Kulturfrauen und Geschäftsmänner

Soziale Identitäten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts

1. »Schönheit« und »Bedeutendheit«

"Mein Vater war Professor der Mathematik an der Universität in München, und meine Mutter war eine sehr schöne Frau." So beginnt die 1884 geborene Katia Pringsheim, verehelichte Mann, ihre "ungeschriebenen Memoiren". Katia war, um in der Familiengeschichte fortzufahren, eine Enkelin Hedwig Dohms, die sich in den 1870er Jahren als scharfsinnige, kompromißlose Kritikerin männlicher Überlegenheitsgesten und weiblicher Selbstbescheidung profiliert hatte. Ihre älteste Tochter Hedwig, Jahrgang 1855, stand bei ihren Zeitgenossen nicht nur im Ruf großer Schönheit, sondern war auch als talentierte Schauspielerin bekannt, bevor sie in die wohlhabende Berliner Industriellenfamilie Pringsheim einheiratete. [1]
Unter der Schönheit der Mutter scheint Katia Mann, selber alles andere als unscheinbar, sehr gelitten zu haben. Als einziges Mädchen unter fünf Kindern wurde sie frühzeitig gewahr, daß ihre, wie sie es nannte, "äußeren Reize" hinter denen der "berühmt schönen" Mutter verblichen. Vielleicht war es dieses lebenslange Unterlegenheitsgefühl, das sie bewog, ihre Mutter als eine "sehr schöne Frau" vorzustellen [2] - eine Kennzeichnung, die neben der des Vaters besonders hervorsticht. Über sein Äußeres erfahren wir nichts, dafür um so mehr über seine beruflichen Meriten, seine Musikalität, sein Pistolenduell mit einem Wagner Verächter, seine Vorliebe für italienische Renaissance und seinen Spaß am Einrichten von Wohnungen. Von der schönen Mutter dagegen ist im weiteren Verlauf des Lebensberichts sehr viel seltener die Rede. Sie sei "begabt" gewesen, heißt es einmal, literarisch gebildet, Neuem zugetan und habe, gemeinsam mit ihrem Mann, "ein ziemliches Haus" geführt. Darüber hinaus sei sie als Tochter einer frauenbewegten Mutter sehr daran interessiert gewesen, daß ihre Tochter das Abitur ablegte und an der Universität studierte - ein um die Jahrhundertwende noch sehr unüblicher Bildungsplan, dem Katia aus "töchterlicher Anhänglichkeit", aber ohne eigenen Ehrgeiz folgte. Als Thomas Mann 1904 um ihre Hand anhielt, zögerte sie zwar zunächst, weil sie sich "mit dem Studium, mit den Brüdern, dem Tennisklub und mit allem" sehr wohl fühlte. Dennoch folgte sie dem Drängen des damals Dreißigjährigen, heiratete ihn 1905 und bekam rasch nacheinander vier Kinder: "Da war's aus mit dem Studium." Ihre Großmutter, schrieb sie, schien "ein bißchen enttäuscht" darüber, daß die Enkelin nicht zu Ende studierte und promovierte - immerhin hatte Hedwig Dohm zeit ihres Lebens für die "wissenschaftliche Emanzipation der Frau" gestritten. Katias schöne Mutter hingegen setzte der Heirat keinerlei Widerstand entgegen, förderte sie sogar und glättete die Unmutsfalten ihres Ehemanns, der das Nesthäkchen gern noch länger bei sich behalten hätte. [3]
Warum nun diese Geschichte über emanzipierte Großmütter, schöne Mütter und eifersüchtige Töchter, die tüchtigen und erfolgreichen Väter nicht zu vergessen? Was hat sie mit unserem Thema zu tun: dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts?

2. Klassenanalyse: Markt und Familie

Diese Wahrnehmung ist für die Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte von lediglich marginaler Bedeutung gewesen. In der Regel handelten Historiker nach einer Maxime, die ihnen der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl bereits 1852 ins Stammbuch geschrieben hatte:

"Wer ein System der bürgerlichen Gesellschaft" aufstellt, der wird nicht genöthigt seyn, bei der Schilderung der socialen Gruppen auch den Gegensatz von Mann und Weib zu berücksichtigen. Der Unterschied zwischen Bauer und Bäuerin, Bürger und Bürgersfrau etc. erscheint dort in dem Gemeinsamen des Bauernthumes, Bürgerthumes etc. aufgegangen."

Einzig in der Familie, fügte Riehl hinzu, gewinne "der Geschlechtsunterschied seine sociale Bedeutung"; nur hier, in der Familiensoziologie und -geschichte also, verlange der "Gegensatz von Mann und Weib" daher auch nach einer wissenschaftlichen Untersuchung. [6]
Nachfolgende Generationen von Sozialhistorikern haben sich zumindest an den ersten Teil des Riehlschen Diktums gehalten. Am "System der Gesellschaft" interessiert, richteten sie ihren Blick vorzugsweise auf die sozialen Differenzierungen, die eine Gesellschaft durchschnitten. Man wollte Strukturen sozialer Ungleichheit offenlegen und stellte, anknüpfend an Karl Marx und Max Weber, den Begriff der sozialen Klasse ins Zentrum historischer Analysen. Klassen, hieß es, seien grundlegende Strukturelemente sozialer Ungleichheit im Sinne der "verschiedenartigen Verteilung von Lebenschancen und Lebensrisiken". Zwar gebe es auch andere gesellschaftliche "Positionen", die den Zugang zu Macht und Einkommen beeinflußten, doch spielten sie eine nachgeordnete Rolle. Alter, Konfession, regionale Herkunft träten als soziale Differenzierungslinien in der modernen industriekapitalistischen Gesellschaft zunehmend in den Hintergrund. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, so die These, habe sich die deutsche Gesellschaft immer zielstrebiger zu einer "Klassengesellschaft" entwickelt, in der der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit alle anderen sozialen Beziehungen überformte. [7] Klassen - damit waren "gesellschaftliche Großgruppen" gemeint, deren Mitglieder eine gemeinsame, ökonomisch fundierte Klassenlage und, darauf aufbauend, gemeinsame Interessen und Handlungsorientierungen besaßen. Welcher Klasse man angehörte, entschied sich auf dem Markt: Hatte man nur seine Arbeitskraft zu verkaufen, war man Teil der Arbeiterklasse; verfügte man dagegen über mobiles oder immobiles Kapital, zählte man zur >Bourgeoisie<. Zwischen den beiden >Hauptklassen<, deren Spannungen und Konflikte im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als gesellschaftsprägend angesehen werden, gab es noch diverse >Zwischen<- oder >Nebenklassen< wie etwa den selbständigen >alten Mittelstand< oder die Bauern. Auch das nicht-Industrielle Bürgertum, die Gruppe der freiberuflichen, beamteten oder angestellten Akademiker, ließ sich in dem Klassenmodell nicht so leicht unterbringen. Durch verwandtschaftliche, soziale und politische Bindungen eng mit der >Bourgeoisie< assoziiert, war es an dem beherrschenden Grundkonflikt doch nicht unmittelbar beteiligt. Es besaß keine Produktionsmittel, sondern Bildungspatente, die seinen Angehörigen den Zugang zu einem besonderen, meist staatlich kontrollierten Arbeitsmarkt öffneten.
Welche Schwierigkeiten das an Marx und Weber orientierte Klassenmodell auch immer aufwarf - allen Zuordnungen war eins gemeinsam: die Annahme, daß die Marktposition über Lebenschancen und -risiken eines Menschen entschied. Aus einer solchen Definition sozialer Klassen aber, die den Zugang zu marktvermittelten Erwerbschancen betont, fallen Frauen gemeinhin heraus. Ein Beispiel: Wenn das Bildungsbürgertum durch seine Verfügung über "Bildungspatente", das Wirtschaftsbürgertum durch seine "Eigentumsrechte" charakterisiert werden [8], konnten Frauen, denen im 19. Jahrhundert viele Eigentumsrechte ebenso prinzipiell vorenthalten wurden wie der Zugang zu Bildungsinstitutionen, dem Bürgertum per definitionem nicht angehören. Dieses Problem, sofern es überhaupt als solches erkannt wurde, galt als gelöst, seitdem man die Familie als "wichtigste Untereinheit der Klasse" [9] entdeckte und damit auch Frauen ihren klassenmäßigen Ort anweisen konnte. Bereits Riehl hatte 1852 darauf aufmerksam gemacht, daß die Familie die Grundlage der "organischen Gruppierung der Gesellschaft" sei; in der Familie mit dem hier obwaltenden "Sonderleben und der Einigung der Geschlechter finden die natürlichen Gesellschaftsgruppen" gemeint waren "sociale Stände" - "ihre Analogie und Begründung". [10] Der Ökonom Joseph Schumpeter sprach 1927 sogar davon, daß die Familie" das wahre Individuum der Klassentheorie" bilde, indem sie Klassenstrukturen nicht nur reproduziere und vervielfache, sondern auch individuell vermittele. [11] Solche Thesen wurden in der Bundesrepublik erst seit den späten 1970er Jahren rezipiert, allerdings nur in eingeschränkter und geschlechtergeschichtlich unbefriedigender Form. Daß man die Familie als Agentin sozialer Plazierung entdeckte, hieß nicht, daß man sie auch als Raum wahrnahm, in dem "der Geschlechtsunterschied seine sociale Bedeutung" gewann (Riehl). Vielmehr fiel jener Unterschied erneut durch die klassenanalytischen Begriffsraster hindurch und war folgerichtig nicht mehr als solcher erkennbar. Anstatt die Familie auch konflikttheoretisch zu deuten und dem in ihr ausgedrückten "Sonderleben" der Geschlechter auf die Spur zu kommen, interpretierte man sie als ein soziales Gebilde, das im wesentlichen durch "Einigung" von Mann und Frau im Rahmen einer gegebenen Klassenlage funktionierte. Um auszuloten, inwiefern Klassenlagen durch familiäre Strategien beeinflußt, reproduziert oder auch verändert werden konnten, untersuchte man vorzugsweise soziale Mobilitätsprozesse männlicher Familienmitglieder. Ob Familien auf- oder abstiegen, bemaß sich an der Berufs- und Marktposition des Vaters, verglichen mit der seiner Söhne. Der Einfluß der Mütter auf soziale Plazierungsentscheidungen blieb hingegen völlig unbelichtet, ebenso wie Töchter prinzipiell nur als Heiratspartnerinnen in Betracht kamen. [12] Auch in familienorientierten Studien stand demnach ein Klassenbegriff Pate, der sich ausschließlich auf die Sphäre des Marktes, des Erwerbs und der beruflichen Positionierung konzentrierte. Die zwischen Frauen und Männern ausgetragenen Spannungen und Konflikte, der Kampf um Einflußzonen und familiäre Machtstrukturen tauchten denn auch nicht auf; ebensowenig spielten die Probleme, die sich aus der offenkundigen Privilegierung der Söhne im Familienverband und der damit zusammenhängenden ökonomischen Degradierung der Töchter ergaben, eine Rolle. Infolge dieser Ausblendungen konnte die Familie als ein durchweg funktionales Element des Klassenbildungsprozesses erscheinen - eines Prozesses, der von Männern erlebt und aktiv gestaltet wurde und zu dem Frauen einen zumeist nicht näher spezifizierten Beitrag leisteten. Diese Sichtweise soll in der folgenden Fallstudie zur Geschlechter- und Klassengeschichte des deutschen Bürgertums korrigiert werden. Ihr geht es zum einen darum, die >Geschlechtsblindheit< klassenanalytischer Ansätze dadurch aufzuheben, daß der Ort von Frauen und Männern im Bürgertum deutlich markiert wird. Zum anderen soll der Beitrag beider Geschlechter zur Klassenbildung genauer herausgearbeitet werden, um auf diese Weise den Konstituierungsprozeß selber als geschlechtergeformt beschreiben zu können. [13]

