Ein paradoxes Apriori

»Was kann wohl meiner Hand oder meinem Ohr ähnlicher und in allen Stücken gleicher sein, als ihr Bild im Spiegel? Und dennoch kann ich eine solche Hand, als im Spiegel gesehen wird, nicht an die Stelle ihres Urbildes setzen; denn wenn dieses eine rechte Hand war, so ist jene im Spiegel eine linke, und das Bild des rechten Ohres ist ein linkes, das nimmermehr die Stelle des ersteren vertreten kann. Nun sind hier keine innre Unterschiede, die irgend ein Verstand nur denken könnte; und dennoch sind die Unterschiede innerlich, so weit die Sinne lehren, denn die linke Hand kann mit der rechten unerachtet aller beiderseitigen Gleichheit und Ähnlichkeit doch nicht zwischen denselben Grenzen eingeschlossen sein (sie können nicht congruiren); der Handschuh der einen Hand kann nicht auf der andern gebraucht werden.«
»Im Finstern orientiere ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann. Aber hier hilft mir offenbar nichts als das Bestimmungsvermögen der Lagen nach einem subjektiven Unterscheidungsgrunde: denn die Objekte, deren Stelle ich finden soll, sehe ich gar nicht; und hätte jemand mir zum Spaße alle Gegenstände zwar in derselben Ordnung untereinander, aber links gesetzt, was vorher rechts war, so würde ich mich in einem Zimmer, wo sonst alle Wände ganz gleich wären, gar nicht finden können. So aber orientiere ich mich bald durch das bloße Gefühl eines Unterschiedes meiner zwei Seiten, der rechten und der linken. Eben das geschieht, wenn ich zur Nachtzeit auf mir sonst bekannten Straßen, in denen ich jetzt kein Haus unterscheide, gehen und mich gehörig wenden soll.«
Kant

Durch eine neue Konstellation von Sonne und Erde kann mit einem Schlag der Boden unter den Füßen ins Wanken geraten. So entsteht die Angst, umzustürzen, der Schwindel vor einem Rückfall in den Abgrund, ja sogar die Täuschung eines Flugs im Leeren. Um das so gefährlich erschütterte Gleichgewicht wiederherzustellen, beschließt der Philosoph, daß von nun an die Natur in ihrer Gesamtheit dem menschlichen Geist unterworfen werden soll, daß sie ihre ursprüngliche Begründung aus der notwendigen Übereinstimmung mit dem Gesetz erhalten wird. Zur Grundlage wird nun also eine transzendentale Konstruktion, unerschütterlich abgestützt durch Formen und Regeln der Vorstellung. Was nicht besagt, daß der Mann nicht zuvor einem noch natürlichen Vorrat das entnommen hätte, womit er seine Konstruktion entwickelt hat, daß ein Umweg über das Äußere entbehrlich gewesen wäre, daß »ich« nicht vor dem Selbstbewußtsein bereits eine Beziehung zu den »Dingen« gehabt hätte. Aber diese erste Zeit der entstehenden Erkenntnis wird vergessen in der arroganten Anmaßung, das Ganze souverän bestimmen zu wollen.

