Ärztin) verarztet werden, Medikamente und Injektionen und Verbände bekommen. (Diese Abweichung vom tatsächlichen Erleben Kinder werden im wirklichen Leben routinemäßig von Ärzten, von Kinderärzten und Kinderärztinnen versorgt - ist übrigens interessant und weist auf eine Statusambivalenz der Mädchen hin. Einerseits sind sie in diesem Spiel dominant, daher weisen sie sich selbst die Hauptrolle zu. Gleichzeitig aber machen sie aus dieser Hauptrolle in aller Bescheidenheit eine Krankenschwester.) Jedenfalls ist die Rolle von Jungen als Mitspieler bei den Mädchen eine passive. Sie sind Patienten, Babies oder untätige Väter. Auf diese unbefriedigende Situation reagieren sie typischerweise entweder mit Rückzug - sie spielen einfach nicht mehr bei den Mädchen mit oder mit Übermut. In Ermangelung einer interessanten Rolle erfinden sie eine. Sie sind dann der »Räuber«, der in das Haus einbricht, oder der »Feuerwehrmann«, der es vor einem Brand rettet. Oft treten sie einfach nur als Zerstörer auf. Sie richten absichtlich Unordnung an, provozieren die Mädchen, nehmen ihre Spielrequisiten weg.
Daraufhin verweisen die Mädchen sie aus ihren Spielzonen. Die Entwicklung der Jungen im Spiel der Mädchen ist in deutliche Phasen eingeteilt. Zuerst sind sie interessierte potentielle Mitspieler, dann Zuschauer, dann Statisten, schließlich nur mehr Störfaktor. Zuerst werden sie bemuttert, gefüttert und verarztet, schließlich nur noch hinausgeworfen. Das sieht dann so aus: »Die Jungen werden zum Tee eingeladen. Sie nehmen am Tisch Platz. Die Mädchen hantieren mit Tassen. Die Jungen lehnen sich zu fest auf die Tischplatte, der Tisch bricht zusammen. Die Mädchen schimpfen und schicken die Jungen weg. Ein Junge rennt in die Puppenecke, schnappt sich einen Hut und eine Handtasche und läuft damit weg. >Hau ab, du Depp<, schreit das Mädchen. Der Junge kommt ins Kücheneck und reißt einige Puppen an sich. Die Mädchen schreien, die Kindergärtnerin kommt dazu und sagt dem Jungen, daß er sie nicht stören soll. Ein Junge kommt ins Puppeneck, hebt eine Puppe auf und beginnt sie auszuziehen. Die Mädchen rufen die Lehrerin, die den Jungen davonträgt. Ein Junge kommt ins Haushaltseck, hebt den Telefonhörer ab und will telefonieren. Die Mädchen sagen ihm, daß er abhauen soll. Er geht weg.
Ein Junge fängt an, die Puppen auszuziehen. Ein Mädchen sagt ihm, daß er damit aufhören soll. Er zieht der Puppe die Hose aus und ruft provozierend >Ich kann ihren Hintern sehen, ich sehe ihren Hintern!< Die Lehrerin wird gerufen und entfernt den Jungen.« [4] Sozialwissenschaftler, die Kinder beim Spielen beobachten, sammeln unzählige solcher Episoden. »Mit fünf Jahren«, fassen Pitcher und Schultz zusammen, »haben die Jungen erkannt, daß es für sie im häuslichen Spiel keine befriedigende Rolle gibt. Sie ergreifen statt dessen eine oppositionelle Rolle. Sie rechnen bereits damit, hinausgeworfen zu werden, und finden nun Gefallen an der Unruhe, die sie stiften können. Die Lehrerinnen und Betreuerinnen treten auf als die Beschützer der Mädchen.« Hier wäre eine alternative Entwicklung denkbar. Die vielen Interaktionen, anfangs nur unbefriedigend und später antagonistisch, zeugen immerhin von dem Wunsch der Kinder, miteinander zu spielen. Beide Seiten versuchen es anfänglich. Die Erwachsenen helfen ihnen aber nicht; sie treten erst auf den Plan, nachdem der Mißerfolg bereits zu Aggressionen geführt hat. Die Spaltung hat stattgefunden, die »Identitätsfindung« hat nicht nur die Zuschreibung männlich oder weiblich gebracht, sondern auch schon die dazugehörigen sozialen Attribute erhalten - die Mädchen sind zu den »braven« geworden, die ruhig spielen und keine Probleme machen, die Jungen zu den »schlimmen« und »wilden. Statt dessen wäre denkbar, daß die Lehrer schon viel früher einschreiten. Sie könnten zum Beispiel vermehrt Spiele anbieten, die von Jungen und Mädchen gemeinsam gespielt werden können. Sie könnten diejenigen Rollen, die für Jungen in Frage kommen, mit Inhalt füllen. Es wäre sogar sehr wichtig, daß Jungen in diesem Alter ein Versorgungs- und Familienverhalten erlernen, daß sie spielerisch erarbeiten, was ein Vater seinen Kindern gegenüber und im Haus alles tun könnte. Umgekehrt würde das Spiel der Mädchen, das recht eintönig und erschreckend stereotyp ist, davon profitieren, wenn bei ihnen motorische, körperliche Aktivitäten und der spielerische Umgang mit Aggression und Konflikt eine Förderung erfahren würden. Es gibt genügend experimentelle Ansätze, die den Erfolg und die Sinnhaftigkeit diesbezüglicher Interventionen beweisen.
So wurde z. B. gezielt eine Erweiterung des traditionellen Spielverhaltens angestrebt. Das Zimmer der Vorschulklasse wurde in Spielzonen eingeteilt: Autos und Eisenbahnen; Haushalt und Spielküche; Malen und Basteln; Musik- und Spielkassetten; Spiele. In jeder Zone gab es eine Pinnwand, auf dieser Pinnwand fanden sich die Namen der Kinder, die an diesem Tag hier spielen sollten. Anfangs kritisierten einige Eltern diese Strukturierung des »freien Spielens«, doch bei den Kindern bewährte es sich enorm. Terrainkämpfe und Peinlichkeiten waren ausgeschaltet, die Mädchen wurden nicht von den Buben vertrieben und die Jungen nicht von anderen Jungen gehänselt, denn sie »mußten« ja die jeweils geschlechtskonträren Spielsachen benützen. Nach einiger Zeit revidierten auch die Eltern ihre Meinung. Sie freuten sich darüber, daß ihre Söhne an Dingen Gefallen gefunden hatten, die sie normalerweise gar nicht kennengelernt hätten. Sie wären sofort zu den Autos gesaust und hätten anderen Spielsachen keine Chance gegeben. Der scheinbare Zwang, nach Vorgabe zu spielen, bewirkte in Wirklichkeit das Gegenteil: Er befreite die Kinder von dem Zwang ihrer Mitschüler und ihrer Gewohnheit und erlaubte es ihnen, ihren Interessenshorizont zu erweitern. Eine weitere Initiative befaßte sich mit dem Versorgungsverhalten und der Empathie von Kindern. Viertklässler besuchten im Rahmen des Unterrichts einen Kindergarten.

