Lorraine hat ihr Bein in San Franciso gelassen

...und das war, wie sie heute gerne sagt, letztlich ein Segen, denn dadurch hat sie aufgehört, zu trinken, sich herumzutreiben und den Frauen hinterherzulaufen. Es brachte sie auf den Weg zu Weisheit und finanziellem Erfolg und wies sie in Richtung ökologischen Landbau. Kurzum, denkt Lorraine, während sie an der hübschen, nackten Aufseherin des Nationalpark- und Wilddienstes herumfingert, die auf ihrem großen Schoß seufzt und sich windet: Die Wege der Göttin sind unergründlich, et cetera. Lorraine war immer verrückt nach Mädchen in Uniform, und dieses hier ist etwas Besonderes, dieses Mädchen ist hinreißend: Dieses Mädchen rasiert sich, und Lorraine liebt Mädchen, die das tun, Mädchen mit samtigen Spalten, sauber und süß wie Mandeln, und diese hier ist kurz davor, sich zu spalten und weich sich darzubieten, aber heilige Mutter Gottes, wer kommt da auf einer Maschine, die so schön ist, daß es Lorraine einen Schauer von der Spitze ihres kurzgeschorenen Kopfes bis zu den Zehen ihres Phantomfußes jagt und ihre Finger langsamer werden läßt, so daß die Blondine auf ihrem Schoß tiefer seufzt und leise schluchzt und bettelt, daß Lorraine nicht aufhören soll, aber das muß sie, denn ihre alte Freundin Billie ist zu einem Besuch eingetroffen.
»Geh nicht fort, Mädel«, flüstert Lorraine, während das Motorrad vor der Veranda anhält, der Motor ausläuft und sich das Metall mit einem heißen, klickenden Geräusch auf die warme Nacht einstellt. »Bitte, bitte geh nicht weg, bis ich dir gegeben habe, was du brauchst. Geh in meinen Bungalow und leg dich hin, denn ich werde kommen und mich um dich kümmern, wie sich noch nie jemand um dich gekümmert hat.« Geht sie, geht sie nicht? Sie geht. Die Puppe, der Darling. Als nächstes wird es ernstlich rauhe Worte und Brustwarzenringe geben.
»Billie. Billie, ach Billie. Oh, Kleine, es ist so gut, dich zu sehen.« Und die Freundinnen kommen zueinander, ein ruhiges Aneinanderschlagen von Leder in der Nacht. Als sie zur Ruhe gekommen sind und sich mit ein paar Bier und einem Joint auf der Veranda niedergelassen haben, gibt es viel zu erzählen. Es ist so lange her. »So lange, wirklich so lange. Du hast dich ein wenig verändert, sehe ich. Wo ist der Nasenring?« »In meiner Tasche.« Billie hatte ihn den ganzen Tag wieder anstecken wollen, aber sie war nicht dazu gekommen. Sie wußte, daß Lorraine sie sofort darauf ansprechen würde. Schließlich hatte sie ihn ihr geschenkt. Sie nimmt ihn heraus und hält ihn Lorraine entgegen. »Hier, setz du ihn mir ein.« Lorraine tut es. »Besser. Du fingst beinahe an, ein bißchen normal auszusehen. Läßt dein Haar wachsen, aha. Wer ist sie?« Billie zieht den Rauch ein, lächelt und antwortet nicht. Später.
»Sind meine Gäste nicht prima? Alle im Bett. Nun, der in Nummer 4 ist immer im Bett, aber sein Krankenpfleger sagt, daß er schläft.« Napoleon, der besagte Krankenpfleger, kommt aus dem Bungalow, in dem sein Patient liegt und schläft, und gleitet nackt ins Schwimmbecken. Seine Bahnen und Spritzer untermalen ihre Unterhaltung.
Lorraine betreibt »Wagon Wheels« mit ihrer Partnerin Liz. Sie wechseln sich Monat für Monat ab, so daß sie sich beide nicht verausgaben. Wer frei hat, geht jeweils weit weg und vergißt das Ganze. Es ist ein anspruchsvoller Ort. Letzte Woche ist hier jemand gestorben. »Ich hasse das. Es ist ein guter Ort, um zu sterben, und ich freue mich darüber, aber dennoch, ich bin nicht Mutter Theresa, Leiden bereitet mir kein Vergnügen. Es macht mich jedesmal fertig, wenn es geschieht. Bleibst du lange, oder was hast du vor?« »Weiß nicht.« »Hey, das ist in Ordnung. Für die nähere Zukunft ist kein Tod vorgesehen. In den nächsten Wochen haben wir sogar einige einfache Lesbenbuchungen. Flitterwochen und so. Alle heiß und glücklich. Du kannst jeden Morgen umherstolzieren und ihnen Frühstück ans Bett bringen. Das wird dir gefallen.« »Ich müßte mal telefonieren.« »Klar doch. Im Büro,«
Billie steht auf und geht durch die Tür hinter ihnen zum Telefon. Sie wählt Rosemarys Nummer. Es ist besetzt. Sie drückt zweimal die Wiederwahltaste, aber es bleibt besetzt. Billie legt den Hörer auf und schaut sich in dem Raum um. Immer noch Poster mit Motorradmädchen, das uralte mit Marianne Faithful und den Rosen einbegriffen. Oh Scheiße, nein. Billie sieht sich selber, mit Hafties an die Wand geklebt, und schon ist sie wieder sechzehn, und es ist in den Sommerferien, sie treibt sich mit ihren Freundinnen herum, und es ist ein besonderer Tag, der Tag, an dem sie sanft von Lorraine umkreuzt wurde, während sie an einer Bushaltestelle wartete. Billie hatte genau gewußt, was diese Frau im Sinn hatte, ihre Freundinnen hatten den schnellen, wortlosen Kontakt nicht bemerkt, den Billie für später bewahrte.
Lorraine hatte in jenem Sommer, bevor sie nach Amerika ging, in einer Straßenbaukolonne gearbeitet, und sie hatte den ganzen Tag in abgeschnittenen Jeans und einer leuchtend orangen Weste in der Sonne gestanden und ein lutscherförmiges Schild mit der Aufschrift Langsam auf der einen und Stop auf der anderen Seite hin- und hergewendet. Langweilige Arbeit, viel Zeit zum Nachdenken, aber Lorraine wußte, daß es nicht klug war, zu viel über geile Schulmädchen nachzudenken, die ihr überallhin folgten, denn die Welt war dem nicht freundlich gesonnen, obwohl es ihr ein Rätsel war, warum es die Welt kümmern sollte, solange beide Beteiligte willens waren. Bei einer Gelegenheit hatte Lorraine jedoch Billie in ihren Babydoll-Pyjama gesteckt, sie auf ihre schnittige Maschine gesetzt und ein paar Fotos gemacht. Babydoll. Billie konnte sich nicht vorstellen, daß Lorraine jemals so ein Kleidungsstück besessen haben könnte, aber das mußte sie wohl, denn der Beweis hing gleich hier an der Wand. Lorraine hatte Billie erzählt, daß sie zum Schwulen- und Lesbenkarneval nach Sydney herunterführe. Billie hatte gebettelt, mitkommen zu dürfen, und Lorraine hatte gesagt: »Nur, wenn du eine schriftliche Erlaubnis von deiner Mutter bekommst.« Billie hatte gesagt: »Kein Problem«, und so war es auch gewesen.
Das Problem war später aufgetaucht, als Billie am Beginn der elften Klasse in die Schule zurückkam und man munkelte, daß sie unter dem Banner: Raus aus dem Versteck, rein ins Klassenzimmer in der Parade mitmarschiert war. Da begannen sie, über sie zu flüstern und ihr aus dem Weg zu gehen. Das elfte Schuljahr war die reine Hölle, ein Lichtblick war nur eine Postkarte von Lorraine von einem Ort gewesen, an dem Billie nie gewesen war, aber an den sie sicherlich eines Tages käme. Es hatte eine Menge Dinge gegeben, die Billie eines Tages tun würde, und Sex war eines von ihnen. Es schien nicht recht zu sein, für etwas angeprangert zu werden, daß sie nie getan hatte, und Billie hatte es nicht getan, obwohl sie viel darüber nachgedacht hatte, wenn sie spät abends auf dem Rasen lag, während die Opossums im Eukalyptusbaum mit den Zähnen knirschten. Die beste Surferin der Schule hatte es getan, und das war gut so, denn sie hatte dazu beigetragen, die Situation für Billie zu entschärfen, indem sie schwanger geworden war und allen ein anderes Gesprächsthema geliefert hatte.
Im zwölften Schuljahr waren alle gelangweilt von der Schwulenfrage und übersättigt von Sex im allgemeinen gewesen und hatten bessere Dinge zum Nachdenken gefunden. Billie hatte ihrer Schulkarrierre die Krone aufgesetzt, indem sie ein Mädchen zum Jahresabschlußfest mitgebracht hatte. Sie waren kein Paar, aber wer wußte das schon? Sie gingen händchenhaltend auf die Tanzfläche. Die Schulband, die auch zu ihren besten Zeiten nicht ganz richtig spielte, verpfuschte zwei Takte. Billies Herzschlag hielt mit der zögernden Pauke Schritt. Zwei Jungen hatten sich ihnen angeschlossen, dann zwei andere Mädchen. Die Band fand ihren Rhythmus wieder, und so war die Liebe, die ihren Namen nicht aussprechen durfte, schüchtern durch die Turnhalle gekreist, zu ein paar spöttischen Anfeuerungen, drei bewundernden Pfiffen und ein paar unbemerkt vergossenen Tränen vom Trainer der Rugbymannschaft, was merkwürdig war, aber er ebenso, auch wenn er es nie zugegeben hätte.
Eine Geschichte machte die Runde, wie der Trainer einmal an einem Samstag nach dem Spiel in die Umkleideräume gekommen war und zwei seiner Starspieler vorgefunden hatte, die auf der Bank saßen und Eisbeutel, die für die Behandlung von Prellungen vorgesehen waren, um ihre Schwänze gewickelt hatten. »Was soll das?« erkundigte sich der Trainer. »Ach, wir wissen doch alle, wie gerne Sie sich nach dem Spiel zwei kalte packen«, sagten sie, und die Meinungen gingen auseinander, was danach geschah.
Jetzt kann Billie Rosemary nicht mehr anrufen, nicht mit diesen Erinnerungen, die wie tote Blätter in der Ecke flüstern, nicht mit diesem Mädchenselbst an der Wand, das sie in einer Art und Weise anstarrt, die Billie jetzt als reine Verwirrung und einen unangenehmen Grad von Wagemut ansieht. Es ist verrückt, aber sie fühlt sich, als sei sie in einem Niemandsland zwischen damals und heute gestrandet, und kann weder den Boden unter den Füßen noch ihre Sprache wiederfinden. Sie wird sie später aus ihrem Bungalow anrufen. Dann fällt ihr ein, daß es nur in Lorraines Bungalow ein Telefon gibt. Sie versucht es noch einmal, aber bei Rosemary ist immer noch besetzt. Aus irgendeinem Grund muß Billie an Telefonsex denken, der sicherlich die Leitung lange besetzt halten würde. Für Billie klingt das nicht sonderlich vergnüglich, aber vielleicht ändert sich das, wenn man älter wird. Der Gedanke an Rosie, wie sie unanständig mit einer Fremden am anderen Ende der Leitung redet, ist faszinierend.
