Lesen, Phantasie, Weiblichkeit - »Die Dornenvögel«

Autobiographie

Das Lesen ist, liebe Leserin, eine sexuelle Tätigkeit. Das entdeckte ich schon während der Pubertät, als ich das erotische Potential einer bereits zwanghaft gewordenen Tätigkeit zu erfahren begann. Narrative Freuden verloren ihre Unschuld; Erwachsenenbücher mit ihren packenden Szenarien von Verführung und Treuebruch hielten mich in Bann. Ich las mit klopfendem Herzen und umherwandernden Händen und reduzierte Achtbares wie Populäres auf einen elementaren Bestand von Handlungsabläufen. Peyton Place, Jane Eyre, Bleak House, Nana: Als Teenager waren sie für mich alle gleich; als Teil meiner sexuellen und emotionalen Initiation bestätigten und konstruierten sie meine Weiblichkeit, machten mir die psychische Form der Differenz klar. In meinem linksgerichteten, aber recht puritanischen Elternhaus voller Bücher hielt ich meine Art zu lesen ziemlich erfolgreich geheim; schließlich war ich, die mit dreizehn schon den ganzen Dickens las und nur ein Jahr später eine Leidenschaft für Zola entwickelte, meinen Jahren beachtlich voraus, oder? Ich allein wußte, daß ich sie um des sentimentalen und sexuellen Rausches willen verschlang. Körperlich war ich eine Spätentwicklerin, schon lange bevor ich frauliche Formen annahm oder menstruierte, hatte ich mich, psychisch gesehen, zur erwachsenen Frau heran »gelesen«. Meine Differenz als Leserin war vielleicht das erste und zugleich wichtigste Zeichen für die psycho-sozialen Implikationen meiner Weiblichkeit. Und es wurde durch ein Erlebnis mit Margaret Mitchells Vom Winde verweht bestätigt, das ich mit etwa vierzehn Jahren las. Wie viele Leserinnen dieses erfolgreichen Liebesromans las ich ihn in einem Zug, zu vertieft in die Handlung, um an essen oder schlafen zu denken. Ich las schnell, dennoch muß ich zwei Tage gebraucht haben-, überblättern ging nicht, da die Liebeshandlung
fast den ganzen Roman einnimmt. Meine Sucht wurde bemerkt, weil das Buch selbst nicht gutgeheißen wurde; pro-Südstaaten, schamlos rassistisch sowie in den Augen der Eltern ohne jeden literarischen Wert, verband es eine politisch reaktionäre mit einer emotional reaktionären Erzählung. Ich hatte es spät nachts ausgelesen, und das Ende hinterließ mich verzweifelt, der Hysterie nahe. Wie konnte die Autorin eine glückliche Lösung verweigern? Wie konnte Scarlets moralisches, sexuelles und emotionales Erwachen »zu spät kommen«? Auf der Ebene des psychischen Melodrams stellte Vom Winde verweht für mich klar, was  ich auf politischer und sozialer Ebene bereits wußte und bei der Exekution der Rosenbergs heftig empfunden hatte: Das Leben war ungerecht, konnte ungerecht sein. Und ich begegnete dieser Einsicht mit lautem Wut- und Schmerzensgeheul. Meine Mutter führte mich ins Bad, und in meinem, nicht ihrem Gedächtnis übergoß sie mich mit kaltem Wasser, um mein Schluchzen zu beenden. Ich schämte mich meiner mangelnden Selbstkontrolle, von einem »schlechten« Buch so gebannt zu sein, denn dies war das Amerika der mittfünfziger Jahre, und mein Gefühl für soziale Gerechtigkeit, mein politisches Bewußtsein waren gut entwickelt. Als politisches Subjekt wußte ich, auf wessen Seite ich war. In jenen Jahren kam ich nachmittags aus der Schule und lauschte im Radio den Army-McCarthy-Verhören, knabberte Kekse und trank Milch und bejubelte jeden Punktverlust der Rechten. Ich war ein optimistisches Kind; selbst in jenen dunklen Jahren glaubte ich, daß die Kräfte des Fortschritts am Ende siegen würden, und genauso hoffte ich auf die zukünftige Verwirklichung meiner sexuellen und emotionalen Phantasien, obgleich hier der Lohn genauso weit entfernt schien wie die Revolution. Beide Elternteile empfanden meine sklavische Hingabe an die Weiblichkeit der fünfziger Jahre, ihre hemmende Mode, die uns mit Spikes versah, und ihre Macho-femme-Ausprägung der Geschlechtsunterschiede, als regressiv und besorgniserregend. Für mich waren jedoch meine politischen und sexuellen Wünsche miteinander verbunden: utopisch und grenzüberschreitend. Das machte meine Reaktion auf Vom Winde verweht noch widersprüchlicher, denn es war nicht nur, nicht einmal in erster Linie, Scarlet, die mich anzog, sondern das gesamte Szenarium von vergeblichem Tun, sexuell wie politisch, sowie vor allem Rhett Butler, der wissende und begehrende Protagonist. Ich war, glaube ich, von dem Buch hingerissen, weil dessen Lektüre in einem Haus, in dem es keine Zensur, sondern nur Wellen der Enttäuschung gab, ein Vergehen war. Der tiefe Süden und sein falscher Adel, Imitationsfeudalismus (den Mitchell zugleich bedauert und zelebriert) waren eine historische Scheinwelt, in der traditionelle Weiblichkeit unhinterfragt gelebt werden konnte, wenigstens auf einer Ebene. Vermutlich bestätigte das meine Vorstellung, daß weibliche Adoleszenz in weniger radikalen Haushalten der fünfziger Jahre mehr Anerkennung fand.
Doch Vom Winde verweht ist kein konventioneller Liebesroman und Scarlet keine konventionelle Heldin. Ihre Weiblichkeit ist Maskerade, dahinter liegt ein planender, aktiver, männlicher Ehrgeiz, zu überleben und voranzukommen. Nur ihre hoffnungslose Schwäche für den hoffnungslosen Ashley Wilkes kennzeichnet sie als konventionell weiblich. Eine widerwillige Mutter und im Umgang mit Männern unsentimental und asexuell, muß Rhett sie zur Sexualität erziehen; auch ihr Kind nimmt er weg, um in ihr mütterliche Gefühle zu wecken. Trotz all seiner Ma-choqualitäten ist Rhett, nicht Ashley, der mütterliche Mann, der die Dinge in die Hand nimmt, als Scarlets Eltern sterben und die sozialen Beziehungen im Süden auseinanderfallen. Er schützt Scarlet und lehrt sie, wie ein stolzer Vater seine Tochter, ein Mann, der Frauen mehr schätzt als Männer. Als er sie verläßt, ist sie ganz und gar verlassen und muß in ihre Kindheit zurückkehren, nach Tara, um neu anzufangen.
Für mich persönlich war es ein schmerzvoller Text voll Resonanzen, denn damals war ich in einen langen bitteren Kampf mit meinem Vater um meine Unabhängigkeit und seine Liebe und Anerkennung verwickelt. Aber ich denke, er sprach eine Menge amerikanischer Leserinnen an, für die der Süden vor dem Bürgerkrieg ein gewisser präkapitalistischer Ort der Familienromanze war, ein mythischer Moment fester sozialer Beziehungen, die der Bürgerkrieg für immer zerstört hatte. Für Leser/innen des 20. Jahrhunderts aus den Nord- oder Südstaaten waren die Konnotationen zur historischen Scheinwelt gleichzeitig paradiesisch und (durch Sklaverei und Illusionen) vergiftet, ihre gewaltsame Zerstörung war notwendig, damit der Süden in die moderne kapitalistische Industriegesellschaft eintreten konnte. Sher-mans Vergewaltigung von Georgia, Rhetts gewaltsame Verführung von Scarlet sind im Text analoge, vielleicht progressive Ereignisse, die in einer Welt der unerträglichen emotionalen Nostalgie stattfinden. Vom Winde verweht fordert die Leserin zur Regression auf, aber auch zur Weiterentwicklung. Als Parabel über die Geschichte des Südens und als romantische Erzählung mit inzestuösen Nebentönen ist es Geschichte und »Fantasy« aus der Position der Frauen gesprochen. Das ist bis heute so.
Natürlich brach meine romantische Lektüre nicht mit dem abgestandenen Kitsch mütterlicher Realität ab. Aber seitdem war ich innerlich dagegen gewappnet, so von meiner Lektüre mitgerissen zu werden. Regelmäßig las ich mehr als einmal bestimmte Texte, die mich auf der gleichen Ebene der Lust ansprachen wie Vom Winde verweht, und diese wichtigen Prosawerke lagen beiderseits der Grenze hoher und populärer Genres. Die beiden anderen Bücher, die mich in meinen Jugendjahren ähnlich berührten, waren Anya Setons historischer Roman Katherine und Anna Karenina. Es dauerte mehr als fünfundzwanzig Jahre, bis ein Roman bei mir jene unkontrollierbare Ebene der Phantasiereaktion auslöste wie dereinst Vom Winde verweht. Und wie kaum anders zu erwarten war, begegnete ich ihm zuerst als Fernsehserie. Colleen McCulloughs Die Dornenvögel lockte mich fort von dem respektableren Raj Quartet. Und ich war von der ersten Episode, die ich sah (nicht die erste überhaupt), so tief bewegt, daß ich sofort das Taschenbuch kaufte. Als ma-triarchale Familiensaga, die im Australien zwischen den Kriegen ihren Ausgang nimmt, überschreitet sie offene Grenzen, wo Vom Winde verweht subtil ist. Die ersten zwei Drittel des Buches konzentrieren sich auf die wachsende Liebe zu einem katholischen Priester, Ralph, und die allmähliche Verführung durch eine viel jüngere Frau, Meggie, die er kennenlernt, als sie erst neun ist. Inzest ist das einzige Motiv im Buch, das leicht verschoben wird; in der Figur Ralphs schafft die Autorin einen idealen mütterlichen Mann, einen femininen Mann, zu dem sexueller Zutritt natürlich tabu ist. Während es politisch zutiefst konservativ ist — mehr dazu später — eignet sich das Buch zeitgenössische feministische Diskurse über Sexualität auf interessante Weise an. Ich kenne keinen Mann, der es ohne professionellen Anlaß gelesen hat; doch wie Vom Winde verweht bricht es alle internationalen Verkaufsrekorde. Auch dieses Buch ist eine historische sexuelle Phantasie, die vom Standpunkt der Frau gewoben wird, und es thematisiert eindrucksvoll die widersprüchlichen, unversöhnten Gefühle über Weiblichkeit, Feminismus und Wunschvorstellungen, die diese Position, zumindest für weiße Leserinnen der reichen Welt, kennzeichnen. Anders als massenproduzierte Groschenromane und Schmonzetten bemühen sich diese dicken Erfolgsromane nicht um die Identifikation der Leserin mit einer einzigen weiblichen Hauptperson. Statt dessen schildern sie packende, sich überschneidende Handlungen, in denen die Beziehung zwischen Leser/in und Figur oft herrlich verschwommen ist. Sie laden, behaupte ich, die Leser/in ein, sich über die Geschlechtsunterschiede hinweg zu identifizieren und sich auf narrative Phantasien aus verschiedenen Subjektpositionen und auf verschiedenen Ebenen einzulassen. Die Dornenvögel bestätigt nicht eine konventionelle Weiblichkeit, sondern den zweideutigen, widersprüchlichen Platz der Frauen in der Geschlechtsspezifik. Feministische Kulturkritik hat eine höchst interessante Debatte über die Bedeutung des Lesens und Sehens von Liebesgeschichten geführt. Es folgt ein Beitrag zu dieser Diskussion, der untersucht, wie Texte wie Vom Winde verweht und Die Dornenvögel, psychologisch, politisch und psychoanalytisch betrachtet, derart breiten Anklang bei Frauen gefunden haben, indem sie die Leserin auf bestimmte Weise zentralisieren und die widersprüchlichen Elemente neu bearbeiten, die die weibliche Subjektivität zu einem so schwindelerregenden Erlebnis machen.

