Einleitung und Vorbemerkung

I

Rosa Luxemburg war zeit ihres Lebens aufs innigste mit Rußland - das damals Polen einschloß - und mit der Russischen Revolution verbunden, mindestens so sehr - wenn nicht noch stärker - wie ihre Kampfgefährten Karl Liebknecht und Clara Zetkin. Auch in Zürich, wo sie Nationalökonomie studierte und mit einer - nach dem Urteil ihres Lehrers Julius Wolf - »trefflichen Arbeit über die industrielle Entwicklung Polens« promovierte, blieb sie mit der polnischen Arbeiterbewegung in dauernder Berührung - hier redigierte sie eine polnische sozialistische Zeitschrift und wurde zur Mitgründerin der »Sozialdemokratie des Königreichs Polen«, einer Parteiorganisation, die im Gegensatz zur nationalpolnischen PPS Pilsudskis für die Einheit mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands eintrat. Nach dem Ausbruch der ersten russischen Revolution im Jahre 1905 litt es sie nicht mehr in Deutschland: Illegal ging sie nach Warschau, wo sie 1906 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches verhaftet wurde. Nach Stellung einer Kaution freigekommen, kehrte sie über Petersburg und Finnland nach Deutschland zurück. Hier wurde sie zur bedeutendsten Theoretikerin der radikalen Linken: Sie kämpfte nicht nur gegen den Revisionismus, sondern seit etwa 1907-1910 auch immer schärfer gegen das marxistische Zentrum Bebels und Kautskys - in Vorahnung einer krisenhaften Zuspitzung der Weltlage, die ihrer Meinung nach aus der imperialistischen Großmachtpolitik und dem aggressiven Wettrüsten resultieren mußte.
Für die Humanistin und Kriegsgegnerin, die schon 1900 auf dem Pariser Kongreß der II. Internationale vorhergesagt hatte, der Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung werde »durch eine durch die Weltpolitik herbeigeführte Krisis erfolgen« und die auf den Kongressen 1907 in Stuttgart und 1912 in Basel die Internationale gegen Krieg und Militarismus zu aktivieren
 versucht hatte, war der Ausbruch des Weltkrieges dennoch ein furchtbarer Schlag. Die »Burgfriedenspolitik« der sozialistischen Parteien hatte sogar sie überrascht. Mühselig suchte sie zusammen mit Karl Liebknecht die Kriegsgegner in der SPD zu sammeln und zu organisieren - erst in der »Gruppe Internationale«, dann im »Spartakusbund«. Ihr vorzeitiges Ende von Mörderhand fand sie zusammen mit Karl Liebknecht am 15. Januar 1919.