Der Krankenpfleger mußte wohl wieder raus aus dem Schwimmbecken sein. Billie kann Stimmen von der Veranda hören, seine hoch und gestreßt, Lorraines beruhigend. Billie fragt sich, was wohl mit Lorraine geschehen war, das sie so gut in diesem ganzen Hegen und Pflegen machte. Sie mußte das Licht gesehen haben, wie der heilige Paulus auf der Straße nach Damaskus. An der Hintertür des Büros klopft es leise. Billie öffnet die Tür. »Hallo, ich bin Melissa.« »Melissa, hallo. Ich bin Billie.« Billie streckt die Hand aus, und Melissa schüttelt sie. »Bist du Gast hier?« »Nun ... ich ... sie hat mir gesagt, ich soll warten. Aber ich habe einen Krampf bekommen.« »Bist du das, Schätzchen? Komm her. Und Billie ... was machst du? Immer noch am Telefon?«
Billie und Melissa gehen auf die Veranda, gerade als Napoleon, der Krankenpfleger, von der Klingel ans Bett in Nummer 4 gerufen wird. Melissa meint jetzt, nachdem sie sich ein wenig abgekühlt hat, daß sie nach Hause gehen sollte, ansonsten würde ihr Mann sich Sorgen machen. Lorraine begleitet sie in ihrem surrenden Rollstuhl zum Wagen. Die Unterwasserlichter im Schwimmbecken gehen aus, dunkles Wasser platscht an die Seiten. Billie schält sich aus ihrem Leder und gleitet hinein, entspannt sich und läßt sich zum Boden sinken, zählt langsam bis zehn, schießt dann nach oben und findet Lorraine vor, die ihren Fuß ins Wasser baumeln läßt.
»Was war denn das?« Sie meint Melissa. »Keine Ahnung. Habe ich nie herausgefunden. Vor einer Stunde war ich bereit, sie zu heiraten, aber dann stellte sich heraus, daß sie schon verheiratet ist.« Lorraine lacht. Manchmal klappt's, manchmal nicht. Was kannst du da machen? Jetzt komm schon, Kleine«, sie wirft Billie ein Handtuch zu, »komm da raus, mach uns einen Drink - im Gefrierfach liegt Tequila - und erzähl mir von ihr.« Billie tut, wie ihr geheißen. Und als sie ihre Geschichte beendet hat, fragt Lorraine, womit Rosemary ihren Lebensunterhalt verdient, weil Billie das nicht erwähnt hat.
»Sie ist eine außerordentliche Professorin für frühkindliche Entwicklung.« »Da kommst du ihr ja gerade recht«, sagt Lorraine. Um das Thema zu wechseln, fragt Billie Lorraine, was sie so verändert hat. »Ich habe das Licht gesehen!« brüllt Lorraine, die nie auf hört, sich über ihr Schicksal zu amüsieren. »Ehrlich, es klingt verrückt, aber so war es. Ich lag auf dem Operationstisch. Sie waren gerade dabei, du weißt schon ...« Lorraines Hand macht eine Sägebewegung in die leere Luft, wo ihr Bein einmal war, »... und plötzlich lag ich nicht mehr da. Ich war in einem langen, dunklen Tunnel und kämpfte mich einem vollkommen kreisrunden Licht entgegen. Das war eine immense Anstrengung, kann ich dir sagen, aber schließlich keuch keuch, stöhn stöhn, kam ich hin, und es war so friedlich und sanft und ... so schwebend und frei, ohne Schwerkraft, es gibt nichts Vergleichbares, und ich war glücklich, dort zu sein, und so schwebte ich herum und schwirrte und zwitscherte wie ein frisch geschlüpftes Vögelchen, als mich eine Kraft krallte und mich zurück in den Tunnel drückte. Es war nicht direkt rauh, es war eigentlich sanft, wenn das irgendeinen Sinn ergibt, aber zur selben Zeit fest, und ich verstand, daß ich zu früh zu dieser speziellen Verabredung erschienen war, es hatte einen Fehler gegeben, und es war noch nicht an der Zeit für mich. Da bin ich eben aufgestanden, habe mich abgeklopft, bin mit einem fröhlichen Winken durch diesen Tunnel hinuntergegangen und habe mich auf den Operationstisch gelegt, und außer mir wußte niemand, daß ich woanders gewesen war. Und außer dir jetzt. Und Carmen. Ich habe es ihr erzählt. Ich dachte, eine Aborigine würde es verstehen, wo die doch die ganze Zeit über sowas reden, aber ich merkte ihr an, daß sie mich für verrückt hielt. Wie steht es mit dir? Es macht nichts, wenn du mir nicht glaubst. Ich weiß, daß es wahr ist.« »Ich habe gewußt, daß etwas Ungeheuerliches geschehen sein muß.« »Ungeheuerlich. Genau. Ich habe am Himmel angeklopft. Dann mußte ich einen Grund für alles finden. Das war letztlich einfach, denn nachdem ich wieder gesund war und ins Leben zurückging, sah ich alles aus einer anderen Perspektive.« »Meinst du eine religiöse Perspektive?« »Nein, viel praktischer. Wegen der Art, wie der Lastwagen mich entlanggeschleift hatte, war eine Menge Schaden entstanden, und sie hatten das Bein sehr weit oben abnehmen müssen, daher stand es außer Frage, eine Prothese anzufertigen. Ich mußte mich auf einen Rollstuhl einlassen. Alles war anders. Die Welt war verkehrt. Die Dinge waren alle am falschen Platz, Dinge, über die ich davor nie eine Sekunde nachgedacht hatte, wurden zum Alptraum. Sicherlich konnte ich meine eigene Umgebung dem anpassen, aber was sollte ich denn dann machen, mich darin verstecken? Keinesfalls. Dann hatte ich diese Idee, eine Ferienanlage aufzubauen, bei der alles von Anfang an geplant war, nicht umgebaut, sondern ohne Kompromiß von den besten Architekten entworfen. Ich sprach mit Leuten. Ich ließ ihnen keine Ruhe, und wenn es darauf ankam, habe ich sie direkt bei ihrem schlechten Gewissen gepackt, um sie zum Investieren zu überreden. Keiner von ihnen hat es bereut, kann ich heute sagen. Ich habe dieses Grundstück gefunden, das alle für mindere Qualität hielten. Habe einen Architekten gefunden. Den ersten Bungalow gebaut. Von da an ist alles wie von selbst gegangen: Der ökologische Landbau hat die Qualität des Bodens verbessert; der Krankenbungalow macht es auch für Schwerkranke möglich, in eine schöne Umgebung zu kommen; die Kurse über Aborigine Kultur, die alle vierzehn Tage stattfinden, sind immer ausgebucht. Ich mache ein Vermögen. Acht Bungalows, das ganze Jahr über ausgebucht. Nicht nur Rollstuhlleute, auch Lesben und Schwule. Du kannst Geld machen, wenn du politisch korrekt bist. Tut mir leid, Kleine, ich rede zuviel. Deine Augen sind schon ganz glasig. Wie dem auch sei, ich hoffe, beim nächsten Mal läßt er mich bleiben.«
»Er?«
»So'n Pech, Billie. Gott ist ein Kerl. Ich war dort, ich weiß es.« »Woher willst du das wissen? Ich dachte, du hast niemanden gesehen, es war doch nur ein goldenes Schimmern und eine unsichtbare Kraft.« »Stimmt. Aber nur ein Kerl kann dich so herumstoßen.« Lorraine lacht, Billie nicht. Sie kann sich nicht vorstellen, daß Lorraine etwas davon selbst glaubt. Vielleicht hat der Unfall bei ihr einen Gehirnschaden hinterlassen.
»Los Billie, jetzt mal ein bißchen fröhlicher. Du nimmst immer alles so ernst. Du hast mich gefragt, was passiert ist, und ich habe es dir erzählt. Wer immer oder was immer es war, es hat mir jedenfalls gut getan. Zum Teufel, wahrscheinlich war es nur das Betäubungsmittel.«
Lorraine fährt zum Ende der Rampe, die ins Schwimmbecken führt. Sie hebt sich aus dem elektrischen Rollstuhl, zieht sich aus und läßt sich in einen der Plastiksessel fallen, die am Wasser aufgereiht sind. Dann gleitet sie sanft in das Becken, läßt den Sessel los und paddelt herum. Das Wasser ist halb gechlort und halb Salzwasser, wodurch es leichter ist, sich darin treiben zu lassen. Da sie weiß, daß Billie bedrückt ist, aber auch, daß man sie immer mit einem Spiel ablenken kann, greift Lorraine nach einem Ball und wirft ihn ihr zu. Billie schmeißt ihn zurück und springt ins Schwimmbecken.
Später allerdings, als Billie im frisch gemachten Bett liegt, denkt sie darüber nach. Sie wünscht, sie hätte Lorraine nie gefragt, was geschehen war. Sie haßt solche Geschichten. Sie gehörten zu den fliegenden Untertassen in schrecklichen amerikanischen Fernsehsendungen, die produziert werden, um gutgläubige Idioten zu unterhalten. Das hatte sie nicht erwartet von einer Frau, die sie praktisch seit ihrer Kindheit bewundert und respektiert hatte.
