Kapitel 30 - 33

Im Sommer 1945 mähten italienische Kriegsgefangene den Rasen von Sissinghurst. Allmählich kehrte Vitas Vorkriegspersonal wieder zurück. Jack Copper erkundigte sich, ob man ihn wieder als Chauffeur haben wolle.

  • »Ich sagte, ja, natürlich, aber er möge nicht vergessen, daß er jetzt anderswo mehr Geld verdienen könne als bei uns. >Das interessiert mich nicht, Madame; wenn Sie mich ha­ben wollen, möchte ich gern kommen... Sie sind gut zu mir gewe­sen und verstehen mich: ich gehe mit Ihnen überallhin.<«

Vita war froh, daß sie Mac zurück hatte - »obwohl es weniger spaßig war, ihr Zimmer zu putzen, in dem drei Jahre lang weder ge­fegt noch Staub gewischt worden war«. Ihre Beziehung zu Mac, ih­rer »Anna«, stand kurz vor der Auflösung. Mac hatte ihr Ende 1944 geschrieben, sie sei jetzt fünfzig, sähe aber aus wie sechzig und fühle sich »manchmal wie siebzig: was also habe ich noch mit Liebe zu schaffen? Gleichwohl werde ich deine Freundschaft im­mer hochschätzen (abgedroschen, aber wahr).« Mac richtete sich nach und nach als Sekretärin und Vertraute ein und spielte die Rolle (im Rahmen ihrer beschränkteren Möglichkeiten), die Hilda Matheson innegehabt hatte.
Gegen Ende des Jahres kehrte Jack Vass als Obergärtner nach Sissinghurst zurück. Er war bei der RAF gewesen und als vermißt gemeldet worden, nachdem sein Flugzeug über Südfrankreich ab­geschossen worden war. Doch er überlebte und schlug sich auf ei­gene Faust durch das besetzte Frankreich bis nach England durch.
Im Sommer 1945 fanden Neuwahlen statt. Während Harold (er kandidierte als Unabhängiger, wurde aber von den Konservativen in Leicester unterstützt) sich um seinen Wahlkreis in West Leicester kümmerte, stellte Vita die Lyrik-Anthologie zusammen, die sie zu­sammen herausgaben. Sie nannten sie Another World Than This nach einer Zeile aus Vitas The Garden. Seit der letzten Wahl hatte Vitas Einstellung sich gewandelt. Dieses Mal war sie nicht nur be­sorgt, sondern beteiligt. Sie distanzierte sich nicht mehr.  »Ach, mein Hadji. Ich liebe dich so wahnsinnig, mehr, als ich dich je zuvor geliebt habe, mehr, als ich dich liebte, als wir jung waren, und solch einen Wirbel um das >Verliebtsein< machten.« Sie fuhr sogar nach Leicester, sprach auf einer Frauenversammlung und nahm an zwei Abendveranstaltungen teil, auf denen Harold sprach.
Noch immer haßte sie die Parteipolitik, aber sie wollte »helfen, wenn ich kann«. Wenn sie diesen Dingen auch zum ersten Mal ihre Aufmerksamkeit schenkte, beurteilte sie die Stimmung in England möglicherweise mit größerem Scharfsinn als Harold. Churchill war ein großer Kriegspremierminister gewesen: aber war ein mü­der, alternder Churchill oder die Konservative Partei das Richtige für die Welt nach dem Krieg? Am 22. Juni schrieb sie an Harold:

  • »Du weißt, daß ich eine Bewunderung für Winston hege, die an Ver­götterung grenzt, und darum war ich so schrecklich beunruhigt über seine schlechten Wahlreden im Rundfunk. Was funktioniert bei ihm nicht richtig? Die Reden waren konfus, verschwommen, zusammenhanglos und so langatmig, daß es unmöglich ist, einen handfesten Gedanken herauszufiltern. Wenn ich ein unentschlossener Wähler wäre, würden sie mich ins andere Lager treiben.«