II

Fast genau ein Jahrfünft nach dem Tode Rosa Luxemburgs war Lenin seinen Leiden erlegen. Zwei Jahrzehnte lang hatten die so ungleichen Revolutionäre, die zeitweise zusammen gegen die »Reformisten« gekämpft hatten, auch immer wieder die Klingen miteinander gekreuzt. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte Lenin seine Auffassungen über den Organisationsaufbau der russischen Partei entwickelt - so kompromißlos setzte er sich für eine Partei neuen Typus ein, die sich von den westeuropäischen Arbeiterparteien durch äußerste Bewußtheit und Geschlossenheit unterscheiden sollte, daß sich die erst ein halbes Jahrzehnt vorher gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands schon auf dem Londoner Parteitag von 1903 in die Fraktionen der Bolschewiki und der Menschewiki spaltete. Stritt man dort auch zunächst nur darum, ob allein als volles Parteimitglied zu gelten habe, wer in einer der aktiven Parteigruppen fest organisiert wäre, so sollte sich das ganze theoretische Ausmaß dieses Disputes erst später zeigen. Ging es doch schließlich um nichts Geringeres als um die grundlegende Partei- und Organisationskonzeption, damit aber auch indirekt um die weiteren Entwicklungsperspektiven des Landes. Lenin und die Bolschewiki verlangten, daß die Partei selbst dann, wenn der Druck des Zarismus einmal nachlassen sollte, doch im wesentlichen so strukturiert bleiben sollte, wie sie sich nach dem Vorbild der narodnikischen Terrororganisation gebildet hatte: eine straff gefügte, einheitlich handelnde, zwar fest mit dem Proletariat verbundene, organisatorisch jedoch von ihm getrennte Vereinigung von Berufsrevolutionären, in der schließlich doch die Führung den entscheidenden Einfluß haben sollte, selbst wenn man in der Theorie bereit war, selbständiges Denken und Handeln zu tolerieren.
Lenins Ideal lief somit auf eine Partei »der mit dem Proletariat verbundenen Jakobiner« hinaus, deren Organisationsprinzip der »demokratische Zentralismus« sein sollte. Martow und die Menschewiki akzeptierten einen solchen Parteitypus nur als Notlösung für die Zeit des absolutistischen Regimes; ihr Ideal bildeten nach wie vor die legalen Massenparteien der westeuropäischen Arbeiterbewegung, die sich zur Il. Internationale zusammengeschlossen hatten. Für Lenin sollte dagegen die Sozialdemokratische Partei auch in Zukunft eine Funktionärsorganisation, ein Offizierskorps, ein Orden mit eigenem esprit de corps, eigener Ideologie, eigener Ordensregel sein. Diese seine Auffassung einer revolutionären Arbeiterpartei als disziplinierter und zentralistischer Avantgarde der Berufsrevolutionäre, die berufen ist, alle anderen Organisationen der Arbeiterklasse zu leiten, suchte Lenin im einzelnen in seiner Schrift »Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück« zu begründen. In äußerster Konsequenz vertrat er hier den Anspruch der Elite auf die Führung der Massen, das Recht des Geistes, »die Materie« nach seinem Gutdünken zu prägen, die Verpflichtung des Berufsrevolutionärs, die Mehrheit voranzutreiben - koste es, was es wolle. Nicht lange blieb Rosa Luxemburg Lenin die Antwort auf seine Konzeption schuldig. Ihre Erwiderung erschien zuerst in der »lskra«, der Zeitschrift der russischen Sozialdemokratie, bald darauf auch in der »Neuen Zeit«, dem von Karl Kautsky redigierten theoretischen Hauptorgan der deutschen Sozialdemokratie. Alles in Rosa Luxemburg mußte sich gegen Lenins elitären Führungs- und Herrschaftsanspruch aufbäumen. Sie war Sozialistin und Demokratin, weil sie an die Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich selbst zu befreien, glaubte. Für sie waren die Schöpferkraft, die Produktivität und die Spontaneität der Massen alles. Alle proletarischen Organisationen einschließlich der Partei waren daher demokratisch von unten nach oben aufzubauen. Rosa Luxemburg scheute sich nicht, als Fazit ihrer Polemik gegen Lenin offen zuzugeben: »Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.« Wurzelte diese überzeugung Rosas in ihrem demokratischen Humanismus und Optimismus, in ihrem Glauben an den Menschen und die Geschichte, so wurde sie in ihrem Mißtrauen gegenüber den Führern durch die bürokratisch-passivistische Politik der Parteiführer in Deutschland bestärkt. Wie berechtigt ihre Vorbehalte auch gegen die aktivistisch-voluntaristische Methode Lenins und der Bolschewiki waren, sollte erst die Zukunft zeigen.

III

Dreizehn Jahre nach dem Erscheinen der Luxemburgschen Kritik der bolschewistischen Parteikonzeption war es der hierarchisch organisierten Partei Lenins unter dessen genialer Führung gelungen, die Macht in dem riesigen Zarenreich an sich zu reißen. Schon die Februarrevolution hatte Rosa Luxemburg mit Jubel erfüllt. Im April 1917 schrieb sie:

». . . die herrlichen Dinge in Rußland wirken auf mich auch wie Lebenselixier. Das ist ja für uns alle eine Heilsbotschaft, was von dort kommt, ich fürchte, Ihr alle schätzt das nicht genügend hoch, empfindet nicht genügend, daß es unsere eigene Sache ist, die dort siegt. Das muß, das wird auf die ganze Welt erlösend wirken, das muß ausstrahlen nach ganz Europa, ich bin felsenfest überzeugt, daß eine neue Epoche jetzt beginnt, und daß der Krieg nicht mehr lange dauern kann.«