Aber Billie war kein Kind mehr, und sie schämte sich der kindischen Enttäuschung, die sie empfand, und ihrer fast bockigen Vorbehalte dagegen, daß sie Lorraines Rolle in ihrem Leben überdenken mußte. Es war nicht immer einfach, mit Vorbildern umzugehen, das Verhältnis ist oft wie eine Einbahnstraße, und jetzt hatte sich Lorraine als unvollkommen herausgestellt, und Billie mußte sie entweder in eine Freundin umgestalten oder sie aus ihrem Leben verschwinden lassen. Billie kann nicht einschlafen, also sucht sie sich Papier und Kuli und schreibt einen sexy Brief an Rosemary. Wahrscheinlich ist Rosemary mittlerweile in ihr Haus in den Bergen gefahren, also wird sie ihn dorthin schicken. »Eine kritische Masse ist die Minimalmenge radioaktiven Materials, die notwendig ist, um eine nukleare Reaktion auszulösen.« »Ach ja? Kaffee?« »Ja, bitte. Das Entscheidende ist, daß der Prozeß sich selbst in Gang hält, wenn die kritische Masse einmal erreicht ist«, fährt Billie fort, die sich an dem Thema ebenso festgebissen hat wie an einigen Stückchen Speck, die sie gerade zum Frühstück gegessen haben. »Zur Zeit ist jeder daran interessiert, auf allen möglichen Gebieten. Das Leben ist voller Situationen, in denen ein Prozeß selbsterhaltend wird, nachdem eine Schwelle überschritten worden ist. Die Frage ist nur: Was ist die magische Nummer? Wie viele Leute sind notwendig, bevor eine Erneuerung zu einem akzeptierten Teil des Lebens wird?«
Lorraine und Billie trinken ihren Kaffee am Schwimmbecken. Billie denkt über ihre Zukunft nach. Mangos fallen von den Bäumen, Abreisende Gäste rollen ihr Gepäck zu ihren Autos. Diejenigen, die bleiben, frühstücken auf ihren Verandas und planen den Tag. Das beruhigende Summen von gut geölten Rädern bringt den Morgen sicher in Spur. Bungalow Nummer 4 zeigt keine Anzeichen von Aktivität, aber alles ist cool, Lorraine hat nachgesehen. »Und wie viele Frauen sind zur Zeit Teilhaberinnen in großen Anwaltsfirmen?« »Zwischen fünf und fünfzehn Prozent.« »Ist das eine kritische Masse?« »Könnte sein. Die Forschung zeigt, daß in einem soziologischen Kontext die kritische Masse schon bei fünf Prozent beginnen kann. Außerdem wird der Prozentsatz höher. Es studieren jetzt mehr Frauen als Männer Jura.« »Ha!« »Was heißt hier >Ha?<« »Warum studieren mehr Frauen als Männer Jura?« »Die Zeiten ändern sich eben.« »Nein, tun sie nicht. Der einzige Grund, warum mehr Frauen Jura studieren oder sonst was machen, ist, daß Jura keine Rolle mehr spielt. Die Männer sind weitergezogen, und du kannst wetten, daß die Macht ist, wo sie sind.« »Und wo sind sie nun?« »Ich weiß es nicht. Woher soll ich das wissen? Ich habe genug damit zu tun, mir eine winzige Nische für mein Leben zu schaffen.« »Also: cherchez les garcons.« »Genau.« »Where the boys are, that's where I want to be«, singt Billie klagend und bringt ein recht brauchbares Tremolo zustande. »Hey! Nicht schlecht. Wer hat das noch mal gesungen? Annette Funicello, Sandra Dee oder wer?« »Jedenfalls nicht k.d. lang, das steht fest.« Lorraine gibt ein tiefes Brummen von sich. »Glaubst du, es ist wahr, daß sie etwas mit Martina hat?« »Menschenskind, das hoffe ich doch. Als Ikonen unserer Lebensart sollten wir schließlich zusammenhalten.« Ein alter, blauer Valiant donnert heran, noch einer mit Tastaturschaltung. Obenauf liegen zwei Surfbretter, drinnen sitzen Marsha und Carmen, arm, aber hinreißend, und sie sind gekommen, um Billie zum Surfen abzuholen.
Über Nacht war das Meer rot geworden. Vor dem Imbiß parkt ein Müllwagen. Zerschmetterte Heiligenfiguren sind über die Straße verstreut. Offenbar ein guter Zeitpunkt zur Abreise, und genau das beabsichtigt Rosemary, sobald sie Kristeva eingefangen hat, die sich versteckt, obwohl Rosemary während ihrer Reisevorbereitungen sorgfältige Versuche unternommen hat, die Katze hereinzulegen. Kristeva haßt Autofahren.
Hubschrauber kommen niedrig heran und krachen, knattern und kreisen über den Strand. Leute laufen im Park hin und her, stehen am Rand des Ozeans, lassen die Kiefer hängen vor Erstaunen. Die Mitglieder des Surfclubs trillern auf ihren Pfeifen und warnen jeden, nicht ins Wasser zu gehen. Die mutigen und häßlichen Jungen schreien und lachen und schmeißen sich von den Felsen. Eine tote Wasserschildkröte wird angetrieben und liegt mit dem Bauch nach oben auf dem Sand. Bevor noch der Mann von Orca erscheinen kann, um ihr eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu geben, nimmt sie jemand mit nach Hause, um sie als Aschenbecher zu verwenden.
Rosemary sucht durch die Menge nach einer Spur von Theresa. Sie fragt den Fahrer des Müllwagens, aber ihm war lediglich von einem Makler die Adresse mit der Anweisung gegeben worden, die Wohnung leerzuräumen. Er meint, die Mieterin müsse eine ganz schöne Party gehabt haben, bevor sie auszog, denn alles war zerbrochen und durcheinandergeschmissen.
Rosemary betritt die leere Wohnung. Blasse Flecken am Boden, hinterlassen von Heiligenfüßen, und ein paar Stücke leuchtenden Korallenmosaiks und zerbrochener Seeohrmuschelschalen vom Saum von Sankt Hildegards Gewand sind alles, was von Theresas frommem Disneyland geblieben ist. Rosemary ertappt sich dabei, wie sie nach einer Nachricht sucht, einer Erklärung, obwohl sie weiß, daß das idiotisch ist. Schließlich mochte Theresa sie nicht, somit würde sie sich wohl kaum verpflichtet fühlen, Rosemary über ihre Pläne informiert zu halten. Der Müllfahrer kommt herein. »Das war's dann wohl, oder?« Er sieht sich um und beschließt, daß er recht hat, aber das hat er nicht ganz. Rosemary hat gerade eine kleine, heile Figur auf dem Kaminsims gesehen. Sie stellt sich zwischen sie und ihn. »Sieht so aus.«
Der Müllmann schaut Rosemary an. Es sieht so aus, als ob er noch etwas zu sagen hätte, aber dann ändert er seine Meinung. »Okay. Tja, schließen Sie die Tür, wenn Sie gehen.« »Mache ich.«
Der Müllmann nickt und geht zur Tür. »Dominus vobiscum«, sagt er mit einem Zwinkern, und er ist fort.
Rosemary nimmt die Figurine in die Hand. War dies eine der winzigen Nonnen der Fleischwerdung? Nein, es war noch einmal Unsere Liebe Frau; fünfzehn Zentimeter groß, auf einer Wolke thronend, und von den Handflächen ihrer ausgestreckten Hände gehen Strahlen aus. Rosemary trägt sie zum Fenster. Sie ist sehr schön gefertigt, das Porzellan tadellos, die Farben klar und strahlend. Rosemary kann keine Signierung des Künstlers finden. Hatte Theresa sich in dieser übelriechenden Wohnung versteckt, um ihre Heiligenfiguren zu schaffen und einem eigenen Kult nachzugehen? Rosemary wußte, daß es in den Anfängen der Kirche, bevor die Männer die Macht übernahmen und alle in Reih und Glied zwangen, eine Vielzahl von Heiligen mit ihren Splittergruppen und Anhängern gegeben hatte. Das Christentum hätte sich durchaus zu einer Art Hinduismus mit einer ganzen Anzahl von exotischen und wohlgefälligen Heiligen entwickeln können.
Rosemary wünscht, sie hätte die ganze Sammlung draußen bei Tageslicht gesehen. Es war sagenhaft, und Rosemary fiel kein Grund ein, warum sie das nicht gleich bemerkt hat, nämlich daß es keinen einzigen männlichen Heiligen gegeben hatte, nicht einen verfilzten Bart, keine Kreuze, keine Kruzifixe, keine Dornen oder blutenden Jesuse mit blutigen Brauen in Sicht.
Rosemary kann kaum glauben, daß sie fort sind. Welche Düsterkeit hatte nur von ihrer Schöpferin Besitz ergriffen, um eine solche Zerstörung zu verursachen? Sie würde die weiblichen Heiligen gerne auferstanden sehen, schimmernd tim den Felspool aufgestellt: glorreiche Mädchen mit Augen aus Lapislazuli, süßen, kleinen Ohren, mit Perlmutt eingelegt, in mit Granat bestickten Gewändern, die Haare mit den reinsten Perlen behangen, Strandhandtücher über die Arme drapiert. Ein Strand braucht ein paar Heilige, denkt Rosemary und läßt die winzige Jungfrau in ihre Tasche gleiten. Jetzt sollte sie gehen, aber da mußte noch etwas anderes sein, sie war sich sicher, deshalb setzt sie ihre Suche fort und findet es im Badezimmer groß und regenbogenbunt an die Wand geschrieben:
Ich werde euch nicht mit Männern, sondern mit Engeln reden lassen.
Und für Rosemary hatte das seine Richtigkeit, denn sie hatte schon immer, seit frühester Kindheit, insgeheim geglaubt, daß Engel Mädchen waren, auch wenn sie Michael und Gabriel hießen.
Lorraine rollt sich leise unter den knackenden Bäumen die ebenen Pfade entlang, die im Busch in der Umgebung der Anlage angelegt sind. Sie überprüft ihre Naturpfade, um sicherzustellen, daß nichts darüber gestürzt ist und die Gäste behindern könnte. Sie hofft halb, Melissa zu treffen, wo sie sie gestern mit ihrem niedlichen Arsch in der Luft gefunden hat, als sie eine seltene Orchidee bewunderte, deren Erhalt sie offensichtlich allein Lorraine zuschrieb. Lorraine wollte ihr lieber nicht erzählen, wie sie ganze Tuffs davon mit Beton erstickt hatten, als die Pfade angelegt wurden. Sie hatte ein bescheidenes Lächeln gelächelt und etwas von Mutter Natur gemurmelt.
Heute gleitet an derselben Stelle eine zierliche, schwarze Schlange über den Pfad. Lorraine beobachtet sie und beneidet die Schlange um ihre elegante und gliedlose Verfassung. Sie wußte nicht, ob und wenn ja, was es bedeutete, wenn eine schwarze Schlange ihren Weg kreuzte. Glück, Unglück oder nichts Besonderes? Denn sie beschleicht zweifelsohne ein merkwürdiges Gefühl. Als hätte jemand irgendwo einen Hahn angelassen oder einen Stöpsel herausgezogen, und etwas versickerte und richtete heimlich großen Schaden an. Als ob jemand irgendwo nein, nicht irgendwo, sondern ganz in der Nähe - sein Glück verspielte.
Lorraine glaubte nicht an so etwas, und sie hegte auch keinen Wunsch, die schon lange unter solchen Verleumdungen leidenden Schlangen weiter zu belasten oder in ein Klischee zu zwängen, aber Tatsache blieb, daß das Gefühl, während sie davonrollt, sich ihr hinterherwindet. Sie überprüft den offensichtlichen Kandidaten für eine Katastrophe, aber dem Jungen in Bungalow Nummer 4 geht es heute gut oder jedenfalls so gut, wie vernünftigerweise angenommen werden kann, und dann passiert dies und jenes, es gibt viel zu tun, und Lorraines Vorahnung verblaßt allmählich.