Das ist die erste und wichtigste Handlung beim Übergang von der Empfindung zum Verstand, der - nicht ohne Mysterium - einen Schematismus hervorbringt, welcher dem Sinnlichen niemals zurückgibt, was er ihm verdankt. Denn die Einbildungskraft, sein subtilstes Vermögen, wird im Dienst des Verstandes bleiben. Was man der Natur zugestanden hat, wird ihr alsbald in einer imperativen Geste wieder genommen. Das Zugeständnis hat also einzig den Zweck, ihre Beherrschung noch rigoroser zu sichern. Die Funktion des transzendentalen Schemas ist es, eine Besonderheit des Sinnlichen zu negativieren, so daß es nicht mehr zu dem werden kann, was es war. Es ist in seiner ersten empirischen Naivität ausgeschlossen und verschlossen. Um den Begriff eines Objekts zu erarbeiten, wird aus der Mannigfaltigkeit des sinnlichen Empfindens etwas entfernt: die Unmittelbarkeit der Beziehung zur Mutter. Die reine Anschauung richtet sich auf etwas, das die Mannigfaltigkeit der Empfindungen unter dem gänzlich unbestimmten Gedanken von etwas überhaupt zusammenfassen könnte. Sie paßt der noch wenig differenzierten Fülle die Maske des Eins an, das Versatzstück, mit dem die Bindung an die empirische Matrix, womöglich auch die an die Hysterie, mit der Kälte des Verstandes unter Gesetze gebracht werden soll. Es ist wichtig, daß wir das transzendentale Objekt als solches niemals erkennen, weil wir es sonst wiedererkennen und ihm die Wirksamkeit nehmen könnten, die es als gleichsam matriarchale Matrix in unserer Wahrnehmung aller Phänomene hat, der Phänomene, die jenes Gerüst, Bedingung ihres (Wieder-)Erscheinens, unwiederbringlich verdeckt. Das Objekt ist daher unerkennbar, und darum kann jenes Fenster der Erkenntnis eingesetzt werden, an dem es selber zwar nichts zu sehen gibt, durch dessen Rahmen aber die Anschauung alles übrigen eröffnet wird. Die intervenierende Funktion des Fensters läßt sich nur dann ausmachen - aber auch nur dann durchbrechen -, wenn man untersucht, welche Zeit nötig war, um auf diese Weise den Raum oder die Ausdehnung zu umschreiben. Es ist die logische Zeit seiner Konstitution in der imperativen Vermittlung zwischen den empirischen Anschauungen, die verworren sind, und ihrer Ordnung in allgemeinen Kategorien, die auf einer Regel a priori beruhen. Das Dritte also, das gänzlich dem Zweiten (den Kategorien) verpflichtet ist, das vom Ersten (dem Empirischen) bereits gereinigt sein soll, nachdem es sich zuvor an seinen Affektionen genährt hat, woraus mit Bestimmtheit gefolgert wird, daß es mit dem Ersten gleichartig sei, sogar in der Zeitlichkeit. Davon abgesehen, daß es sich jetzt nicht mehr um dieselbe Zeitlichkeit handelt, sondern um eine (gereinigte) transzendentale Qualität. So wird der Schrecken vor dem Formlosen verdeckt, das man nicht aneignen kann, ebenso die Abscheu vor jenem Zeug, das man in Form von Materie(n) ausscheidet. Schemata werden von nun an den Bereich der Einbildungskraft regeln, unter vielen Umwegen zwar, aber immer mittels reiner Vorstellungen. Das heißt nicht, daß der Geist sich selbst den Gegenstand gegeben hätte, mit dem er sich befaßt - das bedeutete, nach der intellektuellen Anschauung zu streben, die einzig dem »Urwesen« zukommen kann —, vielmehr hat er die Bedingungen seiner Apperzeption von Gegenständen a priori bestimmt, damit die, die er sich spontan vorstellt, rein erfaßt werden. Die mögliche Materie der Gegenstände erscheint erst a posteriori unter Verlust ihrer Form der Apprehension, durch einen Schluß, der für den Geist unvorhersehbar ist und der der Reinheit der Anschauung widerstrebt. Diese ist, so sinnlich sie sein mag, nichtsdestoweniger immer a priori durch Raum und Zeit begrenzt: Formen des äußeren oder inneren Sinnes, die das Mannigfaltige unter sich subsumieren. Das Mannigfaltige, das als Durcheinander von Wahrnehmungen und Empfindungen widersinnig ist, wird geordnet: wenn es von einem uns Äußeren herrührt, das von Objekten angefüllt ist, bekommt es nun seine räumliche, sogar geographische Bestimmung; wenn es von etwas in uns stammt, das einem Wechsel unterliegt, wird es in Funktion der Zeit analysierbar. Aber welcher Zeit?