  • Schon als Kind, im Alter von neun oder zehn, wollte ich wissen, woran Jungen dachten, wenn sie mit Autos spielten. Täglich sah ich meinen etwas jüngeren Bruder, wie er, offenkundig in einer Trance von Glück, brummend seine kleinen Matchbox-Autos umherschob. An und für sich mußte es doch schrecklich langweilig sein, dies e kleinen Autos immer aufs neue über den Teppich zu schieben. Es mußte also mehr dahinterstecken. Malte er sich dabei irgendwelche tollen Abenteuergeschichten aus? Ich konnte erkennen, daß hier irgend etwas stattfand, aber ich kam nicht drauf, was es war. Ich war davon überzeugt, etwas zu versäumen. Wiederholt fragte ich nach, was er da genau spiele, woran er dabei denke. Mein Bruder sah mich verständnislos an. Was er spiele? Autos das sehe man ja. Woran er denke? An nichts Bestimmtes. Jahre später saß dann mein dreijähriger Sohn vor mir und spielte, sichtlich zufrieden, mit Autos. Ich solle mitspielen, lud er mich ein. Er gab mir ein Auto. Ich war guten Willens. Ich versuchte, mich diesem Spiel hinzugeben. Schon nach wenigen Minuten wurde mir klar, daß ich, offenbar zwanghaft, in stereotypes Frauenverhalten abgeglitten war. Ich hatte das kleine Blechauto zum Objekt traditionellen Pflegeverhaltens gemacht. Ich versorgte es. Ich fuhr das Auto an eine imaginäre Tankstelle. Ich gab ihm Benzin, füllte die Räder mit Luft, wusch die Fenster. Nein, nein, rügte mich mein Sohn, der diese Aktivitäten stirnrunzelnd verfolgte. Das sollte ich doch nicht machen, sondern ich sollte Auto spielen! Ich sah meine Chance gekommen, das alte Rätsel endlich zu ergründen. »Ich kann das nicht«, sagte ich listig. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Du mußt mir ganz genau erklären, wie das geht.«
    Das tat er gerne. Er schenkte mir einen freundlich pädagogischen Blick. Man nimmt das Auto in die Hand, sagte er, und schiebt es ganz schnell nach vorne. Dazu macht man vrrrrr, vrrrrr. Manchmal kippt man das Auto um und ruft, bummmmmmmm! Das macht man ohne Unterbrechung eine Stunde lang. Erst dann kann man von sich behaupten, man habe Auto gespielt. Ich jedenfalls weiß so wenig wie vorher. Vielleicht entsteht eine Art von Hypnose durch die gleichmäßige, langandauernde Kombination von Geräusch und Armbewegung. Vielleicht ist dieses vrrrrrr so etwas wie ein Mantra. Vielleicht wird der Kopf dabei herrlich frei, und die Gedanken verflüchtigen sich, Zen für männliche Kleinkinder. Vielleicht kann mir das mein Enkelsohn erklären.