Geschichte

Roman, Phantasie und Weiblichkeit. Seit dem Aufkommen des populären Romans, der sich an ein weibliches Publikum richtete, hat die Beziehung zwischen diesen drei Begriffen progressiven und konservativen Analytiker/inne/n der Geschlechtsunterschiede gleichermaßen Sorge bereitet, nicht zuletzt jenen, die selbst narrative Prosa verfaßten. Die Begrifflichkeit der Debatte über das Lesen von Liebesromanen und ihre Beziehung zur Konstruktion der Weiblichkeit ist in den zweihundert Jahren, seit Mary Wollstonecraft und Jane Austen das Thema als Reaktion auf sensationelle, sich an Leserinnen richtende Literatur aufgegriffen haben, erstaunlich konstant geblieben.[2] Wollstonecraft und Austen waren sich einig, daß die »abgedroschenen Geschichten« und »schwülen Szenen« des Schauer- und sentimentalen Romans die weibliche Phantasie beflügelten und strukturierten, indem sie das Erotische und Romantische auf Kosten des Rationalen, Moralischen und Mütterlichen aufrührten. Beide meinten, solche Lektüre vermöge einen direkten Einfluß auf das Verhalten auszuüben — entflammte, aufgerührte Leserinnen könnten, wie Wollstonecraft es ausdrückte, »wahrhaft dem Laster verfallen«. Doch Wollstonecrafts zentrale Sorge galt nicht dem Lesen von Schund als Weg in den Ehebruch, sondern als Pfad in die konventionelle, abhängige, degenerierte Weiblichkeit — zur Positionierung des weiblichen Subjekts in der entwürdigten, abhängigen Rolle des »Objekts der Begierde«. Während sie Verteidigung der Rechte der Frauen schrieb, vertrat Wollstonecraft eine verhältnismäßig konventionelle Sexualmoral. Dennoch war sie weit weniger um die Gefahr für die weibliche sexuelle Tugend durch das Lesen von Liebesromanen besorgt, als um die weitreichenden politischen Auswirkungen solcher Genüsse. Wenn die erzählte Begierde die Leserin überflutete, war der Drang nach Vernunft dahin, die essentielle Brücke zu weiblicher Autonomie und Emanzipation, ein gestärkter »Verstand«, davongespült. Die weibliche Psyche war offenbar unfähig, zwei geistige Programme zu unterhalten oder zu kombinieren; für sie mußte es entweder Vernunft oder Leidenschaft, Genuß oder Wissen heißen. Austens Version dieser libidinösen Ökonomie war vielleicht etwas weniger extrem, aber nur weil ihr Bestreben für ihre Heldin/ Leserin eine weniger radikale, eingeschränkte moralische Eigenständigkeit innerhalb der geltenden Konventionen als Ehefrau, Mutter und Geliebte war. Moralische und geistige Integrität und bis zu einem gewissen Grad auch Unabhängigkeit waren für Frauen wichtig, doch eine Kombination von unabhängigem und produktivem Leben war in ihren Romanen nicht denkbar. Wollstonecraft und Austen nahmen wie die Mehrzahl jener, die heute das Lesen von Liebesromanen untersuchen, an, daß romantische Erzählungen durch recht einfache Formen der Identifikation auf die Leser wirken: Die Leserin verbünde sich mit der Heldin und erleide ihre Gefahren, Passionen und Triumphe. Die narrative Struktur des Erzählten »übernehme« den Alltag, und die Geschlechtsbeziehungen werden durch seine Versuchungen, Verführungen und Treuebrüche gelesen. Alternativ biete der Liebesroman eine Flucht aus den alltäglichen Realitäten; die Freuden der Phantasie betäuben die Widerstandskraft gegen Unterdrückung.
Wollstonecrafts implizierte Theorie des Lesens nimmt an, die Leserin werde sich mit der Heldin identifizieren. Das Lesen populärer Romane und die hervorgerufenen Phantasien sind auf einer Ebene von einer Identifikation zwischen Leserin und Heldin und auf das darauffolgende Durchleben einer verwandten narrativen Erlebnisfolge abhängig. Lesetheorien des späten achtzehnten Jahrhunderts, wie sie in ästhetischen und politischen Diskursen erschienen, gingen von einer ziemlich direkten Beziehung zwischen Lesen und Handeln aus, besonders bei naiven Lesern, dem kaum lesefähigen, ungebildeten Mitglied der Arbeiterklasse — und bei Frauen. In jener Epoche wachsender Leserschaften und politischer Unruhen stand die Frage der Lesefähigkeit im Zentrum sowohl der progressiven Programme, die die Masse des Volkes zu radikalisieren suchten, als auch des konservativen Widerstands gegen die Revolution. Große Aufmerksamkeit galt nicht nur den dynamischen Auswirkungen des Lesens auf ungebildete Subjekte, sondern auch der Unterscheidung zwischen Lesen als sozialer Handlung (ein Pamphlet, das im Kaffeehaus oder auf dem Dorfplatz vorgelesen wird, Bücher am Ofen zu Hause gelesen) und Lesen als privatem Akt, ungeregelt und von der Obrigkeit unbeobachtet. Beide Arten zu lesen können subversiv sein, aber letztere, die weniger Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle bietet und die geistige Autonomie einzelner, deren »Unabhängigkeit« nicht von der herrschenden sozialen und politischen Ordnung anerkannt wird, herausfordernder verkündet, bietet eine besonders hinterlistige Form der Subversion. Die Frage der lesenden Frauen, wie sie um 1790 verstanden wird, ist innerhalb dieser breiteren Ängste — Lesen und Revolution, Lesenkönnen und Subjektivität betreffend — angesiedelt.[3] Demgemäß wußten Wollstonecraft und Austen, daß Frauen lesen mußten, um überhaupt einen Mindeststatus als unabhängige Subjekte zu erreichen, und sie sorgten sich, beide auf unterschiedliche Weise, eher um etwas Komplexeres und weniger Greifbares, das von Sensationsgeschichten ausgehen könnte, als um den einfachen Impuls, sich falsch zu verhalten. Privates Lesen allein ist schon ein Akt der Eigenständigkeit, der seinerseits Raum für das Nachdenken schafft. Erzählende Prosa gibt den Gedanken eine narrative Form, und Sensationserzählungen erzeugen eine Art allgemeine Erregung, die »romantische Veranlagung«, die Wollstonecraft bekümmerte. Das Verlangen, sich in der verlockenden Landschaft aufzuhalten und lieber die Geschichten im Geist zu leben als die vermeintliche soziale Wirklichkeit, war mindestens so besorgniserregend wie jede spezifische Identifikation mit romantischen Heldinnen. Wollstone-crafts Analyse der Konstruktion einer entwürdigten und abhängigen Weiblichkeit in Verteidigung betont, daß, obwohl weibliche Kinder keine angeborene Sexualität besitzen — sie wies Rousseaus Behauptungen diesbezüglich erbittert zurück —, Frauen sich allmählich narzistisch durch die Augen der Männer sehen -, durch die Blicke des Lüstlings werden sie »selbst zu Lüstlingen«. Hier wurde weibliche Subjektivität durch ihre rückschrittliche Tendenz, die Subjektpositionen anderer anzunehmen und sich selbst als Objekt zu identifizieren, gekennzeichnet. Dies bereits labile, entwürdigte Subjekt (das schon während der Kindheits- und Jugendjahre entstand) las die Liebesromane und phantasierte. Für Wollstonecraft und Austen schuf und verstärkte populäre Sensationsliteratur ein Inventar an romantischen Szenarien, das die Leserin benutzen wird, um das alltägliche Leben zu interpretieren, um sich darin zu verhalten und um ihm zu entfliehen. Alle Aspekte dieser Lesewirkung sind »schlecht«. Jeder beinhaltet verschiedene Elemente von Projektion und Verdrängung; zusammen konstituieren sie den Negativeffekt von Romanlesen und Phantasie.
Im progressiven oder konservativen Denken des späten achtzehnten Jahrhunderts gab es nur ganz geringe Möglichkeiten, die Phantasien von Frauen, unteren Schichten oder von Kolonialvölkern positiv zu beschreiben. Für diese minderwertigen Untertanen war die Betätigung der Phantasie problematisch, denn die ungeschulte, »primitive« Psyche war leicht erregbar und verfügte nicht über Sublimationsstrategien. Eine stimulierende Erzählung führte zu Nachahmung und zu politisch oder sozial zerstörerischen Aktionen. Wenn Radikale die subjektive Gleichheit einer dieser Gruppen unterstützten, behaupteten sie normalerweise, ihre Verstandeskraft komme der des bürgerlichen Mannes gleich. Die Psyche des gebildeten Mannes der Mittelklasse war die ausgeglichene Psyche der Zeit: eine produktive Symbiose von Gefühl und Verstand. Männern dieser Klasse schrieb man eine beständige Positionalität zu. Radikale Diskurse präsentierten sie als den Ursprung eigener Identitäten, als sich entwickelnde eigenständige Subjekte, als Schöpfer und Kontrolleure von Erzählungen, nicht als ihre gefesselte Leserschaft. Diese Fähigkeit, selbst eine »Meister"erzählung zu schaffen, blieb wie ihre Vernunftbegabung für staatsbürgerliches, politisches Handeln in ihnen als Lesern latent vorhanden. Männer der herrschenden Klasse, so die dominante Mythologie, lasen kritisch, nicht um nachzuahmen, sondern sich produktiv mit Argument und Erzählung auseinanderzusetzen. Sie verstanden den Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit, Phantasie und Vernunft. Anders als seine leichtgläubigen Klassengenossinnen konnte der normative Leser einen Schauerroman einfach zum Vergnügen lesen. Wie der Dichter, dessen Schreibpraxis »Emotionen, die im nachhinein in ruhiger Stimmung erinnert wurden«, benutzte, waren die beiden Modi Vernunft und Gefühl immer zugänglich. Genauso konnte er zugleich Zugang zu einer privaten und einer öffentlichen Sphäre haben und sich frei zwischen ihnen bewegen. Die Aufklärung verlangte vom Mann, Gefühle dem Verstand unterzuordnen; die Romantik stritt um eine fruchtbare Interaktion zwischen beiden in der optimistischen Annahme, daß die Ratio die Gefühle zügeln und diese durch die Phantasie verwandelt und sublimiert würden. Mit dem Ausbreiten der Lesefähigkeit wird das Lesen zu einer der zentralen Fertigkeiten, durch die menschliches Können, Integrität, Eigenständigkeit und psychische Ausgeglichenheit eingeschätzt werden können. Und Lesereaktionen und -gewohnheiten werden zunehmend benutzt, um Leser nach Klasse und Geschlecht auseinanderzuhalten. Schon um 1790 wird dafür argumentiert, daß die Massen lesen lernen, weil es eine notwendige Voraussetzung für den Aufstieg einzelner und ganzer Gruppen sei, im Sinn der Vorbereitung auf soziale und politische Revolution, aber auch im Sinn einer Beschäftigung, der es gelingen sollte, die revolutionären Fluten einzudämmen. Thomas Paine treibt die Polemik am weitesten, indem er das Lesen mit bürgerlicher Freiheit an sich gleichsetzt und prophezeit, daß die Zensur sich bitter rächen und es gefährlich werden würde, einem ganzen Volk zu sagen: »Du sollst nicht lesen.« Lesen als Handlung und als Zeichen für Handlungen, die es hervorbringen kann, wird zur metonymischen Bezeichnung für Formen guter und schlechter Subjektivität, für vorhandene und mögliche soziale und psychische Seinsformen. So schließt Wollstonecraft 1792 ihre Schmähschrift gegen das Lesen von Liebesromanen mit dem unsicheren Satz: Es wäre besser, Frauen würden Romane lesen, als daß sie überhaupt nicht lesen