Drei kurze Antworten:

  1. Mit dem 19.Jahrhundert hat sie sehr viel zu tun, wie die Lebensdaten der darin vorkommenden Personen verraten. Im Mittelpunkt steht dabei die Ära des wilhelminischen Kaiserreichs, die ins 20. Jahrhundert hineinreichte und mit dem Ersten Weltkrieg ihren Abschluß fand.
     
  2. Auch mit der Kategorie Geschlecht läßt sich die erzählte Geschichte unschwer verknüpfen. Schließlich ist es eine Geschichte über Frauen und Männer, über die sozialen Räume, die sie ausfüllten, über ihre Lebensentwürfe, ihre Selbstbilder und Wahrnehmungen. Im anfangs zitierten Satz, der Katia Manns Lebenserinnerungen einleitet, steckt eine ganze Welt von Geschlechterphilosophie und -Praxis. Hedwig Pringsheim ist zuallererst eine Frau, noch dazu eine sehr schöne; Alfred Pringsheim dagegen figuriert als Münchener Mathematikprofessor, als ortsgebundener Amts- und Funktionsträger, dessen Männlichkeit stillschweigend vorausgesetzt wird und dessen Aussehen nicht interessiert. Damit lieferte Katia Mann gewissermaßen das Anschauungsmaterial für Georg Simmels These, wonach Schönheit das genuin "weibliche Prinzip" der "Geschlossenheit des Gesamtseins in sich selbst" repräsentiere; im Gegensatz dazu verkörpere der Mann den "Wesenswert" der "Bedeutendheit", die "als Leistung, Gewinn, Erkenntnis, Wirksamkeit den eigenen Umriß durchbricht" und etwas darstelle, "was in irgendeinem Sinne außer ihm liegt" [4].
     
  3. Übrig bleibt die Kategorie Klasse - eine heuristische Konstruktion, nach der die Zugehörigkeit einer Person zu einer sozialen Klasse zentral über ihre ökonomischen Lebenschancen, ihren soziokulturellen Habitus und ihren politischen Erwartungshorizont entscheidet. Auch die Personen unserer Geschichte sind auf vielfältige Weise an ihre Klasse gebunden. Sie gehören dem Bürgertum an, jener durch die Verfügung über ökonomisches und kulturelles Kapital (>Besitz< und >Bildung<) charakterisierten sozialen Formation, die im 19.Jahrhundert in weiten Bereichen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur prägend und federführend wurde. [5]

Hedwig Dohm, 1831 in Berlin geboren, stammte aus einem wirtschaftsbürgerlichen Elternhaus - der Vater war Tabakfabrikant - und heiratete 1853 einen Schriftsteller und Kaufmannssohn; der Schwiegervater ihrer ältesten Tochter hatte sein bedeutendes Vermögen mit der Errichtung von Eisenbahnen im oberschlesischen Industriegebiet verdient, und sein Sohn Alfred, Katia Manns Vater, konnte sich als Professor dank des väterlichen Erbes einen beinahe großbürgerlichen Lebensstil leisten. Trotz des ökonomischen Gefälles, das zwischen Wirtschafts-und Bildungsbürgern in der Regel zu beobachten war, fanden beide Milieus auf gesellschaftlicher, kultureller und politischer Ebene zueinander; man heiratete untereinander, tauschte Einladungen aus, traf sich im Theater, im Konzertsaal, bei Kunstausstellungen, aber auch in Vereinen und auf Parteiversammlungen. Die beiden letztgenannten Institutionen waren übrigens ausschließlich Männern zugänglich - ein deutlicher Hinweis darauf, daß die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht nur nach Klassen unterschied, sondern auch nach Geschlechtern.

3. Geschlechter-Klassen

Ausgangspunkt ist die Doppel-Hypothese, wonach

  1. die Klassenzugehörigkeit über die Art und Weise sowie über den Grad befindet, wie sich Geschlechteridentität bei Frauen und Männern abbildet, und
  2. die Geschlechterzugehörigkeit über die Art und Weise sowie über den Grad entscheidet, wie sich Klassenidentität ausprägt.

Die erste Aussage beruht auf der Beobachtung, daß sich die Beziehungen zwischen Frauen und Männern, die relative Nähe oder Distanz ihres Verhältnisses und damit auch der Raum, in dem sich eine besondere Identität als Frau oder als Mann ausformen konnte, in den einzelnen Klassensystemen voneinander unterschieden. Im 19.Jahrhundert war die Trennung der Geschlechter offenbar im Bürgertum am weitesten fortgeschritten, während sie im bäuerlichen und Arbeitermilieu weniger scharf konturiert schien. [14]
Die ökonomische Situation bürgerlicher Schichten eröffnete die Möglichkeit, die meisten Familienmitglieder von Erwerbsarbeit freizustellen. Das Arbeitseinkommen des Mannes reichte in der Regel nicht nur aus, um den Lebensunterhalt der Familie zu finanzieren; es schuf darüber hinaus Spielräume für die Entfaltung einer ästhetischen Kultur, die als zentrales Unterscheidungszeichen fungierte. Um die Spielregeln dieser Kultur zu beherrschen, bedurfte es nicht nur eines gesicherten materiellen Fundaments, sondern auch und vor allem der Muße, sie zu erlernen und zu praktizieren. [15] Eben jene Muße stand bürgerlichen Frauen, anders als etwa den Frauen städtischer und ländlicher Unterschichten, in mehr oder weniger ausgedehnter Form zur Verfügung. [16] Damit besaßen sie zugleich die Gelegenheit, eine Identität auszubilden und zu pflegen, die sich von der bürgerlicher Männer deutlich abhob. Daß diese Identität in erster Linie an die Geschlechterzugehörigkeit geknüpft war, daß es eine dezidiert weibliche Identität war, lag angesichts der im wirtschaftlichen Bereich strikt durchgeführten Geschlechtertrennung nahe. Die durch die Arbeitsverhältnisse bedingte Distanz der Geschlechter und ihre Zuständigkeit für grundlegend verschiedene Aufgaben materieller bzw. sozialer Reproduktion riefen eine auch im soziokulturellen Habitus beobachtbare "Besonderung" (Riehl) hervor und führten zur Ausbildung stabiler, relativ starr fixierter Geschlechteridentitäten. Diese "Besonderung" gehörte zum Programm bürgerlicher Emanzipation und Selbstvergewisserung geradezu zwingend hinzu. Anders formuliert: Die ausgeprägte Differenz zwischen Frauen und Männern, zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit war eines der wichtigsten Erkennungs- und Distinktionszeichen, mit denen sich das Bürgertum des späten 18. und 19.Jahrhunderts von anderen sozialen Klassen und Schichten zu unterscheiden suchte. Diesem Zeichen konnte man auf allen Ebenen des bürgerlichen Lebens- und Gesellschaftsentwurfs begegnen, im politischen Diskurs um staatsbürgerliche Rechte und Pflichten ebenso wie in der Praxis bürgerlicher Kindererziehung, in der Tischordnung bürgerlicher Gastmähler ebenso wie in den Statuten bürgerlicher Bildungsund Geselligkeitsvereine. Wie allgegenwärtig die Unterscheidung nach dem Geschlecht für Menschen jener Epoche war, zeigt sich auch daran, daß sie sogar auf Verhältnisse und Kategorien aus ganz anderen >Sphären< übertragen wurde. Selbst nationale, historische und sozialstrukturelle Differenzen wurden häufig in Geschlechterbegriffen ausgedrückt und damit sowohl verstärkt als auch ideologisch klassifiziert. Am auffälligsten trat diese Tendenz in den Schriften Adam Heinrich Müllers aus dem frühen 19. Jahrhundert hervor. Müller, Staatswissenschaftler und Vertreter der spätromantischen Schule deutscher Philosophie, sprach nicht nur von der Spaltung der Menschheit in "Geschlechtscharaktere", sondern auch von der Scheidung der Gesellschaft in ein "bleibendes, pflanzenartiges weibliches Element" - den Adel - und den mit einer "männlichen Bestimmung" versehenen "Bürgerstand". Der Adel, schrieb er an anderer Stelle, repräsentiere "das Unsichtbare, die Macht der Sitte und des Geistes" und stelle damit im Staat das dar, "was die Frau in der Ehe" sei. [17]
An diesem Punkt sei ein assoziativer Sprung an den Anfang des Textes gewagt, zurück - oder, von Adam Müller aus gesehen, voraus - zu Katia Manns Beschreibung ihrer Eltern. Erinnern wir uns: Ihren Vater stellt sie als Münchener Mathematikprofessor vor, ihre Mutter als eine sehr schöne Frau. Die Ähnlichkeiten mit Müllers Redeweise sind bestechend: hier der durch seinen Beruf, seine "Bestimmung" bezeichnete Mann, dort die durch ihre Schönheit, ihr "pflanzenartiges" Wesen charakterisierte Frau. Setzten wir diese Gegenüberstellung nach Müllers Vorbild in der sozialstrukturellen Dimension fort, könnten wir auch von einem bürgerlichen Mann und einer adligen Frau sprechen - ein Gedanke, der auf direktem Wege zur zweiten Hypothese über den Zusammenhang von Geschlechterzugehörigkeit und Klassenidentität führt.
Klassenidentität, so lautete jene, bildet sich in Abhängigkeit davon heraus, ob die einer bestimmten Klasse mittelbar oder unmittelbar zugeordnete Person ein Mann oder eine Frau ist. Anders ausgedrückt: je nach Geschlechterzugehörigkeit identifizieren sich Menschen mit >ihrer< Klasse auf ganz unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Intensität. Bei bürgerlichen Männern, die durch ihre ökonomische Funktion und Marktposition engstens mit dem Fundament sozialer Klassifizierung verbunden sind, ist eine Klassenidentität vermutlich sehr viel stärker ausgeprägt als bei bürgerlichen Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts von jenen Märkten ferngehalten werden. Zwar gibt es Anzeichen, daß sich auch bürgerliche Frauen mit der Klassenstellung ihrer Väter und Ehegatten identifizierten, wenn sie sich beispielsweise mit dem Titel bzw. der Berufsbezeichnung ihrer Männer anreden ließen. Werner Siemens' Äußerung, daß die Frau "in den Leistungen und Resultaten der Arbeit ihres Mannes ... Befriedigung ihres Ehrgeizes" finden solle [18], weist in die gleiche Richtung, ebenso wie die Beobachtungen des Engländers Sidney Whitman, der in den 1880er Jahren Deutschland bereiste. An den dortigen Frauen in der Regel meinte er die des "besseren Mittelstandes" - lobte er, daß sie trotz wenig galanter Behandlung "die Interessen ihrer Gatten" teilten. Andererseits aber nahm Whitman auch zur Kenntnis, daß in den "gebildeten und wohlhabenden Klassen" "namentlich " die Frauen sehr darum bemüht waren, die "Scheidewand" zur "Geburtsaristokratie" zu durchbrechen und die durch Beruf und Vermögen des Ehemannes festgeschriebene Klassengrenze zu überwinden, indem sie "aristokratische Manieren" annahmen und nachahmten. [19] Diese Aussage eines Zeitgenossen, der als Ausländer ein besonders scharfes, in der Regel sehr wohlwollendes Auge auf die "Tatsachen und Charaktere" des wilhelminischen Kaiserreichs warf, eröffnet einer geschlechtergeschichtlich orientierten Untersuchung des deutschen Bürgertums neue Perspektiven. Bislang ist, wenn überhaupt, vor allem danach gefragt worden, welchen spezifischen Beitrag Frauen zur Konstituierung jener sozialen Klasse oder Formation leisteten:

passiv, als Heiratspartnerinnen, die eine für den ökonomischen Erfolg des Ehemannes wichtige Mitgift beisteuerten und ihm Verwandtschaftsbeziehungen erschlossen, welche die Solidität seines Unternehmens oder seine Amtskarriere förderten;

aktiv, als Stifterinnen sozialer Kontinuität durch die Geburt und >standesgemäße< Erziehung von Kindern, als Regisseure repräsentativer Geselligkeit, als lebendige Verkörperung des ehemännlichen Vermögens und Ansehens, als Stabilisatoren (groß-)familiale Kommunikationsnetze.[20]

In dem Bemühen, die Leistungen bürgerlicher Frauen nach einer langen Zeit des Verdrängens und Übersehens positiv(istisch) zu rekonstruieren, beschränkte man sich darauf, diejenigen Funktionen zu unterstreichen, die den Klassenbildungsprozeß sozial und kulturell abrundeten.
Adam Müllers Geschlechter-Sprache, Sidney Whitmans Bemerkung über die sozial treulosen Damen des >besseren Mittelstandes< und Katia Manns Kontrastbild ihrer Eltern setzen uns nunmehr auf eine andere, weniger ausgetretene Spur. Ihr Ausgangspunkt ist nicht die Frage nach geschlechterspezifischen Beiträgen zur Klassenkonstituierung, sondern das Problem, ob und in welcher Weise Frauen, die durch die Bindung an einen Mann formaliter oder >objektiv< Mitglieder einer sozialen Klasse waren, dieser Klasse auch tatsächlich oder >subjektiv< angehörten. Möglicherweise, so die Vermutung, bildeten Frauen im Unterschied zu Männern gar keine stabile Klassenidentität aus, sondern setzten ihre Energien dafür ein, diese Identität wenn nicht zu zerstören, so doch zu transzendieren. Das würde bedeuten, das Geschlechterverhältnis im bürgerlichen Familientandem nicht, wie bisher, als problemloses Miteinander, als harmonische Ergänzung zweier "Geschlechtscharaktere" zu rekonstruieren. Man muß nicht gleich ins andere Extrem verfallen, um die Reibungen, Konflikte und Dysfunktionalitäten dieses Verhältnisses, das Adam Müller eine "feindselige Freundschaft" nannte, stärker hervorzuheben. [21]
Das spräche dafür, den Prozeß bürgerlicher Klassenbildung als womöglich durch das Geschlechterverhältnis gestört und konterkariert ins Auge zu fassen. Indem Frauen, lautet die These, im bürgerlichen Spielplan den Part der ästhetischen Repräsentation übernahmen und von den ökonomischen Quellen bürgerlicher Lebensführung systematisch ferngehalten wurden, identifizierten sie sich anders und weniger mit ihrer Klasse als Männer. Sie standen gleichsam mit einem Bein draußen - und suchten diesen Außenseiter-Status zum Absprung in die nächsthöhere Klasse zu benutzen. Unter diesem Blickwinkel könnte dann die so häufig kommentierte "Feudalisierung" des Bürgertums als ein Prozeß erscheinen, der nicht unwesentlich von Frauen motiviert, angeregt und vorangetrieben wurde. Gewiß stand am Ende des Prozesses ein >männlicher< Akt: die Nobilitierung des erfolgreichen Bankiers, Professors oder Industriellen, der sich durch seine individuellen Leistungen hervorgehoben und um das Vaterland verdient gemacht hatte. [22] Vorbereitet und ermöglicht wurde dieser Akt jedoch sehr oft durch die Aus- und Aufstiegsstrategien von Frauen, die den Erfolg ihrer Männer ästhetisch ummäntelten und seine materiellen Grundlagen kulturell überdeckten.

4. Männliche Identität: Beruf und Arbeit

Für diese These finden sich in Texten des 19. Jahrhunderts viele Belege. So schrieb etwa Otto von Bismarck 1856, als einundvierzigjähriger Gesandter am Frankfurter Bundestag, an Leopold von Gerlach: "Bei den rheinischen Bankiers und Fabrikanten machen die Frauen durchschnittlich auch den Eindruck, als ob sie einer höhern Klasse der Gesellschaft angehörten wie ihre Männer." Er fügte noch hinzu: "Bei Angehörigen der frühern Generationen fällt das weniger ins Auge; es muß seine Ursache in der heutigen Erziehung und materialistischen Lebensrichtung der Männer haben. [23]

Bismarcks Vermutung weist den richtigen Weg, auch wenn sie die Akzente falsch setzt. Geändert hatten sich weniger die "Erziehung" und "Lebensrichtung" bürgerlicher Männer als die ihrer Frauen und Töchter. Zwar scheinen sich das Tempo und die Intensität beruflichen Engagements im Verlauf des 19.Jahrhunderts nicht unerheblich gesteigert zu haben, so daß die Arbeit oder, wie Bismarck sich ausdrückte, der "Materialismus" nicht nur den Mittelpunkt des bürgerlich-männlichen Lebenszusammenhangs bildete, sondern ihn fast ganz ausfüllte und dominierte. [24] So berichtet etwa der Biograph des Berliner Bankiers Adolf Hansemann (1826-1903): "Sein Leben gehörte der Bank, von morgens früh bis abends spät arbeitete er dort."

"im Sommer wie im Winter erhob er sich um 6 Uhr in der Frühe und begann nach einem kurzen Frühstück sein Tagewerk, und zwar, wie jeder Geschäftsmann, mit der Lektüre von in- und ausländischen Zeitungen. .. Wenn er sich dann gegen 10 bis 11 Uhr in die Bank begab, sprach er nicht selten in der Behrenstraße bei dem befreundeten Hause S. Bleichröder vor ... Des Mittags kehrte er nicht nach Hause zurück, sondern nahm in seinem Arbeitszimmer ein kleines f-rühstück ein, das ihm von zu Hause gebracht wurde und das aus einem Gericht und einer halben Flasche Wein bestand. Die Arbeit ging dann ununterbrochen bis 6 Uhr oder 7 Uhr abends fort, worauf er die Bank verließ, um sich einem Wunsch seiner Frau folgend - häufig zu Fuß über die Linden und die Tiergartenstraße nach Hause zu begeben. Waren keine Gäste da, so wurde um 1/28 Uhr im Familienkreise das Abendessen eingenommen ... Nach dem Essen pflegte Hansemann eine halbe Stunde zu ruhen, was er seinen Mittagsschlaf nannte ... Nach dieser Ruhe zog er sich dann zur-ück und pflegte entweder allein oder, bei dringenden Geschäften, mit Herren von der Bank, die er zu sich bat, weiter zu arbeiten oder sich der Lektüre von Zeitungen zu widmen, bis er sich gegen 12 oder 1 Uhr zur Ruhe begab. [25]

