Schriftstellerinnen und das Goldene Zeitalter des Detektivromans

Als Dorothy L. Sayers 1928 einen Sammelband mit Detektiv-Kurzgeschichten zusammenstellte, äußerte sie sich gegen Ende ihres einleitenden Essays begeistert über Verbreitung und Qualität der damaligen Kriminalliteratur: »Heutzutage ist der durchschnittliche Detektivroman exzellent geschrieben, und es gibt nur wenige gute zeitgenössische Autoren, die sich nicht das eine oder andere Mal daran versucht hätten« (D. Sayers in R. Winks: Detective Fiction, 1980, S.83). Andere Autoren - beispielsweise Robert Graves und Alan Hodge - teilten diesen wohlwollenden Blick auf das Genre, aber es gab auch solche, die von seiner steigenden Beliebtheit entsetzt waren. Q.D. Leavis stellte fest, im neunzehnten Jahrhundert habe »ein übermäßiges Verlangen nach leichter Lektüre« als Zeichen von Lasterhaftigkeit gegolten. Mittlerweile aber, zum Zeitpunkt der Niederschrift ihres Buches Fiction and the Reading Public (1932), sei der Geschmack der gebildeten Gesellschaftsschichten - Wissenschaftler, Geistliche, Rechtsanwälte, Geschäftsleute - degeneriert. Sie, »die im vergangenen Jahrhundert noch die Hüter des öffentlichen Gewissens in Sachen geistiger Zügellosigkeit waren« (Q.D. Leavis: Fiction and the Reading Public, 1932, S.50), seien nun selbst die eifrigsten Verehrer des Detektivromans. Leavis' Eindruck, die Welt sei versessen auf das Nacherleben von Verbrechen, wird durch die Statistiken der Leihbüchereien bestätigt.  Bei WH.  Smith bestand ein Viertel der erhältlichen Romane aus Kriminalromanen, Liebesromane machten die Hälfte aus, und den Rest bildeten Abenteuergeschichten.  Bei einer weniger anspruchsvollen Bibliothek konnten sogar bis zu 45 Prozent des Titelangebots aus Detektivromanen bestehen (N. Beauman: A Very Great Profession, 1983, S.173f.).
Die Jahre zwischen den Weltkriegen, in denen der Kriminalroman zu einem bedeutenden Genre der Unterhaltungsliteratur wurde, sind als das Goldene Zeitalter des Detektivromans bekannt geworden. Diese Bezeichnung ist insofern irreführend, als sie die Existenz eines in sich einheitlichen und »klassischen« Korpus solcher Literatur nahelegt. In Wirklichkeit besitzt der Detektivroman eine ganze Reihe von Vorläufern und hat sehr unterschiedliche Detektivfiguren und Anschauungen über die Art der Ermittlungsarbeit hervorgebracht. Die in Paris angesiedelten Geschichten Edgar Allan Poes zeigen einen asketischen und unnahbaren Detektiv (Auguste Dupin), während Conan Doyles Sherlock Holmes eine schillernde Gestalt ist, die in spektakuläre Fälle verwickelt wird. In der Zeit zwischen den Weltkriegen steht die humorvolle Distanziertheit der Kriminalrätsel von Dorothy L. Sayers und Agatha Christie im krassen Gegensatz zum hartgesottenen amerikanischen Realismus und der zynischen Haltung eines Privatdetektivs wie Marlowe oder dem wohlwollenden Mitgefühl von Simenons Maigret. Die in den meisten Romanen Agatha Christies skizzierte ländliche Mittelstandsgesellschaft ist etwas ganz anderes als die Verkommenheit der Großstadt, die Dashiell Hammetts skeptische Romane in den Vordergrund rücken. Offenbar gelang es dem Detektivroman im Lauf seiner Geschichte, sich erfolgreich in einer Vielzahl unterschiedlicher kultureller Milieus von der Oberschicht des viktorianischen London bis zum Amerika der Prohibition anzusiedeln. In jüngster Zeit wurde er mit den Romanen von Amanda Cross, Rebecca O'Rourke, Valerie Miner und anderen zu einem Träger des modernen Feminismus. All diese so unterschiedlichen Kulturen und Lebensanschauungen konnte der Detektivroman überzeugend vermitteln.
Die Vielfalt der Stilformen innerhalb eines literarischen Genres, das für seine Vorgaben und Definitionen so berüchtigt ist wie der Detektivroman, mag uns überraschend vorkommen. Denn tatsächlich waren sowohl die Autoren als auch die Literaturwissenschaftler und Kritiker geradezu besessen von dem Wunsch, die Form des Kriminalromans festzulegen und definitorisch durchzusetzen. Dieser Glaube an die Systematisierung ist verständlich, denn bestimmte Merkmale haben allen historischen Veränderungen widerstanden und trotz der unterschiedlichen Formen innerhalb des Genres überlebt. Diese konstanten Faktoren, die wir als das literarische Herz des Genres bezeichnen könnten, betreffen die Beziehung zwischen zwei Individuen, dem Detektiv und dem Verbrecher - eine Beziehung, die auch ein geistiges Duell ist: Selbst in seiner gewaltsamsten Form ist der Detektivroman mehr als nur eine Schießerei zwischen Detektiv und Verbrecher; immer umfaßt er auch eine Prüfung der Klugheit und der Fähigkeit, Schlußfolgerungen zu ziehen. Außerdem zeigt der Konflikt zwischen Detektiv und Verbrecher, wie ambivalent auch immer, den Gegensatz zwischen richtig und falsch, Ordnung und Unordnung auf. Diese Elemente werden so dargeboten, daß ein mehr oder weniger ausgeprägtes literarisches Spiel entsteht, zu dem die Leserinnen eingeladen, wenn nicht gar genötigt werden.
Dieser begrenzte literarische Code, der allen Detektivgeschichten gemeinsam ist, kann auf die Entwicklung einer mächtigen, vermögenden Bourgeoisie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zurückgeführt werden. Dieser Aufstieg ging mit enormen Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse einher. Zum ersten Mal begann das Kapitaleigentum bei der Kontrolle sozialer Mobilität die Vorherrschaft über das Grundeigentum zu erringen. Kriminalgeschichten spiegeln deutlich das Interesse am Kapital wider, das im achtzehnten Jahrhundert etwas Neues und im neunzehnten Jahrhundert herrschende Macht war. Insbesondere interessiert sie, wie sich das Geld auf persönliche Beziehungen auswirkt, wie Besitz angesammelt und in legitimer Form an die nächste Generation weitergereicht wird. Die Verbrechen im Detektivroman sind in der Regel Vermögens- und Eigentumsdelikte: durch den Mord droht die falsche Person zu erben, oder durch einen Diebstahl wird der rechtmäßige Besitzer um sein Kapital gebracht. Diese Verbrechen sind ein pervertierter Ausdruck der normalen finanziellen Transaktionen und sorgen folglich für große Ängste in der kapitalistischen Gesellschaft, an die sich der Detektivroman wendet.
Der Rang, den Eigentum und Kapital in der Ideologie des Detektivromans genießen, entspricht dem zunehmenden Individualismus in der kapitalistischen Gesellschaft. Wie Stephen Knight (1980) erläutert, kann das Interesse an Verbrechen und der Festnahme des Verbrechers mindestens bis The Newgate Calendar (ca. 1774) zurückverfolgt werden. Vergleicht man diese frühe Beschreibung von Verbrechensaufklärung allerdings mit dem späteren Genre des Detektivromans, dann zeigt sich, daß sie auf anderen ideologischen Voraussetzungen beruht. Mühevolle Detektivarbeit fehlt weitgehend: Sobald das Verbrechen begangen wurde, »finden sich einige Männer zusammen«, die den Schuldigen sofort identifizieren und fassen. Diese Gesellschaft ist zwar bereits an finanziellen Transaktionen interessiert, bildet aber noch immer eine festgefügte, organische und monolithische Gemeinschaft - oder zumindest wollen uns diese Geschichten das glauben machen. Aus diesem Grund sind keine Ermittlungen nötig; die Schuldigen verraten sich selbst, sie sind Außenseiter, weil sie sich durch ihr Verbrechen außerhalb der christlichen Gemeinschaft gestellt haben. Und die Gemeinschaft als ganze reagiert und bestraft.
Mit der Entwicklung des Liberalismus verlagerte sich im achtzehnten Jahrhundert der Schwerpunkt der herrschenden Ideologie auf einen Aspekt, der in gewissem Maße schon immer in der westlichen Gesellschaft vorhanden gewesen war: die Bedeutung des Individuums. Der Liberalismus stellt das Individuum in den Vordergrund, seine Situation oder Bedürfnisse und, wie John Stewart Mill, ein Autor des neunzehnten Jahrhunderts verdeutlicht, seine Vernunft. In »Über die Freiheit« (On Liberty, 1859) vertritt Mill die Ansicht, ein rationales menschliches Wesen, das logisch und vernunftbegründet handelt, sei ein durchaus erreichbares Ziel. Auch die Romantik hat die wachsende Bedeutung des Individuums nach Kräften gefördert, wenngleich sie eher das Gefühlsvermögen betonte, das sie häufig dem enormen Vernunftglauben entgegensetzte. Aber sie hat dem Individuum auch den Status des Helden verliehen, der nun überlebensgroß und einsam außerhalb der Gesellschaft steht oder sich im Widerstand gegen sie befindet. Aus den Elementen dieser beiden Stränge des neunzehnten Jahrhunderts entstand in der Literatur ein neues Individuum: der Detektiv.
Allgemein gilt Edgar Allan Poes Erzählung Die Morde in der Rue Morgue (1841) als erstes englischsprachiges Zeugnis der Detektivliteratur. Poe selbst hätte sich nicht als Kriminalautor betrachtet; er schrieb in der Tradition der Gothic horror tales, der Schauergeschichten, zu der auch die Kriminalerzählung gehörte. Dennoch war er es, der die Detektivgeschichte begründete, denn mit der Figur des Auguste Dupin führte er ein, was zum Kennzeichen des Genres werden sollte: den Detektiv. Wie sein berühmterer Nachfolger Sherlock Holmes, der zum ersten Mal in Eine Studie in Scharlachrot (1887) auftrat, verkörpert Dupin die Macht der kontrollierenden, ermittelnden Intelligenz, die in einer Welt, die durch die Handlungen eines Verbrechers zeitweilig ins Chaos geworfen wurde, die Ordnung wiederherstellt. Dupin und Holmes sind Meister des logischen Denkens und zugleich selbsternannte Wächter der besitzenden Gesellschaft, auf deren moralisches Wohlergehen sie in sorgfältig festgelegten Grenzen ebenfalls achten. Diese Eigenschaften sowie die romantischen Qualitäten des Einzelgängertums und der Überlegenheit, die Dupin und Holmes an den Tag legen, sind, gelegentlich mit ironischen Abwandlungen, sowohl in Chandlers unerbittlichen Privatdetektiven als auch in Hercule Poirot, Lord Peter Wimsey und in so aktuellen Helden wie P.D. James' Adam Dalgliesh weiterentwickelt worden.
Romantik, Rationalismus und Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft sind also die Bedingungen, unter denen das Genre des Detektivromans entstand, und sie liefern auch seine zentrale Ideologie. Zu der grundlegenden Formel der Handlung, die sich aus dieser Ideologie ableitet, gehört ein rätselhaftes Verbrechen, das sich gegen privates Eigentum oder Erbschaften richtet und von einem detektivischen Helden, dem Hüter der kapitalistischen Gesellschaft, gelöst wird. Diese Grundidee und das dadurch strukturierte Erzählmuster, das alle oder fast alle Detektivromane kennzeichnet, kann den jeweiligen Bedürfnissen einer bestimmten Epoche und einer bestimmten Gesellschaft angepaßt werden. Bei den hartgesottenen Romanhelden von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett zum Beispiel wird die rationale Vorgehensweise in einem Verbrechensfall durch das Bedürfnis nach einer packenden, dramatischen Handlung, die mit dem Amerika der Wirtschaftskrise und der Prohibition in Einklang steht, auf eine harte Probe gestellt. Die Kernideologie des Genres wird auf diese Weise durch eine Subideologie erweitert. Während der Ära, in der Agatha Christie berühmt wurde, entwickelten die Detektivschriftsteller in England eigene Varianten und prägten eine so markante und populäre Subideologie aus, daß diese Zeit die Bezeichnung »klassisches« oder »Goldenes Zeitalter« erhielt. Und gerade die Frauen sollten sich in diesem Goldenen Zeitalter als besonders erfolgreich erweisen.
Was den klassischen Detektivroman aus der Zeit zwischen den Weltkriegen prägt, und was seine Autorinnen unbedingt etablieren wollten, war seine Charakterisierung als ein nach fairen Regeln verlaufendes Rätsel oder Spiel. Solche Ideen verfolgte bereits Conan Doyle beim Entwurf seines Sherlock Holmes: Wenn er an frühere Detektivgeschichten dachte,