Phantasie

In den beiden ersten Abschnitten habe ich absichtlich den Begriff Phantasie in seinem heutigen, alltäglichen Sinn benutzt: als bewußte Konstruktion einer imaginären Szene, in der — wie ausnahmslos angenommen wird — Phantasierende sich selbst eine leicht zu identifizierende konstante Rolle in der Erzählung zuteilen. Diese alltagssprachliche Arbeitsdefinition ist an einigen Stellen in der Diskussion um Autobiographie und Geschichte brüchig, aber sie ist einigermaßen angemessen für eine vorläufige
Beschreibung von Phantasie als »Tagtraum«, als bewußte, geschriebene narrative Konstruktion oder als historische Analyse der geschlechtsspezifischen Vorstellungskraft. Wird Phantasie allein oder unreflektiert so gebraucht, wird jedoch die Beziehung zwischen Traum und Literatur angesprochen, ohne diese zu theoretisieren. Wenn wir diese Beziehung nicht wirklich durchdringen und zwischen Phantasie als unbewußte Struktur und als Form der sozialen Erzählung unterscheiden, wird es uns schwerlich gelingen, aus dem stigmatisierenden Moralismus auszubrechen, der die meisten Beschreibungen geschlechtsspezifischer romantischer Phantasie färbt und Liebesromane als »soziale Krankheit« darstellt, die die schwächere Konstitution der weiblichen Psyche befällt. Psychoanalytische Diskussionen der Phantasie sind nicht ganz frei von moralisierenden Elementen, aber wie Alison Light in ihrer aufschlußreichen Arbeit über Liebesromane, Sexualität und Klasse kommentiert, nimmt die Psychoanalyse zumindest die Frage der Freude ernst, in ihrer Geschlechtsbezogenheit und in ihrem Verständnis fiktionaler Texte als Phantasien, als Erforschung und Erzeugung von Verlangen, das über das sozial Mögliche oder Akzeptable hinausgeht.
Freud begann seine Arbeit über Phantasie, indem er die Beziehung zwischen Phantasie und Tagtraum wachrief — »Szenen, Episoden, Romanzen oder Fiktionen, die das Subjekt erschafft und sich im wachen Zustand erzählt«.[5] Aber mit der Weiterentwicklung seines Konzepts der Phantasie wurde deutlich, daß Phantasie auf mindestens drei verschiedenen Ebenen funktioniert — der unbewußten, der unterbewußten und der bewußten. Auf jeder Ebene drückt Phantasie soziale Inhalte aus, ist jedoch gleichzeitig von ihnen getrennt. So legt Juliet Mitchell in einer interessanten Diskussion über die Ursprünge von Phantasie ihren Entstehungsmoment als den Moment fest, wenn das Baby fern von der Mutterbrust das Saugen phantasiert und so die Außenwelt und die Dinge darin, Menschen, Geräusche, Gesehenes, Gerüche usw. in Sachvorstellungen verwandelt. Dieser Moment wird in der Psychoanalyse als der Moment der Begründung des Verlangens angesehen; wiederum nach Mitchell ist das der Moment, wenn das menschliche Tier zu einem Menschen wird. Somit bietet die Erfahrung der Außenwelt »die Stütze für das Szenarium der Phantasie, das entsteht, wenn diese fehlt«.[6]
Sexualität, Repräsentation, Phantasie, Subjektivität. In der psychoanalytischen Theorie ist die frühkindliche Phase der Ort, wo die Sexualität (Begierde) konstruiert wird. Und ebenso ist die Fähigkeit, fehlende Handlungen oder Freude zu repräsentieren, der Prozeß, durch den sich die Subjektivität — soziale und psychische Identität — formt. Eine psychoanalytische Theorie der Phantasie nimmt nicht nur »die Freude ernst«, sondern setzt die Fähigkeit, über Freude nachzudenken, in das Zentrum dessen, was uns als menschliche Subjekte ausmacht. Wenn wir akzeptieren, daß Phantasie diesen zentralen Platz im Seelenleben einnimmt, und wenn wir für den Augenblick ihren Prozeßcharakter hervorheben und sie nicht als Szenarium oder Satz von Szenarien sehen, können wir vielleicht mehr Sinn aus dem Problem machen, das sie für den Feminismus bedeutet hat. Denn das Eintreten für strenge prophylaktische Maßnahmen, um Frauen von romantischer Phantasie zu »heilen«, hat in der gegenwärtigen Frauenbewegung wie in der davor zu Rückschlägen und innerer Unruhe geführt. Von romantischen und sexuellen Phantasien der falschen Art abzulassen, hat sich als sehr schwierig erwiesen, vielleicht weil ihr hartnäckiges Vorhandensein im Phantasieleben von Frauen nie einfach ein Zeichen ihrer psychischen Unterordnung unter patriarchale Beziehungen sein kann, sondern immer gleichzeitig auch ein Merkmal für ihre Menschlichkeit ist.
Im folgenden betrachten wir Die Dornenvögel als Beispiel dafür, wie Romane, die in den letzten fünfzehn Jahren für und von Frauen geschrieben wurden, die hartnäckigen Szenarien der Phantasie in ihrer Beziehung zum feministischen Diskurs umschreiben können. Zuerst muß mehr über die spezifische Freud'sche Ausführung einer Theorie der Phantasie gesagt werden. Es ist hilfreich, drei wichtige Elemente des Freud'schen Gebrauchs der Phantasie herauszufiltern: erstens die Spezifikation der Beziehung des klassischen Phantasieszenariums zum Platz, den das Subjekt darin innehat; zweitens die Beschreibung der Beziehung verschiedener psychischer Ebenen zueinander, in denen Phantasie auftritt; drittens ihre problematische Sicht der Ursprünge frühester oder unbewußter Phantasie.
Mein Verständnis der Freud'schen Verwendung von Phantasie verdankt zwei interpretierenden Texten viel: der Eintragung zu Phantasie in J. Laplanche und J.-B. Pontalis Das Vokabular der Psychoanalyse, und dem Aufsatz »Fantasy and the Origins of Sexually«[7] (1968) derselben Autoren. Insbesondere der letztgenannte erforscht die Frage der Positionalität des Subjekts in der Phantasie. Die Autoren beginnen, indem sie hervorheben, daß es die »primäre Funktion der Phantasie« sei, »einen szenischen Hintergrund für das Begehren« bereitzustellen.[8] Das Szenarium ist somit jeder bestimmten Identifikation des Subjekts mit einer einzelnen Figur in der Szene vorgeordnet, und solche Identifikation kann ja auch im Lauf eines Phantasieszenariums wechseln. (Das Freud'sche Beispiel ist sein suggestiver Aufsatz: »Ein Kind wird geschlagen.«[9] ) Radikaler behaupten Laplanche und Pontalis, das Fixieren der Subjektidentifikation sei ohnehin nicht das Ziel des Phantasierens. Indem sie auf die enge Beziehung zwischen dem Ingangsetzen des Wunsches im psychischen Subjekt und dem Ursprung der Phantasie hinweisen, argumentieren sie, daß:

  • »die Phantasie nicht das Objekt der Begierde ist, sondern ihr Hintergrund. In der Phantasie verfolgt das Subjekt weder das Objekt noch sein Zeichen: es scheint selbst in die Folge der Bilder eingefangen zu sein. Es bildet keine Repräsentation des begehrten Objektes, sondern ist in der Szene selbst als Teilnehmender repräsentiert, obwohl ihm in den frühesten Formen der Phantasie kein fester Platz darin zugeordnet werden kann... Das Ergebnis ist, daß das Subjekt, obwohl stets in der Phantasie anwesend, in einer ent-subjektivierten Form anwesend sein kann, das heißt, direkt in der Syntax der Sequenz selbst [10]

