Sozialistische Modernisierung in Ungarn

Das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) hat im April 1984 einen Beschluß über die weitere Entwicklung des Systems der Wirtschaftsleitung gefaßt. In dieser Resolution werden die Richtlinien der zukünftigen Wirtschaftspolitik festgelegt: Entwicklung der qualitativen Faktoren in der Ökonomie, darauf aufbauend die Konsolidierung der Außenhandelsbilanz und die Sicherung und Steigerung des Lebensstandards. Dazu muß die Kapazität der Wirtschaft, Einkommen zu produzieren, gesteigert und das öffentliche Eigentum effektiver eingesetzt werden. Das Bewußtsein der Arbeiter als Eigentümer, ihre Verantwortlichkeit für die Wirtschaft müssen gestärkt werden. Der ZK-Beschluß hat die institutionellen Grundlagen dafür geschaffen, indem er die Arbeitsteilung zwischen Staatsorganen und Unternehmensleitungen bezüglich der Verfügung über das sozialistische Eigentum und bezüglich des Rechts, Leute einzustellen, bestätigt hat.
Im Bereich der Staatsunternehmen gibt es zwei neue Leitungsformen, ohne daß sich der Charakter des Eigentums geändert hätte: der Unternehmensrat oder die Leitung durch die Unternehmensführung. In beiden Fällen bleibt die Gründung von Unternehmen Staatsangelegenheit, ebenso wie die Eingrenzung des Aufgabenbereichs des Unternehmens, die Festlegung der Leitungsform und die Bestellung der Manager sowie die Entscheidung über Betriebsschließungen. Mittlere und bestimmte große Staatsunternehmen arbeiten unter der Leitung eines Unternehmensrats; kleinere Betriebe unter der Regie eines Ministeriums oder eines Unternehmens haben eine gewählte Leitung. Die gewählte Leitung und die Arbeiter- oder Delegiertenversammlung üben Delegationsmacht aus in bestimmten Fragen der Disposition über Gewinne und der Personalpolitik, was die Manager angeht. Die kommunalen Dienstleistungsbetriebe und die Kulturunternehmen arbeiten noch in der heute gültigen Form der Unternehmensleitung, wo der Unternehmensgründer den Direktor ernennt. Der Ministerrat kann auch im Staatsinteresse produktive und nicht-produktive Unternehmen dieser Kategorie zuordnen. Diese neuen Formen werden die Demokratie am Arbeitsplatz weiter festigen und die Produktivität erhöhen.
Unsere weitere Entwicklung erfordert zwingend die Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft, was sie zugleich qualitativ verändern wird. Eine wichtige Bedingung dafür ist die Beschleunigung der technischen Entwicklung, die Einschränkung in der Verwendung bestimmter Materialien und von Energie sowie die Rationalisierung des Arbeitskräfteeinsatzes. Wir stellen die sparsame Nutzung von Ressourcen, die Verbesserung der internen Verhältnisse von Angebot und Nachfrage und die Ausweitung der Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen in den Vordergrund. Wir wollen der Entwicklung von international anerkannten Branchen, die auch für Ungarn wichtig sind, besondere Aufmerksamkeit schenken: Autoindustrie, Telekommunikation und Vakuumtechnik, Aluminium, pharmazeutische Industrie und Lebensmittelproduktion, Verwirklichung der Programme für intensive Getreide- und Fleischproduktion.
Um die Produktionsstruktur zu modernisieren, konzentrieren wir uns auf die Anwendung von Elektronik, vor allem Mikroelektronik und Computertechnik, in großem Maßstab. Dazu gehört die Ausdehnung der entsprechenden internationalen Wirtschafts- und Kooperationsbeziehungen; die Nutzung der agrar- bzw. bioökologischen Kräfte, die Ausweitung der entsprechenden Industrieproduktion, Dienstleistungen, Forschung und Technologie; die Verbesserung der Systeme und Technologien, die für den Export intellektueller Güter sorgen, Wertsteigerung der Exporte und der entsprechenden Dienstleistungen.
Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, müssen wir die Wirksamkeit der zentralen ökonomischen Kontrolle erhöhen, den Einfluß und den Wirkungsbereich des inneren regulierten Marktes ausdehnen und die Unternehmerhaltung der Betriebe verbessern. Die Verbesserung der Wirtschaftsleitung muß jedes ihrer Elemente umfassen: Planung, ökonomische Regulierung, institutionelles und organisatorisches System, die Entwicklung des menschlichen Faktors in der Produktion.