    Cheryl

Jedem Volksschulkind wurde ein 2- oder 3-jähriger zugeordnet, den er beobachten und mit dem er spielen sollte. Nach dem Besuch, der wöchentlich stattfand, mußten die Schüler über »ihr« Kind sprechen. Was tat es gerne, wie war ihre/seine Stimmung an diesem Tag, wie war es von den anderen kleinen Kindern behandelt worden? Wenn es quengelig oder traurig war, was konnte die Ursache sein? Schon nach kurzer Zeit entstand eine ausgeprägte Anteilnahme des Älteren gegenüber dem jüngeren Kind. Außerdem war diese Unterrichtseinheit bei allen Kindern, vor allem bei den Jungen, sehr beliebt.
Der Sinn der Übung liegt auf der Hand: Die Kinder lernten, sich mit der Befindlichkeit anderer, von ihnen abhängiger Menschen zu befassen und erlebten sich in der Rolle des Versorgenden. Mädchen üben diese Fertigkeiten routinemäßig ein mit ihren Puppen, Haushalt- und Familienspielen, doch selbst sie profitieren davon, anstelle einer Phantasieversion die Realität zu erleben. Für Jungen hingegen ist diese Übung ein Novum und eine wertvolle Vorbereitung darauf, väterliche Impulse zu empfinden.

Haben es Jungen besser?