Denn wenn wir jetzt schon wissen, welche Zeit gebraucht wurde, um das Fenster anzubringen, durch welches das Universum wahrgenommen wird, um den Raum einzufassen, dessen Unendlichkeit auf diese Weise a priori determiniert ist, also immer schon bestimmt durch die Subjektivität des Mannes, so verstehen wir auch, daß der Zeit-Raum der Spekulation, der Spiegelung bereits in der Anschauung des Raumes enthalten ist. Und wenn für den Begriff meine rechte oder meine linke Hand, oder meine Hand und ihr Bild in einem Spiegel strenggenommen dasselbe Ding, das Selbe sind, dann wäre es doch ganz anders beim anschaulichen Charakter des Raumes, der dem Paradox der Symmetrie Rechnung trägt. Ein Spiegel, so erweist sich hier, unterstützt bereits die Apprehension von Gegenständen. So würde denn ein immer schon introjizierter Spiegel alle Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt spiegeln, das eigene Selbst ausgenommen, dessen Reflexion nur von der Zeit abhängt? Dann wäre die Ausdehnung immer schon vom Subjekt inszeniert und reprojiziert; einzig es selber situiert sich nicht in ihr. Sein Vermögen, Herrschaft auszuüben, würde es aus diesem Nicht-Ort da Spiegels beziehen? Und aus der Spekulation? Die als solche und insofern sie für diesen Vorgang konstitutiv ist, nicht analysiert, ja sogar vergessen und erst dann wieder wirksam wird, wenn man sie für einen neuen Effekt der Symmetrie im System braucht. Durch einen anderen und gleichen Rückgriff auf die produktive Einbildungskraft?

Diesmal soll nämlich verhindert werden, daß die unübersehbare Kluft zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen zum Abgrund wird. Beider Verbindung wird sich in der reflektierenden Urteilskraft finden, die zwischen zwei anderen - dem Erkenntnis-und dem Begehrungsvermögen - unter anderem das Gefühl der Lust (re-)produziert. Da dieses aber, übrigens ebenso wie der Schmerz, notwendig mit dem Begehren verbunden ist - das durch die Vernunft begründet wird -, braucht man ein Mittelglied, das ein Prinzip a priori enthält und zwischen dem Gebiet des Naturbegriffs und dem des Freiheitsbegriffs angewendet werden kann. Da sie spiegelt und reflektiert, wird diese Vermittlung zumindest von doppelter Wirkung sein: sei es, daß der »Spiegel« von vornherein so definiert worden ist, daß er den Gegenstand, den er spiegeln soll, einschließt und damit lediglich dessen Besonderheit durch seinen Rahmen redeterminiert, sei es, daß der »Spiegel« den Gegenstand nicht »erkennt«, der sich ihm darbietet, und indem er ihn reflektiert, eine allgemeine Matrix konstituieren muß, die empfänglich und reproduzierbar ist. Was fordert, daß er (sich) neu denkt, daß er (sich) wieder und wieder reflektiert, damit er diese abermalige Zerstreuung der Natur, der er sich gegenübersieht und die ihn zu zersprengen, zu teilen droht, seiner Einheit, der Einheit seines Gesetzes unterordnen kann. Das heißt nicht, daß er alle Launen der Natur begreifen muß; das überläßt er gern der Möglichkeit eines allmächtigen Verstandes. Doch mindestens braucht er ein System, das ihn in seinen Beziehungen zu ihr unterstützt. Da sie sich selbst nicht vollständig regulieren kann, wird er sich regulative Prinzipien geben für die Erfahrungen, die er mit ihr macht. Indem er so tut, »als ob« er eine göttliche Intelligenz wäre, wird wenigstens das Geheimnis der Ordnung seiner empirischen, manchmal unvorhersehbaren Gesetze gewahrt. »Als ob« diese Mannigfaltigkeit ihre Zweckmäßigkeit in einer höchsten Einheit — einem noch größeren Spiegel? — hätte, der er sich ebenfalls anpassen muß; jedenfalls muß er es versuchen, ohne daß er sie erkennt. Dennoch nimmt er sie schon wahr in der Unterscheidung von Lust und Unlust, die aus den Relationen zu verschiedenen Objekten der Natur hervorgehen.