... erstaunte es mich, wie unsinnig sie waren, um es milde auszudrücken. Um ein Geheimnis aufzudecken, mußten die Autoren stets den Zufall zu Hilfe nehmen. Ich fand, das war kein faires Spiel, denn der Detektiv sollte seine Erfolge eigentlich kraft seines eigenen Verstandes erzielen und nicht aufgrund abenteuerlicher Umstände, die außerdem im wirklichen Leben meist gar nicht vorkommen. (Zit. in S. Knight: Form and Ideology in Crime Fiction, 1980, S.67)

Aber auch wenn Holmes rational und empirisch arbeitet - »Sie kennen meine Methode. Sie gründet auf der Beobachtung von scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten«, sagt er -, sind seine Verstandesfähigkeiten doch geheimnisvoll, fast übermenschlich. Die Leserinnen werden in den Ermittlungsprozeß nicht einbezogen, sondern schwimmen wie Watson im Kielwasser des Genies Sherlock Holmes. Im klassischen Detektivroman der Zeit zwischen den Weltkriegen werden die bisher passiven Leserinnen eingeladen, die Spuren gemeinsam mit dem Detektiv zu verfolgen: Die Detektivgeschichte wird demokratisch. »Ich glaube, jeder einzelne von uns sieht sich im Innersten gerne als Sherlock Holmes«, sagt der Pfarrer in Mord im Pfarrhaus, und wenn das zumindest für die Leserinnen dieses Romans zutrifft, so boten Agatha Christie und ihre Zeitgenossen des Goldenen Zeitalters ihnen den Stoff, um dieser Phantasie zu frönen.
Diese Demokratisierung war 1932 ein wesentlicher Anstoß für die Gründung des Detection Clubs, zu dessen Gründungsmitgliedern G.K. Chesterton, E.C. Bentley und Dorothy L. Sayers zählten. Der Club hatte eine Satzung, Vorschriften und eine Aufnahmezeremonie, angeblich von Dorothy L. Sayers und Chesterton entworfen, bei der die Mitglieder einen Eid ablegten, daß ihre Detektive »die ihnen vorgelegten Verbrechen ordentlich und wahrheitsgemäß aufdeckten«, ohne Zuhilfenahme von »göttlicher Eingebung, weiblicher Intuition ... faulem Zauber, unlauteren Tricks, Zufällen oder höherer Gewalt«. Die Mitglieder des Clubs verfaßten auch Aufsätze -S.S. Van Dine etwa schrieb »Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten«, Chesterton »Eine Verteidigung der Detektivgeschichte« und Dorothy L. Sayers Einführungen zu The Omnibus of Crime und Great Tales of Detection -, die darauf abzielten, die Detektivgeschichte Regeln zu unterwerfen, ihr Anerkennung zu verschaffen und die neuen Aspekte ihrer Form zu betonen, nämlich den spielerischen, rätselartigen Charakter und die Bedeutung des Fair Play. Der Club bemühte sich auch, den Realismus des Genres und seine Beziehung zum Alltagsleben seiner Leserinnen hervorzuheben.
Deshalb wird das Verbrechen der klassischen Detektivgeschichte, in der Regel ein Mord im Zusammenhang mit Geld und Eigentum, in einem respektablen, bürgerlichen Milieu verübt. Die Aufdeckung des Verbrechens vollzieht sich als intellektuelles Spiel, zu dem das Deuten von Zeichen gehört und an dem verschiedene Mannschaften und Mitspieler in einer Art semiotischer Hierarchie beteiligt sind. Auf der untersten Ebene der Erkenntnis stehen die Romangestalten, von denen die meisten, einschließlich des Mörders, absichtlich oder unwissentlich eigene Indizien streuen, die alle anderen Figuren teilweise oder ganz mißdeuten. Die nächsten in der Kette sind die Leserinnen des Romans, die diese Spuren deuten, um selbst das Geheimnis zu entschlüsseln. Dann ist da noch der Spiel-Experte, der Detektiv, der die Zeichen in einer überlegenen, aber nicht übermenschlichen Art interpretiert. Am Schluß steht natürlich der Autor, der oberste Rätselmacher in der Hierarchie; wie ein Schachgroßmeister, der auf mehreren Brettern gleichzeitig spielt, bestimmt er den Fortschritt jedes einzelnen der gespielten Spiele. In einem der Spiele - demjenigen, das er mit den Leserinnen spielt - herrscht, entsprechend den Regeln des klassischen Detektivromans, eine spezielle Beziehung, die als legitime Täuschung bezeichnet werden kann. Die Leserinnen dürfen ausgetrickst und an der Nase herumgeführt werden (tatsächlich liegt ja ein Teil des Vergnügens bei der Lektüre von Detektivgeschichten in diesem Risiko), aber das muß auf faire Weise geschehen: Der Zufall darf nicht überhandnehmen, Intuition sollte möglichst selten eingesetzt werden, und die Fakten, etwa im Zusammenhang mit Giften, der Geographie des Schauplatzes oder der Zeit, die für die Erledigung bestimmter Tätigkeiten nötig ist, sollten stimmen. Vor allem sollten die Spuren nicht beliebig sein: Sie dürfen richtig oder falsch sein, aber nicht rein zufällig, bedeutungslos oder unzusammenhängend. Im Gegensatz zum wirklichen Leben ist die Welt des Detektivs semiotisch ganz und gar determiniert; jeder Anhaltspunkt ist bedeutsam und weist auf die schließliche Entdeckung des Verbrechers und auch auf die Entlastung des Unschuldigen hin. Das vermittelt die angenehme Illusion, daß die Realität verstehbar ist und also kontrolliert werden kann. Wenn der Autor unfähig oder unfair ist, stellt das ein »Verbrechen« gegen die Leserinnen dar, denn das zerstört die subtile Machthierarchie, auf die der Detektivroman angewiesen ist, und beraubt uns der tröstlichen Gewißheit, daß die Logik fähig ist, die Realität zu begreifen. In wirklich befriedigenden Detektivgeschichten der klassischen Art muß der Autor das Spiel gegen den Leser gewinnen und gleichzeitig zeigen, daß jeder mit etwas überdurchschnittlichen logischen Fähigkeiten die Wahrheit über das Verbrechen herausfinden könnte. Die Last dieses Doppelmanövers verlangt in der Regel eine scheinbar unmögliche Lösung der Geschichte, die nicht nur überraschend, sondern auch logisch zwingend ist.
Für Dorothy L. Sayers, die unter den Detektivschriftstellern ihrer Zeit eine der theoretischsten war, bedeutete diese Betonung des Rätsels und des fairen Spiels eine revolutionäre Entwicklung. In den früheren Detektivromanen, wie etwa in einigen Sherlock Holmes-Geschichten, wurden Indizien eingeführt, um eine erlahmende Handlung zu beleben, und Zufall und Intuition spielten eine weit größere Rolle als die Wahrscheinlichkeit. Diese Art der Eigenmacht von Seiten des Autors war nun nicht länger gestattet; das Genre wurde kontrolliert und formelhaft, bestimmt von Regeln wie Ronald Knox' »Zehn Gebote für eine Detektivgeschichte«, die Anweisungen enthielten wie »Dem Detektiv darf niemals ein Zufall zu Hilfe kommen, und er darf keinerlei unbegründete Ahnungen haben, die sich später als richtig erweisen« und »Der Detektiv darf nicht zufällig auf für die Auflösung wichtige Spuren stoßen, die dem Leser nicht sofort zur Überprüfung vorgelegt werden«, neben präziseren Bestimmungen wie »Nicht mehr als ein Geheimgang ist erlaubt« und »Der dumme Freund des Detektivs, der Watson, darf Gedanken, die er hat, nicht für sich behalten; er muß Intelligenz besitzen, aber nicht sehr viel, weniger als der Durchschnittsleser« (R. Knox, in Haycraft, The Art ofthe Mystery Story, 1976, S.200-202). Knox übertreibt auf spöttische Weise die Formelhaftigkeit, aber zugleich deutet er auf ein ernsthaftes Bestreben der Schriftsteller zwischen den Weltkriegen hin, das Detektivgenre durch Förderung seiner rationalen Qualitäten aufzuwerten.
Rationalität und Logik, die für den Detektivroman jener Zeit so wichtig sind, zeigen sich de facto auf doppelte Weise. Die Rationalität des Detektivs vollzieht das Denken des Verbrechers nach; auf den Plan des Verbrechers, die Untat zu verüben und der Entdeckung zu entgehen, fällt der Schatten des Detektivs, der dem Plan nachspürt und ihn im letzten Akt aufdeckt. So gibt es zwei einander ergänzende und dialektische Handlungsstränge, die sich gleichzeitig entwickeln und in denen sich die Aufmerksamkeit der Leserinnen auf die Aufklärung des Verbrechens und zugleich auf seine Ursprünge, auf die Zukunft und auf die Vergangenheit richtet. So rückt das im Zentrum der Handlung stehende Verbrechen in den Brennpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit und Kontrolle. Am Ende eines klassischen Detektivromans sind sowohl die Vergangenheit des Verbrechens als auch die Zukunft des Verbrechers bekannt und geklärt. So können die Leserinnen an der Illusion vollständiger Beherrschbarkeit von Vergangenheit und Zukunft teilhaben. Dieses Beharren auf der Logik ist eine Bekräftigung von Macht, eine ideologische Bestätigung, daß das rationale Individuum die Ereignisse steuern kann. Dieser Wunsch nach Kontrolle über die Umwelt steckt, wie beiläufig er auch sein mag, sowohl hinter dem Lesen als auch hinter dem Schreiben von Kriminalromanen.
Doch Kontrolle existiert nur, wenn es Unordnung gibt. Ein großer Teil des Vergnügens bei der Lektüre klassischer Detektivromane liegt in der Möglichkeit, daß die Kontrolle über die Realität nicht aufrechterhalten werden kann und der logische Verstand die Masse an Informationen, von der nur ein Teil zur Wahrheit über das Verbrechen führt, nicht mehr zu bewältigen vermag.