Jene »zehn Tage« im Oktober 1917, die nach dem Wort John Reeds »die Welt erschütterten«, erfüllten auch Rosa Luxemburg mit starker Hoffnung wie mit bangem Zweifel. Im Herbst 1918 - fast ein Jahr nach der Oktoberrevolution - schrieb sie ihren Versuch über die Russische Revolution nieder. Im Gefängnis in Breslau, in dem sie damals saß, hatte sie zwar Zugang zu manchen Presseberichten und Materialien. Es mangelte ihr jedoch an dem direkten Umgang mit Augenzeugen, Gesprächspartnern oder gar gleichgesinnten Genossen.
Das Manuskript wurde auch nie vollendet. Publiziert wurde es nach einer fragmentarischen Abschrift erst 1922 von ihrem politischen Freund Paul Levi (1883-1930), der nach dem Tode von Luxemburg und Liebknecht die Führung der KPD übernommen, aber bereits im März 1921 nach dem mitteldeutschen Aufstand mit der Partei gebrochen hatte, um bald zur SPD zurückzukehren. 1928 konnte Felix Weil in Grünbergs »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung« wichtige Ergänzungen bringen. Seitdem ist die Schrift in englischer und französischer Übersetzung und in verschiedenen deutschen Ausgaben erschienen, so 1939 in Paris (»Neuer Weg«), 1948 in Hamburg (herausgegeben von Peter Blachstein) und 1957 in Hameln (herausgegeben von B. Krauß). Die viel umstrittene Frage, ob und in welchen Punkten Rosa Luxemburg ihre Interpretation später aufrechterhalten hätte, wird sich wohl kaum je befriedigend klären lassen. Jedenfalls ist auch heute noch - nach einem halben Jahrhundert - ihre Analyse der bolschewistischen Revolution alles andere als verstaubt oder tot. Liegt das am Gegenstand? Liegt es an der Person der Beurteilerin? Oder gar an beidem - dem objektiven Ereignis wie der subjektiven Reflexion über das Ereignis? Was den Gegenstand anlangt, so können und müssen wir uns auch heute noch fragen, ob die Russische Revolution von uns überhaupt objektiv erfaßt werden kann. Im Leben und Denken unserer Generation, das heißt aller derer, die etwa im Jahrzehnt vor oder nach der Jahrhundertwende geboren wurden, stellt diese Revolution einen Einbruch dar, der an Bedeutung allenfalls vom Ersten Weltkrieg übertroffen wird. Wie für das Geschlecht Schillers und Fichtes, Hölderlins und Hegels die große Französische Revolution stets das Erlebnis blieb, mit dem es fertig werden mußte und doch nie ganz fertig werden konnte, so hat auch uns die Russische Revolution nie vollständig aus ihrem Bann gelassen. Hoffnung und Bewunderung erweckte sie ebenso wie Furcht und Verdammung, und selbst heute, da ein Abstand von fünf Jahrzehnten eine distanziert-kühle Beurteilung ermöglichen sollte, scheint sich das Rätsel der Revolution immer noch einer eindeutigen Lösung zu entziehen. Wie sich schon das alte Rußland dem Europäer oft als die große Sphinx darbot, so erscheinen auch die Revolution und das aus ihr hervorgegangene neue Rußland als Quelle immer neuer Gegensätze und Geheimnisse. In der Kette der großen sozialen Umwälzungen, die die Gesellschaft der Neuzeit verwandeln und die man als die bürgerlichen Revolutionen auf einen Nenner hat bringen wollen, ist die Russische Revolution wohl die widersprüchlichste.
Ihr komplexer Charakter offenbart sich in der Vielfalt diametral entgegengesetzter Tendenzen und Strukturen: nationale, bürgerliche, bäuerliche und proletarische Bewegungen gehen unmerklich ineinander über, fortschrittliche und reaktionäre Tendenzen ringen unablässig miteinander, Massendemokratie und totalitäre Diktatur schlagen ineinander um. All diese so ungleichen Elemente erschweren in ihrem Neben-, Mit- und Gegeneinander die Herausbildung eines neuen stabilen Systems, ja, machen es oft schier unmöglich, Wirklichkeit und Schein auseinanderzuhalten.
Jedes Jahrzehnt der Entwicklung trägt dabei ein neues Gesicht: Zu Beginn unter Trotzki und Lenin noch das Vorwärtsdrängen einer eminent dynamischen Weltbewegung, die alle alten Traditionen und Institutionen innerhalb wie außerhalb Rußlands radikal vernichten will; in den zwanziger Jahren unter Lenin und Stalin die Institutionalisierung einer neuen staatswirtschaftlichen Ordnung, die einen Kompromiß mit der kapitalistischen Umwelt wie auch mit der bäuerlichen Vergangenheit schließen zu wollen scheint; in den dreißiger Jahren die neue »Revolution von oben«, die Hand in Hand geht mit der konterrevolutionären Vernichtung der altbolschewistischen Elite und großer Teile der Kader, die das Land an den Rand des Abgrunds führt; in den vierziger Jahren die Behauptung und Erneuerung eines bürokratischen Machtstaates, der sich immer mehr von der Umwelt abkapselt; im sechsten und siebten Dezennium die Konsolidierung zu einer Bürokratie, die im Zeichen eines »aufgeklärten Absolutismus« den Kampf um die Hebung des Volkswohlstandes wie um die Eroberung des Weltraumes vorantreibt.
Wie ein roter Faden zieht durch den Wechsel der Phasen das vielleicht einmalige Schauspiel einer permanenten Revolution von oben, die zugleich immer wieder in Gegenrevolution umschlägt. Während sich in den anderen großen sozialen Revolutionen die Etappen des revolutionären Vormarsches und des gegenrevolutionären Rückschlages - mit Militärdiktatur und Restauration - deutlich voneinander abheben, macht das Ineinander von Revolution und Konterrevolution die russische Entwicklung so außerordentlich undurchsichtig, zumindest nach außen hin; der Form nach spielt sich ja seit fünf Jahrzehnten alles im Rahmen der gleichen Ideologie - des Marxismus-Leninismus - und der gleichen Institutionen - der Kommunistischen Partei und des bolschewistischen Staates - ab, der allerdings seinem irreführenden Namen zum Trotz längst kein Sowjetstaat mehr ist. Beide Institutionen vermögen immer wieder, das sich ständig wandelnde Gesellschaftsgebilde zusammenzuhalten und ihm trotz allen historischen Brüchen immerhin ein Minimum an Kontinuität zu verleihen. Mit der durch den Ablauf eines halben Jahrhunderts gewonnenen Distanz läßt sich Größe wie Grenze der Revolution natürlich besser erkennen als in den dreißiger oder vierziger Jahren.
Trotz Terror und Täuschung ist der Bolschewismus nicht einfach etwas »Böses«, er bleibt für die ganze übrige Welt eine Herausforderung, die nur durch ein humaneres System angemessen beantwortet werden kann. Wenn der Bolschewismus mithin zwei Seiten - eine gute und eine böse - hat, so unterscheidet er sich damit prinzipiell vom Nationalsozialismus, der das Böse schlechthin verkörperte und insofern einen Ausbruch aus der Geschichte der Humanität bedeutete. Verglichen mit ihm war selbst der Hochstalinismus mehr als lediglich Destruktion und Wahn, Nihilismus und Sadismus. So sehr sein irrational-sinnloser Terror an den Hitlers erinnert und seine Sykophanten moralisch ein für allemal disqualifiziert sind, so blieb doch in dieser Zeit noch eine andere Komponente erhalten, die selbst ein Stalin nicht total eliminieren konnte. Nur so erklärt sich die Möglichkeit einer Rückkehr zum Neo-Leninismus und die Wiederherstellung einiger Freiheiten, wie wir sie seit Stalins Tod beobachten konnten.