Nehmen wir das »Beispiel« seiner Beziehungen zu Frauen. Man kann bestätigen, da man es hier und da schon ausprobiert hat, daß die Wirkung, die die eine oder die andere auf den Mann ausübt, verschieden ist. So kann eine erste angenehm erscheinen, die zweite schön, eine dritte wird, allerdings sehr selten, an das Erhabene heranreichen. Was anzeigt, wie unterschiedlich sie die Eigenschaften ihres Gemüts jeweils ausgebildet haben. Daher kann es auch nützlich sein, diese Verhältnisse zu interpretieren, sowohl um die kritische Analyse der Funktionen des Geistes fortzuführen, als auch um ihm eine passende Wahl zu ermöglichen. Denn alle Bezauberung beruht im Grunde (nur) auf der Neigung, die der Mann für die Frauen hegt. So wird ihm die angenehm erscheinen, die unmittelbar die Sinne reizt. Da sie aber auch eindeutig Begehren oder das Bedürfnis nach Befriedigigung und damit ein deutliches, unumkehrbares Interesse erweckt, kann es geschehen, daß diese Frau schnell langweilt, obwohl sie manchmal notwendig sein mag, um die große Absicht der Natur zu realisieren, die diese in den Unterschied der Geschlechter gelegt hat: die Zeugung. Es ist aber darum nicht verboten, diesen Unterschied in subtilerer Weise zu genießen, was den Mann von eher feinerem Geschmack auszeichnet. Der Anblick der Schönheit einer Frau ist für die Einbildung und den Verstand ein veritables Vergnügen. Ohne jeden Zweifel ist das die Zweckmäßigkeit, die der Mann in einem solchen »Objekt« sucht, deshalb verharrt er, um es interesselos zu betrachten, ohne die Vorstellung eines Zwecks — eines Hungers? —, der direkt erfüllt werden müßte. Denn schließlich nährt diese Erscheinung unwissentlich jene für die Erkenntnis unfaßbaren Vermögen der reflektierenden Urteilskraft, die, um sich zu erhalten und anzuwachsen, der Vollständigkeit des ästhetischen Gefühls bedürfen. So läßt sich die formale, subjektive Zweckmäßigkeit dessen begreifen, was man als »Frau-Objekt« bezeichnen könnte. Von der Frau wird verlangt, daß sie nicht allein hübsch sei, denn zuviel offenkundige Symmetrie könnte nur kalten Beifall erwerben. Ihre Weiblichkeit soll auch nicht zu deutlich erkennbar sein, damit der Verstand sie nicht schleunigst auf den Begriff bringt. Ist sie aber zu tugendhaft, so rührt sie allein die Vernunft und erzeugt nichts als eine eher schmerzliche Achtung. Unbestimmt und in keiner Verbindung mit einem der Vermögen des Subjekts, treibt ihre Schönheit deren freies Spiel an. Und ganz sicher kommt es nicht auf die Existenz des Objekts an - als solches ist es vielmehr gleichgültig —, sondern auf die bloße Wirkung einer Vorstellung im Subjekt, seine Reflexion in der Einbildungskraft des Mannes also.

Das geht sowohl über das Interesse hinaus, das seine Vernunft an der schließlich vollkommen zufälligen Übereinstimmung zwischen irgendwelchen Bildungen der Natur haben kann, als auch über das interesselose Wohlgefallen, das er an deren Betrachtung hat. Er wird um so mehr vom Verstand gefesselt, je mehr er reflektiert, welche Fähigkeit der Materie selbst und ihren flüssigsten, also archaischsten Schichten zukommt, sogar an jenen Orten schöne Formen zu bilden, wo das menschliche Auge selten hinreicht, um sie wirksam reflektieren zu können: am Grunde des Meeres zum Beispiel. In jenen schwer zugänglichen Abgründen, wo durch Verflüchtigung oder Absonderung eines Teils der Materie das Übrige anschießt und fest wird in Form von Kristall. Das kann man nicht der Auswirkung einer Unterordnung unter den Geist zuschreiben und schon gar nicht einem Zweck, den die Natur sich selbst gesetzt hätte. Die Naturkräfte sind vielmehr ateleologisch und lediglich zufällig geeignet für die harmonische Anwendung menschlicher Vermögen. Tatsächlich gehen solche Dinge über den Verstand; indem sie jedoch den Begriff übersteigen, erzeugen sie ein Echo in der Idee, in der sich von nun an eine quasi natürliche Grundlage durch eine Quasi- Anschauung wiederfinden läßt. Die Idee stellt (sich) indirekt in den freien Bildungen der Materie dar. Dieses Spiel der Analogien, in das immer Unbestimmtheit eingeht, erweitert den Modus des Erkennens unbegrenzt und/oder befreit die Einbildungskraft vom Schematismus.