Auch sein eine Generation jüngerer Kollege Carl Fürstenberg (1850-1933), seit 1883 Geschäftsinhaber der Berliner Handels-Gesellschaft, widmete dem Beruf die weitaus meiste Zeit und Energie seines Lebens. Regelmäßige Geschäftsreisen führten ihn ebenso oft von seinem "jungen Familienglück" - er hatte 1889 zum zweitenmal geheiratet - fort wie die Gewohnheit, "bis spät in den Abend hinein (zu) arbeiten". Anstatt das Mittagessen zuhause einzunehmen, traf er sich in der Berliner Börse mit anderen "Finanzgrößen", um dank solcher "unausgesetzten und häufig intimen persönlichen Zusammenhänge" manch schnelles und lukratives Geschäft abzuschließen. [26] Nun mag es wohl sein, daß Hansemann und Fürstenberg besondere, man würde heute sagen: workaholics' gewesen sind und es in ihrer exponierten beruflichen Position auch sein mußten. Andererseits waren die "Bankiers und Fabrikanten", denen Bismarck 1856 "materialistische" Orientierungen bescheinigt hatte, aus dem gleichen Holz geschnitzt. [27] Von Bismarcks Altersgenossen Gustav Mevissen (1815-1899) hieß es etwa, seine berufliche und politische Arbeit habe sich "zum größten Teil außerhalb des Hauses" abgespielt und "ihn, wenn er zu Hause war, meist an den Schreibtisch" gefesselt. Trotz einer offenbar glücklichen Ehe und fünf wohlgeratenen Töchtern habe er das "Leben im Kreis der Familie" nur als "Ergänzung" seines öffentlichen Wirkens betrachtet, das eindeutig im Zentrum seines Denkens und Handelns gestanden habe. [28]
Ob eine solche Prioritätensetzung tatsächlich neu und bei "frühern Generationen", wie Bismarck meinte, seltener anzutreffen gewesen sei, müßte näher untersucht werden. Die Lebenserinnerungen Peter Eberhard Müllensiefens (1766-1847) und Franz Haniels (17791868) wecken zumindest erste Zweifel an dieser Auffassung. Müllensiefen - er war Kaufmann und Industrieller, später Landrat im westfälischen Iserlohn - schilderte sein Leben als eine einzige Arbeitsfron, die er bis zum Alter von 34 Jahren für seinen Schwiegervater, danach auf eigene Rechnung leistete. [29] Auch Haniel schaffte den Aufstieg vom Duisburger Kaufmann zum Ruhrindustriellen und preußischen Geheimrat nicht ohne ständige unternehmerische Präsenz und unentwegten persönlichen Einsatz. Als 15jähriger vertauschte er die Schulbank endgültig mit dem Kontor des mütterlichen Handels- und Speditionsgeschäfts: "Die Schule wurde vergessen; ... es gab viel zu schreiben, und ich blieb stets auf unserem Comptoir." Daß sein älterer Bruder "zu viel die Jagd liebte", während er selber "mehr das Geschäft" favorisierte, war ihm später ein großes Ärgernis und Anlaß, auf eine vermögensrechtliche Separierung zu drängen. Ähnlich wie Müllensiefen bekleidete auch Haniel immer wieder kommunale Ämter und setzte sich aktiv für öffentliche Angelegenheiten ein. In der "Aufstellung meines Lebenslaufes", die er als Achtzigjähriger für seine Familie verfaßte, nahmen jene "Verhältnisse", die sich auf seine berufliche und politische Tätigkeit bezogen, denn auch den allergrößten Raum ein; Familieniiachrichten Heirat, Geburt der Kinder, Tod von Familienmitgliedern - wurden im Telegrammstil abgehandelt. [30]
Daß ein arbeitsames Leben nicht nur Kaufleute, Bankiers und Industrielle auszeichnete, sondern auch in bildungsbürgerlichen Kreisen üblich war, ist den Tagebüchern des Berliner Arztes Ernst Ludwig Heim (1747-1834) zu entnehmen. Zwar finden sich immer wieder Eintragungen über Ausflüge mit Frau und Kindern, über "Manns-Gesellschaften", Kollegentreffen und Theaterabende; der Alltag aber ließ ihm mit 50 bis 70 Krankenvisiten wenig Zeit für solche Unternehmungen. "Fast täglich", notierte er 1786, "habe ich des Morgens 6 und des nachmittags 3 auch wohl 4 Stundenlang gefahren, um alle Kranke gehörig besuchen zu können. Zu anderen Beschäftigungen ist mir daher fast gar keine Zeit übrig geblieben." 1791 berichtete er seinem Vetter:

"Alle meine Zeit muß ich auf die Praxis verwenden. Des Morgens schon vor 6 Uhr kommen Kranke auf mein Zimmer, u. dies dauert kinunterbrochen fort bis 8 Uhr, da ich dann ausfahre und bis 2 Uhr Kranke besuche. Ich speise selten des Mittags zuhause, - u. geschieht dies ja, so habe ich meistens einige gute Freunde zum Essen bei mir. Nach 4 wird wieder ausgefahren, u. komme selten vor 8 Uhr zu Hause. Abends esse ich nie, gehe auch höchst selten in Gesellschaft, sondern bleibe gern allein auf meinem Zimmer, - weil ich dann gar nicht mehr zum Reden aufgelegt, u. müde von dem vielen Sprechen bei den Kranken bin. Die Zeit von 8 bis 11 Uhr des Abends wird mit Briefschreiben an auswärtige Kranke, Zeitunglesen, pp zugebracht, u. so geht es alle Tage."

Als Heim am 13. August 1802 seine Frau und Kinder ins Theater begleitete, schrieb er danach in sein Tagebuch:

"Alle drei Stücke haben mir sehr gut gefallen. Ich werde aber doch so leicht nicht wieder in das Schauspielhaus gehen, da ich mich dadurch nur zu sehr zerstreuen und meine Kranken darunter leiden würden."

Eine ähnliche Eintragung stammt vom 19. Oktober 1824, nachdem er einer Vorstellung im neuen Schauspielhaus beigewohnt hatte:

"Heute aber habe ich tüchtig gelacht und mich vergnügt. Weder das eine, noch das andere kann ich mir als Arzt, der ich so viele Kranke zu besuchen habe, mit Recht erlauben. Possen bleiben Possen!! [31]

Seine Frau und seine fünf Töchter dagegen waren eifrige Theater- und Opernbesucherinnen; für sie gab es keinen Zielkonflikt zwischen Arbeit und Posse, zwischen Prosa und Poesie. Frau Charlotte (1764-1842), Tochter aus begüterter und geachteter bürgerlicher Familie, führte den wachsenden Haushalt in der Berliner Zehn-Zimmer-Wohnung mit Hilfe mehrerer Dienstmädchen, die die grobe Arbeit verrichteten. Sie selber erfreute ihren Gatten durch ihr Organisationstalent, wenn sie Abendgesellschaften und Feste für über hundert Personen arrangierte oder sich bei Ausflügen im Freundeskreis als "Picknick-Mutter" "zur großen Zufriedenheit eines jeden, und aller" betätigte. Ihre Töchter wurden von einem Hauslehrer unterrichtet, in ihren musischen Talenten gefördert und mit gutsituierten Ehepartnern hohen Beamten und Offizieren, häufig sogar adliger Herkunft - verheiratet. An seinen einzigen Sohn hingegen richtete Heim andere Erwartungen. Abgesehen davon, daß er ihn mit dreizehn Jahren in die Charité mitnahm, um ihm Geschlechtskranke vorzuführen und "einen Abscheu gegen Unzucht zu machen", ließ er ihn das Werdersche Gymnasium besuchen und Latein lernen, damit er "einst ein tüchtiger Arzt werden möchte". Daß der Junge wenig Fleiß und Neigung für alte Sprachen zeigte, bereitete Heim große "Sorge" und "Betrübnis". Er führte ihn in den Kollegenkreis ein und schickte ihn zum Studium nach Göttingen. [32] In dem Sohn sah er in erster Linie den würdigen Nachfolger, der in die Fußstapfen des Vaters treten und dessen auf rastlose Arbeit gegründete Existenz fortsetzen sollte. Die Erziehung und Ausbildung, die der 1789 geborene August Wilhelm genoß, unterschied sich denn auch weder sonderlich von der seines 42 Jahre älteren Vaters noch von der späterer Generationen. Akademikersöhne besuchten das Gymnasium und bezogen danach die Universität; Kaufmanns- und Fabrikantensöhne nahmen mit einer Bürger- oder Gewerbeschule vorlieb und stürzten sich sodann in die unternehmerische Praxis. [33] In jedem Fall orientierten sich Art und Länge der schulischen Bildung an dem anschließend zu ergreifenden Beruf - der im 19.Jahrhundert noch sehr häufig von den Vätern vorbestimmt wurde.
Gerade dort, wo ein Geschäft, eine Fabrik zu übernehmen und fortzuführen waren, besaßen junge Männer meist nicht die Chance, ihren Beruf frei zu wählen. Doch selbst in jenen Fällen, in denen sie aus eigenem Antrieb ins kaufmännische Fach einstiegen, war ihr persönliches Verhältnis zu ihrer Tätigkeit und ihrem Lebensplan oft gespalten. Peter Eberhard Müllensiefen, für den sein Vater eigentlich ein Theologiestudium vorgesehen hatte und der statt dessen eine sechsjährige Lehrzeit bei einem westfälischen Drahtkaufmann absolvierte, vermißte in seinem Beruf und bei seinen Kollegen nicht nur moralische Qualitäten, sondern auch geistig-intellektuelle Anregungen. [34] Zwei Generationen später meinte Gustav Mevissen, selber hochgebildet und vielseitig interessiert, "die Stellung des künftigen Chefs des Großhandelshauses" gebe "in den meisten Fällen keine innere Befriedigung": "Die Kluft zwischen Besitz und wahrer Bildung wird bei dem fortschreitenden Leben stets weiter, das Bewußtsein der Existenz dieser Kluft bei den begabteren Individuen stets drükkender." "Remedur" scheine "dringend geboten", um "Bildung und Besitz harmonisch zu verbinden und ... das Leben der Besitzenden zu veredeln und zu verschönern". [35] Sah Mevissen die "Remedur" in der Errichtung von Handelshochschulen, in denen sich der angehende Kaufmann und Unternehmer sowohl eine gründliche Fachbildung als auch eine "universelle-, humanistisch geprägte Menschenbildung aneignen sollte, ließen sich jene Defizite auch anders beheben: durch Frauen. Indem sie von der männlichen Sphäre des Erwerbs und der Politik ferngehalten wurden, waren sie nicht nur frei von den Beschränkungen dieser Sphäre, sondern auch frei für allgemeinmenschliche Interessen und universelle Bildung.