IV

Das Grunddilemma dieser Revolution hat Rosa Luxemburg bereits 1918 genial vorausgesehen. 1904 hatte sie sich in ihrer Polemik gegen Lenin darauf beschränkt, die negativen Seiten von dessen« »Ultrazentralismus« anzugreifen und so bereits damals jenes Element in der bolschewistischen Theorie und Praxis herauszuspüren, das man später angesichts seiner vollen Entfaltung als »totalitär« angeprangert hat. 1918 sah sie die Revolution einschließlich der bolschewistischen Komponente schon in der ganzen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit. Für sie bestand kein Zweifel daran, daß der Bolschewismus einen welthistorischen Fortschritt gegenüber Zarismus, Kapitalismus und Imperialismus darstellte. In diesem Sinne war und blieb für sie die Russische Revolution »das gewaltigste Faktum des Weltkrieges«, die Oktoberrevolution »nicht nur eine tatsächliche Rettung für die Russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus«, die Lenin-Partei »die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff ...«, Lenin und Trotzki »die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind ... die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!« Rosa Luxemburg erkannte aber auch schon die Schwierigkeiten und Begrenzungen, die der nationale Rahmen einer Revolution aufzwang, die auf ein einziges Land beschränkt blieb, insbesondere wenn dieses »unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen« litt. Sie trat jedem Anspruch der Bolschewiki entgegen, die Revolution in Rußland zum Vorbild der Revolution in anderen Ländern zu erheben; sie sah deutlich die Gefahr, die darin lag, daß die Bolschewiki »aus der Not die Tugend machten, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen«.
Bei aller Anerkennung der historischen Leistung der Lenin und Trotzki glaubte sie nicht, daß für »all ihr unter dem bitteren Zwange und Drange ... eingegebenes Tun und Lassen nur kritiklose Bewunderung und eifrige Nachahmung am Platze wäre«. Sie erweisen so »dem internationalen Sozialismus, dem zuliebe und um dessentwillen sie gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Rußland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankerotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkrieg waren.«
Schon 1918 wies damit Rosa Luxemburg jene Hybris der Bolschewiki zurück, die 1924 in dem Anspruch Stalins kulminieren sollte, daß er den »Sozialismus in einem Lande« verwirklichen könne und daß dieser »Sozialismus« der Arbeiterbewegung aller anderen Länder zur Richtschnur für deren Revolution zu dienen habe. Ebensowenig wie Trotzki hätte Rosa Luxemburg je zugeben können, daß das Stalin-Regime in Rußland die Erfüllung der sozialistisdien Verheißung darstellt von vornherein hatte sie aber noch viel klarer und kompromißloser als dieser die antidemokratische Komponente im bolschewistischen System in Rußland selber entdeckt. Was die Bolschewiki vollbracht haben, bleibt für die Marxistin Rosa Luxemburg stets »in den Grenzen der histotischen Möglichkeiten«. »Eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder« - und die Bolschewiki »sollen nicht Wunder wirken wollen«. Für die Internationalistin Rosa Luxemburg stand fest: Das Problem der Eroberung der politischen Gewalt und der Verwirklichung des Sozialismus »konnte in Rußland nur gestellt werden« - gelöst werden konnte es hier aber nicht, denn »die sozialistische Gesellschaftsordnung läßt sich eben nur international durchführen«. Rosa Luxemburg geht aber in ihrer Kritik noch einen Schritt weiter: Sogar vom rein russischen Gesichtspunkt aus ist die Politik der Bolschewiki in entscheidenden Punkten anfechtbar. Auf Grund gewisser marxistischer Vorstellungen, deren Berechtigung uns allerdings fraglich erscheinen mag, kritisiert sie deren Nationalitäten- und Agrarpolitik.