Die Natur hat im übrigen dafür gesorgt, daß etwas hervorgebracht werden konnte, was mehr als Geist ist, sich aber nicht so sehr auf das Sinnliche bezieht, sondern als Symbol einer übersinnlichen Einheit aller Vermögen interpretiert wird, als Konzentrationspunkt im Übersinnlichen, der diesen korrespondiert. Zentrum eines Spiegels? Einer Psyche? Ort der Konvergenz aller Reflexionen? Wer aber spiegelt was so weit? Oder was hat wen bis zu diesem Konzentrationspunkt getrieben, in dem alles sich in Unbegrenztheit und Unbestimmtheit verbindet, dem Quellpunkt subjektiver Harmonie? Welcher Überschuß macht über die formale Strenge der Vermögen hinaus deren Einklang möglich? Zu was oder wem wird er in seiner Spiegelung? Immer noch ist es die »Seele« in ihrem tiefsten Grund: Focus und Einheit des Subjekts, die in ihrem niemals ganz gelüfteten Geheimnis, durch die unvermindert unter der Maske verborgene geheime Ursache, die freie Verbindung zwischen dem Subjekt und seinem Selbst hervorbringt und bestätigt, eine Verbindung, die als eine des bloßen Geschmacks trübe und tot ist und die außerdem nur eine angenommene sein kann, wenn sie ihr Leben nicht von einer »Seele« empfängt, was bedeutet, von einer Materie: dem Genie des Subjekts. Ein Verlangen, das sich von nun an auf ein anderes Genie richtet und dem er ein zweites Mal selbst (als Selbst) antwortet durch die Erklärung seiner synthetischen und genetischen Regel oder die Herstellung einer Meta-Ästhetik, wobei er darauf wartet, daß jenes andere Genie - ein Sohn? - zur Welt komme, der sich ihm im Medium ihres gemeinsamen Geschmacks verbinden könnte.

So können sich die Vernunftideen - die Ideen - in der sinnlichen Natur mannigfaltig darstellen. Im Interesse am Schönen oder in der natürlichen Symbolisierung ist die Darstellung positiv, aber indirekt und wird durch Reflexion realisiert. Beim Genie oder in der künstlerischen Symbolisierung ist sie auch positiv, aber untergeordnet und verwirklicht sich, indem sie eine andere Natur schafft. Und wenn diese Positivität möglich geworden ist, gewiß um den Preis, daß sie nur indirekt und erst in zweiter Linie das Sinnliche berührt, dann liegt das daran, daß der Übergang zum Erhabenen schon stattgefunden hat, der eine Negativität in die unmittelbare Beziehung zur Natur einführt. Es wäre angemessener, zu sagen, er führt sie wieder ein oder wiederholt - ein zweites Mal - den Vorgang der Negativierung. Denn dasselbe kam schon beim Schematismus zur Anwendung, dem Schirm, der sich der Kontiguität entgegenstellt und als (sogenannte) direkte Beziehung lediglich die Projektion unterstützt. Aber zweifellos übersteigt die Leidenschaft auch diesen formalen Rahmen, und es passiert, daß sie aus ihrer Reserve hervorkommt, um sich in ihrer Unermeßlichkeit oder Mächtigkeit auf das zu reprojizieren, was in der Natur noch an Ungestaltem und Formlosem bleibt, als ob die Einbildungskraft angesichts jenes Nicht-Spiegelbaren einer Gewalt erlegen wäre, die sie an ihre äußersten Grenzen treibt. Da sie es aber niemals begreifen kann, fällt sie auf sich selbst zurück, wie vom Negativen ihrer Macht gezeichnet. In aller Naivität könnte sie sich der Natur unterlegen glauben, impotent oder amputiert durch die Beziehung zu jener, die sie an Größe und Mächtigkeit übertrifft. Aber ein bißchen Analyse beweist ihr, daß dieses Gebrechen durch das Begehren der/ihrer Vernunft verursacht wird, die die Unendlichkeit des Sinnlichen in einem Ganzen vereinen will, und daß ihre Ohnmacht nur eine relative ist, gemessen an der Idee, die die Vernunft von jener Unendlichkeit hat. Der Widerspruch wirkt sich also im Subjekt aus, als einer zwischen dem Anspruch seiner Vernunft und dem viel begrenzteren Vermögen seiner Einbildungskraft. Ejne Unangemessenheit, die Schmerz verursacht: die Evidenz einer unzureichenden Dimension.