Die Beobachtungen in Kindergärten zeigen noch ein anderes interessantes Detail auf. Die zweigleisige Lenkung in »brave Mädchen« und »schlimme Jungen« hat für beide Seiten ausgesprochen negative Auswirkungen. In Studien über die weibliche Sozialisation wird davon ausgegangen, daß traditionelle Erziehungsvorstellungen die Mädchen beschädigen, für dic Buben aber vorteilhaft sind. Mädchen werden in ihrem B ewegungsdrang eingeschränkt. Mädchen sollen sauber bleiben, sollen brav und lieb und höflich sein. Buben dagegen dürfen ihre Motorik ausleben, laut und wild und schmutzig und frech sein, sich kindgerechter und selbstbewußter verhalten. Die Autorinnen der Klassiker auf diesem Gebiet, Ursula Scheu ***116.9.5 und Elena Belotti [6] beschreiben den »Drill zur Weiblichkeit«, der Mädchen eingeschränkt; mehr oder minder unausgesprochen steht im Raum, daß Jungen in Freiheit und Selbstentfaltung erzogen werden. Das ist sehr zu bezweifeln. Paradoxerweise zitiert Belotti selbst etliche Anekdoten aus ihren Kindergartenbeobachtungen, die deutlich das Unbehagen der Jungen über ihre Zuweisung zeigen. Sie erzählt z. B. ausführlich von einem gewissen Giorgetto, einem ruhigen Jungen, der gern mit den Mädchen »Verkaufen« spielen möchte und von der Kindergärtnerin durch Spott und Beschämung davon abgehalten wird. Sie erzählt von Paolo, dem folgendes widerfährt: »Eine Kindergärtnerin sagt zur Klasse: >Die Mädchen sollen nun die Zeichnungen holen, die wir heute früh gemacht haben.< Paolo hat offenbar nur den letzten Teil des Satzes verstanden und folgt den Mädchen. Die Bezugsperson bricht in schallendes Gelächter aus und verspottet ihn: >Bist du vielleicht auch ein Mädchen? Gut, dann binden wir dir eine Schleife ins Haar!< Der Kleine errötet und läuft schnell wieder an seinen Platz, wo er lange Zeit schweigend und verstört sitzen bleibt.« Belotti merkt zu Recht an, daß das Lachen der Mädchen einen bitteren Unterton hat; der Junge wird dafür verspottet, weil er offenbar etwas Minderes, nämlich ein Mädchen sein will. Doch auch für Paolo war das kein aufbauendes Erlebnis. Jungen werden, ganz genauso wie Mädchen, auf bestimmte Eigenschaften gedrillt, und andere werden ihnen ausgetrieben - diese Zwangszuweisung geschieht mit unangenehmen Sanktionen wie Spott. Auch für die Jungen ist das negativ, eine Einschränkung ihrer Möglichkeiten und ihrer menschlichen Qualitäten, obwohl die Schublade, in die sie geschoben werden, die objektiv »bessere« ist. Die Mädchen erobern sich innerhalb der sozialisierenden Institutionen und in den Augen ihrer Erzieher/innen eine Position, indem sie sich überanpassen und zu Vertreterinnen der Ordnung werden. Oft werden sie den Jungen gegenüber zu kleinen Kopien der Kindergärtnerin; sie ermahnen die Jungen, schütteln altklug den Kopf über deren Wildheit, warnen vor den Konsequenzen unbedachten Handelns. Es überrascht nicht, daß dies bei den Jungen gewisse Ressentiments weckt. Die Frau als regelvorgebende Wichtigtuerin und Spaßverderberin - das ist ein Image, das im späteren Leben so manchen Partnerschaftskonflikt eskalieren läßt und so mancher harmlosen, berechtigten Sorge der Frau eine negative Assoziation verleiht. Doch die aggressive Komponente und das Schlimmsein im Spielen der Jungen hat noch einen anderen Zweck. Beobachtungen in Kindergärten zeigen, daß Mädchenfreundschaften relativ zwanglos entstehen. Es gibt wenig Streit. Wer sich nicht mag, geht sich aus dem Weg. Jungen bilden vergleichsweise später, im Schnitt ein bis zwei Jahre später, ähnliche Freundschaften und Cliquen. Bis dahin sind die Interaktionen der Jungen miteinander (nicht aber gegenüber den Mädchen) durch Konflikte, Raufen, Angeberei, Beleidigungen und Signale der Verachtung gezeichnet. »Das gleichgeschlechtliche Spielen der Jungen im Alter von vier und fünf folgt auf eine frühere Phase, die durch relativ hohe Anteile an Provokation und Angriff gekennzeichnet ist«, schreiben zusammenfassend Pitcher und Schultz. Jungen finden über den Weg der Aggression zueinander. Bevor sie miteinander spielen, haben sie schon gelernt, miteinander zu rivalisieren, zu streiten und um Rang und Position zu kämpfen. Das mag für weibliche Ohren zunächst befremdlich klingen, aber die Kehrseite ist auch nicht besser. Mit Aggression überhaupt nicht umgehen zu können, ist genauso schlecht und potentiell ebenso schädlich wie eine aggressionsfreundliche und -fördernde Lebenshaltung. Mädchen schrecken vor jedem Konflikt zurück, wollen gemocht