Das Telefon klingelt im leeren Haus. Kristevas Ohren zucken. Eine Fliege summt. Die Geschirrspülmaschine beendet ihren Waschgang. Der Anrufbeantworter übernimmt das Gespräch. Billie beschließt, später noch einmal anzurufen, und hinterläßt keine Nachricht. Als Rosemary zurückkommt, überprüft sie sofort das Gerät. Zwei Nachrichten, nichts von Billie. Rosemary fühlt sich einsam. Am meisten wünscht sie sich hier und jetzt jemanden, um über Heilige und die Wechseljahre zu reden, während die rote See unter den Fenstern tobt. Die Hexenstunde liegt neben dem Telefon, obwohl sich Rosemary einigermaßen sicher ist, sie nicht dort liegengelassen zu haben. Kann dieses Buch laufen, oder was? Plötzlich kann Rosemary nicht schnell genug in die Berge kommen, um es zu lesen und über Tod und Verfall und alles nachzudenken, was sie quält. Vielleicht kann sie dann vergessen und ihr Leben weiterleben, wenn sie diesen Gedanken ins Auge geblickt hat. Aber zuerst muß sie eine Erklärung für den ungewöhnlichen Zustand des Ozeans finden. Am besten beginnt sie mit ihren Erkundigungen beim Surfclub. Rosemary stellt Unsere Liebe Frau auf den Marmorsims unter den französischen klassizistischen Spiegel aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, der einen großen Teil der Wand ausfüllt. Sie sieht dort ganz wie zu Hause aus, Rosemary glaubt sogar, einen raschen Blick der Komplizenschaft zwischen ihnen wahrzunehmen, der besagte, daß die Jungfrau Maria auch den eklektischen Stil von Inneneinrichtung gewählt hätte, den Rosemary bevorzugt, wenn sie nicht das Pech gehabt hätte, mit einem Tischler verheiratet gewesen zu sein, der darauf bestand, alle Küchenschränke selbst zu bauen. Rosemary war bereit zu wetten, daß Joseph der Typ gewesen war, der sich endlos über die Knoten und Wirbel ausließ, die sich in jedem Stück Holz finden ließen, das ihm unter die Finger kam. Sie findet diese Einstellung deprimierend. Und sie findet Holz deprimierend. Was ist Holz schon, wenn nicht die eine oder andere langweilige Variation des Grundthemas Braun? Nach Rosemarys Meinung gab es nur sehr wenige Holzarten, die nicht durch eine Schicht Farbe deutlich verbessert würden.
Carmen, Marsha und Billie stehen oben auf den Dünen und beobachten, wie Welle um Welle in einen mächtigen, kreisrunden Sog gerät. Es konnte nicht besser sein.
»Hey, nichts wie rein!« schreit Carmen, und sie beginnen zu rennen. Am Wasser bleiben sie stehen. Billie zieht ihren Surfanzug zu und schnallt die Flossen an. »Hey, Mädels«, ruft sie, läßt sich auf ihr Brett fallen und kracht in das weiße Wasser hinaus, »jetzt seht euch gut an, wie wunderbar ich die Welle von links angehe.«
Carmen lacht und folgt ihr. Marsha bleibt am Strand und fummelt an ihren Flossen herum. Sie hat einen Kloß im Hals, den sie versucht, hinunterzuschlucken, denn wenn sie damit ins Wasser geht, wird sie wahrscheinlich ertrinken. Sie hat es irgendwie mit Billie: mit der Art, wie sie den Kopf neigt, mit ihrem finsteren Blick, den langen Beinen und dem durchweg großtuerischen Auftreten und ja, Marsha muß es zugeben, ihrem Hang, alles besser zu können als alle anderen. Um eben das zu beweisen, zerteilt Billie die Welle und schwenkt zurück in eine schiere Wasserwand, richtet den Körper auf, steckt den hübschen Kopf über die Brettspitze, schießt in den Himmel, trifft auf den Wellenrand und überschlägt sich, um glorreich mitten in der Luft zu schweben und der Schwerkraft einen ordentlichen Kampf zu liefern, bevor sie hinabstürzt und Marshas turbulentes Herz mit sich in den Schaum reißt.
Und danach ist nichts. Nur kaltes Salzwasser, glatt und rund wie ein Glasstöpsel, der Billies Mund verschließt.
»Das ist ganz natürlich«, sagt der Leiter der Lebensretter. »Der Seetang ist in Blüte, das ist alles. Das passiert hin und wieder, wenn die Bedingungen dafür stimmen. Völlig harmlos.« »Warum sind sie dann so sehr damit beschäftigt, jeden aus dem Wasser rauszuhalten?« »Die Leute erwarten das. Wenn wir sie einfach reinlassen würden, würde uns jemand der Gemeinde melden.« Rosemary ist versucht, um die Ecke zu schleichen und sich in die Röte zu tauchen, aber dann denkt sie daran, daß sie danach duschen und sich die Haare waschen und trocknen müßte, was alles zuviel Aufwand scheint, also läßt sie es bleiben. Sie gibt sich damit zufrieden, am Wasser zurückzuspazieren. Rosa Schaum hinterläßt einen Rand um ihre Knöchel, den sie unter einem der Wasserhähne abspült, die am Parkrand zu diesem Zweck angebracht sind.
Als Rosemary die Straße zu ihrem Haus überquert, bemerkt sie eine dünne Glitzerspur in der Straßenmitte, die die Prozession der Heiligen auf ihrem Weg zur Müllkippe markiert. Auf der anderen Seite der Spur steht eine kleine, nervöse Frau in engsitzenden Kleidern, die vortritt, als Rosemary herankommt. Es ist Yvonne, die zu der Partnerschaftszeremonie mitgenommen werden will. Irgendwie war es Rosemary gelungen, das völlig zu vergessen. Sie schlägt vor, daß Yvonne im Café auf sie wartet, während sie nach oben geht, um Kristeva zu fangen und ein paar Sachen zu packen. Dazu gehören die winzige Jungfrau, die Hexenstunde, ein kleiner, blauer Glastiegel Holunderblüten-Handcreme und das angeblich sexy Buch, das sie neulich abends gekauft hatte, denn, abgelenkt von Tod und Wechseljahren, hat sie immer noch nicht herausgefunden, wie Blaize bei der Frau mit den Ray Bans, der Superstereoanlage und den blonden Locken weiterkommt.
»Ich weiß wirklich nicht, warum sie das hier Berge nennen«, murrt Daphne. »Das sind doch überhaupt keine Berge, eher Löcher im Boden. Ich meine, wie viele Berge gibt es denn auf der Welt, die man sich von oben anschauen muß?«
Rosemary und Daphne halten sich an dem schwankenden Geländer fest. Rosemary stellt sich vor, wie sich plötzlich unter ihren Füßen Risse in der Erde auftun, und umklammert den Arm ihrer Freundin. Immer darauf bedacht, voranzukommen, war Daphne ihr dicht auf den Fersen gefolgt und hatte nach ihrer Ankunft darauf bestanden, daß Rosemary sie zu diesem Aussichtspunkt fuhr. Daphne war mit ihren Taschen und dem Fahrrad und einem aschfahlen Gesicht aus dem Zug geklettert. Sie hatte mißtrauisch herumgeschnuppert. »Die Luft sticht in der Nase«, hatte sie gesagt.
Daphne war eine Frau, die gerne sah, was sie atmete. Der kristallklare Morgen störte sie. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Sofort war sie von Fremden umzingelt, die wild auf eine Zigarette waren.
»Also wirklich«, hatte sie gesagt, »hast du das bemerkt? Seit sie Rauchen zu einer kriminellen Aktivität gemacht haben, wirst du jedesmal, wenn du dir eine anzündest, von nikotinhungrigen Leuten angepöbelt.«
Im Auto hatte Daphne das Thema, während sie mißtrauisch in die vorüberziehende Landschaft schaute, wieder aufgegriffen.
»Ich hätte außerdem beinahe den Zug verpaßt. Der verdammte Taxifahrer war so unverschämt, mir zu sagen, ich könnte in seinem Taxi nicht rauchen, deshalb ließ ich ihn anhalten, damit ich mir ein anderes nehmen konnte. Dann erwartete er, daß ich ihn auch noch bezahlen würde. Natürlich habe ich mich geweigert. Ich versuchte, ihm ein paar simple Grundzüge des Vertragsrechts zu erklären und wie sie in dieser Situation anzuwenden wären, und es war zu sehen, daß ihm das alles neu war. Er begann zu schreien und gegen mein Fahrrad zu treten, als ich versuchte, es aus dem Kofferraum zu bekommen. Ich sagte ihm, er solle eine Zigarette rauchen und sich beruhigen, woraufhin er beschloß, meinen Koffer in den Rinnstein zu schmeißen. Die Welt ist doch verrückt geworden.« »Sehr hübsch«, sagt Daphne jetzt und dreht sich vom Geländer weg, »laß uns gehen, ja? Womöglich machen sie sonst zu.« Zwar schloß Liquorland freitags nicht vor neun, aber Rosemary ist recht froh darüber, den Aussichtspunkt zu verlassen. Manchmal, wenn sie irgendwo hoch oben steht, bekommt sie dieses seltsame Gefühl, daß sie einfach springen möchte. Dieser Gedanke schlendert nach einer oder zwei Minuten von hinten heran und schlägt sich beiläufig vor. Sie hat gelernt, damit umzugehen, aber trotzdem ist Rosemary froh, den Gedanken alleine auf die Berge starren zu lassen, während sie und Daphne zu Farbe und Bewegung vom K-Markt fliehen.
Während Daphne sich mit Bell's Whiskey versorgt, springt Rosemary in den Laden nebenan, um ein halbes Kilo gefrorene Flunder aus Neuseeland und ein paar Tischtennisbälle für Kristeva zu kaufen.
Eine Frau bei der Partnerschaftszeremonie hatte Rosemary erzählt, daß der K-Markt in Katoomba ein guter Ort sei, um lesbische Mütter aufzureißen, wenn sie an Montagmorgenden wegen der heißen Sonderangebote hereinkämen. Rosemary denkt gerade darüber nach, was sie an einem Montagmorgen mit einer lesbischen Mutter anstellen könnte, sollte sie erfolgreich sein, als sie ihre Freundin Penelope sieht, weder Lesbe noch Mutter, die mit einem vollen Einkaufswagen im Niemandsland zwischen den Haushaltsartikeln und der Feinkosttheke steht. Irgend etwas stimmt nicht. Penelope trägt einen eindeutig serbischen Gesichtsausdruck zur Schau, und Rosemary kann raten, warum. Sie sieht sich um. Sie kann ihn auch nicht sehen. Warum verschwindet Bruce im Handumdrehen und, das ist sogar noch rätselhafter denn schließlich verspürt jeder hin und wieder das Bedürfnis, seinen Nächsten und Liebsten zu entkommen -: wie? In diesem Fall trat er wahrscheinlich zwei Schritte zurück und einen zur Seite und verschwand einen Gang hinunter, was im K-Markt leicht genug ist, aber es war eine wohlbekannte Tatsache, daß Bruce dasselbe fertigbrachte, wenn er sich in der Mitte von Nirgendwo befand, wo ihm noch nicht einmal kränkliches Stachelkopfgras Schutz geboten hätte.
Penelope und Rosemary gleiten Einkaufswagen an Einkaufswagen durch die Gänge und halten die Augen nach dem Vermißten offen. Sie bleiben stehen, um den Käse zu begutachten.