Doch schließlich macht gerade diese Pein ein neues Vergnügen möglich. Denn in der Konfrontation mit dem »zu klein« wird die Einbildungskraft, um einer möglichen Verachtung vorzubeugen, sich selbst überwinden und sich die Unerreichbarkeit der vernünftigen Idee vorstellen. Ihr »nicht möglich« wird zum Beginn einer Absonderung des Negativen (in ihr), wodurch die Darstellung des Unendlichen möglich wird. So verschwinden auch ihre Grenzen im Fortschreiten zur Abstraktion (vom Sinnlichen), die, auch wenn sie noch so negativ ist, die Seele doch nicht weniger erweitert. Die Seele wird unermeßlich, da sie die Natur in ihrer Totalität wie ein (sagen wir) unbeschriebenes Blatt in ihren Bereich zurückgeholt hat. Die Seele, der Ort der - virtuellen - Sammlung und Verbindung des Über-Sinnlichen, löst in ihrem Unmaß, das unterdessen durch jene Distanz zum Negativen ausgeglichen wurde, die Unangemessenheit von Einbildungskraft und Vernunft auf. Dennoch muß sie sich mit dem Entwicklungsgang einer Kultur verbinden und diesen begleiten. Damit sie, die in unbestimmter Spekulation vorgestellt wurde, sich praktisch (re-)determinieren kann; damit das Negative, das in der Erkenntnis im Spiel ist, dialektisch mit der Realisierung des Begehrens verbunden werden kann. Dynamische Erhabenheit, die den Mann prädestiniert, (nur) ein moralisches Wesen zu sein.

Ist das das Ende und die Erfüllung eines Schmerzes, den ein manchmal zu groß geratener Komplex verursacht? Das noli tangere matrem findet im kategorischen Imperativ seine rationale Wunschökonomie. Die Furcht und der Schrecken vor einer allmächtigen Natur verbieten es, sie anzurühren, und mit dem Mut, ihren Reizen zu widerstehen, begründen sie ineins das Recht, sich als von ihr unabhängig zu beurteilen, ohne deshalb zu vergessen, daß man sich in den Stand setzen muß, ihren wiederkehrenden Gefahren zu begegnen, indem man die (eigene) Kultur entwickelt. Auch diese gründet sich auf jenen Abgrund, den die Vernunft für die Einbildung darstellt. Daß sie sich dabei durch die Vorspiegelung einer transzendentalen Illusion zu ergänzen weiß, sagt nichts über das zeitliche Intervall der Spiegelung aus, das ihre Perspektive abgründig ins Unendliche führt. Daß »Gott« niemals als ein Objekt möglicher Darstellung erscheint, verhindert nicht, daß sich die Idee in ihrem Prozeß darauf richtet. In der Umkehrung der Unermeßlichkeit der Natur zur Unerreichbarkeit des Endzwecks wird das Paradox einer Symmetrie nicht vermieden, eine Differenz wird in der Spiegelverkehrtheit der Spekulation niemals analysiert. Zweifellos, weil sie als Objekt nicht gespiegelt werden konnte. Aber gerade dadurch unterstützt sie die eigentliche Wirkungsweise des »Objekts«, die auch die wirkliche des Begehrens wäre: jene Hülle oder jenes Futteral nach außen Zu kehren, das seine Vorstellung und seine Anwesenheit im Subjekt verbirgt. Was nicht ohne Mühe geschieht. Es bleibt ein Rest. Doch dadurch wird der Raum in die Zeit resorbiert, und für den Geist bleibt die Hoffnung bestehen, die Operation in einer unabsehbaren Zukunft zu vollenden. Sofern ihn das radikal Böse, das ihn in seiner Leidenschaft für das Sinnliche seit eh und je anzieht, bei der Übertretung des Gesetzes nicht zu weit treibt: der neue Adam, der mit irgendeiner Eva einer mysteriösen Verführung erliegt und damit seine ursprüngliche Unschuld zerstört. Aber aus der freien Einwilligung in die Sünde folgt, daß er sich aus seiner natürlichen Disposition auch zum Guten erheben kann. Und das ist auch die Regel, die seine Pflicht ihm auferlegt: alle derartigen Neigungen in sich durch eine radikale Umwandlung auszutilgen. Auf diese Weise muß die grundlegende Verderbnis in