werden und sich vertragen - auch keine gesunde Lebenshaltung. Ein wünschenswertes Sozialverhalten bestünde in einem vollständigen Repertoire, das sowohl Kooperation wie auch Konflikte dort zuläßt, wo sie notwendig sind. Schon allein aus diesem Grund wäre eine integrative Erziehung von Kindern wünschenswert. Die kann aber nicht erreicht werden, wenn im Kindergarten zwei Welten nebeneinander existieren. Auch hier können wir wieder die subtile, unreflektierte aber verhängnisvolle Einwirkung der Erwachsenen beobachten. Bei dieser Zuweisung der Eigenschaften: brav = Mädchen, schlimm = Jungen wirken die Erwachsenen tatkräftig mit. Sie tun das aus mehreren Gründen: Erstens ist es für Lehrer und Lehrerinnen angenehm, wenn sie zumindest die Hälfte der ihnen anvertrauten Gruppe zu Wohlverhalten animieren können. Zweitens besteht in der Volksschule ein latentes Konkurrenzverhalten zwischen Mädchen und Jungen; darauf können die Lehrer aufbauen in der Hoffnung, daß unschmeichelhafte Vergleiche die Buben zu größerer Bravheit animieren werden. Und drittens sind sich viele Lehrer ihrer eigenen traditionellen Anteile oftmals nicht bewußt; zumindest unterbewußt sind sie einfach wirklich der Meinung, daß Mädchen braver und Buben wilder sein sollen. Öfter wurde uns von 7- bis 12jährigen Jungen die Beschwerde vorgetragen, ihre Lehrer und Lehrerinnen würden die Mädchen bevorzugen. Zur Illustration schilderten sie uns viele Beispiele für Sippenhaftung: Sind einige Jungen ungezogen, müssen alle Jungen eine Strafarbeit schreiben oder dürfen nicht in den Pausenhof. In einem Fall schickte der Lehrer die Mädchen Pizza essen, während die Jungen eine Zusatzarbeit schreiben mußten. Der Lehrer handelte damit, wie er wahrscheinlich glaubte, gerecht. Im allgemeinen sind die Mädchen brav, in der Regel sind die Jungen schlimm, deshalb fühlte er sich wohl mit seiner Pauschalbestrafung. Doch er erreichte damit das Gegenteil von dem, was er vermutlich anstrebte. Die Jungen wurden zwar bestraft, wurden gleichzeitig aber in ihrem Schlimmsein bestätigt, weil der Lehrer es zu ihrer gemeinsamen Eigenschaft deklarierte. Die Jungengruppe wird zusammengeschmiedet durch die Tatsache, daß auch die Welt sie als Gruppe sieht und behandelt. Sinnvoller und für die soziale Entwicklung produktiver wäre es, die Gruppenzuweisung aufzulockern. In diesem speziellen Fall, der eine erste Gymnasiumsklasse betrifft, ging die Geschichte noch weiter. Die Mädchen, die den Lehrer ebenfalls ungerecht fanden, brachten den Jungen Pizza mit. Das war eine sehr gute Geste - die Mädchen lehnten sich damit auf gegen die Polarisierung ihrer Klasse und signalisierten den Jungen, daß sie sich nicht zu deren Bestrafung benutzen lassen wollten. Der Lehrer wurde deswegen zornig und rügte die Mädchen. Er interpretierte ihr Verhalten als Unterwanderung seiner Autorität, doch ebenso hätte er darin einen positiven sozialen Akt erkennen können, der dem Zusammenhalt der Klasse, der Entwicklung von Freundschaft und dem Aufweichen starrer Trennungslinien dient. Lyn Brown und Carol Gilligan [7] haben in einer bemerkenswert recherchierten Studie die »Verweiblichung« der Mädchen dokumentiert, indem sie eine Gruppe von Schulmädchen über mehrere Jahre hindurch regelmäßig interviewten. Das eindeutigste Indiz für ihre Veränderung lag in ihrer systematischen »Nettwerdung«. Mit acht, neun und zehn Jahren äußerten die Mädchen deutlich ihre Meinung, hatten Standpunkte, waren lustig und manchmal auch böse, bewerteten Situationen. In den darauffolgenden Jahren waren sie hingegen zunehmend bestrebt, »nett« zu wirken, versöhnlich zu sprechen und von allen gemocht zu werden. Sie unterdrückten scheinbar willentlich ihr eigenes Urteilsvermögen im Interesse eines süßlich-harmonisierenden Sprechens und Denkens, redeten sich selber ihre natürlichen Impulse, Gefühle und Einschätzungen aus. »I have to be nice«, »ich muß nett sein«, war das leitende Prinzip der weiblichen Adoleszenz. Mädchen wurden von der Umwelt bombardiert mit Aufforderungen, großzügig und verständnisvoll, geduldig und zuvorkommend zu sein. Nett. Die weibliche Rolle läßt sich am besten zusammenfassen mit dem Wort: nett. Doch daraus folgt keinesfalls, daß Jungen im Kontrast dazu ihre farbenfrohe, individuelle Persönlichkeit behalten können, daß sie frei sein, sich frei äußern dürfen. Ihre allmähliche Reduktion folgt lediglich anderen Zielvorstellungen. Sie sollen, immer noch, kühl und unberührbar, hart und kontrolliert sein.