Die Weiterentwicklung des Systems der Wirtschaftsleitung ist keine einmalige Aufgabe; die Verwirklichung der Aufgaben, die in dem ZK-Beschluß gestellt sind, kann man sich als eine Phase ökonomischer und sozialer Entwicklung vorstellen, die bis zur Jahrhundertwende oder, was einige Elemente anlangt, auch länger dauert. Die weitere Entwicklung der sozialistischen Demokratie, des politisch-institutionellen Systems und die weitere Demokratisierung des Wahlsystems werden für die Verwirklichung dieses Plans günstige politische und soziale Bedingungen schaffen. Dasselbe gilt für die Ausarbeitung einer Konzeption der regionalen Entwicklung, die Belebung der politischen Öffentlichkeit durch die sogenannten lokalen Gesellschaften;[1] die Klärung der zukünftigen Rolle der Gewerkschaften und die Stärkung ihres Einflusses bei der Gestaltung der Politik.
Wir vertrauen darauf, daß sich auch die äußeren Bedingungen unserer ökonomischen und sozialen Entwicklung verbessern werden. Unsere Wirtschaft entwickelt sich ja nicht nur nach ihren eignen Gesetzen, sondern auch in Abhängigkeit von der Weltwirtschaft. Wir arbeiten unsere Perspektivpläne abgestimmt mit den anderen RGW-Ländern aus. Entsprechend spezialisieren wir unsere Produktion und nehmen an Kooperationen teil, und wir befriedigen unsere Rohstoffnachfrage aus den RGW-Ländern, in erster Linie aus der Sowjetunion.
Wir entwickeln unsere Wirtschaftskontakte mit den kapitalistischen Ländern und mit den Entwicklungsländern auf der Grundlage von Gleichberechtigung und gegenseitigem Vorteil. Nach unseren Erfahrungen kann in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Weltlage kein Wirtschaftsbündnis, weder der RGW noch die EG, innerhalb ihres eigenen Systems Selbstversorgung erreichen. Isolation kann großen Schaden verursachen.
Seit der Bildung von agrarischen Großorganisationen im Jahr 1962 [2] haben sich, im Gegenzug zur ökonomischen Entwicklung, neue Tendenzen in der Sozialstruktur gezeigt. Der Kern dieser Veränderungen besteht darin, daß sich die früheren Unterschiede in Klassencharakter und -herkunft verringert haben und überwiegend verschwunden sind. Es vollzog sich in großem Maßstab eine Lockerung der sogenannten Klassenintegration und die früheren Klassenschranken stellen keine Hindernisse mehr dar für die Bildung von größeren und kleineren sozialen Gruppen. Unsere Gesellschaft hat sich auch in diesem Sinn geöffnet.
Es entstand eine multidimensionale Sozialstruktur. Der Ort von sozialen Gruppen und Individuen in der Gesellschaft ist bestimmt durch ihre Position im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, durch ihre Möglichkeiten der Interessenvertretung und dadurch, wieweit sie sich zusätzlich zur Vollzeitarbeit noch in die sogenannte zweite Wirtschaft einschalten können.
Da diese Dimensionen die Gesellschaft auf unterschiedliche Weise in Schichten aufspaltet, kann die Stratifikation nicht auf der Grundlage nur eines Aspekts beschrieben werden. Vielmehr müssen die verschiedenartigen Typen der Stratifikation und die entsprechenden Statuslagen berücksichtigt werden. Die Vorteile und Nachteile mischen sich, treffen sich oder kollidieren auf spezifische Weise in dieser mannigfaltig geschichteten Sozialstruktur. Gegenwärtig ist die soziale Lage von zwei Dritteln der Bevölkerung durch sogenannte Inkonsistenzen bestimmt, d.h. sie befinden sich in einer besseren Lage unter einem, in einer schlechteren unter einem anderen Aspekt.
Zwei Drittel unserer Bevölkerung sind mit Handarbeit beschäftigt: Arbeiter und Bauern in verschiedenen Branchen, sie verrichten Arbeit mit industriellem Charakter. Sie sind in sich stark differenziert nach ihrer Arbeit und nach den Lebensbedingungen. Unter den geistigen Arbeitern, ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung mit ständig wachsender Tendenz, gibt es eine ähnlich starke Differenzierung. Ein Diskussionsgegenstand in Wissenschaft und Politik ist, in welchem Sinne wir noch von den Bauern als einer Klasse sprechen können.
Heute ist es nicht mehr das Ausmaß von Ungleichheiten als solches, das gesellschaftliche Spannungen hervorruft, sondern die Nichtentsprechung von Ungleichheiten und Leistung der Individuen. Im Gesamteinkommen spielen die Faktoren, die unabhängig von der Leistung sind, eine enorme Rolle, d.h. die Bedeutung des Lohns für die Gestaltung der wirklichen Lebenssituation ist relativ gering, wobei aber der Lohn doch andererseits als Maß für die Leistung dienen soll. Die Unterschiede der Lebensbedingungen von Familien erklären sich nur zu 10 bis 15 Prozent aus dem Verdienst der Familienmitglieder. Die Kluft zwischen Verdienst und wirklichen Lebensbedingungen ist die Quelle bedeutender Spannungen. Daher wollen wir durch die Veränderung unseres Systems der Einkommensverteilung sichern, daß sich die Verdienste im Verhältnis zur Leistung entwickeln und dadurch eine größere Rolle in der Entwicklung der Lebensbedingungen spielen.