reine Achtung des Gesetzes verwandelt werden. Und um das zu tun, hat man die Gnade »Gottes« nicht nötig. Die eigenen Kräfte des Menschen reichen dafür aus, sofern er nicht jenes Pfund zu tief vergraben hat, das ihm mitgegeben wurde. Das Urbild der moralischen Intention in ihrer ganzen Reinheit ist natürlich jener Gottessohn, dessen Mutter auf ewig jungfräulich blieb, der also ohne Kopulation erzeugt wurde, deren wir uns zu schämen hätten. Das Vorbild, das, vom Himmel herabgestiegen, die Menschheit trägt und anzeigt, wie durch seine Lehre, guten Lebenswandel und vor allem durch Leiden, die Erbsünde vor »Gott« gesühnt werden kann, indem er durch den Schmerz - den süßen Köder! -, der vielleicht bis zum Tod geht, seine Schuld gegen »Ihn« abträgt. Der Sieg desjenigen, den man ans Kreuz schlägt, bekräftigt das Los, das hienieden jedem guten Menschen beschert wird, indem er seine Qual zur Schau stellt. Denn er legt seine Ehre in die Demütigung, auf die ihn das gewaltsame Instrument jeder Umwandlung festnagelt. Und er wird dies Opfer aus Treu und Glauben noch einmal bringen. Ein imaginärer Überschuß, der das Verstandeswissen übersteigt und noch nicht in einer rein moralischen Gesetzgebung aufgegangen, noch nicht an den Imperativen der praktischen Vernunft ausgerichtet ist, welche öffentliche Freiheit des Bewußtseins voraussetzt, um ohne Schlacken angewendet werden zu können.
Das war bisher in keiner Gesellschaft erlaubt, weder in einer monarchischen noch einer aristokratischen, ja, selbst in einer demokratischen nicht. Man muß vielmehr an eine Hausgenossenschaft (Familie) denken. Diese funktioniert unter der Leitung eines moralischen Vaters, der unsichtbar in seinem Sohn vertreten ist, dem Sohn, der in Ihm von allen Mitgliedern verehrt wird; auf diese Weise treten sie untereinander in eine allgemeine, freiwillige und fortdauernde Herzensvereinigung. Daß diese Gemeinschaft einige Kulte, einige Riten - Selbstpeinigung zum Beispiel -braucht, um fortzubestehen, liegt an der Schwäche des menschlichen Gemüts, das nur allmählich zu der Überzeugung gelangt, daß man aus Pflicht handeln muß. Wobei die Menschen auf dem Weg zur zunehmenden Vervollkommung von jeher auf der Suche nach irgendeiner Schmerzlust sind. Die Form dieser Belohnungs-Strafen wird jedesmal direkt durch »Gott«, den obersten Gesetzgeber der Vernunft, inspiriert, einer selbst noch in ihrer größten Strenge natürlichen Vernunft. Der göttliche Charakter der Befehlsgewalt - als stellvertretende Genugtuung - wird ihr nur zugestanden, damit »ich« sein Wesen in der Pflicht erkennt. Die Stimme des Vaters - oder der geächteten Mutter? - ist nur ein Surplus der Offenbarung und der Entgeltung, wiewohl als innere Stimme nicht zu unterdrücken. Eine bloße Zugabe? Eine die Freiheit des Subjekts entbindende Gratifikation, das sich so ein weiteres Mal das Recht erteilt, alles, was außerhalb seiner selbst ist, unter Gesetze zu bringen. Unbekümmert um die Selbstliebe und um deren Neigungen, die in der Souveränität des Bewußtseins unvermittelt ihren Ausgleich finden. Das Bewußtsein wird, je weniger es sich auserwählt fühlt, desto selbstgewisser im Vertrauen auf die ihm eigenen Kräfte, die es, in seinem kritischen Verstände, Grenzen nennt. Blind geworden, weil es alles Wissen, das seine Begründung nicht in ihm selbst hat, als Verblendung abweist. Erleuchtet und hinters Licht geführt also von seiner einzigartigen Luzidität, die bei jeder Wendung seines Systems dem immer wieder auftauchenden Geheimnis durch eine neue Reflexion der Quelle des Lichts eine andere Gestalt gibt. Dabei hilft es sich mit einem Spiegel, der manchmal ohne Folie, manchmal ein rauchgeschwärztes Glas ist.