Das Geschlecht der Spiele

Die typischen Mädchenspielsachen irritieren nicht nur deshalb, weil sie so traditionell sind. Wirklich störend an ihnen ist noch etwas anderes. Sie sind langweilig, und man kann mit ihnen wenig anfangen. Diese Eigenschaft verbergen sie jedoch hinter einer glitzernden, verführerischen Fassade. Die Firma Polly Pocket lockt mit entzückenden Miniaturausgaben; bei manchen Ausführungen gehen winzige Lichter an und beleuchten klitzekleine Vergnügungsparks. Doch mit diesem Spielzeug kann man nichts »tun«. Man kann es ansehen, man kann es den Freundinnen zeigen, maximal kann man versuchen, die dazugehörigen kleinen Puppenfiguren auf winzige Bänke zu setzen, von denen sie aber unweigerlich herunterrutschen, doch weitere Möglichkeiten sind nicht gegeben. Mädchenspielsachen sind eine systematische Eingewöhnung in die Langeweile. Man kann nichts damit machen, außer sich an ihrem bloßen So-Sein zu erfreuen. Das wirklich Furchtbare am Spielen mit Puppen ist nicht, daß Puppen so rollenkonform, sondern daß sie so entsetzlich langweilig sind. Das Spielverhalten der Jungen ist aggressiver als das der Mädchen. Ihre Spielsachen bieten aber zugleich mehr Handlungsmöglichkeiten. Die Spiele der Jungen haben meist etwas mit Abenteuer und Bewegung zu tun. Piraten erbeuten Goldschätze und werden von Ordnungshütern gefangen und ins Verlies gesperrt. Weltraumstationen entsenden Roboter auf ferne Planeten. Die Handlung hat meist einen deutlichen Vernichtungscharakter. Das friedliche Spielen mit Autos macht bald einer Massenkarambolage Platz. Das Raumschiff kämpft gegen außerirdische Angreifer. Doch diese Entwicklung kommt auch nicht von den Jungen allein, sondern wird eindeutig von den Spielwarenherstellern vorgegeben und von einschlägigen Zeichentrickfilmen ausgestaltet. Das Autoangebot umfaßt vorrangig auch Polizeiautos und Krankenwagen; Matchbox bringt Autos auf den Markt, bei denen der Blechschaden schon eingebaut ist. Die Spielsachen der Jungen sind vielfältiger, beweglicher, weniger monoton als die der Mädchen, aber sie sind auf Zerstörung ausgerichtet. Kindern, die sich zwischen Jungen- oder Mädchenspielsachen entscheiden müssen, bleibt die Wahl zwischen Destruktion und Langeweile.