Darüber hinaus greift sie auch jetzt wie 1904 die Bolschewiki im Kern ihrer Theorie und Praxis an: Auch unter den äußerst ungünstigen Bedingungen, wie sie 1917/18 in Rußland bestanden, hätten sich Lenin und die Seinen demokratischer verhalten müssen, hätten sie gerade auch als radikale sozialistische Revolutionäre nicht auf die Synthese von Demokratie und Diktatur verzichten dürfen. Verbunden mit der Idee der Revolution war für Rosa Luxemburg stets die Vorstellung von der Vernichtung der alten Herrschafts- und Besitzstrukturen, von der Befreiung der unterdrückten und ausgebeuteten Menschen, von der Bewegung der Massen, die - mit Hilfe ihrer Parteien und Organisationen - ihre Unmündigkeit überwinden und eine neue auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruhende Ordnung verwirklichen. Ihr Glaube an die Massen war unbegrenzt - fast zu mystisch und dogmatisch, um nüchterner Kritik standhalten zu können. »Die Psyche der Massen«, schreibt sie einmal in einem Brief, birgt stets in sich, wie die Thalatta, das ewige Meer, alle latenten Möglichkeiten: tödliche Windstille und brausenden Sturm, niedrigste Feigheit und wildesten Heroismus. Die Masse ist stets das, was sie nach Zeitumständen sein muß, und sie ist stets auf dem Sprunge, etwas total anderes zu werden, als sie scheint. Ein schöner Kapitän, der seinen Kurs nur nach dem momentanen Aussehen der Wasseroberfläche steuern und nicht verstehen würde, aus Zeichen am Himmel und in der Tiefe auf kommende Stürme zu schließen. Mein kleines Mädchen, die >Enttäuschung über die Massen< ist stets das blamabelste Zeugnis für den politischen Führer. Ein Führer großen Stils richtet seine Taktik nicht nach der momentanen Stimmung der Massen, sondern nach den ehernen Gesetzen der Entwicklung, hält an seiner Taktik fest trotz aller Enttäuschungen und läßt im übrigen ruhig die Geschichte ihr Werk zur Reife bringen«.
Für Rosa Luxemburg war die Masse die eigentliche Persönlidikeit der Geschichte - sie sah sie mit den höchsten menschlichen Fähigkeiten begabt - so wie die Masse in einem künstlerischen Meisterwerk wie dem Eisenstein-Film »Panzerkreuzer Potemkin« wirklich einmal in Erscheinung tritt: entdinglicht und vermenschlicht.
Alles, was auf Bevormundung und Terrorisierung der Massen, auf Manipulierung und Reglementierung ihrer Organisationen, auf Beschneidung oder gar Vernichtung ihrer Freiheiten hinauslief, war ihr im Grunde der Seele zuwider. Trat doch auch in ihrer eigenen Persönlichkeit dem Drang nach gewaltsamer Vernichtung des Bösen stets das Sehnen nach reiner menschlicher Güte entgegen. Gerade in ihren Briefen hat sie diese beiden - oft miteinander im Widerstreit liegenden Seiten ihres Charakters mit der ihr eigenen bestrickenden Offenheit enthüllt - so, wenn sie sich einmal selber vorwirft, das »Grundgebot« zu vergessen, »das ich mir für's Leben gemacht habe: Gut sein ist Hauptsache! Einfach und schlicht gut sein, das löst und bindet alles und ist besser als alle Klugheit und Machthaberei«. Eigentlich »zum Gänsehüten geboren«, kreist sie fast »aus Versehen im Strudel der Weltgeschichte herum« aber auch hier will sie »voller Mensch« bleiben - und dazu gehört das Einssein mit allem Leid der Schöpfung: «Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fußball spielen, ebenso nahe. Weißt Du noch die Worte aus dem Werke des Großen Generalstabs über den Trothaschen Feldzug in der Kalahari: >.... Und das Röcheln der Sterbenden, der Wahnsinnsschrei der Verdurstenden verhallten in der erhabenen Stille der Unendlidikeit<. >O diese erhabene Stille der Unendlichkeit, in der so viele Schreie ungehört verhallen, sie klingt in mir so stark, daß ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Getto habe: Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.«