Weiterhin wird der Punkt, an dem der Wunsch entsteht, der Punkt der Trennung des Subjekts von den sinnlichen Objekten der Befriedigung, schon früh in der psychischen Entwicklung zu einem Punkt, an dem Verbote einsetzen. So wird die Phantasie der »Lieblingsort« für die Artikulation jener Schutzmechanismen, mit denen die Psyche mit solchen Verboten umgeht. Phantasieszenarien sind selten unmittelbar zugängliche Erzählungen, in denen der Wunsch durch ein Subjekt/einen Protagonisten, der sich auf der Jagd nach dem Objekt befindet, repräsentiert ist. Dennoch wird zumeist angenommen, daß die Phantasien, die durch geschriebene oder visuelle Fiktionen stimuliert werden, gerade so funktionieren. Insbesondere haben die Analysen massenproduzierter Liebesromane auf die Kongruenz zwischen Leserin und Heldin und auf die Kohärenz zwischen sozial normativen Modellen heterosexueller Romanzen und Liebesgeschichten verwiesen. Weiterhin wird von massenproduzierten Liebesromanen oft angenommen, daß sie das grundlegende Schema oder Szenarium der romantischen Phantasie verkörpern, das dann in anspruchsvolleren oder komplexeren Erzählungen ausgestaltet wird. Letztere können Romane aus dem Kanon der hohen Kunst sein, wie Ann Radcliffes Schauerroman-Meisterwerk Mysterien of Udolpho oder Brontes Jane Eyre, oder aber bessere moderne Schmöker, Bestseller, Schmonzetten, historische und Familienromane. Wie Tania Modleski jedoch in Loving Witb a Vengeance: Mass-produced Fantasies for Women — das sich mit drei Genres massenproduzierter Phantasien befaßt, Groschenromane, Schauerromane und Familienserien — überzeugend argumentiert, ist es nützlich, Liebesromane nach Typen zu unterscheiden, wenn über die Beziehung zwischen verschiedenen Erzählungsarten und weiblicher Subjektivität nachgedacht wird.[11] Modleski betrachtet jedoch das Fehlen einer einfachen Leserin-Protagonistin-Identifikation im Text als »Problem« — und zwar als eins, das auf eine Kritik nicht der Romane, sondern »der Bedingungen, die sie notwendig machten«,[12] hinzielt. Ihre Analyse der Racheerzählung unterhalb der Verführungserzählung ficht die Vorstellung vom einfachen Szenarium massenproduzierter Liebesromane überzeugend an. Trotzdem ist ihre Diskussion der Identifikation der Leserin mit der Heldin enttäuschend, denn es ist ihre Strategie, die »schizophrene«, »unpersönliche« Lesewirkung bei Groschenromanen (wo die Leserin immer mehr weiß als die Heldin) mit der Situation der Hysterikerin zu assoziieren, so als wäre sich im dramatischen Skript von außen zu sehen ausschließlich ein Zeichen weiblicher Leiden, eine Form der Spaltung, die eine reformierte soziale Welt heilen könnte und sollte.[13] Ähnlich tendiert ihr Vergleich der Formel für den Schauerroman mit der Paranoia, obgleich er sich nicht darin verfängt, entweder Leserin oder Text als krank abstempeln zu müssen, dazu, bestimmte narrative Elemente — den Gebrauch des femininen Mannes im Schauerroman — als Subjekt/Objekt-Beziehungen darzustellen. Ihr Buch rekurriert auf Freud, neigt aber dazu, ihn durch eine feministische Aneignung der psychoanalytischen Theorie zu lesen, die die Rolle von Objektbeziehungen bei der Formung der Subjektivität betont, anstatt diese durch eine Vorstellung der Phantasie als Szenarium zu verstehen, in dem der wechselnde Ort des Subjekts und die Entsubjektivierung ein charaktistischer Teil sind.14 Ihre Analyse ist dementsprechend geschlechtsgebunden. Das weibliche Subjekt/Leserin hat, wie sie meint, eine aktive psychische Beziehung zu den Texten, in denen die Heldinnen als passiv gezeichnet werden, aber sie muß im Text den Platz eines weiblichen Subjekts einnehmen. Die Überschreitung von Geschlechtergrenzen als Teil des Lese- und Phantasieaktes spielt in ihrer Analyse keine wesentliche Rolle.
Für Laplanche und Pontalis ist jedoch die Veränderlichkeit des subjektiven Ortes in Phantasien ein Schlüssel zur heterogenen Natur der Phantasie selbst, für die gemischte Form, in der sie uns meist in Tagtraum, Erinnerung und Traum begegnet. Die fehlende Subjektivierung der Phantasie in originären Phantasie-szenarien — Urszene, Verführung und Kastration — kann nicht klar vom angenommenen Ort des Subjekts im Tagtraum als einer Erzählung in der »ersten Person« abgehoben werden, in der der subjektive Ort »klar und unveränderlich« ist. Denn obwohl die »Arbeit unserer wachen Gedanken« die Traumszenen organisiert und kohärent macht, einem zusammenhanglosen Traum die Form eines Tagtraums aufzwingen mag und so das Material in bezug auf eine bestimmte Subjektposition rationalisieren kann, verweigern einige typische Wachphantasien das Aufzwingen dieser Art von narrativem Realismus. Zur Stützung ihres Arguments zitieren Laplanche und Pontalis insbesondere »Ein Kind wird geschlagen«, wo Freud feststellt, daß im Lauf der Phantasie sowohl das Geschlecht des Kindes als auch des Schlagenden wechseln, sowie seine »Deckerinnerungen«, bei denen das Subjekt das Selbst in der erzählten Rekonstruktion als eine Figur des Geschehens sieht. In der Analyse der Instabilität der Subjektposition in Verführungsphantasien gehen sie noch weiter:

  • »,Ein Vater verführt eine Tochter', mag die Zusammenfassung der Verführungsphantasie sein... es ist ein Szenarium mit vielfachen Zugängen, in dem nichts darauf hinweist, ob das Subjekt unmittelbar als Tochter lokalisiert werden wird: es kann genauso als Vater bestimmt werden oder sogar im Begriff verführt.«[15]

Freud betont die »tiefe Verwandtschaft« der originären, unbewußten Phantasie mit der bewußten Phantasie und ihr Fortbestehen durch ganz verschiedene Formen und Stadien des psychischen Lebens, indem er feststellt:

  • »Die klar bewußten Phantasien der Perversen, die unter günstigen Umständen in Veranstaltungen umgesetzt werden, die in feindlichem Sinne auf andere projizierten Wahnbefürchtungen der Paranoiker und die unbewußten Phantasien der Hysteriker, die mar durch Psychoanalyse hinter ihren Symptomen aufdeckt, fallen inhaltlich bis in einzelne Details zusammen.[16]

Das Fortleben und die Wiederholung bestimmter Phantasieszenarien im psychischen Leben von Männern und Frauen mit sehr unterschiedlichen psychologischen Störungen und die Ambigui-tät von Subjektpositionen in den Elementen originärer Phantasie, die in Traum, Ausleben und Wach träum eingehen, diese Aspekte von Freuds Arbeit zur Phantasie (von Laplanche und Pontalis kommentiert) können zu einem ganz anderen Zugang sowohl zur in Liebesromane eingeschriebenen textlichen Phantasie als auch zur Inbesitznahme solcher Phantasien durch die Leserin führen. Freuds Entwicklung seiner Ideen über Phantasie war, wie Laplanche und Pontalis behaupten, von einer »Am-biguität der Konzeptionen« gekennzeichnet, »weil sich ihm mit jedem neuen Schritt seiner Ideen neue Wege eröffnen«.[17] Verfolgen wir jedoch Laplanche und Pontalis' Weg durch dieses konzeptuelle Gestrüpp, so wird deutlich, daß wir uns vom Phantasieren als einer Aktivität, die dazu dient, Subjektpositionen festzulegen, fortbewegen, ohne uns zu einer Form der Umkehrung hinzubewegen, in der die weibliche Phantasie wegen ihrer aktiven psychischen Prozeßhaftigkeit zu einer moralisch befreienden Aktivität für Frauen wird. Phantasie beinhaltet, wie Modleski sagt, utopische Elemente; ohne Phantasie könnten wir keine Utopien entwerfen. Aber das Phantasieren an sich ist eher ein entscheidender Teil des psychischen Lebens, ein Prozeß, der notwendig ist, um menschliche Sexualität und Subjektivität situieren und artikulieren zu können, als etwas, das entweder gut oder schlecht ist, oder etwas, von dem wir zu viel oder zu wenig haben können. Wie Phantasie mit ihrem wachsenden narrativen Appetit soziale Bedeutung vereinnahmt und einbaut und durch die öffentlichen narrativen Formen die historisch verfügbaren Geschichten und Subjektivitäten strukturiert — dieser Aspekt der Phantasie ist noch für die politische Analyse und Diskussion offen. Aber die Art und Weise, wie das Subjekt/Leserin sich auf textliche Phantasien einläßt, die originäre oder Urphantasien — in denen Entsubjektivierung typisch ist — mit Reverie und Tagtraum verbindet, wo die Identifikation in der »ersten Person« häufiger ist, ist eindeutig komplexer, als die meisten Beschreibungen des Lesens von Liebesromanen bisher eingestehen.
Das am wenigsten befriedigende Element in Freuds Erforschung der Phantasie ist seine phylogenetische Lösung der Frage nach den Ursprüngen der grundlegenden Phantasieszenarien, der Beobachtung des elterlichen Beischlafs, Verführung und Kastration. Die Suche nach einer Vorgeschichte dieser Phantasien, die selbst die Frage nach den Ursprüngen stellen, ist, wie Laplanche und Pontalis bemerken, nur ein Aspekt von Freuds vielseitiger Diskussion der Phantasie. Die phylogenetische Erklärung setzt die »Akte« und »Szenen« der Urphantasie als »wirkliche Geschehnisse in den Urzeiten der menschlichen Familie... Kinder füllen in ihrer Phantasie lediglich die Lücken in der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit«.[18] Tatsächlich füllt die phylogenetische Erklärung selbst bis zu einem gewissen Grad die von Freud bei seinem Anwenden der Verführungstheorie hinterlassene Lücke und damit die Vorstellung, der Analytiker könne ein verifizierbares echtes Ereignis hinter der Erwachsenengeschichte aufdecken. Die phylogenetische Erklärung liegt zugleich in Übereinstimmung mit und in Gegensatz zu Freuds Konzept der »psychischen Realität«, die dem psychischen Leben eigenständige Identität zugesteht. Ihre Existenz zeigt, wie wichtig es Freud war, einen »Grundstein des Erlebnisses« irgendwo außerhalb der erzählten Phantasien erwachsener Patienten festzumachen, zunächst in der Urphantasie und dann, wenn nötig, in der »Gattungsgeschichte«. Die Suche nach der wahren Geschichte in der Geschichte eines einzelnen Subjekts kann in Freuds Arbeit noch viele Jahre, nachdem er die Verführungstheorie verworfen hatte, gefunden werden und zeugt von seinem Verlangen, die Theorie auf ein Realitätsprinzip hin zu gründen, selbst wenn es auf mythischer statt historischer, metaphysischer statt materieller Ebene angesiedelt war.
Die moderne psychoanalytische Theorie ist verständlicherweise mit mythischen Vorgeschichten nicht glücklich, und sie neigt dazu, die Suche nach der Urphantasie zu ignorieren oder zu verschieben oder einfach mit Laplanche und Pontalis zu gestehen, daß dies ein Projekt für »Philosophen« sei. Trotzdem weist Freuds Aufnahme in Vorstellungen vom »Primitiven« und »Archaischen« als einem Inventar sozialer Praktiken darauf hin, wie sehr die Urphantasie moralisch und ethisch fragwürdig bleibt. Ihre Szenen sind nicht allein Verbotsdramen, sie bleiben auch von dem Tabu, das sie inszenieren, gezeichnet. Als Begründung der Sozialität und der Identität sind sie immer zugleich Skripten, die Andersartigkeit und Ausgrenzung definieren. Sich eine mythische Vorgeschichte für die klassischen Urszenarien vorzustellen, in denen Väter tatsächlich Kinder kastrierten, ruft derzeitige Vorstellungen von »primitiven« Praktiken wach, lädt uns ein, synchron kulturübergreifend sowie diachron historisch zu denken. Kurz, die phylogenetische Erklärung bemüht andere Systeme der Differenz, interkulturelle und intersubjektive Differenz, um die Grundlegung des Geschlechtsunterschieds zu erklären. Sie führt in die Diskussion über Phantasie den kolonialen Diskurs der »Andersartigkeit« ein, in dem entwürdigte Subjekte die verbotenen Szenarien europäischer Kultur ausleben.
Das unterschwellige Moralisieren der verschiedenen Phantasieebenen über die Beschwörung rassischer Hierarchie findet an einem Punkt in Freuds Arbeit über die »hybride« Natur der Phantasie als bewußte und unbewußte Formen, in Tagtraum und Traumfassade, sehr direkten Ausdruck. In Das Unbewußte (1915) benutzt Freud das Beispiel von »Individuen gemischter Rasse«, um zu illustrieren, wie die Urphantasie ihre Ursprünge zugleich verbirgt und offenbart, wenn sie in scheinbar kohärente, anspruchsvolle Phantasieerzählung eingebettet ist. Die verbesserten Phantasien, die sich als »hochorganisiert« präsentieren, scheinen auf den ersten Blick Teil des rational integrierten Bewußtseinssystems zu sein. Doch wie Freud bemerkt, werden sie durch die Interpretation demaskiert:

  • »Ihre Herkunft bleibt das für ihr Schicksal Entscheidende. Man muß sie mit dem Mischling menschlicher Rassen vergleichen, die im großen und ganzen bereits den Weißen gleichen, ihre farbige Abkunft aber durch den einen oder anderen auffälligen Zug verraten und darum von der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben und keines der Vorrechte der Weißen genießen.«[19]

In seinem Vergleich benutzt Freud eine biologische Basis für rassische Differenz. Seine Annahme, das soziale Erkennen von Differenz werde automatisch zum Ausschluß führen, stellt die Politik des Rassismus über die Regeln, die die Hierarchie der psychischen Diskurse steuern. Weniger Metapher als Begriff svertau-schung, appelliert dieses beunruhigende Bild an zugleich biologische und soziale Vorstellungen von entwürdigter Subjektivität und soziale Ausschlußformen als eine Art der Anzeige von unvollständig integrierten Phantasiediskursen. Die Überlagerung von Sexualität und Rasse vervollständigt sich in Freuds Beispiel, wenn wir lesen, daß die verräterische Form der Nase und die »Krümmung« der Haare das sind, was den außergesetzlichen Primitiven entlarvt. Mehr als alles andere offenbart diese Passage die beharrliche Verbindung zwischen Phantasie, sozialem Gesetz und den damit verwandten Formen entwürdigter und ausgegrenzter Subjektivität, eine Verbindung, die in Freuds Schriften politisch undurchsichtig und daher mehrdeutig bleibt.

Der Text: Die Dornenvögel

In »Die Rückkehr nach Manderley« gewinnt Alison Light du Mauriers Rebecca als Text zurück, der ein »klassisches Modell des Liebesromans« bereitstellt und »gleichzeitig viele seiner Kategorien bloßlegt«.[20] Ich möchte für Colleen McColloughs Die Dornenvögel, einem Familienroman, dessen Handlung 1915 im ländlichen Neuseeland einsetzt und 1965 in einem Londoner Stadthaus endet, eine ähnliche kritische Strategie anwenden. Mitte der siebziger Jahre von einer in Amerika lebenden australischen Emigrantin geschrieben, eignet sich der Roman subtil Elemente des feministischen Diskurses an und fügt die Sprache von Liebesromanen mit neuen Sprachen der Sexualität und der Geschlechtsunterschiede zusammen. Phantasie wird in Die Dornenvögel einigermaßen schamlos mobilisiert und zwar auf der inhaltlichen Ebene — dem narrativen Szenarium — wie auf der rhetorischen Ebene — den verschiedenen Stilen, die in der Geschichte die unterschiedlichen Register der Phantasie kennzeichnen. Mit diesen Mitteln verwebt der Roman einen scheinbaren sozialen Realismus mit einer Reihe originärer Phantasien, so daß der Text der heterogenen oder hybriden Form der Phantasie, wie sie in der Psychoanalyse beschrieben wird, gleicht. Wie in einem erzählten Traum rationalisiert der Text Phantasieszenen zu einer kohärenten narrativen Sequenz, doch tatsächlich ist die Handlung mit unwahrscheinlichen Vorkommnissen und Zufällen angefüllt, die von den Figuren und der erzählenden Stimme permanent gerechtfertigt werden. Die nicht plausiblen Handlungselemente und ihre ausgeklügelte Rationalisierung zeigen das Vorhandensein originärer Phantasie im Text an. Wie viele Familienromane verwendet Die Dornenvögel alle originären Gattungsphantasien oft in gegenseitiger Überlagerung und wiederholt sie abwechselnd in der Erfahrung verschiedener Generationen. Laplanche und Pontalis beschreiben diese Phantasiekategorien als: »Ursprungsphantasien: die Urszene stellt den Ursprung des einzelnen dar; Verführungsphantasien, Ursprung und Aufwallen der Sexualität: Kastrationsphantasien, Ursprung des Geschlechtsunterschieds.«[21]
Doppeldeutigkeiten hinsichtlich der Vaterschaft durchziehen den Text. Andeutungen über Inzest wirken sich auf fast alle familiaren und außerfamiliären Beziehungen aus und berühren Vater-Tochter-, Mutter-Sohn- und Bruder-Schwester-Bindungen. Diese Phantasieszenen sind aus der Position der Frau strukturiert und ausgeführt, was manchmal nur heißt, daß sie eine gemäßigt exzentrische Ausarbeitung der klassischen Phantasieskripten bieten. Zum Beispiel betont die Kastrationsphantasie in der Erzählung zugleich Mangel und Macht in Frauen und Müttern auf der einen Seite und Vergeltung durch jenen ewig abwesenden Vater, Gott, auf der anderen. Das für Familienromane typische Erzählen in der dritten Person erlaubt sehr freies Bewegen zwischen männlichen und weiblichen Positionen sowie den Einsatz verschiedener diskursiver Genres und Register. Außerdem gestattet es der Erzählung, den Rahmen festgelegter politischer Ideologien zu übernehmen, ohne daß die Figuren selbst dafür Verantwortung tragen. Wie Vom Winde verweht, doch mit entscheidenden Unterschieden, gehen Die Dornenvögel einer interessanten, zuweilen radikalen Untersuchung der Geschlechtsunterschiede innerhalb eines reaktionären Inventars von Mythen über Geschichte nach.
Den Kern von Die Dornenvögel bildet eine skandalöse Leidenschaft zwischen einem katholischen Priester, Ralph de Bricassart, und Meggie Cleary, um deren Familie der Roman sich dreht. Ralph begegnet Meggie, als sie neun Jahre alt ist, das einzige und recht vernachlässigte Mädchen unter vielen Brüdern. Ralph selbst ist ein auffallend gutaussehender, ehrgeiziger Priester irischer Herkunft von Ende zwanzig, der wegen einer Auseinandersetzung mit seinem Bischof vorübergehend an dieses entlegene Ende von Neu-Südwales verbannt ist. Ralph liebt das Kind ihrer Schönheit wegen und wegen ihrer »vollkommenen weiblichen Wesensart, passiv und dennoch ungeheuer stark. Eine Rebellin war sie gewiß nicht, ganz im Gegenteil. Ihr ganzes Leben würde sie gehorchen — würde nie versuchen, den Rahmen dessen zu sprengen, was man ihr weibliches Schicksal nennen mochte.« (S. 107)
Die erste Romanhälfte befaßt sich mit dem Schicksal der Clearys auf Drogheda, der riesigen australischen Schaffarm, die zunächst der matriarchalen Millionärswitwe Mary Carson und nach ihrem Tode der Kirche gehört, mit Ralph als ihrem Vertreter. Die Geschichte läuft in unwiderstehlich mußevollem Tempo auf die Verführung des stolzen, jungferlichen Ralph durch Meggie zu, deren weibliches Schicksal einigen recht grundsätzlichen Ungehorsam gegenüber Staat und Kirche einzuschließen scheint. Ralph »erschafft« Meggie, wie er später im Text seinem Beichtvater und Vorgesetzten im Vatikan berichtet; er bestimmt ihre Erziehung und ihr Empfinden von Kindheit an. Wie eine pflichtbewußte Tochter aus der Phantasie von Irgendwem erwidert sie seine scheinbar nicht sexuelle Liebe mit voller libidinöser Intensität. Mit großer Kunstfertigkeit spielt der Text die beiden Verbotsgeschichten aus, die familiäre und die kirchliche, die in Meggies und Ralphs Romanze verwoben sind. »Nenn mich nicht Vater«, beharrt er immer wieder und windet sich widerstrebend aus den Armen des heranwachsenden Mädchens, das bei jeder Gelegenheit über ihn herfällt. Ralph wird in Beziehung zu Meggie als Mutter, Vater und Geliebter präsentiert. Irgendwie ist es Ralph, in der Beichte, der die fünfzehnjährige Meggie über Menstruation aufklären muß, weil Mutter Fee zu sehr mit den Söhnen beschäftigt ist. Irgendwie ist es nicht Meggies gleichgültiger Chauvi-Ehemann, sondern Ralph, der rechtzeitig weit in der Wildnis ankommt, um ihr bei der ersten, schmerzhaften Geburt beizustehen.
Als idealer femininer Mann (er hat, wie er uns berichtet, ein Händchen für kleine Kinder) ist Ralph durch Stolz und Ehrgeiz an die Kirche gebunden, sicher, daß sie ihm eine transzendente Identität gewähren wird — »nein, kein Mann, niemals ein Mann. Um Größeres ging es ihm: um etwas, das weit emporragte über das Schicksal eines gewöhnlichen Mannes«. (S. 397) Als er mit über vierzig Jahren seine Unschuld verliert, entdeckt Ralph in medias res, daß er doch »nur ein Mann« ist, während Meggie erfährt, daß nur symbolischer Inzest und Gesetzesüberschreitung eine Frau aus ihr machen können. Ihr kurzer einwöchiger Vollzug findet auf einer entlegenen Südsee-Insel statt. Nach einem paradiesischen Zwischenspiel fährt Ralph nach Rom, wo er einer steilen Kirchenkarriere entgegensieht. Meggie trägt seinen Sohn aus und kehrt mit ihrer Tochter Justine von Ehemann Luke zum Familiensitz der Cleary auf Drogheda zurück. Hier unter dem gütigen Matriarchat ihrer Mutter (ihr biologischer Vater stirbt bezeichnenderweise vor ihrer Heirat und ihrem Ehebruch) wird sie ihre Kinder großziehen und sogar kurz zweite Flitterwochen genießen, wenn Ralph Jahre später auf Besuch nach Drogheda kommt.
Der 654 Seiten lange Roman behandelt größere Ereignisse im Leben von drei Generationen der Clearys sowie Ralphs Entwicklung vom Landpfarrer über sein gebrochenes Gelübde zum Kardinal. Wie bei Vom Winde verweht und anderen Familienromanen liegt ein Teil des Vergnügens im lokalen und historischen Detail. Der größte Teil der textlichen Energie wird jedoch für die gefühlvollen Begegnungen aufgespart; die Fähigkeit des Textes, die Leserin in Bann zu halten, hängt zumindest in der ersten Hälfte mit der unausweichlichen Entfaltung von Meggies und Ralphs Geschichte zusammen, ein Verführungsszenarium, das durch die Erzählung einer anderen langlebigen Phantasie, der Familiengeschichte, in der ein echter Elternteil als Schwindler abgelehnt und durch eine idealere Figur ersetzt wird, in den Vordergrund gespielt wird.
Das Inzestmotiv ist im Roman allgegenwärtig. Es durchzieht die echten Familienbeziehungen ebenso wie die metaphorischen. Im Haushalt der Clearys bleiben alle Söhne unverheiratet. Sie sind, wie Meggie Ralph in ihrem Inselidyll erklärt: »entsetzlich schüchtern... ganz in Mum verstrickt.«* Am meisten in Fee verstrickt ist der älteste Sohn Frank, das uneheliche Kind eines neuseeländischen Politikers, eines Halb-Maori. Durch ihre Affäre mit ihm hat Fee ihre soziale Stellung eingebüßt. Ihre anglikanische Oberschichtsfamilie verheiratet sie mit ihrem schüchternen Hilfsmelker, dem irisch-katholischen Einwanderer Paddy Cleary, und enterbt sie. Frank lebt ein ödipales Drama mit Paddy aus, den er für seinen richtigen Vater hält, bis er Paddy dazu treibt, seine Unehelichkeit zu offenbaren. Sie streiten sich. Frank nennt den Vater »einen stinkenden alten Bock... einen Rammler«, weil er seine Mutter abermals geschwängert hat, und der gekränkte Vater schimpft den Jungen »kein Deut besser als der dreckige alte Köter, der dich gezeugt hat, wer immer er gewesen sein mag!«. Dieser Streit ereignet sich vor dem Kind Meggie und Pater Ralph. Danach verläßt Frank sein Zuhause, begeht später Mord und wird zu Lebenslänglich verurteilt. Sein Schicksal wird im Text recht spezifisch als Fees Strafe für ihre sexuelle Überschreitung behandelt. In der zweiten Romanhälfte wird auch Meggie ihren heißgeliebten Sohn von Ralph verlieren, zunächst an die Kirche und dann durch den Tod. Die Symmetrie der Ereignisse wird durch die tiefe, doch geschlechtlich unschuldige Zuneigung in Bruder-Schwester-Paaren in jeder Generation untermauert: Frank und seine Halbschwester Meggie; Justine und Halbbruder Dane. In der männlichen Cleary-Sippe gibt es auch homosoziale Bindungen: die Zwillingsbrüder Patsy und Jim, die als symbiotisches Paar präsentiert werden. Und Die Dornenvögel erweitert und vervollkommnet die homosozialen, homoerotischen Motive, wenn auch nie sehr positiv, mit der Vorliebe von Meggies Ehemann Luke für seinen Arbeitskollegen Arne und in der Kirche mit der Freundschaft zwischen Ralph und seinem italienischen Mentor. Männliche Bindungen bilden im Buch ein schwerwiegendes Problem, auf jeden Fall für Meggie, die sich, wie sie sagt, von Männern angezogen fühlt, die Frauen nicht sehr brauchen und sich vor zuviel Nähe zu ihnen fürchten.[24]
Meggie (und Ralph) sind Zeugen zweier Urszenen — natürlich in diskursiver Form —, indem sie den Offenbarungen im Streit zwischen Paddy und Frank beiwohnen. Sie hören eine bild- und tierhafte Beschreibung des Aktes zwischen Paddy und Fee, sowie zwischen Fee und einem unbekannten Liebhaber, von dem wir später erfahren, daß er der Halbblut-Politiker ist. (Kinder interpretieren den elterlichen Koitus oft als Kampf.) Ralph befürchtet, daß Meggie durch die Beobachtung des Streits psychischen Schaden davonträgt. Der Text macht darüber keine reflektierenden Kommentare. Auf der narrativen Ebene ist der Streit in bezug auf die Folge der Phantasieszenen mit Meggie, die nun unausweichlich auf das Verführungsszenarium hinauszulaufen beginnen, zweifellos von Bedeutung als ein Stadium in der Zerstörung ihrer Unschuld und vielleicht auch als Untergrabung der väterlichen Autorität. Nachdem nun ein Teil der Frage, woher die Kinder kommen, erledigt ist, ist die nächste Phantasiesequenz jene, in der Ralph der übermäßig unschuldigen Vierzehnjährigen erklärt, daß sie menstruiert und nicht an Krebs stirbt. Für ein Mädchen, das auf einer Tierfarm aufwächst, wird Meggie als merkwürdig unaufgeklärt dargestellt. Die Autorin muß eine lange didaktische Rechtfertigungspassage einschieben, die unglaubwürdig behauptet, daß die sexuelle Arbeitsteilung auf der Farm zusammen mit der patriarchalen Prüderie von Paddy Cleary sie ganz und gar unschuldig gehalten hat.[25] Selbst dieser rührende Moment der Belehrung macht vor vollständigem Wissen halt. Als Ralph Meggie fragt, ob sie wisse, wie Frauen Kinder kriegen, liegt ihre Antwort ganz innerhalb des Phantasieregisters:

  • »Weil man sie sich wünscht.«
    »Wer hat dir das gesagt?«
    »Niemand. Das habe ich mir selbst überlegt.« (S. 162)26

Die nächste Szene in der Verführungssequenz ist der erste unbeabsichtigte Kuß zwischen Ralph und der sechzehnjährigen Meggie, den sie halb herbeiführt. Danach verläßt Ralph Drogheda für einige Zeit. In seiner Abwesenheit führt Meggie mit ihrem Vater ein Gespräch, das deutlich zeigt, daß sie glaubt, Ralph werde auf ihre Aufforderung hin die Kirche verlassen und sie heiraten. Paddy versucht ohne viel Erfolg, sie von dieser Illusion abzubringen.

  • »Pater de Bricassart ist ein Priester, Meggie. (...) Wenn ein Mann ein Priester geworden ist, gibt es für ihn keine Umkehr. (...) Jeder, der diese Gelübde abgelegt hat, weiß, daß sie niemals gebrochen werden dürfen. Pater de Bricassart hat sie abgelegt, und er wird sie niemals brechen. (...) Jetzt weißt du's also, Meggie, von nun an hast du keine Ausrede mehr vor dir selbst, wenn du von Pater de Bricassart träumst.« (S. 227)

Aber Paddy ist als Träger des Realitätsprinzips nicht überzeugend, weder für die Leserin noch für Meggie.
Nach einem weiteren erfolglosen Versuch, Ralph in den Stunden nach dem Tod ihres Vaters zu verführen, ist Meggie vorübergehend von der Notwendigkeit überzeugt, ihn aufzugeben. Sie heiratet Luke, einen der saisonalen Schafscherer, weil er sie im Aussehen an Ralph erinnert. Der Ersatz ist ein abscheulicher Reinfall, obwohl er McCollough reichlich Gelegenheit bietet, sich über die Inkompetenz des sexuellen Stils und die homosozialen Neigungen von Aussie-Männern der Arbeiterklasse auszulassen. Luke ist insofern wie Ralph, als er ohne Frauen auskommen kann und die Welt der Arbeit und der Männer vorzieht, aber er ist insofern anders, als er keinerlei hegende Eigenschaften besitzt. Der Text zeichnet in ironischem, bildhaftem Detail, den Stil einer Sexanleitung der sechziger Jahre mit einer feministischen Entlarvung der Heterosexualität kombinierend, Meggies schmerzhafte, stümperhafte Entjungferung auf. Luke läßt sie als Haushaltshilfe für eine behinderte Farmersfrau arbeiten und zieht von dannen, um mit den Männern Zuckerrohr zu ernten. Der Abschnitt des Buches, der Luke und Meggies kurze Ehe aufzeichnet, überzeugt durch Realismus und Lokalkolorit, aber Lukes übertrieben strafende Behandlung von Meggie ist zugleich eine Ausdehnung des Phantasieregisters der Erzählung. Ralphs zufälliges Eintreffen während Meggies schwerer Wehen ist die vorletzte Szene der Verführungssequenz. Er hilft ihr durch Menarche und Geburt und wird auf Matlock Island endlich ihren Wunsch erhören und sie sexuell nehmen.
Im Verlauf des Romans wird Sexualität in zumindest zwei unterschiedlichen Sprachen beschrieben; für Frauen angenehmer Sex wird im traditionellen Stil der Gattung Historischer Romane erzählt, schwül, andeutungsreich und vage — »Es war ein Gedicht aus Körpern gewesen, etwas aus Händen, Haut und tiefem Genuß« (S. 398) —, während schlechter Sex mittels des neuen pragmatischen Realismus der Nachkriegsprosa entblößt wird: »Mit einem tiefen Atemzug, der ihr den Mut bewahren sollte, biß sie die Zähne zusammen und zwang seinen Penis in sich hinein.« (S. 352)*
Ralph bumst Meggie im besten Barbara Cartland-Stil. Beim Verlust seiner Unschuld verliert er auch sein übersteigertes Selbstverständnis als über den Geschlechtsunterschieden stehend. Im sexuellen Genuß wird Meggies Weiblichkeit bestätigt. Meggie und Ralph zeugen ein männliches Kind, obwohl Ralphs Strafe darin besteht, davon erst nach dem Tod seines Sohnes zu erfahren. Da es sich hier um eine Phantasie aus der weiblichen Position handelt, kann es als ein weibliches Vorrecht angesehen werden, Männer über ihre Vaterschaft im dunkeln zu lassen. Die Frage nach den Ursprüngen wird durch die vollzogene Verführung für die nächste Generation erneut eröffnet, aber die Fragen nach Identität, Sexualität und Geschlechtsunterschieden sind für Ralph, Meggie und Leserin zunächst einmal gelöst.
Narrative Rationalisierung verbindet die Phantasieszenarien. Keine noch so erfinderische diskursive Rechtfertigung kann erklären, warum Meggie dem Streit zwischen Frank und Paddy beiwohnen sollte, einen Priester braucht, um über Menstruation zu erfahren, ihre Wehen für Ralphs Besuch programmiert — usw. Doch sind alle diese Ereignisse notwendig, um eine komplexe Phantasie zu konstruieren, eine Szenarienserie, in der die Position der Leserin zu Ralph und Meggie immer wieder wechselt. Bis zu dem Punkt, als die Sequenz ihren vorletzten Moment erreicht, läßt sich mit Recht behaupten, daß die Leserin zwischen der Frauen- und der Männerposition hin und her wechselt — die als Pole der Subjektivität und nicht als feststehende, bestimmte Identitäten repräsentiert werden. Denn es ist gänzlich unklar, ob diese Subjektpositionen tatsächlich mit den geschlechtsspezifischen Figuren Ralph und Meggie identisch sind.
Was trägt in Text und Kontext dazu bei, diesen Leseeffekt, der weitgehend für das Vergnügen am Roman verantwortlich ist, zu schaffen? Die Dornenvögel sind für ein weibliches Publikum gedacht. Und zwar für eines, das in den späten siebziger Jahren sicherlich Auswirkungen der Debatten um den Feminismus gespürt hatte, wenn auch oft nur in populärster, verwässertster Form. Selbst in den medialen Darstellungen des feministischen Diskurses hatte sich unter Frauen eine kritischere Einstellung zu traditioneller Männlichkeit und Weiblichkeit herausgebildet. Der akzeptable soziale Inhalt von Tagesphantasien hatte sich weit genug verschoben, um der Frau die Rolle der sexuell Initiativen zu gestatten, insbesondere, wenn sie wie Meggie auch ein Muster an Weiblichkeit ist, nur nach Ehe und Kindern verlangt und sich damit zufrieden gibt, auf dem Land dem modernen, städtischen, öffentlichen Leben fernzubleiben. Innerhalb der Gesetze der Phantasie kann Meggie zugleich aktiv und weiblich sein. Mit einigen wesentlichen Einschränkungen bezüglich ihrer sozialen Rolle bietet Die Dornenvögel der Leserin eine befreite, enthemmte Version der Verführungsphantasie, eine ausformulierte, gegenwarts-nahe Geschichte über »Tochter verführt Vater«, anstelle des althergebrachten »Vater verführt Tochter«.
Die meisten massenproduzierten Liebesromane sind, wie Modleski und andere zeigen, bei der konservativen, androzentrischen Version geblieben und zählen auf den Roman in der dritten Person, der auf die Frau im Text herabsieht, um so die aktive Frau als wissende Leserin in die Erzählung »Mann verführt Frau« einzuschreiben. Verschiebungen im öffentlichen Diskurs über Sexualität, insbesondere im feministischen Diskurs, machen es der Verführungsphantasie möglich, auf radikalere Weise in populärer Prosa neu geschrieben zu werden, indem sie der Erzählung selbst gestatten, die Regeln der Urphantasie vom Standpunkt der Frau auszudrücken, während sie uns durch die Figur Meggies rückversichern, daß eine solche Phantasie, so sehr sie auch soziale Regeln überschreiten mag, vollkommen feminin ist. Würde der Text dort enden, wäre er immer noch brisant, denn wenn wir die Beziehung zwischen Weiblichkeit und Überschreitung anders ausdrücken, besagt die Phantasiesequenz auch, daß das Verlangen einer Frau vollkommen grenzüberschreitend sein muß, um vollkommen weiblich zu sein. Doch die Rollenumkehrung in der Verführungsphantasie ist nur der erste und einfachste Schritt in der Umwandlung der Verführungsgeschichte.