Exkurs: Aufstand in der Volsschulklasse

Bis zum Schulalter ist der Prozeß der Blockbildung schon ziemlich weit vorangeschritten. Gegengeschlechtliche Einladungen zum Geburtstagsfest werden zum Beispiel sehr selten. In den Pausen bilden Mädchen und Jungen fast immer getrennte Gruppen, die getrennte Dinge tun. Man kann mitunter abfällige Äußerungen über die jeweils andere Gruppe hören. Wir wollten es genauer wissen und überlegten, wie die Gruppe der Volksschüler am besten zu befragen sei. Zuerst dachten wir an einen Aufsatz, doch das Schreiben von Aufsätzen läuft in der Volksschule nach vorgegebenen Regeln ab, und die Texte geraten oft sehr kurz. Lehrerinnen schlugen vor, das Thema in Form eines Gruppengesprächs aufzugreifen, und der Vorschlag war gut. Zwar haben wir nicht erfahren, was die einzelnen Kinder wirklich und ganz ehrlich denken, denn sie wurden sofort mitgerissen von einer dramatischen Frontenbildung. Dafür aber wurden wir Zeuginnen einer Gruppendynamik, die höchst aufschlußreich war. In insgesamt sieben Schulklassen lief es immer gleich ab: Vorstellung des geplanten Vorhabens durch die Lehrerin. Ergänzende Sätze von uns. Erste Wortmeldungen, meist durch die Spaßvögel der Klasse. Ermahnung der Lehrerin, diese Aufgabe bitte ernst zu nehmen. Erneutes Formulieren der Fragestellung durch uns. Aufforderung der Lehrerin an die vergleichsweise ernsteren Mädchen, zuerst zu antworten: Wie sind Jungen, und wie unterscheidet sich ihr Verhalten von dem der Mädchen.
Differenzierte Darstellung seitens der Mädchen von den ihrer Meinung nach guten und schlechten Eigenschaften der Jungen. Gejohle, Gelächter seitens der Jungen. Nun sind die Jungen an der Reihe. Sie äußern sich ausschließlich negativ über die Mädchen. Mädchen ärgern sich, melden sich erneut zu Wort, ergänzen ihre vorherige ausgewogenere Darstellung mit weiteren negativen Aussagen über Jungen, um sich zu rächen. Auffallend ist die aufgeheizte, eigenartige Stimmung, bei der sich nicht ganz ausmachen läßt, wieviel dieser Feindseligkeit ernst gemeint ist. Die Stimmung war, genaugenommen, nicht aggressiv, eher aufschaukelnd spielerisch. Auch der Ausdruck der eigenen Überlegenheit ist bei den Jungen gespielt; in privateren Gesprächen äußern sie eher die Meinung, die Mädchen wären selbstbewußter als sie selbst, würden von den Lehrern bevorzugt behandelt werden und seien arrogant. Doch unabhängig von all diesen Einschränkungen bleibt die Bildung in Blöcke. Mädchen und Jungen stehen sich gegenüber. Die Tunzen sind in ihrer Selbstdarstellung unerschütterlich. Sie finden sich rundum gut, in jeder Hinsicht besser als die Mädchen - oder behaupten das zumindest. Die Mädchen sind ausgewogener, nennen zunächst auch Bereiche, in denen die Jungen besser sind. Erst wenn das Kompliment nicht erwidert wird, gehen sie ihrerseits pauschal zum Angriff über.
Jungen? In der ersten Gesprächsrunde fällt den Mädchen dies dazu ein:

  • besser beim Völkerball
  • wild, raufen immer
  • kommen sich gut vor, sind aber in Wirklichkeit blöd
  • manchmal hilfsbereit und nett
  • tratschen alles aus, sagen Geheimnisse weiter
  • langsamer
  • manche sind doof, manche sind nett
  • ärgern uns oft
  • helfen uns manchmal beim Werken

Zu sich selber fällt ihnen ein:

  • braver als die Jungen
  • manchmal bösartig
  • manche sind gescheit, manche auch zu gescheit, diese machen sich dann wichtig
  • klüger als Buben können besser lesen
  • nicht so gut im Turnen.

Dann waren die Jungen dran; sie sahen die Dinge weniger nuancenreich. Mädchen? Die sind

  • klein, dumm, ängstlich
  • blöd, hirnlos
  • immer beleidigt
  • wehleidig
  • ärgern immer die Jungen
  • frech, lästig, häßlich
  • -Petzen

Sie selber hingegen sind laut Selbstdarstellung

  • besser als Mädchen
  • braver als Mädchen
  • stärker als Mädchen
  • kämpfen immer
  • sind gut im Raufen, Fahrrad fahren, Verfolgen und Schlimmsein
  • schnell, können schnell laufen