»Das ist höchst interessant«, erklärte [Miss Marple] mit einem leichten Seufzer. »Es geht alles so durcheinander, es scheint alles so unwichtig zu sein, und das, was nicht unwichtig ist, kann man nur schwer ausfindig machen ... es ist so, als sollte man in einem Heuhaufen eine Stecknadel suchen.« {Ein Mord wird angekündigt, Kap. 8)

Die Aufgabe des von den Lesenden beschatteten Detektivs ist es, jedem einzelnen Wort jeder einzelnen Figur Rechnung zu tragen und darin die Wahrheit, die Stecknadel im Heuhaufen, zu entdecken. Bevor das geschieht, werden falsche Fährten gelegt, und zeitweise wird die Wahrheit als kompliziert, relativ und schwer zu erfassen dargestellt. So spielt der Kriminalroman mit der Vorstellung, daß die Bedeutungen in sich zusammenbrechen, um schließlich triumphierend festzustellen, daß sie doch existieren; es gibt die Nadel im Heuhaufen tatsächlich. Dorothy L. Sayers' siebter Roman, Fünf falsche Fährten, macht das zum Prinzip: Für jeden der sechs Verdächtigen läßt sich ein plausibles Szenario für den Mord an einem Malerkollegen entwickeln. Fünf davon stimmen natürlich nicht, aber bis das entdeckt wird, ist zu befürchten, daß alle Versionen gleichermaßen wahr - oder unwahr - sein könnten. Dieser Riß im Herzen der Logik, die Tatsache, daß logisches Denken in einer Welt vielfältiger Bedeutungen zu vielen »Wahrheiten« führen kann, wird schnell wieder verdeckt durch den Erfolg des Detektivs, aber erst, nachdem Autor und Leserschaft einen Schauder genossen haben angesichts der Möglichkeit, die Logik könne vielleicht doch nicht imstande sein, die Komplexität des menschlichen Daseins plausibel zu machen. Indem die Aufdeckung eines Verbrechens als logisches Spiel dargestellt wird, entwickelt der klassische Detektivroman das Paradox, daß gewalttätige Gefühle und Handlungen - das Verbrechen - auf distanzierte,   intellektualisierte und  sogar humoristische Weise behandelt werden. Dorothy L. Sayers vergleicht das Genre mit einem Seziertisch und besteht auf einem »leidenschaftslosen Blick« von Seiten des Autors, einer »distanzierten Haltung«, damit die Analyse der Fakten und das Zusammensetzen von Spuren nicht durch Gefühle des Autors beeinträchtigt werden (D. Sayers in R. Winks: Detective Fiction,  1980, S.77). Dabei entsteht das, was George Grella einen »Sittenthriller« nennt, »ein förmliches Menuett, das zu einer unausweichlichen Schlußfolgerung führt,  so gesittet und unwirklich wie eine Maske, ein Sonett oder eine Scharade im Wohnzimmer« (G. Grella in R. Winks, Detective Fiction, 1980, S.101). Tatsächlich ähnelt der Kriminalroman in seiner Vorliebe für konventionelle Charaktere und Situationen, seiner verwickelten, intellektuelle Betrachtungen betonenden Handlungsführung und seinen kurzen und treffenden Dialogen häufig dem satirischen oder komödiantischen Sittenstück. Viele von Agatha Christies Figuren und das, was sie äußern, könnten ebensogut aus einer Komödie von Oscar Wilde stammen:
»Seiina Blake ist wirklich die netteste Frau, die man sich nur vorstellen kann. Ihre Rabatten sind einfach wunderschön ... Und sie ist äußerst großzügig, was Ableger angeht«, sagt Mrs. Bantry in The Body in the Library (Die Tote in der Bibliothek), und diese Worte verraten uns auf ironische Weise alles über Mrs. Bantry und die Welt, in der sie lebt, eine gemütliche Welt, in der die Moral eines Menschen an seinen gärtnerischen Fähigkeiten gemessen wird und die nun von einem Verbrechen bedroht ist. Ein Mord, wie er in diesem Roman geschieht, wo eine ziemlich aufgedonnerte junge Frau tot in der Bibliothek des ehrbaren Colonel Bantry gefunden wird, erzeugt eine für Agatha Christies Romane typische Spannung, da bei ihr der Tatort häufig mit sozialen Peinlichkeiten verbunden ist. Wie der Detektivroman Das Geheimnis des zerbrochenen Zündholzes, den Mrs. Bantry gerade liest, beweist, ist die Leiche in der Bibliothek eine Konvention - »In Büchern werden Leichen immer in Bibliotheken gefunden. Ich hätte nie gedacht, daß das im wirklichen Leben auch so ist«, sagt Colonel Bantry -, die Agatha Christie der sozialen und komischen Verwicklungen wegen bedenkenlos verwendet. »Die fragliche Bibliothek muß eine sehr traditionelle und konventionelle Bibliothek sein. Die Leiche ... muß eine abenteuerlich unwahrscheinliche und in höchstem Maße aufsehenerregende Leiche sein«, schreibt sie in ihrem Vorwort zu dem Roman. Dieser Zusammenprall des Konventionellen mit dem Sensationellen läßt die Klassen- und Geschlechterordnung ins Wanken geraten und erzeugt ein Gefühl des Unbehagens, indem Colonel Bantry in den Verdacht gerät, wenn schon nicht der Mörder, so doch der Liebhaber des Opfers gewesen zu sein. Das ist zwar komisch, bildet aber auch eine Gefahr für die festbegründete Ordnung von St. Mary Mead, wo die Bantrys eine angesehene Stellung einnehmen. Viele der Morde in Agatha Christies Romanen geschehen in einer solchen Situation gesellschaftlicher Peinlichkeiten: eine unangenehme Sherry-Party in Ein Mord wird angekündigt, ein konfliktreicher Empfang in Mord im Spiegel und die mögliche Veruntreuung von Kirchengeldern in Mord im Pfarrhaus. So erscheint das Verbrechen in erster Linie als eine gesellschaftlich unpassende Begebenheit, ein neues Beispiel für schlechten Geschmack, und nicht als jenes aufwühlende und traurige Ereignis, das es in Wirklichkeit wäre. Selbst die Beschreibung der Leiche des Opfers ist oberflächlich, stilisiert und knapp, wie in Mord im Pfarrhaus, wenn Colonel Protheroe gefunden wird:

... lag in einer scheußlich unnatürlichen Haltung über meinen Schreibtisch hingestreckt. Neben seinem Kopf breitete sich auf der Tischplatte eine dunkle Flüssigkeit aus, die langsam auf den Boden tropfte, ein furchterregend monotones Geräusch ... Der Mann war tot - durch den Kopf geschossen. (Mord im Pfarrhaus, Kap. 5)

Noch weniger Zeit wird Mr. Fortescue in A Pocketful of Rye (Das Geheimnis der Amseln) gewidmet: »... [er] schien sich hinter seinem Schreibtisch vor Schmerzen zu krümmen. Seine konvulsiven Zuckungen waren erschreckend anzusehen ... Noch als sie ihn erreichte, war sein Körper in einer schmerzlichen, krampfhaften Bewegung zusammengezogen.« In beiden Romanen nimmt die Entdeckung der Leiche nicht mehr als acht Zeilen in Anspruch, und die kriminaltechnischen Elemente der Handlung - die Ankunft des Arztes und der Polizei und die Zusammenstellung von Verdächtigen und Beweisen - haben den Akt der Gewalt verdrängt. Wie Stephen Knight sagt:

... die Künstlichkeit des aufgebauten Rätsels, die von den Lesern so bereitwillig angenommen wird, beschönigt die Ereignisse. Die spielähnlichen Züge des Romans sind so stark, daß sie die wirklichen Bedrohungen, mit denen gespielt wird, abschwächen. Nur technisch und ästhetisch äußerst überspannte Verfahren können ein solch vollkommenes Rätsel schaffen, und es vermittelt allein durch seine Existenz, daß das alltägliche Leben gar nicht so gefährlich ist. Es erlaubt dem Leser, sich mit seiner Furcht vor anderen - und sogar vor sich selbst - in einer kontrollierten, sauberen Umgebung zu beschäftigen und sie aufzulösen. (S. Knight: Form and ldeology in Crime Fiction, 1980, S.127)

Diese Neutralisierung des Mordes durch seine Verwandlung in einen intellektuellen und komischen Vorgang wird dadurch unterstützt, daß das Opfer in der Regel kein anziehender Mensch war, und auch keiner, für den die Lesenden viel Sympathie verspüren oder über den sie viel wissen. Colonel Protheroe in Mord im Pfarrhaus beispielsweise ist ein Haustyrann und ein wichtigtuerisches und herrisches Mitglied der Gemeinde, und beinahe jeder, einschließlich des Pfarrers, wäre ihn gerne los; natürlich ist er das Mordopfer, und es gibt zahlreiche Verdächtige, die sich zumindest in Gedanken schuldig gemacht haben. Mr. Fortescue in Das Geheimnis der Amseln ist ebensowenig sympathisch, ein Vertreter eines Männertyps, den Agatha Christie offenbar besonders verabscheute: »... ein großer, schwammiger Mann mit einer glänzenden Glatze«, der sich unhöflich und arrogant benimmt und »eindeutig ein tyrannischer Mensch« ist. Die Ausnahmen von dieser Regel des unsympathischen Opfers sind,  soweit es Agatha Christies Miss Marple-Romane betrifft, Ruhe unsanft und Das Schicksal in Person. In beiden Fällen ist das Opfer eine junge Frau, deren Wunsch, der besitzergreifenden Liebe eines Verwandten zu entkommen, zu ihrem Mord führt. Diese Morde wurden vor langer Zeit begangen, und in beiden Romanen herrscht ein Ton des Bedauerns und der Melancholie, der sie von Agatha Christies früheren und eher komischen Kriminalgeschichten unterscheidet.
Wird die emotionale Wirkung eines Mordes in der Regel in streng kontrollierten intellektuellen und komischen Grenzen gehalten, so gilt das ebenso für andere potentiell störende Faktoren, besonders jene, die Klassenverhältnisse betreffen. Denn die Detektivgeschichte spielt zwar mit Unsicherheiten, aber auf eine Weise, die Sicherheit und Gewißheit vermittelt, und die meisten klassischen Kriminalromane vermeiden sorgfältig jede Andeutung eines Klassenkonflikts. Die Bediensteten in Agatha Christies Romanen sind in der Regel dumm und liebenswert, und das äußerste an Rebellion ist es, wenn sie »Stolz zeigen«, wie Mary in Mord im Pfarrhaus, oder Miss Marples Vormundschaft verlassen, um in einem Cafe zu arbeiten, oder sich auf die Suche nach einem Liebhaber zu begeben, wie die leichtgläubige Gladys in Das Geheimnis der Amseln. Besonders beim Verbrecher wird auf diesen Aspekt geachtet, denn er stammt selten aus der Arbeiterklasse. Obwohl in Agatha Christies Romanen gelegentlich ein Landstreicher oder ein Butler in Verdacht gerät, stellt sich doch schließlich heraus, daß der Mörder aus der Mittelklasse ist, »einer von uns«, ein Mensch, der über Eigentum verfügt oder zumindest glaubt, einen Anspruch darauf zu haben. S.S. Van Dine betont in »Zwanzig Regeln für das Schreiben einer Detektivgeschichte«, daß der Schuldige kein Dienstbote sein darf, der im wirklichen Leben prompt in Verdacht geriete, sondern eine »ehrenwerte« Person, die »normalerweise« nicht verdächtigt würde (S.S. Van Dine in H. Haycraft, The Art oftheMystery Story, 1976, S.189-194). Dieser Ausschluß mordender Bediensteter beschwichtigt die Ängste, die die Mittelklasse bezüglich der Arbeiterklasse hegt. Ein schuldiger Dienstbote oder Arbeiter würde den Kriminalroman zu politisch, zu subversiv machen für die herrschende Klassengesellschaft, auf die er sich ideologisch stützt.
Natürlich kann es mindestens ebenso beunruhigend sein, wenn der Verbrecher »einer von uns« ist. Die meisten Detektivromane beziehen einen Teil ihrer Spannung aus der Möglichkeit, daß Mord oder Betrug von Menschen begangen werden kann, denen man vertraut, sogar von einem Ehepartner, von Kindern oder engen Freunden. Als Agatha Christie das erste Mal in Erwägung zog, einen Detektivroman zu schreiben, kam sie zu dem Schluß, daß es »ein intimer Mord« sein muß, »... er muß sozusagen innerhalb der Familie stattfinden ... Ein Mann könnte seine Frau ermorden - das kam am häufigsten vor« (Meine gute alte Zeit, S.255), und damit spricht sie eine Grundangst an, die jeder Mensch bis zu einem gewissem Grad Geliebten, Freunden oder Verwandten, oder, besser gesagt, deren Persönlichkeit gegenüber, verspürt. Es ist der Alptraum vom Pistolenmann: Wir können uns niemals ganz mit dem anderen identifizieren, absolutes Vertrauen und ein vollkommenes gegenseitiges Verständnis sind unmöglich. Statt dessen sind wir gezwungen, mit einem sozialen Kompromiß der Unsicherheit zu leben. Die moderne Kriminal Schriftstellerin Ruth Rendell hat über diesen prekären Kompromiß in The Veiled One [Die Verschleierte, A.d.Ü.] geschrieben, ein Titel, der Bezug nimmt auf die plötzliche Erkenntnis, daß der engste Verwandte eines Menschen sich bis zur Unkenntlichkeit verändern kann, eine Mutter für ihren eigenen Sohn nicht wiederzuerkennen ist. Das Motiv der verkannten oder falschen Identität kommt in vielen Agatha Christie-Romanen vor, aber die Ängste, die es hervorruft, werden in der abschließenden Aufdeckung des Verbrechens wieder beschwichtigt. In Ein Mord wird angekündigt entpuppen sich ein Neffe und eine Nichte als Hochstapler, und in Das Geheimnis der Amseln sind die angeheirateten Verwandten in Wirklichkeit die Kinder von Bekannten, die Rache üben wollen. Wenn der Schock der Erkenntnis verdaut ist, wird die Sicherheit wiederhergestellt. Sobald die Identität eines jeden zweifelsfrei feststeht, wird es leicht, das Mordmotiv und damit auch den Mörder zu identifizieren. Danach ist eine Welt geschaffen, die sicherer ist als je zuvor, denn die Wahrheit über jeden einzelnen ist ans Tageslicht gekommen, und jegliche Unsicherheit, jeder Zweifel wurde auf die Gestalt des Mörders zurückgeführt und mit ihr entfernt. So wird die sehr reale Furcht vor den »Verschleierten« im klassischen Kriminalroman in ein Spiel verwandelt, in dem die Feststellung der wahren Identität logisch dazu führt, daß die Gesellschaft von ihren zerstörerischen und störenden Elementen gesäubert wird. Solche psychologischen Faktoren stehen im Mittelpunkt von W.H. Audens Erklärung für die erstaunliche Beliebtheit von Kriminalromanen. Er stellt die These auf, daß die Detektivgeschichte die »Dialektik von Unschuld und Schuld« neu formuliert. Seiner Auffassung nach ist der typische Leser ein Mensch, der »unter dem Gefühl leidet, eine Sünde begangen zu haben«. Ihn spricht der Detektivroman an, denn das Buch handelt von »der Unschuld, die, so wird entdeckt, Schuld in sich birgt; dann den Verdacht, der Schuldige zu sein, und schließlich die wirkliche Unschuld, aus der der schuldige andere entfernt wurde« (W.H. Auden: »The Guilty Vicarage«, 1963, S.146). Agatha Christie spielt oft mit der Vorstellung, daß man niemandem trauen kann, nicht einmal sich selbst; das ist besonders offenkundig in Alibi, wo sich die in gewissem Sinne vertrauenswürdigste Figur als der Mörder entpuppt. Poirot formuliert das treffend, wenn er sagt:

»Nehmen wir einen Mann - einen ganz gewöhnlichen Mann. Einen Mann ohne Mordgedanken im Herzen. Doch irgendwo in ihm - tief unten - schlummert eine Art Schwäche. Bisher war sie noch nicht zutage getreten. Vielleicht wird es auch nie geschehen - dann wird er von jedermann geachtet und verehrt zur Grube gefahren. Aber nehmen wir an, daß irgend etwas sich ereignet. Er ist in Schwierigkeiten ...« (Alibi, Kap. 17)

Hinter diesen Aussagen steckt der Gedanke, die Detektivgeschichte sei eine Art moralischer Fabel. »Im Kriminalroman triumphiert stets die Tugend. Er ist die unschuldigste Literatur, die wir besitzen«, sagt Dorothy L. Sayers' Lord Peter Wimsey, und diese volkstümliche Ansicht über den Detektivroman wird von verschiedenen Autoren und Autorinnen des Goldenen Zeitalters geteilt:

Durch seine Darstellung der niemals schlafenden Wächter an den Außenposten der Gesellschaft erinnert er uns daran, daß wir in einer belagerten Festung leben, die mit einer chaotischen Welt im Krieg liegt, und daß die Verbrecher, die Kinder des Chaos, nichts anderes als Verräter innerhalb unserer Mauern sind. (G.K. Chesterton in Hay-craft: The Art of the Mystery Story, 1976, S.5

Dieses Gefühl, daß das Böse etwas Einfaches ist, das mit absoluter Sicherheit bezwungen werden kann, schafft ein überlegenes und beruhigendes Moralbewußtsein, das zum offensichtlichen Realismus des klassischen Detektivromans im Widerspruch steht. Chesterton glaubte außerdem, daß der Kriminalroman »die erste und einzige Form der Unterhaltungsliteratur ist, in der etwas von der Poesie des modernen Lebens zum Ausdruck kommt«: »Jeder Pflasterstein und jeder Ziegel in der Mauer ist in Wirklichkeit ein absichtsvolles Symbol, die Botschaft irgendeines Menschen«. Wie Dorothy L. Sayers scheint er sich für den Detektivroman die beste aller Welten zu wünschen: das abstrakte Rätsel, die moralische Erzählung und zugleich die Unabgeschlossenheit und Wahrscheinlichkeit des Realismus. Tatsächlich gelingt es einer geschickten Autorin wie Agatha Christie, diesen Widerspruch mit einem Anstrich von Authentizität und Aktualität zu überdecken, hinter dem das Rätselspiel und die moralische Erzählung entwickelt werden. Wie das geschieht, kann man an einem Auszug aus Agatha Christies erstem erfolgreichen Roman, Alibi, sehen:

Unser Dorf King's Abbot unterscheidet sich kaum von anderen Dörfern. Die nächste große Stadt, Cranchester, liegt neun Meilen entfernt. Wir haben einen großen Bahnhof, ein kleines Postamt und zwei miteinander konkurrierende Gemischtwarenläden. Außerdem gibt es bei uns viele unvermählte Damen und pensionierte Offiziere. Unsere Zerstreuung und Erholung lassen sich mit dem einen Wort »Klatsch« zusammenfassen.
In King's Abbot gibt es nur zwei bedeutende Häuser. Das eine ist King's Paddock, das Mrs. Ferrars von ihrem verstorbenen Gatten erbte. Das andere, Fernly Park, gehört Roger Ackroyd. Ackroyd hat mich seit jeher interessiert, denn er war der Inbegriff eines englischen Landjunkers.
Natürlich ist Ackroyd kein wirklicher Landjunker; er ist ein außerordentlich erfolgreicher Fabrikant - wenn ich nicht irre, von Wagenrädern. In den besten Jahren, gesund und von liebenswürdiger Lebensart. Ein Herz und eine Seele mit dem Vikar, spendet er sehr freigiebig für den Kirchenfonds (trotz aller Gerüchte, daß er in persönlichen Ausgaben außerordentlich geizig sei), unterstützt Kricket-Wettspiele, Klubs für junge Männer und den Veteranenverein. Er ist wirklich Haupt und Herz unseres friedlichen Dorfes King's Abbot. (Alibi, Kap. 2)

Diese Beschreibung des Dorfes erinnert ein wenig an Thomas Hardys Melstock oder an das Cranford der Elizabeth Gaskell, das Bild verwendet genügend von der Substanz seiner literarischen Vorgänger, damit die Leserinnen es als Darstellung einer vertrauten und daher »realen« Szenerie akzeptieren. Der Kriminalroman präsentiert uns ein »begreifbares Universum«, bemerkt George Grella (G. Grella in R. Winks: Detective Fiction, 1980, S.101), und daher ist es vielleicht auch besser, wenn das Wissen, das er uns anbietet, eher der Literatur als dem Leben entstammt. Die Szenerie wird in einer Art Kurzschrift dargestellt; in diesem Ausschnitt wird das Dorf knapp mit stereotypen, traditionellen Details skizziert und zugleich mit einer ausreichenden Menge aktueller Informationen versehen - Freizeitclubs für junge Männer und Heime für kriegsversehrte Soldaten -, um den oberflächlichen Eindruck zu geben, es sei im modernen Leben angesiedelt. Die Eigentums- und Klassenverhältnisse sind schnell erläutert, und es werden ironische Zeichen gesetzt bezüglich der nun folgenden Handlung: Roger Ackroyd wird bald nicht mehr Haupt und Herz des Dorfes (wenn auch vielleicht seine Seele) und King's Abbot selbst nicht länger friedlich sein. Natürlich ist der Ort ein bewußtes Kunstprodukt; wie Roger Ackroyd ist er wirklicher als die Wirklichkeit, und Agatha Christie gibt das mit erstaunlicher Souveränität zu, sie gesteht sogar ein, daß es eigentlich gar nicht darauf ankommt. Wie beim Schachspiel, wo die Züge der Figuren wichtig sind und nicht das, wofür sie »wirklich« stehen, haben der Schauplatz und die Charaktere in Agatha Christies Roman nur eine schemenhafte Beziehung zu sozialen Bedingungen und historischen Ereignissen. Tod, Krieg, Armut - der Roman wurde 1926, im Jahr des Generalstreiks, veröffentlicht - werden erwähnt, bleiben aber im Hintergrund des Detektivspiels, das der Roman vorführt. Wie John G. Cawelti sagt: »Figuren und Atmosphäre werden auf das äußerste Minimum reduziert und dienen nur als notwendige Verkörperungen für die Struktur von Spurensuche und Täuschung« (J.G. Cawelti in R. Winks: Detective Fiction, 1980, S.193).
Obwohl sich die Handlung in diesem Roman inmitten zahlreicher detaillierter und greifbarer Beweise entfaltet, wie etwa einem Verzeichnis der Gegenstände, die sich in der Schublade von Ackroyds Schreibtisch befinden, den Plänen von Ackroyds Haus und dem Zimmer, in dem er starb, wird dieses Material doch ganz begrenzt eingesetzt und rein funktional behandelt. Es vermittelt den Anschein einer wiedererkennbaren sozialen Welt, existiert aber in erster Linie, um die unterschiedlichen Ermittlungsrichtungen im Kriminalrätsel voranzubringen. Unter der Maske des »Realismus« herrscht die Sicherheit, daß das Verbrechen aufgeklärt und folglich das Gute sich durchsetzen und der Übeltäter vor den Richter gebracht wird. Poirot bietet diese Sicherheit, denn, wie George Grella sagt: »Diese Schwäche für das Greifbare schließt eine Welt mit ein, die mit menschlichem Verstand interpretiert werden kann, und diesen verkörpert der überlegene Intellekt des Detektivs« (G. Grella in R. Winks: Detective Fiction,  1980, S.101). Poirot ist es, der die Hinweise zusammensetzt, den Mörder entdeckt und entfernt und King's Abbot von diesem zerstörerischen Element befreit: »Es war eigentlich wie ein Puzzlespiel, zu dem alle ein eigenes kleines Stück Wissen oder Erkenntnis beigetragen haben. Aber damit hatten sie ihre Aufgabe erfüllt. Poirot allein hatte die Ehre, diese Stücke an ihren richtigen Platz zu setzen« (TheMurder of Roger Ackroyd[Alibi] Kap. 14). Das letzte noch fehlende Stück in diesem Puzzle ist die schockierende Enthüllung, daß der Mörder Roger Ackroyds nicht nur achtbar und geachtet, sondern auch vollkommen unverdächtig war. Selbst wenn Agatha Christie durch diesen Roman berühmt wurde, befremdete sie damit doch viele ihrer Leserinnen; entspricht es wirklich noch den Spielregeln, wenn Mörder und Detektiv so miteinander verschlungen und damit die Leserinnen derart getäuscht werden, wie das bei den ersten Leserinnen von Alibi der Fall war? Agatha Christies eigene Definition eines »guten Kriminalromans« - »daß einer offensichtlich der Mörder sein muß, es aber ebenso offensichtlich aus irgendeinem Grund nicht sein kann. Obwohl er es natürlich ist.« (Meine gute alte Zeit, S.255) - wurde hier beinahe zu brillant durchgeführt, um den Leserinnen noch Vergnügen zu bereiten.
Wie Alibi zeigt, ist Agatha Christie insofern eine typische Kriminalautorin, als sie sich des Genres, in dem sie schreibt, in höchstem Maße bewußt ist, und das manchmal auf eine so hinterhältige Weise, daß sie es wie eine eher nüchterne und mechanische Übung erscheinen läßt. Das Ganze sei wie Kochen, meint sie in ihrem Vorwort zu The Body in the Library (Die Tote in der Bibliothek):»... ein Tennisprofi, eine junge Tänzerin, ein Künstler, eine Pfadfinderin, die Gastgeberin bei einem Ball etc. und das alles ä la Miss Marple serviert«. Oder es funktioniert wie ein Zaubertrick - Miss Marple spricht von »Irreführung« -, bei dem der Mörder (und die Autorin) die Aufmerksamkeit von dem, was im Grunde ganz klar auf der Hand liegt, ablenken und das Geschehen verschleiern: »Oft sind Morde ganz einfach - mit einem offensichtlichen, ziemlich gemeinen Motiv«, sagt Miss Marple in 16 Uhr 50 ab Faddington, wo sich nach vielen falschen Fährten das herausstellt, was Agatha Christie »die gewöhnlichste Form des Mordes« nennt, daß nämlich ein Ehemann seine Frau umgebracht hat. Agatha Christie baut in ihre Romane häufig Verweise auf die Konventionen des Kriminalromans ein, »Insiderwitze« sozusagen, die eine Beziehung zu den Leserinnen herstellen und der Autorin erlauben, ihre Handlung auf ironische Weise gegen die Konvention auszuspielen. In Die Tote in der Bibliothek wird Miss Marple von einem kleinen Jungen, der ein leidenschaftlicher Leser von Detektivromanen ist, für eine Kriminalschriftstellerin gehalten: »Wie er wußte, schrieben manchmal Personen, von denen man es niemals für möglich halten würde, Detektivromane. Miss Marple in ihren unmodernen Altjungfernkleidern schien so ein Fall zu sein.« Natürlich verfehlt er damit die noch unerwartetere Pointe, daß sie die Detektivin ist. Vorher sagt der kleine Junge zu den Polizisten: »Mögen Sie Kriminalromane? Ich schon. Ich lese sie alle, und ich habe Autogramme von Dorothy L. Sayers und Agatha Christie und Dickson Carr und H.C. Bailey.« Der Bezugsrahmen für diese Art von Witzen unter Eingeweihten kann ziemlich breit sein; in A Mur-der is Announced (Ein Mord wird angekündigt) erinnert Miss Marple beispielsweise vorsichtig an das »leichte Opfer«, einen Gedanken, den sie »aus einer von Mr. Dashiell Hammetts Kurzgeschichten« hat. »(Ich habe von meinem Neffen Raymond gehört, daß er als einer der Spitzenreiter gilt in der Literatur im 'harten' Stil, wie man das so nennt.)« Dieser Roman, eine der besten Marple-Geschichten überhaupt, beginnt mit einer Andeutung, wie beliebt Detektivspiele zu jener Zeit waren, indem er Bezug nimmt auf eine Mörderspiel-Party, die in der Zeitung annonciert wird:

Ein Mord wird hiermit angekündigt. Er wird Freitag, den 29. Oktober, um 6 Uhr 30 abends in Little Paddocks verübt. Freunde und Bekannte sind herzlich eingeladen, daran teilzunehmen. Eine zweite Aufforderung erfolgt nicht.

Die Anzeige könnte sowohl die Einladung zu einer Hochzeit als auch zu einer Beerdigung sein, aber jeder, der das liest, erkennt sie als die zu einem »Mörderspiel«, das für die Uneingeweihten erklärt wird: »Lose werden gezogen. Einer ist der Mörder, niemand weiß, wer. Licht aus. Mörder sucht Opfer. Opfer zählt bis zwanzig, schreit dann. Und derjenige, der den Detektiv gezogen hat, übernimmt die Sache. Befragt alle.« Die auslösende Mordszene in einem beliebten Gesellschaftsspiel der Zeit anzusiedeln, das selbst wiederum auf dem klassischen Detektivroman basiert, schließt den Kreis der Selbstreferenz.
In solchen Anspielungen beweist sich deutlich die Beliebtheit des Genres. Sie dienen auch als Versicherung, daß nichts gegen die Lektüre  solcher Bücher  spricht:   Schuljungen,  ehrbare gärtnernde Damen wie Mrs. Bantry, Polizeiinspektoren und insbesondere Pfarrer werden beim Lesen von Romanen entdeckt, die Titel tragen wie Der dunkle Fleck auf der Treppe (in: Mord im Pfarrhaus) oder Der Tod kommt dreimal (in: Ein Mord wird angekündigt). Auch wenn sich Q.D. Leavis über das allgemeine Absinken des Lektüreniveaus beklagen mag, so sind doch - zumindest wenn wir den Romanen selbst Glauben schenken - solche Lesegewohnheiten schlimmstenfalls eine verzeihliche Schwäche, und bestenfalls schaffen sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Leserinnen mit einer Romanfigur, die ein Vorbild aus einer angesehenen Gesellschaftsschicht ist - ein Pfarrer oder ein pensionierter Colonel - und die ebenfalls Kriminalromane liest. Vielleicht war eine solche Identifikation nötig, weil sich eine ganze Schicht relativ neuer Leserinnen, die Arbeiterklasse, leidenschaftlich auf den Kriminalthriller stürzte, der sich von der Detektivgeschichte unterscheidet. Leavis zitiert den Bibliothekar einer öffentlichen Bücherei in der Zwischenkriegszeit, der sagt, auch wenn er weitere 200 Exemplare von Edgar Wallace' Kriminalromanen ins Regal stellen würde, wären diese noch am selben Tag ausgeliehen (Q.D. Leavis: Fiction and the Reading Public, 1932, S.50). Agatha Christie und die anderen Autoren des Kriminalclubs bemühten sich, einen anderen Bereich als Wallace abzustecken, und damit eine Mittelklassen-Enklave zu markieren, wo die Schauplätze kultiviert und wohlhabend sind und die Handlung sich eher auf Logik und Verstand als auf Sensation und Gewalt stützt. Das war eine Enklave, in der Frauen als Schriftstellerinnen sehr erfolgreich waren und die erstaunlicherweise sogar ihre Domäne wurde.
Es gab in dieser Zeit vier Autorinnen, gelegentlich die Königinnen des Kriminalromans oder das Musenquartett genannt, die bis heute bekannt sind und gelesen werden. Sie waren in hohem Maße daran beteiligt, das Genre in seiner klassischen Form zu etablieren: Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Ngaio Marsh und Margery Allingham. Dabei stellt sich die Frage, warum sich diese intelligenten Frauen mit offensichtlichem literarischem Talent lieber der Detektivgeschichte als anderen Romanformen zugewandt haben.
In A Very Great Profession schreibt Nicola Beauman, die Detektivautorinnen übrigens nicht erwähnt:

Die Jahre zwischen den Kriegen waren eine Blütezeit für Romane, die von Frauen verfaßt waren. Schließlich war das Schreiben von Romanen eine schickliche Beschäftigung ... Die Frauen der Mittelklasse hatten Zeit und Energie, waren frei von stupider Plackerei und besaßen eine Intelligenz, die nicht von der harten und erschöpfenden Monotonie der Hausarbeit befleckt wurde. (N. Beauman: A Very Great Profession, 1983, S.6)

Sie hätte auch hinzufügen können, daß Frauen zunehmend über Fachkenntnisse verfügten. Der Krieg hatte ihnen ermöglicht, Arbeit anzunehmen und entsprechendes Wissen zu erwerben; Agatha Christie mit ihrer Anstellung in einer Krankenhausapotheke ist selbst ein Beispiel dafür. Es gab auch bessere Zugangsmöglichkeiten zu höherer Bildung, so daß Frauen wie Stella Benson oder Naomi Mitchison, die beide Anfang der zwanziger Jahre Geschichte studiert hatten, besser als ihre Vorgängerinnen für das Recherchieren und Schreiben historischer Romane gerüstet waren. Doch trotz der neuen Möglichkeiten und des erweiterten Horizonts blieben, wie Beauman meint, diese schreibenden Frauen ebenso wie ihre viktorianischen Kolleginnen in der Mehrzahl bürgerliche Damen, die über das Leben von ebensolchen Damen - oft in einem romantischen und häuslichen Kontext - schrieben. Der Aufstieg der Kriminalautorinnen muß vor dem Hintergrund dieser von Frauen geschriebenen bürgerlichen Familienromane gesehen werden. Wie Jessica Mann erläutert, galt die Detektivgeschichte für die vielen Frauen, die mit dem Schreiben begonnen hatten, und für die viel größere Anzahl der Leserinnen neuerdings durchaus als schicklich, besonders im Vergleich mit früheren, eher auf Sensation bedachten Romanen wie denen der Baroness Orczy (J. Mann: Deadlier Than the Male, 1981, S.32-38). Auch wenn die Kriminalschriftstellerinnen aus dem selben sozialen Milieu stammten wie die zeitgenössischen Verfasserinnen von Liebesromanen, so konnten sie dem Romantischen doch entkommen oder es zumindest in den Hintergrund drängen, indem sie ihre kreative Phantasie mit logischem Denkvermögen und Rätselspielen anreicherten. Früher als alle anderen entfernte Agatha Christie das romantische Element aus ihren Detektivgeschichten -»Ich persönlich habe das Thema Liebe in Kriminalromanen immer sehr lästig gefunden. Es hat in einem logisch aufgebauten Handlungsablauf nichts zu suchen« {Meine gute alte Zeit, S.266) - aber sogar bei Dorothy L. Sayers, die die Liebesgeschichte von Harriet Vane und Peter Wimsey durch mehrere ihrer Romane verfolgt, bleibt die Romantik zweitrangig. Eine Ausnahme bildet Hochzeit kommt vor dem Fall, dem am wenigsten geglückten und letzten (1937) Kriminalroman, den Sayers als »eine Liebesgeschichte mit detektivischen Unterbrechungen« bezeichnete. Was die klassische Form des Genres den Autorinnen und ihren Leserinnen bot, war die Gelegenheit, innerhalb von Anstand und Häuslichkeit zu bleiben, sich auf die weibliche Sphäre zu beschränken und diese Sphäre gleichzeitig zur Befriedigung anderer Bedürfnisse zu nutzen.
Agatha Christie selbst war typisch für jene Frauen, die Kriminalromane schrieben und lasen. Mit ihrer behüteten Kindheit in wohlhabenden Verhältnissen, ohne reguläre Schulbildung und jung verheiratet, hätte sie wohl ohne den Krieg nie eine bezahlte Stellung angenommen. Damals wurde sie nach einiger Zeit als Schwesternhelferin Assistentin in einer Apotheke und bereitete sich auf die Apothekerprüfung vor. Wie Janet Morgan erklärt, kam diese Arbeit Agatha Christies Talent zur Systematisierung und zum geordneten Denken sehr entgegen, und ihr Notizbuch enthält alphabetische Listen über »das Aussehen und die Wirkung verschiedener Substanzen, die Rohstoffe, aus denen sie gewonnen werden, und die Substanzen, mit denen sie sich nicht vertragen« (J. Morgan: Agatha Christie, engl. 1984, S.70). Hier lernte sie auch einiges über Gifte. In ihrer Autobiographie erinnert sie sich an einen Vorfall, der zeigt, wie sehr sie sich der verschiedenen Formen der Macht bewußt war, die die Menschen haben können. Ihr Vorgesetzter war ein Mann, der völlig unfähig war, einen Fehler einzugestehen, so daß sich Agatha Christie einmal gezwungen sah, ein Medikament wegzuwerfen, anstatt ihm zu erzählen, daß er es falsch verschrieben hatte. Eines Tages zeigte er ihr ein Stück einer dunklen Substanz, die er in seiner Jackentasche trug.