Weit unerwarteter und exzentrischer ist die Art, wie Ralph in der Phantasie als femininer Mann und jungferlicher Priester mobilisiert wird. Kritik an traditioneller Macho-Männlichkeit gibt es in den populären Erzählungen der siebziger Jahre im Überfluß, vielleicht insbesondere in Hollywoodfilmen. Dezentrierte Männlichkeit kann durch eine Figur wie Ralph präsentiert werden, dessen mütterliche Eigenschaften durch seine öffentliche Macht ausgeglichen werden. Doch Ralphs weibliche Seite ist auch durch seine außerordentliche Schönheit, auf die er selbst in den frühen Szenen aufmerksam macht, und durch seine hochgeschätzte Unschuld bezeichnet. Als schönes und reines Objekt der Begierde steht er im Text an der Stelle der Frau und verdeckt oft Meggie. Als dezentrierter Mann schiebt Ralph Meggie als das zu verführende Objekt beiseite. Dieses Verwischen der männlich-weiblichen Positionen wird in allen Verführungsszenen außer der letzten durchgehalten.
Meggies Leidenschaft findet gewöhnlich geradlinigen Ausdruck. Ralphs wird durch das Tabu gebremst, so daß sein Verlangen von Scham, Abscheu und Entsetzen über seine ungeratene Libido, auf deren Kontrolle er so stolz ist, begleitet wird. »Ich kann ihn hochkriegen. Ich will es nur nicht.« (S. 166)* »Spinnengift«, »Schlangen«, »greulicher Trieb« sind die Bezeichnungen zur Beschreibung von Ralphs unzulässigem Verlangen nach Meggie. Dennoch wird Ralph schließlich von seiner Liebe zu ihr und von seinem unterdrückten Verlangen dahin bewegt, die Verbindung zu vollziehen; im letzten Szenarium ist es Ralph, der die Gelegenheit sucht und die Führung übernimmt und damit die Initiativen der Geschlechtsunterschiede wieder in die richtige Ordnung bringt. Der Moment absoluter Überschreitung, als Ralph sein kirchliches Gelübde bricht, wird von ihm später als eine andere Art »Sakrament« beschrieben. Es ist gleichzeitig der Moment, wenn die weitergehenden transgressiven Definitionen der Geschlechtsunterschiede, die der Leserin angeboten worden sind, zurückgenommen werden: Inzest macht aus uns allen wahre Männer und Frauen.
Handlung und Charaktere strukturieren nicht allein die Unbeständigkeit der Geschlechtsunterschiede im Text. Narrative Strategie und Sprache des Romans tragen wesentlich zu dieser Wirkung bei. Ein wichtiger Faktor ist das Erzählen in der dritten Person. Obwohl der Roman mit Meggies Traumata der frühen Kindheit beginnt und sie somit als Figur einführt, die schon im frühen Alter Verlust und Strafe erleidet, wird ihre Psyche stets auf Abstand gehalten; die erzählende Stimme ist erwachsen und, ihre Person betreffend, allwissend, ihr Ton mitfühlend und realistisch, doch niemals wirklich intim. Dagegen wird Ralphs Bewußtsein, insbesondere wenn seine Gefühle für Meggie berührt werden, durchgehend in lyrischen und philosophischen Tönen repräsentiert. Ganze Absätze spekulieren über Meggies Anziehungskraft auf den Priester:

  • »Hätte er tiefer in sich hineingeblickt, so wäre ihm vielleicht klargeworden, daß seine Empfindungen für sie das Ergebnis einer ganz bestimmten Konstellation waren, jener von Zeit, Ort und Person... Sie füllte in seinem Leben eine Leere aus, die sein Gott nicht ausfüllen konnte...« (S. 108)

Ralph »gestaltet« für Meggie einen Raum im Pfarrhaus neu, in dem sie als Ersatztochter installiert wird. Der Text »gestaltet« Ralphs Gefühle für sie und bietet uns darüber eine laufende innere Erzählung, während die wachsende Zuneigung Meggies für Ralph nur selten diskursiven Raum erhält. Der Text vermittelt uns eine »natürliche« Identifikation mit Meggie, wegen ihrer anfänglichen Priorität und weil sie die Frau im Roman ist, bietet uns aber eine verführerische alternative Identifikation mit Ralph als komplexerer und ausdrucksvollerer Subjektivität. Das Schwanken zwischen realistischer und lyrischer Schreibweise, die Sprengung der Regeln der Geschlechtsunterschiede sind zugleich prickelnd und schwindelerregend und machen damit etwas deutlich, das vielleicht immer für Liebesromane lesende Frauen zutrifft: Daß die Leserin sich mit beiden Seiten im Verführungsszenarium identifiziert, am stärksten jedoch mit dem Vorgang der Verführung selbst. In der Verführungssequenz in Die Dornenvögel ist der Begriff, in den die Subjektivität am profundesten eingeschrieben ist, das Verb verführt. Es ist zugleich enttäuschend und erleichternd, wenn das Szenarium zu einem traditionelleren Inventar der Positionen zurückkehrt:

»Nur fort, fort! Solange in dir noch ein Funken Stolz, ein Funken Selbstachtung ist...

  • Doch bevor sie die Veranda erreichen konnte, hatte er sie eingeholt... Vom eigenen Schwung herumgerissen, prallte sie hart gegen ihn...« (S. 396)

Es ist, als ob der Akt selbst, im Text so lange aufgeschoben, in der Erzählung so lange Thema von Tagträumen, die skandalöse Begegnung durch die sozial normative Verteilung geschlechtsspezifischer Aktivität und Passivität stabilisiert.
Es gibt noch eine ganze Palette von Bemerkungen über das Umschreiben der Geschlechtsunterschiede in Die Dornenvögel, doch für meine Zwecke hier mag die Bemerkung genügen, daß Meggies »befreite«, »zickige« Schauspielerin-Tochter zum Schluß eine typisch weibliche Verbindung mit einem chauvinistischen deutschen Finanzier eingeht, in dessen Hände Ralph die Führung des Familienhofes der Clearys gibt. Der Roman endet
im Augenblick der europäischen Moderne mit der Verbindung von Rainer und Justine. Gleichermaßen »Stars« im öffentlichen Leben, präsentieren sie auch sozial akzeptable und stark polarisierte Versionen von Männlichkeit und Weiblichkeit im späten zwanzigsten Jahrhundert, wo Männer, die in der Öffentlichkeit hart sind, privat zartfühlend und ehrgeizige, erfolgreiche Frauen im Herzen kleine Mädchen sind. Sie sind Phantasieelemente im »europäischen« Teil des Romans, aber sie bleiben relativ oberflächlich. Und das Verführungsszenarium zwischen Rainer und Justine ist auf jeden Fall richtig herum: »Mann verführt Frau.« Die Moderne erweist sich trotz allem als ziemlich altmodisch.
Die gewagteste Hinterfragung geschlechtsspezifischer Subjektivität wird in der Geschichte von Meggie und Ralph angesiedelt und durch Ur-Phantasie artikuliert. Der englischsprachige Subkontinent, Neuseeland und Australien vor dem Zweiten Weltkrieg, dort insbesondere die idealisierten ländlichen Handlungsorte Drogheda und Matlock Island, dienen als die »archaischen« und »primitiven« Schauplätze der Ursprünge moderner Sexualität und Geschlechtsunterschiede. Für australische Leser/innen funktionieren sie auf diese Weise historisch, ebenso wie der amerikanische Süden vor dem Sezessionskrieg für amerikanische Leser/innen oder das Yorkshire des neunzehnten Jahrhunderts für englische Leser/innen. Aber für eine »fremde« Leserschaft — und Die Domenvögel sind in Hinblick auf einen internationalen Lesemarkt geschrieben — sind die Schauplätze durch Distanz und Geschichte zweifach verschoben und mythologisiert. Es ist, als wäre, um John Lockes berühmte koloniale Metapher über Amerika zu paraphrasieren, am Anfang die ganze Welt unten auf der Südhalbkugel gewesen.
Ursprungsmythen brauchen Handelnde ebenso wie Schauplätze. In dieser Hinsicht revidieren Die Dornenvögel die biblische Weisheit nicht. Überschreitung und Sexualität werden durch Fees ehebrechische rassenübergreifende Affäre mit dem Halbmaori Pakeha in Gang gesetzt. Und ich muß zugeben, liebe Leserin, daß ich eine unzuverlässige Erzählerin war und ein entscheidendes Informationsstückchen aus dem Text zurückgehalten habe, um meine Argumente abrunden zu können. Als Fee und Meggie einander ihre Überschreitungen gestehen, läßt Fee eine wichtige Information heraus:

  • »Ich habe eine Spur Maori-Blut in mir, doch Franks Vater war zur Hälfte Maori. Bei Frank hat sich das so stark ausgeprägt, weil er von beiden Elternteilen etwas mitbekam. Oh, wie sehr habe ich diesen Mann geliebt! Vielleicht war es der Ruf unseres Blutes, ich weiß es nicht. (...) Er war alles, was Paddy nicht war — gebildet, kultiviert, überaus charmant. Ich liebte ihn bis zur Besessenheit.« (S. 471)

Wie wird diese Spur »Maoriblut« — wie Freud wählt McCullough eine rassistische Definition von Rasse — eingesetzt, um im Text die Erblichkeit von Transgression zu erklären? Zunächst verlangt die Einschreibung der Geschlechtsunterschiede in jedem historischen Augenblick nicht nur einen »originären« Mythos der Urszene, sie nimmt häufig auch einen dritten Begriff für soziale Unterschiede und Verbote auf, der als Schutz fungiert, vielleicht gegen den Schrecken des Kindes, das der Szene eigener Herkunft beiwohnt, oder in der Kastrations- und Verführungsphantasie gegen den Schrecken der Geschlechtsunterschiede selbst. Auf jeden Fall ist es interessant, daß dieser soziale Unterschied in modernen westlichen Mythen häufig zugleich rassische und spiegelnde Form annimmt und damit sexuelles Tabu und verbotenes Verlangen in kulturelles Tabu und Hierarchie projiziert und verschiebt.
Rassisches und religiöses Tabu dient in Die Dornenvögel dazu, den überschreitenden und sozialen Charakter originärer Phantasie auszudrücken, ganz so wie Rasse, Klasse und symbolischer Inzest in Die Sturmhöhe. Obgleich die Männer in diesen Texten den sozialen Zusammenhalt durch ihre »hybride« Natur und ihre trügerisch zivilisierte Fassade bedrohen mögen, stellt sich oft heraus, daß die Frauen, die sie lieben, jene sind, deren »wilde« Natur und echte Veranlagung zutiefst erschütternd wirken. Cathy, nicht Heathcliff, steht absolut außerhalb der Sozietät und klopft vergeblich ans Fenster. In diesen Texten, von und für Frauen geschrieben, sind Frauen am Ende dennoch für den schändlichen Ursprung von Sexualität und Geschlechtsunterschied verantwortlich. Die Dornenvögel erklären das ganz explizit, indem Fee eine Spur »Primitivität« als überflüssige rassistische Begründung beigefügt wird. Diese zwei anarchischen Frauen werden in der Erzählung durch ihre gewählte Rolle als Mütter und Matriarchinnen im Zaum gehalten. Indem sie auf der Plantage festgehalten werden, können sie der modernen Lösung der Geschlechtsunterschiede nichts anhaben und nicht in die öffentliche Sphäre eindringen.

  • »(...) ,Worin liegt der Irrtum, den wir begehen?' fragt Meggie Mum. ,Darin, daß wir zur Welt kommen', erwidert Fee.« (S. 474)

Die letzte Hälfte des Romans ist wegen der Normalisierung der Geschlechtsunterschiede enttäuschend — ähnlich wie der letzte Abschnitt von Die Sturmhöhe. Doch die wirklich besorgnisserregenden Elemente der europäischen Teile der Erzählung liegen in der geäußerten politischen Einstellung. Ich habe nur wenig über die lange und interessante Thematisierung der katholischen Kirche und der Priesterschaft im Roman gesagt, eine Thematisierung, die sich zweifellos im Dialog mit den reformistischen Debatten innerhalb des Katholizismus der siebziger Jahre befindet.
Doch während die Autorin, was die Keuschheit der Priester anbelangt, liberal katholisch denkt, sind ihre übrigen Ansichten über die Kirche alles andere als progressiv. Bei aller Erkenntnis über den wirtschaftlichen Opportunismus und die internen Kämpfe in der Kirche steht der Roman im Ganzen ihrem internationalen Einfluß unkritisch gegenüber, ja er verteidigt offen das bekannte Verhalten des Vatikans zum Faschismus. Seine Opposition zu Revolution wird als richtig und standhaft gewertet. Als Meggies und Ralphs Sohn Dane zum vollkommenen Priester wird, fährt er in Urlaub nach Griechenland, wo sein Besuch von einer bedrohlichen Menge überschattet wird, die lautstark zur Unterstützung von »Pap-an-dreo« auffordert.
Obwohl die Geschichte ein Aschenbrödel-Element enthält, werden Ursprung und Moral von Reichtum nie hinterfragt. Rainers Aufstieg zu Macht und Vermögen verleihen ihm im Roman gänzlich bewundernswerte und anziehende Eigenschaften. Mit Ralphs und Danes Tod wird er zum weltlichen Erben der Stellung, die die Kirche bis dahin in der Erzählung innehatte. Phantasien von Reichtum und Macht werden in Familienromanen häufig breit behandelt, wo sie sich mit Ur-Phantasien, die dort präsentiert werden, überschneiden und sie unterstützen. Wie Lace, Dallas oder Denver maskieren Die Dornenvögel die Herkunft des Reichtums, lassen ihn natürlich erscheinen und werten ihn auch dann noch auf, wenn sie die Natur sozialer Mythen und psychischer Phantasien über die Ursprünge der Sexualität und Geschlechtsunterschiede bloßlegen und bis zu einem gewissen Grad reflektieren. Es ist diese Aneignung der Phantasie, nicht die Phantasie selbst, die implizit gefährlich ist.
Die Lektüre von Die Dornenvögel sollte uns vor jenen halbgaren Vorstellungen warnen, die in bestimmte Konzepte »postmoderner« Kultur und des »Postfeminismus« eingebettet sind und die Zerstörung der Subjektivität und der Geschlechtsunterschiede als einen Akt radikaler Eigenständigkeit verstehen, mit einer Macht, die fähig ist, auch andere Hierarchien zu zerstören.
Die Dornenvögel bieten einen fesselnden und letztlich reaktionären Lesegenuß. In seiner schamlosen Rechtslastigkeit nimmt der Text an, seine Millionen Leserinnen hätten begonnen, sich progressive Gedanken über Sexualität zu machen, seien aber in ihrem Denken über andere politische und soziale Belange konservativ, desinteressiert und unreflektiert geblieben. Ja, blicken wir zurück auf meine anfängliche Analyse der Freude an Vom Winde verweht, so sichert der reaktionäre politische und soziale Hintergrund gewissermaßen einen privilegierten Ort, an dem die zerstörerischsten weiblichen Phantasien »in Sicherheit« genossen werden können.
Wenn wir uns fragen, warum Frauen so viele populäre Liebesgeschichten lesen und sehen, scheinen die Antworten einerseits sehr alltäglich und banal. Immer noch auf vielerlei bedeutende Weise von Macht und oft auch von Arbeit in der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen, wo die männliche Phantasie unzählige diskursive Formen annimmt, kann die Liebesgeschichte den Frauen einen der wenigen Zugänge zur öffentlichen Artikulation und der sozialen Erforschung des Seelenlebens bieten. Es erscheint falsch, zu behaupten, wie dies viele Studien über das Lesen von Liebesromanen tun, das Phantasieren sei eine weibliche Eigenart. Im Gegenteil, die Phantasie ist, wie Freuds Arbeiten zeigen, ein lebenswichtiger Teil unserer Konstitution als menschliche Subjekte. Weder der Inhalt originärer Phantasien noch die Position, aus der heraus phantasiert wird, können oder sollten stigmatisiert werden. Vielmehr muß das Bewußtsein über die beharrliche Natur dieser Phantasien bei Männern und Frauen und über die historisch spezifischen Formen ihrer Ausgestaltung ans Licht gehoben werden. Unsere Priorität sollte eine Analyse der progressiven oder reaktionären Politik sein, an die Phantasie in populärem Ausdruck geknüpft werden kann. Solche Erzählungen, die natürlich Fragen der Geschlechtsunterschiede ebenso wie Fragen von Rasse, Klasse und Machtpolitik ganz allgemein beinhalten, können neu geschrieben werden.

»Die Dornenvögel, zuerst im Mai 1977 in den USA in einer gebundenen Ausgabe erschienen, ist mehr verkauft worden als jeder andere Roman der letzten zehn Jahre. Übersetzungsrechte wurden in die ganze Welt verkauft und haben mehr Geld eingebracht als je zuvor bei irgendeinem Buch.«[22]
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Anmerkung zur Übersetzung der Dornenvögel
Ich habe mir die Freiheit genommen, die mit Sternchen gekennzeichneten Stellen aus dem Original zu übersetzen. Hier die veröffentlichte deutsche Fassung mit der Begründung meiner Entscheidung:
Während Günter Panske sehr einfühlsam über Pater de Bricassarts Zuneigung zu Meggie nachzudenken vermag (s. S. 199), wird es für ihn schwierig, wo der Text deutlich aus der weiblichen Warte geschrieben ist. Aus: The boys were... »quite wrapped up in Mum«, wird: »unter Mums Fuchtel« (s. S. 193). Aus: »with a great indrawn breath to keep her cour-age up she forced the penis in, teeth clenched«, wird: »Und dann atmete sie tief ein, biß die Zähne aufeinander und ließ sein Glied wie mit einem Ruck in sich hineingleiten.« (S. S. 196), Hervorhebung von mir). Wieviel harmonischer, weniger schmerzlich, ist doch die deutsche Übersetzung. Aus-. »I can get it up. It's just that I don't choose to«, wird: »Ich kann mich als Mann beweisen. Aber ich will es nicht.« Hier deuten die Hervorhebungen des Übersetzers an, daß er sich einer Veränderung bewußt ist (s. S. 198). Die von Cora Kaplan beschriebene weibliche Sehweise Colleen McCulloughs dürfte an vielen Stellen für die deutsche Leserin schwer zu entdecken sein, weil die Übersetzung vieles in den männlichen Blickwinkel überträgt

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