»Ich glaube«, sagt Penelope und nimmt den Faden der Unterhaltung wieder auf, die sie unterbrochen hatten, als sie sich zum letzten Mal sahen, »jedenfalls scheint es mir...« Penelope hält inne, um ein Päckchen bretonischer Cracker in ihren Einkaufswagen zu werfen, denn sie liebt sie über alles zum Schimmelkäse »... daß all diese Jungen«, und hier hält sie inne, um zu seufzen, denn es ist doch traurig, findet sie, beinahe so wie die Generation, die im ersten Weltkrieg verloren ging, all diese Dichter, die sich im Schlamm die Masern holten oder niedergemäht wurden, »und ich habe so viele von ihnen gesehen, weißt du ... kluge Jungen, die sich um neun Uhr morgens hinsetzten und einen Joint ansteckten, und bevor sie wußten, wie ihnen geschah, war ein Vierteljahrhundert vorüber. Und wo sind sie jetzt?« »Vermißt im K-Markt.« »Das ist doch nicht richtig, oder?«
Penelope hat die Kassen erreicht, aber Rosemary bleibt mit dem sicheren Gefühl zurück, daß sie etwas vergessen hat. Und das hat sie auch. Sie läßt ihren Einkaufswagen voller Dinge, wegen derer sie nicht gekommen ist, aber über die sie sich durchaus freut, zurück und eilt davon, um Kristevas Tischtennisbälle zu holen. Der Laden schließt gleich. Leute laufen auf dem Parkplatz umher. Durchs Fenster sieht sie Bruce, der sich niedergedrückt von zehn Kilo Pussy's Katzenstreu seinen Weg zum Auto bahnt. Die Tüte hat ein Loch. Na klar, denkt Bruce, es ist mal wieder so ein Tag. In den Bergen ist immer so ein Tag. Eine Linie gräulich-brauner Kügelchen markiert seine Spur, bis Nebel einfällt und sie verschluckt. Bruce wirft die halbleere Tüte in den Kofferraum und kriecht mit einem Seufzer auf den Beifahrersitz. »So'n Theater, Theater, Theater«, beschwert er sich.
Mit dem Rücken hatte er schon immer Probleme, und durch den Umzug hierher hat er sich nicht gerade verbessert. Er nimmt einen Joint aus dem Handschuhfach und zündet ihn an. Auf dem Rücksitz findet er eine ramponierte Kassette von »Dido und Aeneas«, steckt sie in den Schlitz des Abspielgeräts und lehnt sich mit einem Seufzer zurück. Das Tonband dreht sich, streckt sich, knistert und rückt schließlich mit der Musik heraus. Vom Rücksitz ertönt ein schnurrendes Rondo.
Rosemary macht sich einen Gin Tonic. Daphne schenkt einen Scotch ein, packt ihre Sachen aus und begibt sich daran, ein paar Bleistifte zu spitzen. Es gibt Zeiten, in denen Daphnes Augen vor bleierner Entschlossenheit funkeln wie das Meer an einem trüben Morgen.
»Bruce und Penelope haben uns zum Abendessen eingeladen«, erzählt Rosemary ihr. Bruce und Penelope wohnen ein paar Häuser weiter. »Floryan kommt auch. Du solltest ihn kennenlernen, er wohnt gerade im Literaturhaus.« »Kann er mich da reinlassen, so daß ich mich umschauen kann?« »Ich bin mir sicher, daß er das kann..Es ist doch mehr oder weniger öffentlicher Besitz, oder nicht? Er wird es dir bestimmt gerne zeigen.« »Die Leute können in solchen Angelegenheiten sehr komisch sein.« Das hieß, daß sie es sein konnte und daher von anderen dasselbe erwartete.
»Das mag wohl sein.« Rosemary wirbelt ein Geschirrtuch durch die Luft, um den entsetzlichen Geruch zu vertreiben, den die auf dem Herd köchelnde Flunder verströmt. Sie stellt den Herd aus, erklärt Kristeva, daß sie zu warten hat, bis der Fisch abgekühlt ist, und nimmt ihren Gin mit in den Garten hinaus, wo sie, während sie einen schlecht beschnittenen Rosenbusch betrachtet, über den Gartenscherenmörder nachdenkt, der seinen Opfern die Finger abschneidet, um ihre Ringe in der Sicherheit seines Zuhauses abstreifen zu können. Rosemary schluckt den Rest ihres Drinks herunter und schüttet die halb geschmolzenen Eiswürfel auf den steinigen Boden. Morgen wird sie eine Ladung Pilzkompost und einen Fünfundzwanzig-Kilo-Sack Dünger bestellen. Vielleicht wird sich Daphne bemüßigt fühlen, ihr beim Schaufeln zu helfen, vielleicht aber auch nicht. Rosemary stellt die Sprenganlage an, geht in einen anderen Teil des Gartens und beginnt, verblühte Margeriten abzuknipsen, solange es noch hell genug dazu ist. »Das war köstlich«, sagt Rosemary und bezieht sich auf Penelopes Erbsen- und Pilzrisotto, das sie gerade gegessen haben. »Es gibt nichts Besseres als Erbsen, die auf dem eigenen Grundstück gewachsen sind«, strahlt Penelope und schiebt ihren leeren Teller von sich. Trotz ihrer Worte und des leergegessenen Tellers bleibt Penelope hungrig. Die goldene Kruste einer köstlichen überbackenen Käseschnitte zischelt ihr verführerisch durch den Kopf.
Bruce schielt bedrückt in die Schüssel, die Daphne ihm gerade gereicht hat. Seit sie in die Berge gezogen sind, hat er sich mit der Tatsache abfinden müssen, Blumen in seinem Salat vorzufinden. Er schiebt ein paar Brunnenkressenblütenblätter beiseite und nimmt sich eine so kleine Portion Grünzeug, wie seine Frau ihm gerade noch durchgehen lassen wird. Penelope glaubt offenbar, daß alles Grüne ein unverzichtbarer Faktor für das Erringen und den Erhalt einer guten Gesundheit ist. Bruce schiebt die Blätter auf seinem Teller herum. Er weiß, daß sie, wenn er diese Anzeichen von Begeisterung und Aktivität lange genug beibehält, das Interesse verlieren wird und er in der Lage sein wird, das Zeug heimlich in den Komposteimer zu stopfen, wohin es auch gehört. Kerbel, Schnittlauch, Rucola, junge Spinatblätter, Petersilie, Lollo rosso: es mußte doch eine Möglichkeit geben, all das in einen nährstoffreichen und hochalkoholischen Schnaps zu verwandeln, und dann wäre jeder zufrieden.
»Schlechtes Benehmen«, sagt Rupert, »ist nicht immer amüsant. Reich mir doch den Salat, sei so lieb.« Bruce tut das sehr gerne.
»Aber hör mal«, beharrt Floryan, dessen Verhalten Rupert versteckt kritisiert, »es ist dermaßen ruhig in dem Haus da oben. Manchmal muß ich das Kopiergrät anstellen, um etwas Gesellschaft zu haben. Kein Wunder, daß ich mir so oft einen runterhole. Ich habe mir in jedem Zimmer des Literaturhauses einen runtergeholt. Versuche, mich aufzumuntern.«
Floryan war seit einer Woche im Literaturhaus. Er hatte noch eine Woche vor sich und beabsichtigte, die Zeit so gut wie möglich zu nutzen, aber jetzt will diese Frau, die er gerade kennengelernt hat, morgen kommen, um sich das Haus anzusehen. Nun denn, es macht Floryan nichts aus, vielleicht ist es eine angenehme Abwechslung. Er wird ihr einen Morgentee anbieten und sie herumführen und auf das Doppelbett hinweisen, das ICH und DU ins Kopfteil geschnitzt hat. Floryan würde nämlich gerne wissen, wer ICH und DU waren. Da diese Frau das Haus als Kind besucht hatte, wußte sie es womöglich. Er würde ihr den Stuhl in der Schlafzimmerecke mit dem schmutzigen Polster zeigen, das niemand auswechseln darf, weil Edith Black selbst den Stoff ausgesucht, den Bezug genäht und zweifelsohne auch zu seinem schmutzigen Zustand beigetragen hatte. Er wird sie in den Beton- und Glasbunker im Garten geleiten, in dem Edith ihre Bücher geschrieben hatte und wo Floryan dasselbe versucht, in der kalten, moosigen Stille an einem Tisch neben dem Glasschrank, der Ediths Bisampelzmantel und Stulpenhandschuhe enthält, die die Autorin stets anzog, bevor sie sich zur Arbeit niederließ, und das war kein Wunder, denkt Floryan, es ist so feucht und kalt hier, sogar im Sommer; warum in aller Welt hatte die Frau keinen Kamin einbauen lassen? In der Ecke steht eine Plastikschüssel mit Rattengift, und jeden Morgen ist die oberste Schicht der Kügelchen verschwunden, und Floryan, der annimmt, daß das von jedem hier residierenden Schriftsteller erwartet wird, schüttet pflichtbewußt jeden Morgen etwas nach. Er ist sicher, daß es nach toten Mäusen riecht, die unter den Fußbodendielen verwesen. Das Schlimmste aber wird er bis zum Schluß aufheben: den eingebauten Schirmständer in den Maßen eines normalen britischen Schirms, der in der Wand neben der Haustür versteckt ist, von Edith entworfen und gebaut. Als Floryan diese eigenartige Arbeit betrachtete, glaubte er, endlich das ganze Ausmaß grenzenlosen Grauens verstanden zu haben, das einer Schreibblockade innewohnt. Er war am Rande eines schwarzen Lochs entlanggetaumelt und hatte die Tür gerade noch zugeschlagen, bevor er hineinfiel. Als er wieder zu Atem kam, mußte er die verzweifelte Genialität und Stärke eines Geistes bewundern, der sich eher der Langeweile aussetzte, einen Schirmschrank zu bauen, als einen einfachen Satz zu konstruieren. Von der beglückenden Tatsache belebt, daß es immer jemanden gibt, dem es schlechter erging als einem selbst, war Floryan über den Rasen in den Bunker geeilt, um selbst ein paar zu komponieren. Schreiben war tatsächlich eine lebenslängliche Strafe.