5. Männliche Projektionen: Das Weibliche

Eine solche Form geschlechterspezifischer Arbeitsteilung hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher ausgeprägt. Gibt es aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert noch zahlreiche Hinweise darauf, daß Frauen und Töchter oftmals an den kaufmännischen Unternehmungen der Familie aktiv teilhatten [36], waren sie dort gegen Ende des Jahrhunderts nicht mehr zu finden. Das mochte zum Teil daran liegen, daß die Struktur der Wirtschaftsbetriebe zunehmend komplexer und differenzierter geworden war und nichtprofessionellen Arbeitskräften keinen Raum mehr bot; zugleich scheint diese Entwicklung aber auch von dem dezidierten Wunsch männlicher Betriebsleiter nach Autonomie und Entfernung des >weiblichen Elements< begleitet und vorangetrieben worden zu sein. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Briefwechsel zwischen Werner Siemens (1816-1892) und seinem Bruder Carl, der die Firma in Petersburg vertrat, aus den Jahren 1855/56. Als sich abzeichnete, daß Carls Braut, eine Bankierstochter, sich in "Geschäftsfragen" einmischen wollte, ermahnte Werner den dreizehn Jahre jüngeren Bruder.

"Strenge Trennung des Geschäftes und seiner Rücksichten vom Familien- und häuslichen Leben mußt Du obenan auf Deine Fahnen schreiben."

Nach der Hochzeit schrieb er ihm:

"Deine Frau leidet jedenfalls an einer grundfalschen Ansicht ... Sie betrachtet sich als eine Art Frau Meisterin, die in des Mannes Abwesenheit höchst gebietet. Das mußt Du ihr je eher, desto besser abgewöhnen. Ich würde meiner Frau nicht gestatten, sich an den Kontorjungen anders als bittweise zu wenden, wenn es ihr je mal einfallen sollte, das Kommandopferd zu besteigen! Im Hause soll die Frau gebieten, im Geschäft = Null sein, sonst ist es Pantoffelregiment, was weder ihr noch dem Manne Ehre macht." [37]

Ihrem Manne Ehre machte eine Frau dann, wenn sie sich aus geschäftlichen Dingen heraushielt, ihren Haushalt reibungs- und geräuschlos organisierte, die Kinder standesgemäß aufzog und sich darüber hinaus in der Gesellschaft den Ruf einer vornehmen, eleganten und gewandten >Dame< erwarb. Dazu sollte eine Erziehung beitragen, die viel Wert auf die Vermittlung ästhetischer Kultur legte und Klavierspiel, literarische Kenntnisse und künstlerische Fähigkeiten hochschätzte. Auf diese Weise lernten die Frauen der von ihrer "rastlosen geregelten Tätigkeit" absorbierten Geschäftsmänner das zu verkörpern, was Mevissen als "höhere Sphäre des geistigen Lebens" rühmte und als "Veredelung" der >niederen< Erwerbssphäre pries. [38]
Auf gesonderte, im 19. Jahrhundert zunehmend professionalisierte und perfektionierte Bildungseinrichtungen - Mädchenschulen, Pensionate - verwiesen, die nicht auf einen Erwerbsberuf hinleiteten, sondern ein gewissermaßen zweckfreies Curriculum vorgaben, eigneten sich "höhere Töchter", wie Carl Fürstenberg über die Bankiersgattin Leonie Schwabach schrieb, "den ganzen Schliff einer feinen westlichen Kultur" an. [39] Er befähigte sie dazu, als grandes dames aufzutreten, ein elegantes Haus zu führen, anspruchsvolle Salons zu gründen und als kulturell versierte Gesellschafterinnen zu glänzen. Mit diesem Glanz überstrahlten sie nicht nur die prosaische Existenz ihrer Ehemänner, sondern werteten sie auch gewissermaßen auf, hoben sie in eine andere, "höhere" Sphäre. Der Bankier Fürstenberg war sich dieser Zusammenhänge sehr wohl bewußt. Selber kein "Gesellschaftsmensch" und künstlerisch-musisch eher unbedarft, verdankte er es nach eigenem Bekunden

"erst meiner Verbindung mit einer schönen, gesellschaftlich gewandten und in häuslichen Dingen ganz besonders geschickten Frau, "daß mein Haus etwa zwanzig Jahre lang 1890-1940 eines der geselligsten von Berlin gewesen ist".

Den "Neigungen" Aniela Fürstenbergs war es auch zuzuschreiben, daß er "in den Besitz einiger guter Gemälde" gelangte; vor seiner Heirat hatte er allenfalls ein bißchen "Altberliner Kunst" gekauft, "die mir Freude machte, ohne daß ich sie deswegen allzu ernst zu nehmen brauchte". [40] Die ästhetische Kultur, die Aniela Fürstenberg so überzeugend und erfolgreich repräsentierte, hatte wenig gemein mit jener Bildungsbeflissenheit, die die Absolventen deutscher Gymnasien typischerweise auszeichnete. Sie fußte nicht auf der Kenntnis des Lateinischen und Griechischen, sondern auf literarischer Belesenheit und ausgeprägten musisch-künstlerischen Interessen. Damit ähnelte sie unverkennbar jenem Bildungskonzept, das in aristokratischen Salons des 18. Jahrhunderts gepflegt worden war. Von dort aus hatte es die geselligen Zirkel erobert, die Frauen des gebildeten und wohlhabenden Bürgertums im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert um sich scharten. In diesen Zirkeln wurde, wie Friedrich Schleiermacher 1799 programmatisch festhielt, eine Bildung verwirklicht, die mit Spezial- und Fachkenntnissen nichts zu tun hatte, sondern im besten Sinne "allgemein" war. Im "freien Spiel der Gedanken und Empfindungen" konstituierte sich eine Geselligkeit, in der man sich der Beschränkungen und Belastungen seiner "bürgerlichen Verhältnisse" eine Zeitlang entledigen und als "gebildete Menschen" miteinander kommunizieren konnte. Gerade weil Frauen mit jenen "bürgerlichen Verhältnissen" des Erwerbs und der Politik nicht in Berührung kamen, hielt Schleiermacher sie für besonders geeignet, sich allein und ausschließlich als "gebildete Menschen", als "sie selbst" darzustellen. Es sei daher auch kein Zweifel, daß "die bessere Geselligkeit sich bei uns zuerst unter den Augen und auf Betrieb der Frauen bildet". "Zufolge des Geschlechtscharakters", schrieb er 1805, "sind die Frauen die Virtuosinnen in dem Kunstgebiet der freien Geselligkeit"; Männer spielten hier lediglich eine Rolle "als Beschützer und Diener". Nur indem sie sich der weiblichen Leitung anvertrauten, erhielten sie die Chance, jene "Teile der allgemeinen Bildung" aufzunehmen, die ihnen ihre notgedrungen einseitige "bürgerliche" Tätigkeit vorenthalte. [41]
Auch Wilhelm von Humboldt betonte in den 1790er Jahren, daß Frauen,

"von sehr vielen äußeren Beschäftigungen gänzlich frei", "eigentlich dem Ideale der Menschheit näher als der Mann" seien. "In sich Eins", beruhe ihre Wirkung nicht so sehr auf ihrem Handeln, sondern auf ihrem Sein, ihrem mit sich selbst identischen "Charakter".

Männer dagegen leisteten "Sklavenarbeit" in "Palästen, die wir außer uns auftürmen" und in denen "wir ewig Fremdlinge" blieben. [42]
Gleichlautende Betrachtungen finden sich immer wieder auch in Texten des 19.Jahrhunderts, in denen bürgerliche Männer über das Geschlechterverhältnis und ihre ambivalente Haltung zur männlichen Daseinsform räsonierten. Der 1772 geborene Hamburger Buchhändler Friedrich Perthes eröffnete seiner zweiten Frau Charlotte 1823:

"Du schreibst, das wäre auch ein Vorzug der Männer, daß, wenn es ihnen im Haus zu eng würde, sie nach außen eilten; Euch Frauen würde es auch oft zu eng, ihr könntet aber nicht fort, nicht heraus und Eure Reise möchte dann nur in die innere Welt gehen. Liebe Lotte, da ist viel Wahres daran, aber wird uns wirklich gründlich geholfen, indem wir uns auf die Außenwelt werfen? Ich glaube, nur selten und glaube, daß Ihr viel mehr und öfter, gedrängt auf das Innere, Euch helft, Euch rettet". [43]

Ähnlich äußerte sich 1846 der schon mehrfach zitierte Gustav Mevissen in einem Brief:

"Ich betrachte dieses ganze Reich der äußeren Tätigkeit wie ein Kleid, das ein männlich tatkräftiger Geist sich anlegt, das er als sein Eigentum weiß und stets als willkürlich gewählte Hülle und Form der Erscheinungen an- und ablegt. Das wahre Leben des Menschen kann einzig im Herzen, in der Liebe und in der Begeisterung für alles Schöne und Edle liegen."

Gehortet und gehütet aber werde alles Edle und Große", wie er seiner jungen Frau 1847 erklärte, durch "das Weib", das es für Mann, Kinder und die ganze Menschheit bewahre. [44]
Heinrich von Treitschke (1834-1896) stöhnte als angehender Privatdozent 1857/58 über die "in tausendfache einseitige Tätigkeiten zersplitterte Männerwelt" und beklagte, daß die

"Fülle der männlichen Bildung ... so oft der Frische und darum der Zukunft entbehrt".