V

Aber das unsagbare Unrecht, das die menschliche Geschichte durchzieht, die Grausamkeit der Mächtigen, auf die wir immer wieder stoßen, rufen auch in dieser zarten Frau Gefühle des tiefen Abscheus und der leidenschaftlichen Abwehr wach. Der im Orkan der Russischen Revolution dahinstürmenden Rebellin, die sich einmal selber als einen der beiden letzten Männer in der Partei bezeichnet hatte (der andere war Clara Zetkin!), war nichts so zuwider wie das Mittelmaß ihrer Parteigenossen.
Diese biederen »Bonzen und Budiker« hatte sie schon lange als Wetterfähnlein« attackiert - seit 1914, da sie die Kriegspolitik der Hohenzollern mehr oder weniger unterstützten, hatte sie für die »kriecherischen Helden« nur noch Verachtung übrig. Für den Tag ihrer Befreiung verspricht sie, diese »Froschgesellschaft zu jagen und zu hetzen mit Trompetenschall, Peitschengeknall und Bluthunden - wie Penthesilea!« Angesichts der »Durchhalte-Politik«, die ihre Partei im nicht enden wollenden Blutrausch des Weltkrieges verfolgt, verdrängt die Frau immer stärker alles Weibliche und Humane: Am 28. 12. 1916 schreibt sie aus Wronke: »Was mich anbelangt, so bin ich in der letzten Zeit, wenn ich schon nie weich war, hart geworden wie geschliffener Stahl und werde nunmehr weder politisch noch im persönlichen Umgang auch die geringste Konzession machen.« Aber selbst diese blutige Rosa« war nie bereit, sich einfach mit organisierter Gewalt, Lüge und Intrige abzufinden. Auch jetzt noch erschöpfte sich für die Revolutionärin Politik nicht in entmenschten Apparaten, verdinglichten Organisationen, entfremdeten Institutionen. Macht, Zwang und Gewalt, ja - aber nur um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen gegen die feindliche Klasse durchzusetzen - »als konkrete Maßnahme zu einem konkreten Zweck« - aber nie und nimmer als allgemeine Regel von dauernder Wirkung: »jedes dauernde Regiment des Belagerungszustandes führt unweigerlich zur Willkür« . . . Hier antizipiert Rosa Luxemburg das Unmenschliche der zentralistisch-terroristischen Dauerdiktatur von Parteimaschine und Staatsapparat, die zum Eckpfeiler des totalitären Stalinismus werden sollte. Aber auch schon gegen Lenin und Trotzki wendet Rosa Luxemburg ein, daß diese genau wie Kautsky die Diktatur der Demokratie entgegenstellen. Ein solches Entweder-Oder ist das Gegenteil »wirklicher sozialistischer Politik«. Das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gegen die Mißachtung demokratischer Institutionen, die wie alle menschlichen Institutionen ihre Schranken und Mängel haben, gefunden haben, - die Beseitigung der Demokratie! - ist noch schlimmer als das Übel selber: Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breiten Volksmassen.« Für Rosa Luxemburg ist dagegen die Diktatur des Proletariats immer auch sozialistische Demokratie.
Die Aufgabe des Proletariats besteht nicht darin, jegliche Demokratie abzuschaffen, es kommt darauf an, sie im Interesse der Klasse und der Gesellschaft richtig zu nutzen: »... diese Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit der Klasse sein, d. h. sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.« Anders als Stalin und sogar Lenin und Trotzki akzeptiert also Rosa Luxemburg Diktatur und Gewalt selbst als kleinere Übel nur für eine engbegrenzte Phase in der Auseinandersetzung der Klassen. Die Diktatur soll sich ausschließlich gegen die feindliche Minderheit richten. Die Diktatur muß aber auch dann stets ein Instrument der breiten Massen bleiben; nie darf sie zum Werkzeug »einer Handvoll Persönlichkeiten« werden.