So hat das Subjekt schließlich Stück für Stück seine Behausung errichtet. Und es fehlt ihm dort sozusagen an gar nichts: Es hat sich auf einem sicheren Boden angesiedelt, dessen Geographie bestimmt ist, es hat Grundbuch, Keller, Treppen, Eßzimmer, Schlafzimmer, Kabinett, Arbeitszimmer, Flure, Türen und Fenster, Speicher... Daß das Gebäude so in verschiedene Bereiche aufgeteilt ist, bedeutet nichts, denn jeder derselben ist dem Ganzen untergeordnet und erhebt niemals Anspruch auf Totalität. Es macht das Mysterium konturenlos - auch das Hysterium -, daß die Totalität dieser Komposition eines harmonischen Zusammenhangs es einschließt. Die Aufteilung des Raumes in einzelne Kammern wird nicht alles, nicht das Ganze für den Fortschritt des Subjektwerdens bedeuten, auch die einer Serie vergleichbare Summierung der Kammern nicht, denn in ihnen allen findet man nicht die Zweckmäßigkeit, die für die Bildung des Geistes konstitutiv ist. Sie sind dafür bloß partielle Mittel, trügerische Öffnungen, die das zu seiner Begründung notwendige Apriori reflektieren: die Verfälschung dar gesamten Natur. Imaginäres Fundament, das jenes Pfund einschließt, mit dem er in seinen vielfältigen Beziehungen zur Mannigfaltigkeit des Sinnlichen wuchert: Ob diese Beziehungen nun auf die Unterwerfung des Sinnlichen durch den Schematismus und die Kategorien zielen oder auf die interesselose Betrachtung ihrer Schönheit - der Umweg über »sie« fordert den narzißtischen Gewinn als Preis. Diese Beziehungen können auch im Anwachsen der Kräfte durch die Gegenüberstellung mit der erhabenen (Ent-)Fesselung der Natur bestehen, in der Abstraktion der Empfindung von der Unendlichkeit ihrer unvergleichlichen Größe, in der Hervorbringung eines Werkes, bei dem es manchmal schwierig ist, zu bestimmen, wo das Symbolische die freien Bildungen der Natur nachahmt, in der Autonomie der Moral, die sich in der Praxis nur durch sich selbst autorisiert, wenn sie ihre Gewähr durch einen Vater bekommt, der nur durch das Verlangen existiert, alles in Freiheit unter Gesetze zu bringen.

Trifft sich Kant mit Sade in der Lust, die notwendig Leiden braucht? Oder, nur eine Viertelumdrehung - etwas mehr oder etwas weniger - zugunsten der Scharfsinnigkeit seines Geistes, trifft sich Kant mit Masoch? Das kann zweifellos an einer derart im Formalen erstarrten Systematik fesseln: der eine und der andere, oder weder einfach der eine noch der andere. Sicherlich ist die Systematik das grausame Instrument der Gesetzgebung zur Anwendung der Regel, sie muß aber auch der Natur eine schmerzliche Achtung entgegenbringen. Ejnige Naturgesetze entgehen dem Subjekt durch die Widersprüchlichkeit seiner Gefühle beim Anblick der Schönheit und auch durch den Unwillen über eine immer noch spürbare Zerissenheit. Quadratur eines Kreises, ohne bestimmtes Objekt des Begehrens, außer jener Suche nach den Resten einer Beziehung zur Mutter. In ihm? Außerhalb von ihm? Aber es ist jetzt alles in der Dauer des Subjekts. Und ob sich das Geschehen nun eher drinnen oder draußen, eher in seinem Boudoir oder in seinem Arbeitszimmer ereignet, ob das Subjekt sich manchmal an einem Feuer zerstreut, das in seiner Phantasie barocke Formen annimmt, oder durch sein Fenster den noch unendlichen und unbestimmten Raum des Universums betrachtet, die Szene spielt sich stets in seinem Haus, im Geist des Subjekts ab. Und wer oder was könnte es jetzt noch dazu bringen, herauszutreten? Vielleicht ein Sendbote der Revolution? Oder die Tatsache, daß jener Focus aus Spiegeln besteht, die durch die Jahre ein bißchen an Glanz verloren haben und stumpf geworden sind — einmal abgesehen davon, daß sie schon immer teilweise ohne Folie und rauchgeschwärzt waren; Spiegel, die eine derart tödliche Langeweile spiegeln, daß sie, hätte man sie nicht um jeden Preis gewollt, den Wunsch zu sterben erwecken würde — und sei es aus Liebe zu sterben, wenn das noch möglich wäre —, damit das endlich aufhört. Für immer.