Die Lebensbedingungen sind auch dadurch bestimmt, daß in drei Viertel der Familien zusätzlich zur Vollzeitbeschäftigung andere einkommensträchtige Arbeiten verrichtet werden. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung verschärft diese ergänzende oder — mit einem gebräuchlichen, aber keineswegs treffenden Ausdruck — »zweite« Wirtschaft nicht die sozialen Ungleichheiten. Ihre grundsätzlich fortschrittliche Rolle in unserem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ist unzweifelhaft, auch wenn sich durch sie die auf Arbeit verwandte Zeit bedeutend erhöht.
Die dynamische Verbesserung der Lebensbedingungen stagnierte in der ersten Hälfte der 80er Jahre. Daraus kann eine Intensivierung von bestimmten sozialen Spannungen resultieren. Daher ist die Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung ein gesellschaftlich-politisches Hauptziel. Die Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung hat eine besonders negative Wirkung auf die mehrfach benachteiligte Gruppe, die ca. 12 bis 15 Prozent der Bevölkerung umfaßt. Stärker vereinheitlichte und koordinierte sozialpolitische Maßnahmen, die gerade ausgearbeitet werden, müssen mehr Mittel auf die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Gruppe konzentrieren sowie auf ihren Abbau.
Es gibt in unserer Gesellschaft immer noch soziale und Arbeitsplatzmobilität. Die Annahme, die Mobilität werde nach der Durchführung großer gesellschaftlicher Umwälzungen weitgehend zurückgehen, scheint unbegründet gewesen zu sein. Zugleich wird, infolge der internen Differenzierung der Berufsgruppen, die Beschäftigungsmobilität nicht von einer spürbaren Verbesserung der Gesamtsituation der Gesellschaft begleitet. Das ruft Spannungen hervor, vor allem bei der Ausbildung von Intellektuellen und es intensiviert sekundäre Selektionsmechanismen in der Intelligenz. Die hohe Beschäftigungsmobilität bedeutet jedoch nicht, daß die Familie ihre Bedeutung für die weitere Karriere der Kinder verloren hätte. Die gegenwärtige soziale Schichtung, ihr Reproduktionsmechanismus und ihre Mobilität haben nämlich auch spezifische Auswirkungen auf die Generationen.
Die multidimensionale Analyse des sozialen Hintergrunds zeigt, daß der kulturelle Hintergrund den größten Einfluß auf den Status hat. Im komplexen Mobilitätsprozeß scheint die Bewegung in der kulturellen Dimension am wichtigsten zu sein. Eine weit interpretierte Kultur scheint die wichtigsten Möglichkeiten zu bieten, soziale Vorteile zu übertragen, während andere Dimensionen des Sozialen hier geringere Bedeutung haben. Kulturelle Ungleichheiten stellen ein wesentliches Element der grundlegenden Ungleichheiten dar, daher muß diesem Bereich von sozialen Differenzierungen größeres Gewicht beigemessen werden. Sie korrelieren offenbar stark mit den früheren Klassenunterschieden. Allein die Untersuchung bestimmter Karrieren könnte genaueren Aufschluß über diesen Determinationszusammenhang geben.
Die Werke von Marx, Engels und Lenin enthalten kein »Rezept« zur Lösung der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungsprobleme des Sozialismus. Viele Menschen verdammten deswegen den Marxismus und behaupten, er sei in eine »Krise« gekommen. Der Marxismus ist nicht in einer Krise. Das Fehlen einer Lösung in diesem Sinne muß als Kritik an unserem Denken und an unserer Unfähigkeit aufgefaßt werden. Heute haben wir natürlich die Phase überwunden, wo jemand an das »einzige« erlösende »Modell« zum Aufbau des Sozialismus glauben oder ein solches überhaupt verlangen würde. An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend wird der Sozialismus in vielen verschiedenen Typen und Formen existieren, wie es schon Lenin aus den unterschiedlichen historischen Entwicklungen und nationalen Besonderheiten in verschiedenen Regionen abgeleitet hat. Die existierenden sozialistischen Länder geben ein Beispiel davon: es gibt nicht zwei gleiche sozialistische Lander, auch wenn man bestimmte grundlegende Regelmäßigkeiten ohne Zweifel aufzeigen kann.

Aus dem Englischen von Wieland Elfferding

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