VI

Wir mögen uns heute fragen, ob die Verbindung von Diktatur und Demokratie, wie sie Rosa Luxemburg vorschwebte, mehr war als eine reine Chimäre. Daß die Russische Revolution so ganz anders verlaufen ist, als Rosa Luxemburg erhofft und gefordert hatte, daß auch entgegen Lenins und Trotzkis Erwartungen die Revolution relativ bald zur Entstehung der totalitär-terroristischen Tyrannis eines Stalin, allerdings auch zur Herausbildung einer modernen Supermacht geführt hat, widerlegt Rosa Luxemburg noch nicht. Die immer wieder vorgebrachte These, die Modernisierung und Industrialisierung Rußlands wäre ohne den Stalinschen Terror unmöglich gewesen, wird schon dadurch erschüttert, daß dieser Terror erst ein Jahrzehnt nach dem Ende des Bürgerkrieges einsetzte, um dann in einem irrational-pathologischen Paroxismus zu münden. Was wäre ihm gefolgt, hätte nicht Hitlers Wahnsinnspolitik die Sowjetunion gerettet? So kann man auch heute noch fragen, ob nicht Rußland vieles erspart geblieben wäre, hätten sich Lenin und seine Nachfolger die eine oder andere Lehre Rosa Luxemburgs zu eigen gemacht. Hätten nicht rationalere und demokratischere Methoden das Sowjetregime letztlich mehr gestärkt als geschwächt?
Vergessen wir auch nicht, daß schon 1917 die meisten Bolschewiki im Gegensatz zu Lenin, Trotzki und Stalin ein Kompromiß mit den anderen sozialistischen Parteien befürworteten. In den zwanziger Jahren traten dann verschiedene bolschewistische Gruppen für größere Demokratie in der Partei ein. Die rechte Fraktion sah gegen Ende der zwanziger Jahre in der Fortführung der »Neuen ökonomischen Politik« eine Chance für die Entwicklung einer echten Bauerndemokratie. Die Linke trat zwar für eine Politik der Industrialisierung ein, Stalins Methoden der Industrialisierung und Kollektivierung wurden aber von ihr ebenso wie von der Rechten als überstürzt und übertrieben abgelehnt. Hätte nicht in der Tat eine liberalere und humanere Strategie und Taktik möglicherweise den Verzicht auf den Bau einer Anzahl von Hochöfen und Rüstungsfabriken mit sich gebracht, dafür aber doch die Erreichung einer freiheitlicheren und egalitäreren Gesellschaft und Kultur wie auch einer realistischeren Außenpolitik erleichtert? So wie die Dinge gelaufen sind, ist die Sowjetunion selbst heute, ein halbes Jahrhundert nach der Oktoberrevolution, bei allen technischen und materiellen Erfolgen immer noch alles andere als eine sozialistische Demokratie. Selbst die Politik des poststalinistischen Rußland ist immer noch viel zu primitiv, als daß sie der Welt als Vorbild für die Erfüllung der drängenden Aufgaben ihrer Befriedung und Vereinheitlichung dienen könnte. Die von Lenin und Stalin gegen Rosa Luxemburg begründete Sowjettradition trägt mit ihrem Partikularismus und Parochialismus zur Polarisierung der Welt bei und erschwert damit die Lösung der - vielleicht fatalen - Krise, in der sich die Menschheit im letzten Drittel unseres Jahrhunderts befindet.
Rosa Luxemburgs Stellungnahme zu vielen Einzelfragen mag man heute für veraltet halten - ist nicht etwa gerade auch ihr Glaube an die positive Wirkung der Gewaltanwendung durch die Massen angesidits der jüngsten Entwicklung überholt? Angesichts der unheimlichen Perfektioniering und Maximierung der Gewalt, für die Auschwitz und Workuta, Hiroshima und Nagasaki als Symbole stehen mögen, erscheint jede Form von Krieg und Bürgerkrieg problematischer denn je. Andererseits haben inzwischen gewaltlose Massenaktionen gezeigt, welche großen Möglichkeiten in einer solchen Politik der gewaltfreien Aktion noch verborgen liegen. Ansätze zu einer Politik der Gewaltlosigkeit kann man sogar bei Rosa Luxemburg selber, etwa in ihrer Propagierung des Massenstreiks, entdecken. Leider hat sie diese Ansätze nicht weiter entwickelt, vor allem wohl aus zwei Gründen: Die typische kontinentaleuropäische Tradition der Glorifizierung der Gewalt als eines schöpferischen, befreienden Elements beherrschte seit Marx und Engels auch die Gedankenwelt des deutschen und russischen Sozialismus; vor allem schien aber die unvorstellbar blutige Gewaltsamkeit des Weltkriegs jeden Glauben an die Macht friedfertiger Aktionen zu widerlegen.