Floryan schaut am Tisch herum und hofft, daß ihn jemand nach Hause bringen wird. Er hat keine Lust, im Nebel durch schlecht beleuchtete Straßen zurückzulaufen, auf denen jeder wie ein Serienmörder aussah. Das hatte er gleich am ersten Tag nach seiner Ankunft bemerkt, diese Strickmützen und schwarzen Kapuzen, die karierten Hemden und die Seilstücke, die aus Hosentaschen hingen. Und jetzt reden sie alle über diesen Gartenscherenmörder außer Rupert, der sich zu Floryan hinüberlehnt und ihn nach seiner Einschätzung der heutzutage zu erwartenden Dauer einer Beziehung fragt. »Für mich, meinst du?« »Nach deiner Erfahrung, ja.« »Im Durchschnitt?« »Ja.« Floryan rechnet ein paar Zahlen zusammen, teilt das Resultat durch etwas anderes und sagt: »Achtzehn Stunden.« Rupert nickt gedankenvoll. »Genau«, sagt er, bevor er sich abwendet, um mit Penelope zu reden, und Floryan dabei zurückläßt, sich zu fragen, was das nun zu bedeuten hatte. Im großen und ganzen mag Floryan keine tuntigen, alten Schauspieler, Schriftstellerinnen, plätschernde Dinnergespräche, diese triefnassen, nebligen Berge und - mehr oder weniger die ganze verdammte Welt. Jetzt bedauert er, daß er sich morgen mit Daphne beschäftigen muß. Er fühlt sich trotz ihrer verrückten Schränke und vermotteten Biberstulpen als Beschützer von Edith Black. An seinem Nacken gerade unterhalb des Kragens wächst ein Pickel. Er befingert ihn und versucht lahm, den Ausbruch von Unzufriedenheit zu bekämpfen.
Er weiß, warum er sich so fühlt. Seine Arbeit läuft nicht gut. Das Problem ist sein erster Satz. Er kommt immer wieder darauf zurück und ändert ihn, aber er ist immer noch nicht damit zufrieden. Er handelt von der Zeit, als sein Held vier Jahre alt war und die Möse seiner Großmutter sah, aber er bekommt es nicht richtig hin. »Ich finde es billig«, sagt Rupert. »Was ist billig?« bellt Floryan in dem Glauben, daß Rupert seine Gedanken gelesen hat und es ihm gelungen ist, seinen fetten Finger genau auf das Problem zu legen. »Dieser ganze Schwulenkarneval. Wenn ich mir diese Parade ansehe, frage ich mich einfach, was sie da treiben. Ich kann mich damit überhaupt nicht identifizieren. Ich dächte gerne, daß ich zur Gattung Mensch gehöre und nicht zu einer Untergruppe, die sich über Kleider und Pailletten oder lederne Suspensorien entzückt.«
Floryan neigt dazu, ihm zuzustimmen. Nicht was die Kleider angeht, er zieht gelegentlich gerne ein schönes Kleid an. Es machte Spaß, und außerdem sah er in einem Kleid besser aus als jede Menge andere Leute, die er nennen könnte. Was ihn abturnt, ist diese Sache mit der Schwulengemeinschaft. Er kann nicht einsehen, warum seine sexuelle Neigung ihn automatisch zu einem Teil einer Gemeinschaft oder womöglich einer Familie machen soll, vielen Dank! Er flirtet mit dem gefährlichen Gedanken, daß das Schwulsein mehr Spaß gemacht haben muß, als es noch illegal war.
Dann reden plötzlich alle am Tisch über die Liebe. Daphne erzählt, wie sie jahrelang mit diesem Typen zusammengelebt hatte und als es vorbei war - nur, wann es vorbei war, war schwer zu sagen gewesen, die Entscheidung hatte Monate in Anspruch genommen und sich hingezogen, wie diese Sachen sich nun einmal hinziehen -, hatte sie ihn verlassen, und am nächsten Tag hatte er irgendein Reinigungsmittel getrunken, weil er in einem Buch gelesen hatte, daß sich jemand damit umgebracht hatte, und er es einmal ausprobieren wollte. Er war nicht gestorben, aber nahe daran gewesen. Sie hatte ihn hinterher im Krankenhaus besucht, doch jetzt glaubt sie, daß das ein Fehler war, aber sie sagt nicht, warum. Dann hatte er sich ungefähr acht Monate später erschossen, aber inzwischen war Daphne sich nicht mehr sicher, ob die Handlung mit ihr zusammenhing oder nicht. »Er muß dich sehr geliebt haben«, sagt Penelope vorsichtig. »Was für ein Quatsch«, bellt Rupert, »diese Sachen haben nichts mit Liebe zu tun. Das ist etwas völlig anderes. Wahrscheinlich hat er sie auch noch verprügelt und ihr erzählt, daß das Liebe war.«
Alle sehen Daphne an, aber sie sagt nichts.
»Nun, was ist dann Liebe?« »Sag du es uns«, schlägt Daphne vor, »schließlich bist du diejenige, die gerade völlig vernarrt ist.« »Ist das wahr?« Penelope lächelt Rosemary in dem Gefühl an, daß die Unterhaltung endlich eine interessante Wendung nimmt. »Bin ich gewesen, habe ich hinter mir«, sagt Bruce. »Hasse Liebe«, fügt er noch hinzu, bevor er mit dem Gesicht in seinen Salat fällt, »liebe den Haß.« Er kriecht zur Couch hinüber, wo er sich zum Schlafen niederläßt. Die Katzen folgen ihm und rollen sich auf seiner Brust ein. Ihrer Meinung nach, in ihrer ordentlichen und sterilisierten Redlichkeit, war es öde, überhaupt ein Geschlecht zu haben.
Es hört sich wie Opossums auf dem Dach an, aber in Wirklichkeit sind es Ruperts Fußnägel, die am Kopfteil des ICH-und-DU-Betts krabbeln und kratzen, während Floryan in sich hineinschreit: »Was mache ich hier bloß, was mache ich bloß, verflucht noch mal, was mache ich hier bloß?« Obwohl er sehr wohl weiß, was er macht, ist es das Warum, das er nicht versteht.
Am nächsten Morgen, nachdem sich Rupert freundlicherweise so früh davongeschlichen hat, daß sie sich nicht in die Augen sehen mußten, versteht Floryan seine Handlungen vollkommen. Er hatte es getan, weil es jemanden gab. Weil er konnte. Weil sein verdammter erster Satz nicht gut war. Er wünschte, er hätte es nicht getan. Er hatte gedacht, er wäre darüber hinaus, Sex nur um des Sexes willen zu haben, nur weil er konnte, nur weil es jemanden gab. Er war von sich selbst angeödet. Vielleicht sollte er enthaltsam leben. Er hatte einen Freund, der sich dazu entschieden hatte und sich auch daran hielt und sich besser fühlte, das sagte er jedenfalls. Das Problem war, daß er sich dann womöglich noch mehr langweilte, denn Sex füllte die Zeit aus und war interessant. Sogar schlechter Sex war auf seine Art interessant. Es gab unerwartete Gerüche und Geschmäcker, Hins und Hers, überwundenen Abscheu, der gut für die Seele sein mußte praktisch ein Wohltätigkeitsakt, könnte er sagen, diese Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen, oder war das dasselbe? Besser zu wünschen als zu bedürfen, denkt Floryan. Es scheint nicht so dringend.
Irgendwo hier ist eine Katze. Floryan nimmt an, sie gehört zum Haus. Es ist eine einsame, verrückte Katze mit kahlen Stellen über den Augen, und niemand hat sich bemüht, ihm ihren Namen zu sagen. Floryan nimmt das Brathähnchen aus dem Kühlschrank, das von vorgestern abend übriggeblieben ist, und gibt es der Katze, die in dem Moment, in dem er den Kühlschrank öffnet, angelaufen kommt. Da er schon dabei ist, reißt Floryan auch ein Stück für sich selbst ab, geht kauend zum Fenster und findet sich damit ab, einen weiteren Tag im Fischtank zu verbringen und an seiner ersten Zeile zu basteln. Vielleicht sollte er weiterschreiben und das Buch beenden und dann erst diesen Satz überdenken, oder vielleicht sollte er ein Gentleman sein und seine arme, alte Oma ganz aus dem Spiel lassen, oder vielleicht sollte er auf der Suche nach einer vernünftigen Tasse Kaffee nach Katoomba laufen.
Über alledem hat er Daphne völlig vergessen, aber hier ist sie nun, radelt zielstrebig die Einfahrt hoch, bevor das Fahrrad auf einem bißchen losen Kies seitwärts rutscht und Floryan herauseilt, um seiner Schriftstellerkollegin zu Hilfe zu kommen.
Endlich hat sie die Hexenstunde ausgelesen. Sie hat fast die ganze Nacht dazu gebraucht. Unterdessen waren riesige Motten mit Hörnern und Teufelsgesichtern draußen gegen das Haus gekracht, durch Fenster gepoltert und hatten sich an der Nachttischlampe betäubt. Rosemary nimmt ihre Armbanduhr, die zwischen den Leichen auf dem Nachttisch liegt. Sie erinnert sich an den schicken Reisewecker, den sie in Bali verloren hat, Sie vergißt ständig, für Ersatz zu sorgen.
Im Haus ist es sehr ruhig. Daphne ist zweifelsohne schon fort auf der Suche nach ihren Leichen. Rosemary bleibt, wo sie ist, und beobachtet die sanft sich wiegenden Baumwipfel und ein paar weiche Wolken, denn das ist alles, was sie von den Fenstern dieses Zimmers aus sehen kann, und es gibt ihr ein Gefühl von Fliegen und Freiheit. Rosemary denkt noch einmal an Bali. Sie war mit Marie, einer Freundin, in der Hoffnung dorthin geflogen, daß ein Urlaub diese von ihrer Trauer über den Tod ihrer Partnerin Georgina ablenken könnte. Es hatte nicht funktioniert. Die Schönheit Balis war angesichts Maries hartnäckigen Kummers verblichen, und Rosemary war nicht gut damit umgegangen, das glaubte sie jedenfalls. Aber als sie hinterher noch einmal darüber nachgedacht hatte, hatte sie bezweifelt, daß irgend jemand diese betrunkenen Nächte hätte durchstehen können, in denen Marie darauf bestanden hatte, daß Georgie, wenn sie überlebt hätte, die beste Country- & Western-Sängerin geworden wäre, die Australien je her-vorgebracht hatte - eine Behauptung, die für Rosemary schwer zu verstehen war und über die man unmöglich ernsthaft diskutieren konnte. Und dann hatte sich Marie auch noch bei einem Feuertanz eine häßliche Verbrennung an ihrem dünnen Knöchel zugezogen, die sich schnell in einen schwärenden Krater verwandelt hatte. Da sie sich zweimal täglich mit der Aufgabe konfrontiert sah, eine Wunde zu säubern und zu verbinden, die sie, sie konnte sich nicht helfen, für nichts anderes als eine triefende Metapher für tief vergrabenen Kummer hielt, hatte Rosemary vorgeschlagen, den Urlaub abzukürzen, und sie waren vier Tage früher zurückgeflogen.
Rosemary hatte Marie kürzlich gesehen, wie sie in der Sushi-Bar am Fischmarkt mit ihrer neuen Geliebten Caroline zu Mittag aß, einer rundlichen Frau, so rosa wie die neue Haut, die letztlich über die alte Wunde gewachsen war.
Ein Hubschrauber fliegt niedrig über das Haus und wieder zurück. Rosemary bleibt eingekuschelt, wo sie ist, und denkt an Krieg und Rettungsmanöver und Leute, die sich als Resultat ihrer Freizeitaktivitäten und ihrer hektischen Vorstellung von Spaß auf schmalen Felsvorsprüngen in Schwierigkeiten befinden, und natürlich denkt sie auch an Billie, im Bett an ihrer Seite - wenn doch nur - in diesem Baumhauszimmer, was ihre Gedanken an weiche und sicherlich vernünftige Orte schweifen läßt, weit entfernt von Felsnasen, unwegsamem Terrain und einem Sprung aus großer Höhe mit nur einem Seil um den Knöchel zwischen sich und dem Tod.