Frauen hingegen seien "immer rein menschlich, immer natürlicher als der Mann", der sich bei ihnen deshalb "ganz als Sohn der Mutter Erde" fühlen könne:

"Die Stellung, die mir unsre wundersame Standesordnung anweist, wird vergessen so gut wie die Sorgen und Zweifel, mit denen unsre Bildung uns belastet." [45]

Und auch Max Weber (1864-1920) gestand seiner Cousine Emmy Baumgarten 1892, daß Männer zwar

"von der Natur (sic) ungerecht bevorzugt werden", indem sie "selbst in dem unbefriedigendsten Beruf .. . den äußeren Erfolg unseres Tuns und Lebens" erkennen könnten, daß sie diesen Vorzug aber "durch größere innere Armut" erkauften. [46]

Nun könnte man einwenden, daß solche Bekenntnisse rein rhetorisch gemeint gewesen seien und vor allem dann, wenn sie, wie bei Perthes, Mevissen und Weber, vor Frauen abgelegt wurden, lediglich besänftigend wirken sollten. Indem Männer auf die angeblichen Defizite ihrer >Männerwelt< verwiesen und Frauen als "lebende Poesie" (Treitschke) auf einen ästhetischen Podest hoben, suchten sie sie mit den Nachteilen ihrer "Natur" und Stellung auszusöhnen. Diese Interpretation mag einiges für sich haben. Andererseits sollte man jene Texte auch für sich sprechen lassen und das darin ausgedrückte Unbehagen an der bürgerlich-männlichen Existenz ernst nehmen. In unserem Zusammenhang läßt es sich als Indiz dafür lesen, daß sich viele bürgerliche Männer der Einseitigkeit ihrer Daseinsweise schmerzlich bewußt waren und auf Frauen projizierten, was sie bei sich selber vermißten und wonach sie sich sehnten. Frauen füllten aber nicht bloß die Leerstellen männlicher Lebensentwürfe aus; sie verkörperten darüber hinaus in dem, was sie waren bzw. sein sollten, ein eigentlich fremdes, unbürgerliches Prinzip. Durch ihr Wesen, ihre Persönlichkeit zu wirken, "ästhetisches Gefühl" und "Formsinn" (Treitschke) zu repräsentieren, sich an den schönen Künsten zu bilden und "freie", ganzheitlich orientierte Geselligkeit zu stiften, kam aristokratischen Gepflogenheiten sehr viel näher als genuin bürgerlichen Habitusformen. Bismarcks Eindruck, daß die Frauen des rheinischen Wirtschaftsbürgertums einer "höhern Klasse" als ihre Männer angehörten, könnte man daher durchaus im buchstäblichen Sinn deuten: Während die Bankiers und Fabrikanten" sich durch ihre materielle Praxis als Bürger qualifizierten, bewegten sich ihre Frauen eher auf adligem Parkett. Ihre Bildung, ihre Tätigkeit, ihre Manieren, ihr Umgangsstil und oft auch ihre Schönheit befähigten sie dazu. Es ist auffällig, wie stark Autobiographen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Schönheit ihrer Frauen oder Mütter hervorhoben. Katia Mann wurde bereits zitiert. Wann immer Carl Fürstenberg über seine Frau Aniela schrieb, ließ er ihre "blendende" Schönheit nicht unerwähnt. Harry Graf Kessler (1868-1937) - sein Vater war ein bürgerlicher Hamburger Bankier und Pfarrersohn - schilderte seine Mutter als "königlich schön" und "von bestrickender Anmut" und widmete der Beschreibung dieser Schönheit mehrere Seiten seiner Lebenserinnerungen. [47] Schönheit - im umfassenden Sinn - galt als der vollkommenste Ausdruck des Aristokratischen, als ein sich selbst genügendes, keinerlei Nützlichkeitsinteressen gehorchendes Persönlichkeitsmerkmal. Sie war ein Geschenk der Natur, freigebig gewährt und nicht durch eigene Leistung erworben. "Unsere äußere Erscheinung", meinte Alice Kessler, sei "doch nicht unser Verdienst"; sie fand es deshalb lächerlich, "wenn Frauen ihrer Schönheit sich schämen oder umgekehrt auf sie eitel sind". [48] Schön zu sein bedeutete aber auch entrückt zu sein, Gegenstand ferner Bewunderung und scheuer Verehrung. Wenn eine Frau schön war, gehörte sie damit gewissermaßen von sich aus bereits einer "höheren Sphäre" an, und ihr Ehemann durfte sich durch ihren >Besitz< geadelt fühlen.
So liebte es etwa Adolf Wilhelm Kessler, erfolgreicher Geschäftsmann und, nach Auskunft seines Sohnes, ein "zäher und unermüdlicher Arbeiter", seine Frau Alice "auszuführen, um den Triumph ihrer Schönheit zu erleben". [49] Er sonnte sich gleichsam in ihrem Glanz - einem Glanz, der auch den preußischen König in seinen Bann zog. Wilhelm I. sprach die junge Frau 1870 auf der Bad Emser Kurpromenade an und führte sie in seine Entourage ein. Fortan verkehrte die Hofgesellschaft in der Kesslerschen Villa und ließ sich durch Charme, Schönheit und Musikalität der Hausherrin bezaubern. 1879 wurde ihr Mann dann geadelt, zwei Jahre später in den Grafenstand erhoben - eine formelle Nobilierung, die durch das aristokratische Flair seiner Gattin vorweggenommen und ermöglicht worden war.

6. Weibliche Identitäten: Elegante Formen und soziale Dienste

Hier könnte sich der argumentative Kreis schließen, der mit Katia Manns Charakteristik ihrer Eltern und Bismarcks Bemerkung über die verschiedenen Geschlechter-Klassen des rheinischen Bürgertums begann.
Ein Glied jedoch fehlt noch: die Wahrnehmung der Frauen selber, ihr Bild, ihre Deutung der eigenen Position. Bis jetzt sind fast ausschließlich Männer zu Wort gekommen: Männer des Bürgertums, Intellektuelle, Wissenschaftler, Industrielle, Kaufleute, die über sich selber Auskunft gaben, über ihre Lebensführung, ihre Pläne, Erfolge, aber auch über ihre Zweifel, ihr Unbehagen, ihr Leiden an der bürgerlichen Existenz. Materiell und wertmäßig fest in ihrer Klasse verankert, Vorzeige-Bürger gewissermaßen, bewahrten diese Männer ein Bewußtsein für die Unzulänglichkeiten einer Lebensweise, die rastlose Arbeit, unermüdliche Leistung und persönliches Verdienst in den Mittelpunkt stellte. Sicherlich war dieses Bewußtsein nichts Neues. Seit es den bürgerlichen Lebensentwurf gab, erntete er Kritik - eine Kritik, die sich zunächst vor allem literarisch artikulierte und von (romantischen) Dichtern stammte, die Bürgerlichkeit und künstlerische Kreativität als Widerspruch empfanden. [50] Ein Jahrhundert später war es dann Sache der bürgerlichen Jugendbewegung, Wertorientierungen und Lebensstile ihrer Herkunftsklasse als engherzig und verspießert abzulehnen. [51] Aber auch zwischen und unterhalb solcher modischen Protestwellen blieb das bürgerliche Selbstbewußtsein offenkundig nicht so intakt und stabil, wie es zeitgenössischen Betrachtern und späteren Historikern oftmals scheinen mochte. Helden der Bürgerlichkeit, wie sie etwa Gustav Freytag in seinem 1855 publizierten Bestseller Soll und Haben porträtierte - Männer, die sich vollständig mit ihrer kaufmännischen Arbeit identifizierten und aristokratischen Verhaltensweisen eine letztlich entschiedene Absage erteilten; mögen in der Wirklichkeit rarer gewesen sein als in der Literatur. Wie Selbstzeugnisse [52] offenbaren, konnten viele Männer der Einseitigkeit und Erdenschwere ihrer vor allem auf beruflichen Erfolg kodierten Existenz wenig abgewinnen. In dieser Situation nahmen sie Zuflucht zu Frauen, auf die sie ihre eigene, unerfüllte, häufig durch klassische Bildungserlebnisse geweckte Sehnsucht nach Harmonie, Authentizität, Ganzheitlichkeit projizierten. Dieses schon aus dem späten 18. Jahrhundert überlieferte Muster [53] erfreute sich in der ganzen "bürgerlichen" Epoche großen Zuspruchs. Es gerann zu einem fixen Topos, einer jederzeit abrufbaren Gewißheit, die in einer Unzahl literarischer und pädagogischer Texte propagandistisch verbreitet und durch Erziehungseinrichtungen institutionell vermittelt wurde. Frauen, lautete die Botschaft, gehörten einer anderen Welt an als Männer: der Welt der Liebe und Familie, der Kultur und Ästhetik. Frauen repräsentierten ein anderes Lebensprinzip, weshalb sie auch anders erzogen und gebildet werden sollten als Männer.
Eine Fachbildung, wie sie für zukünftige Kaufleute, Ärzte oder Ingenieure vorgesehen war, kam für bürgerliche Mädchen nicht in Frage. Auch die "allgemeine Menschenbildung" der neuhumanistischen Gymnasien blieb ihnen verwehrt, da hier nach den Vorgaben Wilhelm von Humboldts zu sehr auf strenge Form, auf verstandesmäßige Abstraktion und zu wenig auf Gefühl, Sinnlichkeit und Phantasie geachtet wurde. Noch 1891 widersetzte sich der Vizepräsident des Weimarer Landtags heftig allen Bestrebungen der damaligen Frauenbewegung, Mädchen zum Abitur zuzulassen:

"Uns reizt an den Frauen gerade die Gefühlswärme, die Naivetät und Frische, die sie vor den frühzeitig überarbeiteten und frühgereiften Männern voraushaben, und der Reiz, den sie durch diese Eigenschaften auf die Männer ausüben, würde unwiederbringlich verloren gehen, wenn dieses Anmutendste an ihnen durch die Erziehung vernichtet werden würde." [54]