Sie drängte Harold, Versammlungen in Fabriken abzuhalten, um die Wechselwähler unter den Arbeitern für sich zu gewinnen. Nach ihrer Ansicht würden die Konservativen jeden Wechselwähler brau­chen, den sie kriegen konnten: »Im Ernst, Hadji, wenn ich kein An­hänger der Konservativen wäre, würde ich keiner werden, wenn du verstehst, was ich meine, und ich fürchte, das Argument >Churchill hat den Krieg gewonnen< ist ein schlechtes Argument... Ich glaube nicht, daß Winston der richtige Mann ist, um mit den unmittelba­ren Problemen im eigenen Land fertig zu werden.« Das glaubten auch die britischen Wähler. Vita war mit den Jungen am Wahltag in Leicester, wo sie erfuhren, daß Harold seinen Sitz verloren und die Labour Party unter Clement Attlee einen klaren Sieg im Land er­rungen hatte. Zurück in Sissinghurst, nahm Harold zwei Aspirin und ging zu Bett, traurig, daß für ihn in seinem geliebten Unter­haus kein Platz mehr war.
Zwei Tage später mußte Vita ihm eine weitere schlechte Nachricht mitteilen. Seit Monaten drängte Harolds Bruder Eric darauf, daß Lord Carnock (Freddy), ihr ältester Bruder, einen Dauermie­ter in die Wohnung am Kings Bench Walk setzte. Vita hatte sich heftig für Harolds Interessen eingesetzt: »Das muß um jeden Preis verhindert werden. Wenn nötig, werde ich F[reddy] ermorden, aber ich will nicht, daß du ein Zwangsumsiedler wirst und deine schöne Wohnung verlierst, die du so liebst.« Kings Bench Walk lag im Inner Tempel, einer der Inns of Court.* (* Der Barrister (Anwalt) wird von einer der Londoner Ausbildungsstätten der Barristers (Inns of Court) aufgenommen, wo er zwei Jahre studieren und ein Jahr bei einem prak­tizierenden Barrister hospitieren muß, ehe er zugelassen wird und Prozesse führen kann [Anm. d. Übers.]) Freddy war ein Anwalt, der nicht praktizierte, und Harold hatte die Wohnung nur mieten können, indem er den Namen seines Bruders angab. Jetzt gab es ein neues Gesetz, nachdem nur Anwälte mit Praxis dort wohnen durf­ten, so daß Harold in jedem Fall ausziehen mußte.
Elvira Niggeman unterrichtete Vita davon, die es Harold er­zählte. Sie besorgten ihm ein Haus in Neville Terrace, South Ken­sington, gegen das er eine herzliche Abneigung hatte. Auch Ben und Nigel sollten darin wohnen: Ihre Gesellschaft machte das Woh­nen erträglich. An dem Tag, da Harold in Neville Terrace einzog, verließ Mac ihr altes Schlaf-Wohn-Zimmer in Sissinghurst und zog in die weniger intime Nachbarschaft von Horse-race: So fügte es sich, daß an diesem «häßlichen, schmerzlichen Tag« zwei Ab­schnitte zu Ende gingen.
Nach dem Verlust, seines Sitzes im Unterhaus hängte Harold sein Herz daran, eine Peerage** zu bekommen. (** Die Peerage ist erblich, kann aber vom Monarchen auf Lebenszeit wegen besonderer Verdienste verliehen werden [Anm. d. Übers.]) Als Mitglied des Ober­hauses wären seine Karriereprobleme gelöst, er hätte einen ständi­gen Platz im öffentlichen Leben gehabt und sich einen alten Traum erfüllt — etwas, was er fast als sichere Tatsache angenommen hatte, seit er sich selbst als Botschafter, wenn nicht gar als Vizekönig von Indien gesehen hatte.
Aber es war nicht so leicht. Schließlich gab es keinen überzeu­genden Grund, seinen Namen ins Spiel zu bringen. Seine offen­sichtliche Ängstlichkeit trug wenig dazu bei, seine Sache zu för­dern. Vitas  Rat in dieser  Sache war unvernünftig. »Ich habe darüber nachgedacht, was du darüber gesagt hast, ich müsse mich dem Oberhaus gegenüber klar äußern«, schrieb er ihr am 19. Sep­tember, »also habe ich beschlossen, an William Jowitt zu schrei­ben.« Vita hieß seinen Brief an den Lordkanzler der Attlee-Regierung gut, der sowohl seine Ambivalenz gegen die Labour Party aussprach, doch auch seine Bereitschaft, ins Oberhaus zu gehen. »Der Brief ist deutlich, würdevoll, so wie er sein sollte«, antwortete sie. »Nun wollen wir abwarten, was geschieht.« Sie waren beide op­timistisch und dachten sich mögliche Titel aus. Vita hoffte »unsinnigerweise«, er werde ein Lord werden:

  • »Ich wüßte nur gern, warum. Bestimmt nicht aus snobistischen Gründen, obwohl ich gern sähe, daß die Jungen The Hon.* sind (ist das nicht seltsam?). (* Die Kinder von Baronen und Viceounts führen vor ihren Namen das Prädikat »The Honorable» (etwa   Ehrenwert) [Anm. d. Übers.] Auch ist es nicht deshalb, weil ich in die ver­schiedenen Formulare, die ich ausfüllen muß, lieber >Peeress of the Realm<** als >Hausbesitzer< eintrüge. (** »Peer of the Realm« ist die Bezeichnung für die erblichen Mitglieder des Oberhauses. Sie führen den Titel »Lord« [Anm. d. Übers.] (Ich würde viel lieber »Schriftsteller« oder »Dichter« eintragen, aber >Dichter< ist eine Bezeichnung, welche die Behörden nicht gelten lassen: da ist es mir ein Trost, daß ich >Hausbesitzer anstatt >Ehefrau< eintragen kann.) Vor allem aber wünsche ich dir ein Podium, von dem aus du mit Würde sprechen kannst, ohne dich um Wahlen und Wähler zu küm­mern.«

Im Oktober entfloh Harold nach Griechenland, um Urlaub zu ma­chen. Vita haßte seine Reise.

  • »Wie auch immer, es ist nun mal so, und das Leben ist jetzt völlig finster. Diese Macht, die Menschen ha­ben, um einander zu verletzen, ist furchtbar, nicht wahr?«

Harold wies darauf hin, er habe auf viele große Reisen verzichtet, um ihre neurotischen Ängste wegen seiner Reisen zu beschwichtigen. Er haßte es, wenn sie verärgert war. »Wenn sie mich tadelt, komme ich mir wie eine Clematis vor, die man von ihren Drähten gerissen hat.« Ben veröffentlichte kunsthistorische Aufsätze in Cornhill und in der neuen Zeitschrift Contact, die George Weidenfeld gegründet hatte. In gewisser Weise fügte er sich besser in das Zivilleben ein als Nigel, der sich im Krieg vorzüglich geschlagen hatte und mit dem MBE* heimgekehrt war. (*  MBE = Member (of the Order) of the British Empire [Anm. d. Übers.]) Harold war der Meinung, Ben sei ihr »Pro­blemkind« und brauche, wie eine Clematis, mehr Unterstützung als Nigel. Vita war nicht so sicher. Da sie Ben nicht mehr so nahe­stand, konzentrierte sie sich stärker auf Nigel. Sie schrieb am 5. De­zember an Harold:

  • »Ich frage mich, ob Niggs recht hat, wenn er sagt, Ben sei exzen­trisch. Ich gestehe, daß ich aus Ben nicht ganz klug werde. Wie sieht es wirklich in seinem Inneren aus? ... Natürlich würde ich ihn nie im Stich lassen, aber gleichzeitig denke ich, daß der robuste Grenadier [Nigel] genausoviel Zuneigung braucht. Ich glaube, er mag uns beide sehr gern: und ich glaube, daß er unter seiner Selbstsicherheit empfindsamer ist als du annimmst. Ich wünschte bei Gott. Ben würde heiraten, das wäre für ihn das Allerbeste, und wenn es nur eine Art von platonischer Ehe wäre.«