Während sie über diese Dinge nachdenkt, kriecht Bruce im niedrigen Gebüsch unter ihrem Fenster herum und bewundert seine Dope-Pflanzen. Sie sind der Ernte so nahe, daß ihm das Wasser im Mund zusammenläuft, aber nein, Moment mal, da ist der verfluchte Hubschrauber wieder, niedriger und langsamer setzt er zu einem weiteren Flug auf das Ziel an, so glaubt Bruce, und als die Fenster zu klappern beginnen, beschließt Rosemary aufzustehen. Sie geht zum Telefon und bestellt ihren Pilzkompost und Dünger, dann tritt sie ans Fenster und sieht die fedrigen Pflanzenspitzen zittern, als Bruce mit einem Satz aus dem Gartenbeet auf die Veranda springt. Rosemary geht in die Küche und stellt den Kessel auf. Es ist jetzt ruhiger. Der Hubschrauber hat die Richtung geändert und fliegt davon, aber Bruce ist nicht davon überzeugt, daß er wirklich fort ist. »Jedes Jahr«, stöhnt er, »kommen die Scheißkerle, gerade wenn es beinahe Zeit zur Ernte ist. Woher wissen die das bloß?« »Vielleicht wissen sie es gar nicht«, wendet Rosemary ein. »Vielleicht suchen sie nur nach einem verlorengegangenen Kind oder einem entlaufenen Sträfling.« »Das könnte sein, könnte sein«, seufzt Bruce und wühlt in seinen Taschen herum, bis er findet, was er braucht, und mit zittrigen Fingern einen Joint baut. »Auf die Paranoia, Mann«, macht er sich über sich lustig, bevor er ihn an Rosemary weiterreicht.
Floryan, der dünne Gummihandschuhe trägt, tupft mit einem Stück feuchter Watte, das er mit einer Pinzette festhält, auf die Kiesabschürfungen an Daphnes Knie. Er hatte schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, den Erste-Hilf e-Kasten mit dem großen roten Kreuz zu benutzen, der auf dem Regal im Badezimmer des Erdgeschosses stand, und er hatte auch darauf gebrannt, diese Handschuhe zu benutzen. Er hätte sie beinahe gestern nacht herausgenommen, aber dann wollte er nicht, daß Rupert beleidigt von dannen zöge.
Sie sind im großen Wohnzimmer, wo viele billige und häßliche Bücherregale voller uninteressanter australischer Bücher stehen, die scheinbar en gros von Verlagen gestiftet worden waren. Einige liegen auf der Seite, andere stehen auf dem Kopf, und die Einbände wellen sich in der Sonne. An seinem ersten Abend hier hatte Floryan ein paar benutzt, um das Feuer in Gang zu bringen, aber das hatte nicht funktioniert, sie hatten nur stundenlang dunkel vor sich hingeglommen und klebrige, schwarze Asche hinterlassen.
Daphne sitzt in einem großen, violetten Kunstledersessel, der sicherlich nie Ediths gewesen sein konnte. Floryan kniet mit einer Schüssel warmen Wassers vor ihr, in die er seine Watte taucht. Sie schaut auf Floryans Kopf und den ordentlichen Scheitel, der in sein dunkles Haar gepflügt ist, das so dicht wie eine Fußmatte ist, und nach dem sie die Hand ausstrecken und den sie berühren und dann möglicherweise küssen möchte. Daphne weiß, daß dies Ausdruck der ungewohnten Freude darüber ist, daß sich jemand um sie kümmert. Sie bewahrt sie beide vor Schwierigkeiten, indem sie den Gedanken wegblinzelt und sich statt dessen auf die plastische Kurve seines rechten Ohres konzentriert, durch das die Sonne scheint und eine lila-umrandete Fläche von knochigem Zahnersatzrosa betont, die von Äderchen, die wiederum von unvorstellbar feinen Kapillaren gespeist werden, durchsetzt ist, und so verfliegt ihr Drang. Irgendwo hinten im Haus knallt eine Tür.
»Dot«, sagt Floryan und trägt eine antiseptische Salbe auf. »Sie wird uns einen Kaffee machen, und dann kann sie Ihnen den Garten zeigen. Darüber weiß ich nichts, aber der Garten war ein großer Teil der ganzen Sache, wissen Sie. Dot war damals ein junges Mädchen und hat Mrs. Black angebetet. Als sich die Stadt gegen die Familie wandte, hat die getreue Dot zu ihr gehalten, aber ich glaube nicht, daß ihr viel an den anderen lag.« Dann steht er auf und sagt: »Es sollte wirklich etwas wegen des Kieses unternommen werden. Es wurde von Anfang an zuviel hingeschüttet ... Was war denn das?«
Floryan und Daphne treten an die Verandatüren. Der Hubschrauber durchschneidet eine Wolke und stürzt seitwärts herab. Bäume klappern und knirschen aneinander. Eine Gestalt rennt über den Rasen und verschwindet in der dunklen Umklammerung der Kamelien.
»Wer war das?« »Der Gartenscherenmörder«, stellt Daphne mit absoluter Sicherheit fest. »Oh! Glauben Sie?« Floryan befürchtet, sie könnte darauf bestehen, ihn zu verfolgen, aber das tut sie nicht.
Rosemary und Bruce rennen herum, denn der Kampf ist vorüber, und die Paranoia hat gesiegt. Es ist gut und schön, die Pflanzen aus dem Boden zu reißen, aber was dann? Alle fünfunddreißig liegen auf einem Haufen unter den alten Kiefern hinter dem Haus. Fünfunddreißig. Wie konnte sie die übersehen haben? Sie erinnert sich daran, daß sie von einer oder zweien gesprochen hatten, aber was um alles in der Welt wäre die Strafe für so viele? Bruce weiß es nicht. Er bleibt der Meinung, daß es besser sei, wegen eines Schafes gehängt zu werden als wegen eines Lammes. Rosemary will wegen gar nichts gehängt werden, und sie will auch keine Geldstrafe, keine Haftstrafe, nicht ihren Job verlieren oder in irgendeiner Weise an die Öffentlichkeit gebracht werden oder Unannehmlichkeiten haben. Sie ist daher verzweifelt bemüht, dieses ganze Grünzeug von ihrem Grundstück verschwinden zu lassen. Das Dröhnen des zurückkehrenden Hubschraubers bestärkt sie in ihrem Entschluß. Sie müssen es schnellstens anderswohin bringen. Mit seinem fuchtelnden Schatten bewegt sich der Hubschrauber langsam über sie hinweg. »Haut ab, Scheißkerle. Jetzt weiß ich, wie es für diese Wie-hießen-die-noch gewesen sein muß: schwarze Pyjamas, kegelförmige Hüte, kleine Gummisandalen?«
»Vietkong.« Rosemary versucht, an die spießigste Person zu denken, die sie kennt, so daß sie das Dope irgendwo auf deren Grundstück verstecken könnten, bis sich die Lage etwas abgekühlt hat - auf dem Dachboden, im Keller, im Gartenschuppen: die Atmosphäre, die wahrscheinliche Möblierung solcher Orte tanzen kurz durch ihren Kopf. Es ist jetzt ruhig, nur eine Polizeisirene jammert von der Landstraße herüber. »Wir sollten mit etwas heißem Wasser die Stengel abbrühen. Angeblich versiegelt das das Harz.« Rosemary ignoriert diese Information. Sie will es einfach nicht wissen. Sie kommt sich erwachsen vor und weit entfernt von solchen Sorgen, was in Anbetracht ihres Alter vielleicht nicht überrascht; es wird, so sagt sie sich streng, sogar Zeit. Bruce verspürt keine solche Einschränkung. »Komm doch und hol mich, Bulle«, schreit er dem abziehenden Hubschrauber hinterher. »Ich wette, die haben das dem Polypen im Auto gefunkt. Ich wette, sie sind auf dem Weg, uns hinter Schloß und Riegel zu bringen.« Aber die Luft scheint rein zu sein, wenngleich auch noch nicht ganz rein. Die Sirene verhallt in der Ferne, und der Hubschrauber kommt nicht zurück. Bruce sitzt jammernd und trauernd neben seiner zerpflückten Ernte. Er kann sie nicht mit nach Hause nehmen, Penelope würde sauer werden. Sie war nicht immer so, aber jetzt ist sie es. Sie steht einer Nase Koks oder einem guten Zug nicht ablehnend gegenüber, sie ist nur einfach nicht mehr so erpicht darauf, wie sie es einmal war, und sie hat mit Sicherheit kein Verlangen, irgendwelche Risiken einzugehen. Bruce beobachtet diese zunehmende Vorsicht unter allen seinen Freunden. Sie tragen das Zeug am Körper, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ist auch besser so für sie. Er schätzt daher die wenigen übriggebliebenen zähen Kämpfer, trotz aller anwachsenden Bemühungen Penelopes, sie aus dem Haus zu verbannen.
»Es kann hier nicht bleiben, weißt du. Es muß weg.« Er hätte es wissen sollen. Er wußte es. Jedenfalls ist er nicht überrascht. »In Ordnung, ich verstehe.«
Bruce beginnt, die Stengel und Blätter von den Pflanzen abzustreifen und sie in einen alten Bettbezug zu stopfen, den Rosemary geopfert hat. Er packt ihn in den Kofferraum von Rosemarys Auto, während sie nach drinnen geht, um etwas Festeres anzuziehen als den abgetragenen, rosa Baumwollpyjama, mit dem sie im Garten herumgelaufen ist. Als sie in die schwarzen, festen Lederstiefel schlüpft, die sie gestern gekauft hat, durchzuckt sie der Gedanke, daß diese Stiefel länger leben werden als sie, so blitzartig, daß sie keine Zeit hat, sich zu wappnen. Es gibt Momente, in denen sich Rosemary etwa so gut wie ein durchschnittlicher Schimpanse dazu gerüstet fühlt, mit dieser Welt fertigzuwerden. Sie beginnt zu weinen, bis ihr einfällt, daß dieser Tage sogar zwei Minuten Weinen sie verschwollen und durchweicht zurücklassen wie eine drei Tage alte Leiche, die aus dem Ozean gefischt wurde. Sie zieht sich fertig an, legt ein bißchen Make-up auf, um den Tränenschaden zu vertuschen, und geht heraus, um mit dem fertigzuwerden, womit sie fertigwerden kann, und den Rest zu vergessen. Sie zerteilt die nackten, holzigen Stengel mit dem Spaten und karrt sie zum Komposthaufen. Dann harkt sie den sogenannten Rasen frei von allen Spuren. Die Gartenbeete sehen verkratert aus. Rosemary überlegt sich, ein paar Rosen einzusetzen, die legal und obendrein hübsch sind. Genau. Rosemary fühlt sich besser. Ihr ist nach einem Drink zumute. Sie fahren zu Bruces Laden, wo er an der Tür die Notiz: Wegen Krankheit geschlossen anbringt, und dann zur Kneipe, vorbei an der Uniting Church, vor der ein Schild steht, das besagt: Begnadet seien jene, die sich in geraden Kreisen bewegen, an dem Rosemary anhalten muß, um ein Foto zu machen.