»Das ist Kurare«, sagte er. ... »Interessantes Zeug. ... Wenn man es schluckt, richtet es keinen Schaden an. Koramt es in die Blutbahn, lähmt und tötet es das Opfer. ... Wissen Sie, warum ich es bei mir trage?« - »Ich habe kerne Ahnung«, sagte ich. ... »Ja, wissen Sie«, sagte er nachdenklich, »es gibt mir ein Gefühl der Allmacht.« Ich betrachtete ihn. Er wirkte ein bißchen komisch, der rundliche kleine Mann mit seinem rosigen Vogelgesicht. Er erweckte den Anschein kindlicher Zufriedenheit. (Meine gute alte Zeit, S.254)

Fünfzig Jahre später verwendete Agatha Christie diesen Vorfall in dem Roman Das fahle Pferd. Er gewährt erhellende Einblicke in die jeweiligen Machtspiele, die etwas an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen spielen: der unbedeutende Mann trägt ein Stück Tod in seiner Jackentasche, die Frau schreibt über den Tod.
Aber selbst literarischer Mord und Raub mag für wohlerzogene junge Frauen ä la Christie unpassend erscheinen. Woher kannten sie das Elend und die Gewalt, die einen Mord gewöhnlich begleiten? Natürlich konnte ihnen dergleichen vertraut sein, denn viele hatten, wie Agatha Christie, im Krieg ihre Erfahrungen gemacht, und kein Mord übertraf an Grausamkeit das, was sie an Kriegsverletzungen gesehen haben mochten. Doch im allgemeinen herrschte die Ansicht, daß sie ahnungslos waren und es auch bleiben sollten, und ihre Romane werden dieser Ansicht gerecht. Der unblutige und stilisierte englische Detektivroman machte das Verbrechen für Autorinnen und Leserinnen annehmbar, und die Konventionen, der Humor und die ritualisierten Schauplätze neutralisierten das grausame und möglicherweise gegen den guten Geschmack verstoßende Thema zu einem eleganten Spiel, das sich auch für anständige Frauen schickte. Zu jener Zeit, als Agatha Christie zu schreiben begann, hatte sich das Genre außerdem bereits beträchtlich von der schwärmerischen Bewunderung für die tatkräftigen Abenteuer der Sherlock Holmes-Geschichten entfernt und weniger heroische, gewöhnlichere Detektive hervorgebracht. Zwischen den Weltkriegen waren sowohl Held als auch Handlung unspektakulärer und alltäglicher geworden, so daß sich Leserinnen und Autorinnen auf die nicht völlig unvertraute Welt, die der Kriminalroman schildert, einlassen konnten. Mit dem Auftauchen der vier Königinnen des Kriminalromans hatte sich dann das Untergenre, das wir den weiblichen Detektivroman nennen können, vollständig etabliert.
In erster Linie wird dieses Genre von der Art der Detektive bestimmt, die diese Autorinnen einführten. Nicht nur, daß sie Frauen als Detektivinnen und Ermittlungshelferinnen einsetzen - Harriet Vane, Miss Climpson, Troy Alleyn, Margery Allinghams Amanda Fitton, Agatha Christies Ariadne Oliver und natürlich Miss Marple -, auch ihre männlichen Detektive tragen weibliche Züge. Agatha Christies Hercule Poirot, Dorothy L. Sayers' Peter Wimsey und Margery Allinghams Albert Campion sind als Männer abweichend und oft komisch, himmelweit entfernt von Sherlock Holmes oder ihrem Zeitgenossen Marlowe aus der hartgesottenen Schule, und das macht sie zugänglich und liebenswert.
Agatha Christie schildert Poirot als einen »adretten kleinen Mann. Ich könnte ihn mir als einen adretten kleinen Mann vorstellen, der ständig Sachen ordnet, Dinge gerne doppelt besitzt und eckige Gegenstände den runden vorzieht«, und in Alibi wird er vorgestellt mit einem »eiförmigen Kopf, der teilweise mit verdächtig schwarzem Haar bedeckt ist, mit einem mächtigen, zweigeteilten Schnurrbart und aufmerksamen Augen«, und absurderweise wirft er gerade Eierkürbisse über die Gartenmauer. Poirot ist klein, eitel, hochmütig und ein Ausländer, noch dazu ein Belgier, was für Engländer heißt, daß er sogar für einen Ausländer außerordentlich unbedeutend ist. Margery Allinghams Campion ist ebenfalls entwaffnend; in Police at the Funeral wird er beschrieben als »eine hagere, tadellos gekleidete Gestalt mit einem blassen Gesicht, das von einer enormen Hornbrille halb verdeckt wird und den gewohnheitsmäßigen Ausdruck zufriedener Idiotie trägt«. In gleicher Weise heißt es über Dorothy L. Sayers Peter Wimsey in Whose Body?, der ein »langes, liebenswürdiges Gesicht hat, das aussieht, als sei es von selbst aus seinem Zylinderhut entstanden, so wie sich weiße Maden in Gor-gonzola bilden«. Selbst Ngaio Marshs Inspector Roderick Alleyn, der einzige Polizist unter ihnen, ist träge und zurückhaltend und, wie Wimsey und Campion, ein Aristokrat. Ihre adlige Herkunft spricht den Snobismus der Leserinnen an und verleiht ihnen zugleich - in dieser Hinsicht sind sie wie Poirot - in der meist bürgerlichen Welt des Verbrechens die Rolle des Außenseiters.
Die Mischung aus Kraftlosigkeit, Exotik und Komik, die diese Außenseiter verkörpern, ist eine sehr wirksame Verkleidung. Sie sehen vielleicht dumm aus, wirken vielleicht eitel und affektiert, aber hinter dieser Oberfläche verbergen sich logische Fähigkeiten und ein ziemlich unbarmherziges Streben nach Gerechtigkeit. Es ist leicht nachzuvollziehen, wie anziehend solche Gestalten auf Autorinnen und Leserinnen wirken; sind nicht Poirot und seinesgleichen den Frauen selbst sehr ähnlich - scheinbar unbedeutend, aber in
Wirklichkeit diejenigen, die das Muster zusammenfügen und in einer erschütterten Welt wieder Ordnung schaffen?
Und das erreichen sie nicht mittels der einsamen und beinahe übermenschlichen Taten eines Sherlock Holmes oder der gefährlichen Gewalttätigkeit eines Marlowe. Albert Campion ist höflich und bescheiden, er verbringt seine Zeit gern mit närrisch erscheinenden Tätigkeiten. Und obwohl Poirot so sehr auf »die kleinen grauen Zellen« vertraut, ist auch er kein weltfremder Denker, sondern ein Mann, der in den Beweisstücken herumstöbert und auf umständliche und freundliche Art mit Leuten plaudert. Solche Detektive vermitteln den Leserinnen, daß die Aufdeckung eines Verbrechens auch von gewöhnlichen Menschen geleistet werden kann, und die Lektüre dieser Kriminalromane verleiht auf vergnügliche Art das Gefühl, mächtig zu sein; obwohl ein Poirot, ein Campion oder eine Marple den Weg weisen, bleibt doch der Eindruck, daß die Lösung eines Falles im Grunde eine Do-it-yourself-Angelegenheit ist.
Das ist beim weiblichen Lesepublikum besonders dann der Fall, wenn eine der Assistentinnen des Detektivs ein Beweisstück findet, das nur einer Frau zugänglich ist: Harriet Vane etwa in einem Frauen-College in Oxford, oder Miss Climpson, die sich zu einer Sterbenden Zugang zu verschaffen sucht, indem sie sich durch zahllose Tassen Kaffee und Tee in verschiedenen Teestuben trinkt, um sich mit der Krankenschwester der Frau anzufreunden. Wie wir im dritten Kapitel sehen werden, ist es Jane Marple, die diese weiblichen Beschäftigungen zu ihrer Spezialität macht und dadurch nicht die Assistentin des Detektivs, sondern die Detektivin selbst wird.
Die Umgebung, in der diese Detektive operieren, ist ebenfalls vertraut. Häufig geschieht der Mord in einer Familie, die gesellschaftlich nur ein kleines Stück über der durchschnittlichen Mittelschichtsleserin steht, so daß einerseits die sozialen Muster wiedererkennbar sind - der Tee wird zu einer bestimmten Zeit serviert, gut erzogene Mädchen kleiden sich so und nicht anders, es ist klar, wer wem einen Besuch abstatten darf -, andererseits aber sich ein gewisser Glanz zeigt, wie ihn etwas mehr Geld und etwas mehr Vornehmheit mit sich bringen, welche ja außerdem eine größere Versuchung für das Verbrechen bieten. Insbesondere Agatha Christie besitzt die Gabe, die Stufenleiter von Vermögen und Gesellschaftsklasse genau einzuschätzen, und benutzt als Maßstab oft Miss Marple, die arm ist, aber aus gutem Hause stammt. Agatha Christie ist auch eine Meisterin in der Verwendung von scheinbar gewöhnlichen und vertrauten Umgebungen für ihre rätselhaften Morde. Margery Allingham und Ngaio Marsh wagen sich oft in die glitzernde Welt der Kunst und des Theaters, und Dorothy L. Sayers ist am besten, wenn sie eine ungewöhnliche Umgebung beschreibt, wie das Frauen-College in Aufruhr in Oxford oder die düstere Fenn-Landschaft von Der Glocken Schlag (auch veröffentlicht unter dem Titel Die neun Schneider). Aber Agatha Christie läßt ihr Verbrechen in einer scheinbar (wenn schon nicht im Leben, so doch in der Literatur) sicheren und bekannten Gesellschaft stattfinden, die Colin Watson »die kleine Welt von Mayhem Parva« nennt:

... eine Kreuzung aus einem Dorf und einer von Pendlern bewohnten Schlafstadt im Süden Englands, die eine in sich geschlossene und weitgehend unabhängige Einheit bildet. [Mayhem Parva] besitzt eine gut besuchte Kirche, ein Gasthaus mit ordentlichen Zimmern für durchreisende Kriminalinspektoren, eine Dorfschule, eine Bibliothek und verschiedene Läden, darunter auch eine Drogerie, wo es Unkrautvertilgungsmittel und Haarfärbemittel zu kaufen gibt. Die Gegend ist ländlich, aber nicht ganz abgelegen - es gibt beispielsweise eine gute Busverbindung, damit verdächtige Verabredungen in der nächsten Stadt eingehalten werden können -, aber dennoch ausreichend malerisch, um die bedauerlich ahnungslose Sehnsucht eines englischen Vorstadtbewohners nach dem Rückzug »aufs Land« zu bedienen. (C. Watson: Snobbery with Violence, 1971, S.169-170)

Mayhem Parva ist wie King's Abbot mit Stereotypen bevölkert: Die Armee, die Kirche und die Ärzteschaft sind vertreten, zusammen mit verschiedenen Witwen, alleinstehenden Damen, einer Handvoll Dienstmädchen, Butlern und Gärtnern und ein paar Außenseitern -wohlhabende ehemalige Geschäftsleute, die Emporkömmlinge sind, ein Künstler oder Schriftsteller, und gelegentlich eine geheimnisvolle Person, die sich in Mayhem Parva ansiedelt, deren Ankunft die allgemeine Neugier weckt, und die natürlich zur Schlüsselfigur des Verbrechens und seiner Aufdeckung wird. Meist handelt es sich um eine weibliche Welt des Klatsches und der kleinen Intrigen - Cran-ford, gewürzt mit einem Mordrätsel - und ist damit für das weibliche Lesepublikum auf beruhigende Weise konservativ. Agatha Christie, die diese Welt schon in ihren ersten Romanen einführte, insbesondere in Alibi, gab ihr, als Inbegriff einer Mayhem Parva-Gestalt, den genius loci in Form der wohlerzogenen, sehr englischen alten Jungfer Miss Marple.
Auch wenn Miss Marple und St. Mary Mead nostalgische Klischees sind, so werden sie doch oft durch eine Ironie akzentuiert, die verhindert, daß Klischees, insbesondere Klischees über Frauen, allzuleicht übernommen werden. Agatha Christie setzt diese Ironie häufiger ein als ihre Zeitgenossinnen, deren Ausflüge in die weibliche Unabhängigkeit unweigerlich in der herkömmlichen Unterwerfung unter einen männlichen Detektiv enden, der zugleich der Ehemann ist oder wird: Harriet Vane und Peter Wimsey, Agatha Troy und Roderick Alleyn. Aber Miss Marple, die niemals feministische Erklärungen von sich gibt, ist nicht nur eine wirklich unabhängige Frau, sondern auch die eigentliche Detektivin, vor der sogar Polizeiinspektoren gehörigen Respekt haben. Auch im Kleinen zerstört Agatha Christie die Stereotypen, die sie benutzt. In Mord im Pfarrhaus beispielsweise sagt Inspector Slack, daß der Mörder ein Mann sein muß, weil »Frauen niemals gern mit Feuerwaffen hantieren. Arsen liegt mehr auf ihrer Linie«, aber dennoch hat eine Frau Colo-nel Protheroe erschossen, und zwar kaltblütig und mit einer durchdachten Strategie. In Die Schattenhand stellt sich, nachdem der Verdacht vor allem auf alleinstehende Frauen im Dorf gefallen war, heraus, daß die gehässigen Briefe in Wirklichkeit von einem Mann geschrieben wurden, der die geistlose, schöne Gouvernante heiraten wollte; Männer können »weibliche Verbrechen« begehen, während sie sich gleichzeitig, stereotyp, von schönen Frauen zum Narren machen lassen. (In dieser Beziehung ist Agatha Christies Roman weniger konventionell als Dorothy L. Sayers' Aufruhr in Oxford, wo sich schließlich doch erweist, daß die Schreiberin des bösartigen Briefes eine verbitterte, rachsüchtige Frau ist.) In Fata Morgana ist die Mörderin scheinbar das Ideal einer zarten, weltfremden Frau der zwanziger Jahre, die Männer - und auch Frauen - beschützen wollen, aber ihre Weltfremdheit erweist sich als schuldhaftes Komplizentum mit dem Bösen, und ihre Zartheit wird ebenfalls als eine Art Stärke enthüllt, mit der sie überlebt, wo andere untergehen.
Miss Marple selbst ist das wesentliche Instrument solcher ironischer Spiele, wenn sie immer wieder die Überlegenheit der (Frau als) Amateurdetektivin über den (männlichen) Profi oder vielmehr eigentlich über Männer im allgemeinen zeigt:

Ich habe gehört, daß Pikrinsäure explodiert, wenn man ein Gewicht darauf fallen läßt, und Sie werden sich noch erinnern, lieber Herr Pfarrer, daß Mr. Redding, als Sie ihn im Wald ausgerechnet dort trafen, wo Sie später diesen Kristall gefunden haben, einen großen Stein trug. Männer sind ja handwerklich so geschickt - der Stein wurde über den Kristallen aufgehängt, und dann brauchte es nur noch einen Zeitzünder -oder meine ich eine Lunte? (Mord im Pfarrhaus, Kap. 30)

Es versteht sich von selbst, daß sich der Pfarrer nicht an den Stein erinnert und daß er, wie auch die anderen Männer in diesem Roman - mit Ausnahme des Verbrechers -, handwerklich nicht geschickt ist. Das Klischee über die praktischen Fähigkeiten der Männer wird mit einem kleinen altjüngferlichen Augenzwinkern übermittelt, das den Leserinnen auf amüsante Weise die Absurdität bewußt macht. In solchen Details des Dialogs und der Handlung sind Agatha Christies Romane auf scharfe Weise kritisch und untergraben die gesellschaftlichen Strukturen, die ihr ideologischer Hintergrund ohne Zweifel aufrechterhält.
Vielleicht die größte Ironie von allen ist die Beliebtheit der Marple-Romane. Ausgerechnet diese ungeheuer erfolgreichen Geschichten, die den Erben Agatha Christies riesige Geldsummen einbringen, von Tausenden von Leserinnen leidenschaftlich gern gelesen und als Fernsehfilme von Tausenden von Zuschauerinnen begeistert verfolgt werden, stellen die bescheidenste und häuslichste Form des Detektivromans dar. Wie wir in den nächsten beiden Kapiteln sehen werden, gelingt Agatha Christie diese eindrucksvolle Demokratisierung des Genres, indem sie Vorurteile gegen Frauen (daß ihr Leben unbedeutend ist) und gegen alte Menschen (daß sie töricht und langweilig sind) verarbeitet. Die Miss Marple-Romane weisen darauf hin, daß sich um die kleinsten Dinge des Lebens eine Logik rankt, die zugleich unerbittlich in die tiefsten Tiefen der Gesellschaft und der menschlichen Psyche hineinreicht. Und sie führen vor, daß Frauen, insbesondere alte Frauen, durch ihre Beschäftigung mit den banalen Dingen des Lebens ein logisches Denkvermögen besitzen, das sie zu idealen Sachverständigen für Gerechtigkeit und sogar zu Werkzeugen des Schicksals macht:

»Weißt du, mein lieber Raymond [sagte Miss Marple], wenn ich [Macbeth] aufführen würde, würde ich die drei Hexen völlig anders zeigen. Bei mir wären sie drei ganz normale alte Frauen. Alte Schottinnen. Sie würden nicht tanzen oder herumhüpfen, sondern einander nur ziemlich verschlagen ansehen, aber hinter der Fassade ihrer Gewöhnlichkeit könnte man die Bedrohung spüren.« (Ruhe unsanft), Kap. 8)