Die Stimmung in den Klassenzimmern war während dieser Diskussionen immer sehr aufgeheizt. Es ging turbulent zu, mit Zwischenrufen, Drohungen, Gestöhne. Nicht alle Meldungen waren ernst gemeint; vieles zielte sichtlich auf Provokation, war an die Gegenseite adressiert in der Absicht, dort eine heftige Reaktion hervorzurufen. Trotzdem blieb ein eklatanter Unterschied: Die Mädchen waren, wenigstens zu Beginn, wesentlich versöhnlicher, bereit, die Überlegenheit der Jungen in manchen Punkten, vor allem beim Sport und im Werkunterricht, einzugestehen. Doch die Jungen billigten ihnen umgekehrt keine guten Eigenschaften zu. Sie sprachen keine Konditionalsätze, erwähnten keine Ausnahmen, ließen an den Mädchen nichts Gutes. Wir besprachen die Ergebnisse mit den teilnehmenden Lehrerinnen. Eine von ihnen, Frau Renate Monghy, schildert ihre Beobachtungen. »In der zweiten Hälfte der vierten Klasse ist es besonders extrem geworden. In der 3. Klasse waren die Mädchen und Jungen zwar immer getrennt, aber ohne Aggression. Sie haben sich einfach ignoriert. Schlimmer geworden ist es dann durch den Milan. Er ist neu dazugekommen, ein Flüchtlingskind. Er ist älter, schon 14, und hat eine ganz andere Perspektive. Eines der Mädchen hat ihm gefallen, und er wollte beim Faschingsfest mit ihr tanzen. Sie hat aber ihrem Alter entsprechend angewidert abgewehrt.
Mit einem Jungen tanzen, nein, bäääh! Seit er da abgeblitzt ist, ist er zum Mädchenfeind geworden und hat die anderen Jungen mitgerissen. Überhaupt sind Jungen irrsinnig anfällig auf Druck aus ihren Reihen. Die meisten Aggressionen gehen in meiner Klasse außer vom Milan vom Georg aus. Der brüllt irgend etwas, die anderen fühlen sich sofort unter Zugzwang und machen mit, auch wenn ihnen das sonst gar nicht entspricht. Der Frank nimmt eine Außenseiterposition ein. Letztens hatten wir eine Einheit über Gesellschaftsspiele, er war der einzige, der anschließend in der Pause noch weiterspielte mit den Mädchen. Dafür wurde er aber nicht gegängelt von den Jungen, weil er einen guten Stand hat in der Klasse. Er ist zwar so ein blasses, zartes Kind, aber er wehrt sich. Wenn er angegriffen wird, dreht er durch und tobt, damit verschafft er sich Respekt. In letzter Zeit ist es sehr extrem. Die haben sogar das Klassenzimmer aufgeteilt in Zonen, eine Zone ist den Mädchen verboten. Die Gruppe ist nicht einheitlich. An einem Extrem gibt es die Machos. Dann gibt es die große Mehrheit, die so oder so denjenigen nachredet, die das Wort führen. Am anderen Extrem gibt es die neutralen Jungen, die auch mal neben einem Mädchen sitzen und mit ihnen spielen.
Manches von all dem ist wahrscheinlich eine altersbedingte Dynamik. Ich glaube, es ist wichtig, mit ihnen zu reden, ihnen klarzumachen, was da mit ihnen läuft, auch wenn nur ein Teil davon jetzt unmittelbar haften bleibt. Humor ist wichtig. Ich habe ihnen gesagt, daß sie noch knien werden vor den Mädchen und zittern, ob eine angerufen hat. Und umgekehrt auch. Ich habe ihnen erzählt, daß ich meinen Mann erstmals kennengelernt habe mit 16 und ihn grauenhaft gefunden habe und er mich auch. Wenn mir jemand gesagt hätte daß ich ihn eines Tages heirate, hätte ich gesagt nie, nie, nie. Bei den Jungen, die ein entspannteres Verhältnis zu Mädchen haben, kann man Familiengründe dafür finden. Der Frank hat ein sehr liebevolles Verhältnis zu seiner Mutter, er ist auch sehr stolz auf sie, weil sie jetzt an der Uni studiert. Auch wenn er vielleicht darunter leidet, daß sie deshalb weniger Zeit für ihn hat, ist er schwer von ihr beeindruckt. Er zeigt immer, wie dick die Bücher sind, die sie lesen muß. Der Robert hat eine sehr intelligente ältere Schwester und außerdem eine jüngere Schwester, er hat gelernt, mit Mädchen in verschiedenen Altersstufen auszukommen. Dagegen ist der Georg der Anführer der Anti-Mädchengruppe. Er bekommt zu Hause wenig Wärme, wenig Fürsorge, er ist nicht stabil.«