In der Kneipe beginnt Bruce, über seine Mutter zu sprechen. »Eines hat sie mir gesagt, das ich nie vergessen habe«, vertraut er ihr an. »Eines nur?« Rosemary wünscht, sie könnte sich so glücklich schätzen. »Sie hat gesagt, daß ich immer daran denken soll, daß Katzen auch Menschen sind.«
Sie trinken drei Whiskeys, und allmählich geht es ihnen besser. Bruce neigt zur Zuversicht hinsichtlich seiner verdorbenen Ernte. Im nächsten Jahr wird es anders sein. Sie können die Bodentruppen schicken, wenn sie wollen, aber er wird hart bleiben. »Sie haben den Kerl immer noch nicht«, sagt der Barmann. »Welchen Kerl?« »Der den Damen die Finger abschneidet. Er hat letzte Nacht wieder zugeschlagen. Dann sagten ein paar Kinder, sie hätten einen blutverschmierten Kerl die Bahnlinie an dieser Seite von Mount Victoria entlanggehen sehen, deshalb haben die Bullen einen Hubschrauber geschickt, um das Gebiet zu durchsuchen. Mittlerweile wird er wohl schon über alle Berge sein.« »Gerade« ist die Übersetzung von »straight«, was im Englischen auch heterosexuell bedeutet.
Nun, nicht ganz, aber bald, denn er geht gerade auf Zehenspitzen um Rosemarys Auto herum und entdeckt die Schlüssel, die ihr aus der Tasche gefallen sind. Großartig. Guter Wagen. Er wird nach Perth hinüberfahren, um seinen Bruder zu besuchen, der ihm bestimmt unter die Arme greifen wird. Über das, was er aber auf dem nun einmal sehr weiten Weg hinsichtlich des Benzins machen wird, kann man nur Vermutungen anstellen.
Dot stürmt neben der Bruchsteinmauer über den Rasen. Sie hält einen Stein in der Hand, der mit einem Stück Schnur an die Ranke einer Kletterrose gebunden ist. Sie kommt rutschend zum Stehen, dreht den Arm wie einen Windmühlenflügel, läßt den Stein los und beobachtet mit einem vergnügten Jauchzer, wie er über die Mauer segelt. Dann dreht sie sich zu Daphne um.
»Sehen Sie, so hat sie es immer gemacht. Dann gehen Sie einfach auf die andere Seite, machen die Schnur los, und fertig ist der Lack: Ihre Rose wächst über die Mauer.« Waren Edith Blacks Genialität gar keine Grenzen gesetzt? Daphne macht mit ihrer Polaroidkamera ein Foto von der Mauer, dem Stein und der Rose und dankt Dot. Daphne hat die Kamera als erstes heute morgen gekauft, um fotografieren zu können, wo sie bisher nur Bleistiftskizzen gemacht hatte. Das geht natürlich schneller, und ihr gefällt das Geräusch, das dringende Zischen und Spucken. »Sind Sie sicher, daß Sie nichts anderes sehen wollen? Den Holzstoß zum Beispiel?« »Den Holzstoß?« »Sie hatte so ihren Tick mit dem Holzstoß, die Mrs. Black. Sie hatte sogar ein Buch darüber; in jedem Land gibt es nämlich verschiedene Methoden, Feuerholz zu stapeln, wissen Sie. Alles verschiedene Formen und Muster, sie hat sie alle ausprobiert. Die meisten waren sehr hübsch. Ich erinnere mich, wie sie das mehrere Winter hindurch gemacht hat. Sie stellte das Buch auf einen Stamm, zog sich Handschuhe an und stapelte das Holz dann genau wie auf dem Bild.«
Dot hat Daphne in eine feuchte Ecke des Gartens unter zwei große Zedern geführt, wo Holz auf eine recht wenig bemerkenswerte Art gestapelt ist. »Nun ja, Sie können es sich bestimmt vorstellen«, sagt Dot, und tatsächlich kann Daphne das. Sie sieht Edith vor sich: hager, so erinnert sie sich, auf jeden Fall dünn; Schneeflocken, die für einen Augenblick an ihrem melierten Pony hängenbleiben, der unter dem fest gebundenen Paisleykopftuch aus reiner australischer Wolle hervorschaut; ihre dünnen Beine in Stiefeln aus dunkelbraunem Wildleder mit einem warmen Wollfutter; so schert sie in der aufkommenden Dunkelheit vor und zurück. Und während Daphne zuschaut, werden ihre Augen feucht, die Gestalt verschwimmt, und sie bleibt, abgesehen von Dot, die vor ihrem Gesicht herumtollt, mit einem Kribbeln von Kopf bis Fuß wie nach der schnellen Berührung mit einer Rasierklinge, zurück.
Sie spürt die Anwesenheit ihrer Mutter, die versucht, ihr etwas zu erzählen - vielleicht, daß es nicht genug ist, was sie vorhat, denn nichts war je genug für Isobel. Und es scheint nicht viel angesichts der einsamen, unbeirrbaren Tapferkeit von Daphnes Forschungsobjekten, der Generation ihrer Mutter mit ihren dummen Tagebüchern, ihren verkohlten Lammkoteletts, ihrem langweiligen Exil, den zeitweilig lohnenden Bürojobs, ihrem Ehefrauendasein und ihrer Liebe oder dem Mangel daran, ihrer Düsterkeit, die in Schirmschränken hauste, ihrer Mitgliedschaft in Komitees, dem Tippen von Protokollen, dem Briefeschreiben, ihren Katzen, Hunden und kränkelnden Eltern, all dies und ja, in manchen Fällen nebenbei auch die aufdringliche, aber - und darauf bestanden sie - dankbare Aufgabe der Kindererziehung, die in Isobels Fall natürlich Daphne betraf. Und wenn das nicht genug war, dann gab es die Befolgung diverser Verhaltensregeln: ihr Gewissen, das sich tief in den schuppigen Panzer des langweiligen, unverblümten Dinosauriers eines literarischen Nationalismus und, schlimmer noch, Kommunismus gekrallt hatte, der seine Mißtritte in ihrem Leben und ihrer Zeit hinterlassen hatte.
»Bitte lächeln«, ruft Dot, nimmt die Kamera und macht ein Foto von Daphne, wie sie unsicher unter den Bäumen steht und lsobels Blut durch ihre Venen pocht, heulend, schluchzend, zähneknirschend. »Ich liebe diese Fotos«, sagt Dot und schaut zu, wie Daphnes Bild an der Oberfläche des Pappquadrats auftaucht, das sie in der Hand hält. »Wie heißt es so schön: Ein Bild ist mehr wert als tausend Worte, nicht wahr?« Ja, das ist es. Genau. Exakt. Bilder. Und jetzt weiß Daphne, was sie zu tun hat. Sie wird alles auf lebendigem Fleisch festhalten, auf ihrem Fleisch, in Bildern, durch die Blut fließt. Wird das genug sein? Sie hofft es. Es scheint die vollendete Methode, diese verwickelten Leben festzuhalten, denn sie beinhaltet, wie es sein sollte, ein bißchen Schmerz und eine Menge Scherz. »Vielen Dank, Dot«, sagt Daphne. »Sie waren mir eine große Hilfe.«
Jetzt braucht sie nur noch jemanden, der phantasievoll, talentiert und hygienisch ist, um ihr dabei zu helfen, das zu tun, was sie tun muß. Da bemerkt sie endlich den kleinen, tintenfarbigen Schmetterling, der süß über Dots Wangenknochen flattert. Wie konnte sie ihn übersehen haben? Was für andere Bilder mochten Dot bebildern? Daphne hätte ihr am liebsten gleich die Kleider vom Leibe gerissen, um es herauszufinden, aber sie beschließt, statt dessen ein paar Fragen zu stellen. Ja, es gibt noch andere Entwürfe, und sie wird sie Daphne gerne zeigen, wenn sie drinnen und aus der Kälte heraus sind. Ihre Tochter hat sie alle gemacht, bevor sie nach Amerika gegangen ist, um ihr Handwerk weiter zu vervollkommnen, aber ihre Zeit ist abgelaufen, also wird sie bald zurücksein. Wenn nicht in dieser Woche, dann bestimmt in der nächsten, glaubt Dot, und sie ist auch gewillt, darauf zu wetten, daß ihre Tochter gleich nach Hause kommt, denn sie hat mit Sicherheit ihr gesamtes Geld ausgegeben und womöglich noch mehr.
»Sie ist Mitglied der GSE«, fügt Dot stolz hinzu. »GSE?« »Gewerkschaft Schwullesbische Esoterik.«
Daphne schreibt sich Dots Telefonnummer auf und steigt auf ihr Fahrrad. Als sie sich anschickt abzufahren, greift Dot nach ihrem Arm.
»Mrs. Black war die letzte, die ihre arme Mum lebend gesehen hat, wissen Sie. Sie hatten nämlich Streit, wegen des Telefons. Dr. Black bestand immer sehr darauf, daß das Telefon abgenommen werden sollte. Allerdings nicht von mir. Er traute einer Aborigine nicht zu, eine Nachricht richtig festzuhalten. Nein, Mrs. Black mußte es tun. Es hat jedes Mal ihre Arbeit unterbrochen, daran bestand kein Zweifel. An jenem Tag unterhielt sie sich jedenfalls mit Ihrer Mum. Sie waren sehr ins Gespräch vertieft, als dieses verflixte Telefon klingelte. Nun. >Geh nicht ran an das verfluchte Ding<, sagt Isobel. >Aber das muß ich doch<, ruft Mrs. Black. >Oh nein, das mußt du nicht. Es ist wichtig, worüber wir reden, und wenn du ans Telefon gehst, verlieren wir den Faden(, schreit Ihre Mum zurück, stürmt blitzschnell quer durch den Raum und reißt das Telefon aus der Wand. Also, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Und Mrs. Black auch nicht, und so bat sie Ihre Mutter zu gehen, und das tat sie. Hinterher kam Mrs. Black sich sehr schlecht deswegen vor, als sie hörte, was als nächstes geschah. Aber Sie müssen zugeben, daß sie provoziert worden war. Besonders später, als sie die giftige Spinne fand, die Ihre Mum in ihrem Bett deponiert hatte, bevor sie ging.«
Daphne beschließt, sich nicht nach der Sache mit der Spinne zu erkundigen. Das hebt sie sich für einen anderen Tag auf. Sie hat diese Vorstellung, wie die provozierende und heruntergekommene Isobel fortschleicht, von der Schwelle verbannt, denn im Gegensatz zu anderen, die an so vieles glaubten, glaubte Isobel an nichts außer an ihr Talent.