VII

Hat Rosa Luxemburg die Gefahren der Gewalt in unserem industriell-technischen Zeitalter noch nicht voll antizipiert, so hat sie sehr wohl den Grundwiderspruch gespürt, in dem sich die Menschheit in unserer Epoche befindet. Dieses Dilemma war im 19. Jahrhundert noch verborgen - so hat Karl Marx wohl nur in seiner wenig beachteten Rede aus dem Jahre 1856 auf die latente Krise des Zeitalters verwiesen: »Auf der einen Seite«, heißt es dort, »sind industrielle und wissenschaftliche Kräfte zum Leben erwacht, von der keine Epoche der früheren menschlichen Geschichte je eine Ahnung hatte. Auf der anderen Seite gibt es Verfallssymptome, die die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichteten Schrecken bei weitem in den Schatten stellen. In unsern Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verkürzen und fruchtbarer zu machen, sehen wir diese zu Hunger und Überarbeit verdammen. Die neuen Quellen des Reichtums werden durch einen seltsamen Schicksalsbann zu Quellen der Not. Die Siege der Kunst scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie der Mensch die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andere Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht zu werden. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheint nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchten zu können. Alle unsre Erfindungen und Fortschritte scheinen darin zu resultieren, daß materielle Kräfte mit geistigem Leben begabt werden und daß das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummt wird. Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der anderen Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und nicht wegzuleugnende Tatsache.«
Rosa Luxemburg zitiert diese Stelle nicht. In jenen Jahren des Massenmordes, in denen Spengler den »Untergang des Abendlandes« prophezeit, sieht aber auch sie nur die Wahl: »Sozialismus oder Untergang in der Barbarei!« Im Grauen des Ersten Weltkrieges dämmert ihr diese Erkenntnis; sie glaubt jetzt, daß der Weltkrieg die Gesellschaft vor die Alternative gestellt hat. Entweder Fortdauer des Kapitalismus, neue Kriege und baldigster Untergang im Chaos und in der Anarchie oder Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung.« Nur die Verwirklichung einer sozialistischen (und das heißt für sie auch demokratischen!) Weltordnung wird den Völkerhaß beenden: »Erst wenn eine solche Gesellschaft verwirklicht ist, wird die Erde nicht mehr durch Menschenmord geschändet. Erst dann wird es heißen: Dieser Krieg ist der letzte gewesen.« Die Hoffnung Rosa Luxemburgs hat sich nicht erfüllt - in Rußland herrscht ein »Sozialismus«, der nicht demokratisch ist, und in der übrigen Welt ist dem demokratischen Sozialismus der entscheidende Durchbruch nicht gelungen. Statt dessen sollte die Menschheit die Wirtschaftskrise, den Faschismus und Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, die Spaltung der Welt in feindliche Lager, das Wettrüsten erleben. Die Krise unseres Zeitalters reicht heute so tief, daß wir nicht einmal wissen, ob wir auch nur überleben werden - geschweige denn mit welchen Mitteln und in welchen Formen.
Auch derjenige, der Rosa Luxemburgs Glauben an eine sozialistische Welt des Friedens nicht teilt, wird ihr Wort von der furchtbaren Alternative nicht überhören können. Als eine der letzten großen Humanistengestalten des 19. Jahrhunderts (das ja erst 1914 zu Ende ging!) ragt Rosa Luxemburg über die Wende der Zeiten in unser verdüstertes Jahrhundert herüber eine ungewöhnlich lichte und lautere Persönlichkeit. War ihr vorzeitiger Tod ein unersetzlicher Verlust für die Sache der Humanität, so wird doch die Auseinandersetzung mit ihren Gedanken fortleben und die sozialistischen Humanisten in ihrem Glauben und Wollen stärken - über alle Grenzen der Länder und Lager hinweg.

Vorbemerkung zu
»Der Partei, >Proletariat< zum Gedächtnis«

Der folgende Artikel, der hier zum erstenmal in deutscher Sprache publiziert wird, erschien ursprünglich im Januar/Februar 1903 in Nr. 1 der polnischen Zeitschrift »Przeglad Socialdemokratyczny«. Vier Führer der ersten polnischen sozialistischen Organisation »Proletariat« - Bardowski, Kunicki, Ossowski und Pietrusinski - waren am 28. 1. 1886 in der Warschauer Zitadelle gehenkt, der Gründer der Gruppe, Ludwik Waryliski, im gleichen Jahr zu 16 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden.
Rosa Luxemburg benutzt den Gedenktag, um die Entwicklung der Auffassungen und Aktionen dieser Organisttion zu analysieren und zu kritisieren. Sie zeigt, wie die Polen in der Zusammenarbeit mit der russischen terroristischen Narodniki-Organisation »Narodnaja Wolja« ihre zunächst marxistische Konzeption den stärker blanquistischen Anschauungen der russischen Revolutionäre zusehends anpaßten. Für Rosa Luxemburg war aber damit das »Proletariat« dem Untergang geweiht.
Es ist faszinierend, zu verfolgen, wie Rosa Luxemburg bereits vor 65 Jahren die Schwächen einer terroristischen Elite-Organisation klar erkannte, die ihrer Meinung nach nie imstande sein würde, den Sozialismus zu verwirklichen, da dieser für jene Organisation nicht das Resultat der sozio-ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus und der darauf beruhenden sozialistischen Reifung des proletarischen Klassenbewußtseins darstellte. Die für Rosa Luxemburg typische Synthese von Demokratie und Diktatur, von Arbeiterbewegung und Sozialismus, von Reform und Revolution wird schon hier einleuchtend begründet ebenso wie sich hier ihre Ablehnung des uiimarxistischen »Ultra-Zentralismus« eines Lenin ankündigt.
Ihre Kritik der revolutionären Ungeduld der von den Massen isolierten Führer könnte in diesen Tagen geschrieben sein, da einige junge Rebellen wieder einmal entdecken, jede Reform und Konzession sei nur ein Alibi. Ob allerdings Rosa Luxemburgs eigener Glaube, daß das klassenbewußte, sich selbst bestimmende Proletariat im permanenten Klassenkampf den Kapitalismus überwinden würde, wirklich so fest fundiert war, wie sie selber annahm, mag nach den Erfahrungen der Zwischenzeit dahingestellt bleiben.

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Einleitung