Anmutende Gefühlswärme, Naivität und Frische - das war jedoch nicht das einzige, was überarbeitete und frühgereifte Männer von ihren Bräuten und Ehefrauen erwarteten. "Ein verständiger Mann", meinte der liberale Rechtsprofessor Robert Mohl 1869, tauschte gern "die Freude an einer holden Einfalt der Geliebten ... gegen eine Achtung vor gesundem Denken und richtigem Handeln". Gerade in den "höheren und gebildeteren Lebenskreisen" bedurfte es dazu "einer feineren Ausbildung und manchfacher Kenntnisse". [55] Biedere Hausmütter waren hier nicht mehr gefragt; gewünscht wurden vielmehr eine umfassende Bildung, sichere Umgangsformen, ästhetischer Geschmack und Lebenskunst. Vor allem im Kaiserreich, als wachsender Wohlstand, steigende Urbanität und höhere Lebensansprüche das bürgerliche Milieu von oben nach unten umkrempelten, [56] verstärkte sich die Bedeutung, die man den kommunikativen Fähigkeiten und repräsentativen Funktionen der bürgerlichen "Gattin, Mutter und Hausfrau" (Mohl) beilegte. Mit dem mondäneren Zuschnitt bürgerlicher Geselligkeit veränderte sich das kulturelle Profil der Gastgeberinnen. Eine Frau wie Marie Mommsen (183 3-1907), nach Auskunft ihrer Tochter "still und zurückhaltend", gütig, schlicht und wenig geistreich, [57] paßte kaum noch in die Spätzeit des 19. Jahrhunderts. Eine sehr viel bessere Figur machte demgegenüber die gleichaltrige Anna Helmholtz (1834-1899). In einem Tübinger Professorenhaushalt aufgewachsen - ihr Vater war der bereits erwähnte Robert Mohl - in Heidelberger Privatschulen, Straßburger Pensionaten und bei der weltläufigen Pariser Tante mit einer sorgfältigen sprachlich-musischen Bildung versehen, war sie 1860 dem unlängst verwitweten Heidelberger Professor Hermann Helmholtz als "ein sehr aufgewecktes Mädchen aufgefallen". "Als Witwer mit zwei Kindern und über das Jünglingsalter weit hinaus" hatte der dreizehn Jahre ältere Gelehrte zunächst gezaudert, ob er "noch um die Hand einer viel jüngeren Dame werben" durfte, "die alle Eigenschaften hatte, um in der Gesellschaft eine hervorragende Rolle zu spielen". [58] Diese Rolle konnte Anna jedoch auch an Helmholtz' Seite ausfüllen, vor allem nachdem die Familie 1871 nach Berlin umgezogen war. Hier setzte Anna ihren Vorsatz, den Ehemann "etwas mehr zum Weltmann zu entwickeln", in die Tat um. Hatte sie in Heidelberg zuweilen das Gefühl beschlichen, als wenn wir hier samt und sonders einschlafen wollen, also einförmig ist das Leben", genoß sie nun die vielseitige, abwechslungsreiche Geselligkeit der Großstadt. Konzerte, Theater, Vorträge, Soiréen in bürgerlichen und adligen Häusern führten sie mit interessanten Menschen zusammen; sie selber revanchierte sich durch große Abendeinladungen und einen wöchentlichen jour fixe. Zu ihren Gästen und Freunden gehörten nicht nur Unternehmer und Techniker wie Werner Siemens (dessen Sohn ihre Tochter heiratete), sondern auch Künstler wie Anton von Werner, Adolf Menzel und Arnold Böcklin, Schriftstellerinnen wie Fanny Lewald, Gelehrte wie Theodor Mommseii, Rudolf Virchow und Wilhelm Dilthey. Letzterer beschrieb Anna Helmholtz als eine Frau, die "das Leben künstlerisch zu gestalten" suchte und ihrem Haus eine "Richtung auf das Persönliche und Ästhetische" gab: "Wie das Haus eine solche repräsentative Stellung erlangte, der Umfang, in welchem dieses geschah, die Art, in welcher es sich äußerte, das war der eigentliche Verdienst seiner (Helmholtz') Frau." [59] Lange bevor der berühmte Wissenschaftler 1883 geadelt wurde, verkehrte Anna Helmholtz in höfischen Kreisen und bezauberte durch ihre Weltläufigkeit und Kunstbegeisterung. Für ihren Mann war Annas Präsenz und Liebe "der beste Schmuck meines Lebens" - ein Schmuck, der ihn zierte, der aber seine eigentliche Existenz nur oberflächlich berührte. In seiner Welt der Wissenschaft und des Amtes vollständig verankert und ohne "starke geistige ... Anstrengung" ruhelos, war er nur selten zu Hause und widmete seiner Frau nicht viel mehr als "etliche erquickliche Viertelstunden". Anna akzeptierte das, empfand sie es doch als männliche Pflicht, "eine Sphäre der Nützlichkeit und der Dich fesselnden Arbeit zu schaffen". [60] Sie selber suchte diese "Sphäre" sozial einzubetten, hielt Helrnholtz von "Alltagsdingen" fern, organisierte das kulturelle und gesellige Leben. Damit füllte sie zugleich den bürgerlichen Lebensentwurf aus, der nicht nur Arbeit, sondern zunehmend auch ästhetische Formgebung hochschätzte. [61] So notwendig und unverzichtbar ihre Aktivitaten einerseits für die Abrundung bürgerlicher Lebenspraxis waren, so wichtig waren sie andererseits aber auch für ihre eigene, persönliche Identität und "Selbsterhaltung". Ihrer Schwester schrieb sie 1890:

"So lange man sein Dasein zu leben und zu tragen hat, so lange besteht die Pflicht, es nicht nur Anderen nutzbringend, sondern auch befriedigend für sich selbst zu gestalten - und das ist nicht der Fall, wenn man stets der Amboß ist. Männer haben so viel vom Hammer in sich, daß ihnen solches nie vergeht, auch wenn sie sich einen anderen Amboß suchen müssen, als just die Herrin des Hauses."

Um einer solch undankbaren Rolle zu entgehen, schuf sich Anna Helmholtz ihre eigene Welt inteflektueller und ästhetischer Anregungen - eine Welt, in der sie Königin war und finanzielle oder familiale Sorgen hinter sich lassen konnte. Diese Welt war kosmopolitisch und sozial durchmischt; Adlige bevölkerten sie ebenso wie Angehörige der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht. Standesunterschiede (nach oben) scheinen keine Bedeutung gehabt zu haben; entscheidend war nur, daß man sich mit "interessanten Leuten" umgab. [62] Vielen Frauen des Bürgertums - vor allem, aber nicht nur im wirtschaftsbürgerlichen Milieu - gefiel es, sich als Mittelpunkt kulturell-geselliger Zirkel zu profilieren. Dabei kam ihnen die "feine" Erziehung entgegen, die sie in den obligaten MädchenPensionaten genossen hatten. Was etwa die Arzttochter und Fabrikanten-Enkelin Marianne Weber in den 1880er Jahren in einem vornehmen Hannoveraner Institut gelernt hatte, bereitete sie nicht gerade auf die Rolle einer bürgerlichen Hausfrau vor:

"Eine Engländerin und eine Französin übten die fremden Sprachen ein, ein französischer Tanzlehrer, ganz und gar gentleman, dressierte Haltung, Gangart, Bewegung, man erlernte den Hofknix, Lancier und Menuett. Der regelmäßige Besuch von Konzerten, Theater und Kunstausstellungen erschloß den Kunstsinn ... überdies täglich drei Stunden Klavierunterricht bei einem bekannten Pianisten. [63]

Eine solche Erziehung weckte Erwartungen, über die die Brandenburger Fabrikantentochter Anna Krüger ihren Verlobten Adolf Stoecker 1867 reumütig-geläutert aufklärte:

"Du weißt, daß Vornehmheit in jeder Gestalt, äußerlich und geistig, viel zu große Reize für mich gehabt hat, die sich mit dem schlichten bürgerlichen Sinn nicht vereinigen lassen; aber gerade deshalb ist es mir lieb, daß ich Landpastorsfrau werden soll, deren erstes Streben im Tun und Gebaren Einfachheit sein soll. Ich hätte mich leicht in dem Schimmer eleganter Formen und Lebensweise verlieren können. [64]

So manche bürgerliche Haustochter blieb den eleganten Formen treu und heiratete in höhere Kreise ein. Adlige (und) Offiziere waren beliebte Ehepartner - beliebt bei den Töchtern, weniger bei den Vätern, die, wie die 1845 geborene Stettiner Kaufmannstochter Marie Silling zu berichten wußte,

"als Schwiegersöhne die jungen Handelsbeflissenen bevorzugten, die sich zu Gehilfen zu ihren Handlungen ausbilden konnten, wodurch sie nur zu oft mit ihren Töchtern in Meinungsverschiedenheiten gerieten". [65]

Doch auch jene Frauen, die den sozialen Aufstieg nicht schafften, legten Wert darauf, ihre "vornehmen" Interessen und "eleganten" Talente im bürgerlichen Mittelstand nicht verkümmern zu lassen. Sie glänzten in Gesellschaften, besuchten Opern-, Theater- und Konzertveranstaltungen, musizierten oft selber - und gaben diese Fähigkeiten an ihre Kinder, vor allem ihre Töchter weiter. Ihren bürgerlichen Ehemännern gegenüber befanden sich diese Frauen in einer schwierigen, schwer definierbaren Situation. Einerseits waren sie dazu abgerichtet, sich als abhängige, unselbständige, kindgleiche Wesen darzustellen. Dem in der Regel älteren Gatten fühlten sie sich wissensmäßig unterlegen. Die 23jährige Anna Krüger etwa beugte sich 1866 in "tiefem Respekt" vor ihrem zukünftigen "Herrn und Gebieter" und erwartete, daß er seine "Erziehungskünste an ihr fortsetzte:

"Was wäre die Liebe eines Weibes ohne die größte Verehrung und das freudige Anerkennen für des Mannes Überlegenheit?"

Auch die immerhin schon 27jährige Anna Mohl, alles andere als ein naiver Backfisch, fühlte sich ihrem Bräutigam gegenüber "unwissend" und bat ihn demütig um "Geduld":

"Was werde ich noch an mir arbeiten müssen, um eine wirklich brauchbare Frau zu werden und mein Temperament zu angemessenem Nachdenken zu bringen." [66]

Mochte sich in solchen Bekenntnissen zuweilen durchaus das Gefühl eigenen Ungenügens ausdrücken, spiegeln sie doch mindestens in gleichem Maße die gängigen Topoi weiblicher Sozialisation. Frauen hatten per definitionem naiv, unbefangen, naturhaft, unwissend zu sein und ihr eigenes Dasein vollkommen in den untertänigen Dienst am Ehemann zu stellen. So schrieb 1866 die 47jährige Kaufmannsgattin Marianne Wolff ihrem zur Kur in Karlsbad weilenden Ehemann Julius:

"Es ist uns die Krone genommen, wenn Du fehlst, und wenn wir Frauen so um unserer selbst willen existieren ... Selbst wenn Du verdrießlich und matt bist, so ist doch immer das Haupt des Hauses da, der Mittelpunct, für den wir sorgen, die Angel, um die wir uns bewegen." [67]

So sollte es sein - aber war es so? Gerade die Alltagspraxis Marianne Wolffs weckt Zweifel. Mit sechs Stief- und fünf eigenen Kindern gesegnet, nahm sie ihre Erziehungspflichten so ernst, daß sie Latein und Griechisch lernte, um ihren Söhnen bei den Hausaufgaben zu helfen. Sie las viel, Historisches, Philosophisches und besonders Theologisches. Fünf Jahre nach ihrer Heirat mit dem sechzehn Jahre älteren Witwer vertraute sie einer Freundin an:

"Von Poesie und Schönheit, von allem Geistigen, das eine Faser meiner Seele berührt, da lasse ich nicht... Bei allem, was ich entbehrte, hatte ich doch immer ein reiches geistiges Leben, kam mit bedeutenden Männern in Berührung und freue mich daran auch jetzt."

Darüber hinaus engagierte sie sich im Hamburger Verein für Armen- und Krankenpflege und schrieb an einer Biographie ihres ersten Mannes Karl Immermann, was sie als ihre "liebste Arbeit" bezeichnete. [68] Daß ihr Leben nur um "das Haupt des Hauses" kreiste, wie sie ihren Mann und vielleicht auch sich selber - glauben machen wollte, war folglich nicht mehr als eine fromme Lüge, ein Kotau vor der Konvention. Frauen mußten sich um so mehr um einen eigenen Lebensmittelpunkt bemühen, als ihre Ehemänner sich zuhause immer seltener blicken ließen. Abgesehen von der Berufsarbeit, die den männlichen Alltag konkurrenzlos dominierte, abgesehen auch von den vielfältigen öffentlich-politischen Ehren-Ämtern, die bürgerliche Männer bekleideten, spielten exklusiv männliche Gesellungsformen eine zunehmend wichtigere Rolle. Clubs, Vereine, Ressourcen - hier verbrachten die Männer des "Mittelstandes" einen Großteil ihrer Freizeit, um sich, wie der 1825 geborene Ludwigsburger Kaufmann Ernst Röchling seiner jungen Frau erklärte,

"nach den langen Stunden im Büro ... mit Männern aussprechen" zu können. [69]

Die Zeit des "Familienverkehrs" (Gustav Freytag) schrumpfte damit auf ein Minimum; für viele bürgerliche Kinder war der Vater nur ein "Sonntagspapa". [70] Unter solchen Bedingungen lief die Erziehungsmaxime, nach der "das weibliche Geschlecht ... dazu da (sei), sich für den Mann aufzuopfern [71] , buchstäblich ins Leere. Blieb dann noch der erwünschte Kindersegen aus oder ließ länger auf sich warten, gab es für verheiratete Frauen keinen Anlaß und keine Rechtfertigung mehr, sich mit der Position einer bürgerlichen Hausfrau zu bescheiden. Nicht nur "Blumenschmuck und Vogelsang", teilte Anna Krüger ihrem Bräutigam vorsorglich mit, wollte sie für sein Leben sein. [72] Auffällig ist, wie viele bürgerliche Frauen trotz Haushaltspflichten und Kinderschar >öffentlich< tätig waren. Marianne Wolff etwa machte Armenbesuche, nahm regen Anteil an den Aktivitäten der Inneren Mission und bewog ihren Mann anläßlich seines 20jährigen Dienstlubiläums zu einer großzügigen Spende. Anna Helmholtz beteiligte sich an der Einrichtung des Victoria-Hauses für Krankenpflege, Aniela Fürstenberg an der Organisation eines Säuglings- und Mütterheims, zu dessen Fitianzierung ihr Mann gleichfalls kräftig beisteuerte. [73] Die 1850 geborene Reedertochter und Fabrikantenfrau Hedwig Heyl fand bei fünf Kindern noch genügend Zeit für ehrenamtliche Sozialarbeit, die vor allem Arbeiterfrauen und -töchtern zugute kommen sollte. Auf diesem Gebiet sah sie

"die Möglichkeit, eine soziale Arbeit für unsere Töchter zu schaffen, die zugleich große Bildungsmöglichkeiten für sie umschloß - und eine natürliche Brücke zu den Arbeiterständen schaffen konnte". [74]

Daß sich so viele bürgerliche Frauen - Ehefrauen und Haustöchter gleichermaßen philanthropisch-sozial fürsorgerisch betätigten [75], lag zum einen daran, daß diese Frauen über die notwendige Muße und freie Zeit verfügten. Außerdem gehörte es traditionell zu den Obliegenheiten wohlhabenderer Hausfrauen, arme Leute mit den Resten aus Küche und Kleiderkammer zu versorgen. [76] Gefördert wurde das soziale Engagement aber auch
durch den Umstand, daß Frauen, anders als ihre Männer, in der Regel recht intensive Kontakte zu Personen aus proletarischem Milieu unterhielten. Als Hausfrauen und Konsumentinnen kamen sie regelmäßig mit Frauen aus dem Volke in Berührung: mit ihren Ammen, Dienstmädchen, Näherinnen und Wäscherinnen, mit Milchbäuerinnen und Gemüsefrauen. [77] Während ihre Männer in Amts-, Studier- und Kontorstuben unter sich blieben und,das Leben trotz gegenteiliger Beteuerungen oft nur sehr einseitig wahrnahmen [78], trat es für bürgerliche Frauen tagtäglich über die häusliche Schwelle. Es war daher nur ein naheliegender Schritt, sich den sozialen Unterschichten von sich aus zuzuwenden und karitativ-fürsorgend auf sie einzuwirken. Die Frauen und Töchter des bürgerlichen Mittelstandes verließen ihre Klasse somit in zweifacher Richtung: nach >oben< und nach >unten<. Zogen Erziehung und kulturelle Ambitionen sie gleichsam hinan, in die Sphäre aristokratischer Vornehmheit und eleganten Lebensstils, brachten sie ihre philanthropisch-wohlfahrtspflegerischen Neigungen in Kontakt mit Frauen (weniger mit Männern) unterbürgerlicher Schichten. Ob sie dabei die Kluft zu den "Arbeiterständen", wie Hedwig Heyl hoffte, wirklich überbrücken konnten, ob sie gar ein Bewußtsein für klassenübergreifende Gemeinsamkeiten weiblicher Interessen und Lebenslagen ausbildeten, ist schwer zu entscheiden. Einerseits knüpften viele sozial engagierte Bürgerfrauen ein beeindruckend festes Netz materieller Unterstützung und persönlicher Zuwendung, das sie mit ihren proletarischen Klientinnen sehr viel unmittelbarer und menschlicher verband, als es in der männlichen Armenpflege bislang üblich gewesen war. In diesem Zusammenhang bilanzierte etwa die Berliner Kaufmannstochter Alice Salomon, die seit 1893 in den "Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit" mitwirkte, ihre Erfahrungen so, daß jene Tätigkeit "mich meiner Herkunft ... entfremdet hatte". [79] Für eine derart solidarische, die Hilfe von Frau zu Frau betonende Haltung gab es auf männlicher Seite kein Pendant. Andererseits sprechen die Schwierigkeiten, die selbst die bürgerliche Frauenbewegung mit der "Dienstbotenfrage" hatte, dagegen, den klassentranszendierenden Charakter weiblicher Sozialarbeit übermäßig hoch zu veranschlagen. [80] Möglicherweise konnte die Begegnung mit nichtbürgerlichen Frauen und Familien auch dazu beitragen, das Bewußtsein der eigenen Klassenzugehörigkeit zu stärken, indem Unterschiede - in Lebensform, sexuellem Verhalten, moralischen Normen deutlicher wahrgenommen und bewertet wurden. Festzuhalten ist jedoch, daß bürgerliche Frauen mit ihrer Klasse loser verbunden waren als bürgerliche Männer. Blieben letztere, trotz aller Selbstzweifel, ihrer Bürgerlichkeit stets gewiß, wies diese Identität für Frauen ungleich mehr Brüche und Ungereimtheiten auf. Da ihnen das lebenswichtige Elixier bürgerlichen Selbstbewußtseins - die Betonung persönlicher Leistung und Verdienste - fehlte [81], konnten sie keine analoge soziale Identität ausbilden. Ihre Klassenzugehörigkeit war gleichsam nur geborgt - und ließ sich, vorzugsweise nach oben, rasch und mühelos austauschen. Literarisch in Szene gesetzt wurde diese eigentümliche Fluidität bürgerlicher Frauen bereits 1892, in Theodor Fontanes bissigem Gesellschaftsroman Frau Jenny Treibel. Seine Hauptfigur, die Kommerzienrätin Treibel "née Bürstenbinder", war, anders als ihr handfestprosaischer industriellen-Gatte, das, "was man so gebildet zu nennen pflegt". Sie hielt auf "Vornehmheit" und gönnte sich "auch das Ideale", letzteres sogar unentwegt". Ähnlich wie sie für alles Aristokratische schwärmte und sehnsüchtig die formelle Nobilitierung ihres Mannes erwartete, hatte übrigens schon ihre kleinbürgerliche Mutter "für die besseren Kreise" optiert - und damit die Identität ihrer Klasse ebenso desavouiert, wie es eine Generation später ihre "hochpoetische" Tochter tat. [82]