Bens engsten Freund, Philip Toynbee, mochte sie nicht und miß­traute ihm, denn sie glaubte, er ermutige Ben zu seinem »unverantwortlichen« bohemehaften, unbürgerlichen Verhalten.
Die von ihm angestrebte Peerage hatte Harold, wie er Vita sagte, als »eine Auffangstellung, einen Trostpreis« für unerfüllte Ambitio­nen betrachtet. Doch jetzt, da sie wahrscheinlich unerreichbar war. »merke ich, daß mich inzwischen nach dem Trostpreis mehr verlangt hat als nach dem eigentlichen Preis«. Vita gab ihm zum zweiten Mal einen schlechten Rat. In einem Brief vom 6. Januar 1946 mit dem Vermerk »Dies ist ein sehr ernster Brief« riet sie ihm, er solle sich der Labour Party anschließen - in der Hoffnung, ein von Labour nominierter Peer zu werden. »Ich sehe, daß du in einer Klemme steckst, und die einzige zufriedenstellende Lösung für dich besteht darin, das zu tun, was ich vorgeschlagen habe.« Ha­rold kannte sich mit den Winkelzügen der Politik weitaus besser aus als sie und hätte ihren Rat nicht anzunehmen brauchen; aber in diesem Fall hatte er die Orientierung verloren.
Ordnungsgemäß schrieb Harold im April an den Lordkanzler, er sei bereit, der Labour Party beizutreten. Vita riet ihm, sein Anlie­gen zu forcieren, dieses Mal beim Premierminister. »Ich glaube, du machst einen Fehler, wenn du Cranfield [sie hatten sich auf >Lord Cranfield< als seinen zukünftigen Titel geeinigt] jetzt, wo du die Möglichkeit dazu hast, Attlee gegenüber nicht erwähnst. Es kann gut möglich sein, daß ihm die ganze Sache nicht mehr gegenwärtig ist... und eine leise Mahnung würde keinen Schaden anrichten.«
Doch Harolds »Mahnungen« hatten bloß Enttäuschung und den Verlust von Würde zur Folge. Formell schloß er sich erst im Früh­jahr 1947 der Labour Party an. Um diese Zeit zog sich Vita unmerk­lich zurück — »allerdings nicht ganz feindselig, besonders, wenn es eventuell zu Lord Cranfield führt. Natürlich will ich nicht wirklich, daß du mit diesen bedints verkehrst.«
Nachdem Vita das Manuskript von The Garden endlich abge­schickt hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den wirklichen Garten. Sie wollte die Spuren der Vernachlässigung aus der Kriegs­zeit tilgen. »Ach, lieber Gott, bitte laß Vass kräftig und gesund bleiben, wenigstens, bis er achtzig ist, und führe ihn nie durch den Garten eines anderen in Versuchung.« Sie konzentrierte sich auf Blütenpflanzen; Gemüse zu ziehen war ein Teil der abgelegten Kriegsmentalität, obwohl sie immer genügend anbauten, um das Haus mit dem Nötigsten zu versorgen.
Mit Leichtigkeit und Vergnügen warf sie eine Mordgeschichte aufs Papier, ein Auftrag, den sie für reizvolle 3000 Pfund übernom­men hatte. Das war >Der Teufel von Westease<, von Doubleday in den Vereinigten Staaten (aber nie in England) verlegt.
Der Roman spielt in einem verschlafenen Dorf in West-England und verwendet in der Person des Mörders das Doppelgängermotiv aus Jekyll-und-Hyde: es gibt kein Motiv, außer dem Verlangen, das perfekte Verbrechen zu begehen. Auch ein moralisches Problem wird aufgeworfen: Wenn ein großer Künstler sich eines Verbre­chens schuldig gemacht hat, soll er wie jeder andere bestraft oder um seiner Kunst willen der Gerechtigkeit entzogen werden? Es ist, wie Vita selbst meinte, eine »raffinierte« Geschichte - aber an den Haaren herbeigezogen und in der Ausführung amateurhaft.
Im Februar 1946 bekam sie von Michael Joseph die Fahnen von >The Garden< und schrieb in ihr Tagebuch:

  • »Sie haben mich depri­miert. Es ist schlimmer, als ich fürchtete - gar nicht zu vergleichen mit >The Land,< obwohl das nicht viel sagt.«

Sie war schon eine ganze Zeit lang wegen des Gedichtes besorgt und hatte im vergan­genen Oktober an Harald geschrieben:

  • »Es bekümmert mich ein wenig, daß ich den Kontakt mit der Dich­tung verloren habe, die heute geschrieben wird. Ich bekomme so viele Gedichtbände vom Observer und auch direkt von Möchte­gern-Dichtern und sehe, daß der Einfluß von Tom Eliot und der Stephen-Spender-Auden-Schule vorherrschend ist - doch ich kann mich mit alldem überhaupt nicht anfreunden. Irgend etwas fehlt mir da einfach in meiner Natur. Es könnte sein, daß es etwas mit meiner Abneigung gegen Politik zu tun hat... Ich meine, ein Man­gel an Interesse, was zeitgenössische Dinge betrifft.«

Sie verabscheue, sagte sie, ihre Virtuosität: »Meine Geschicklich­keit - sie gleicht dem Ablauf eines elektrischen Klaviers. Warum macht es mich denn so unerträglich glücklich, Poesie zu schreiben, wenn ich weiß, daß es alles überholte, unsinnige Wörter sind, die Bens Generation überhaupt nichts bedeuten. Wird es jemals einer Generation etwas bedeuten? Ich bezweifle das.« Ihre Trübsal we­gen der Fahnen rief die Rückkehr zu ihren, wie Harold sie ebenso trübselig nannte, »Verschwommenheiten« hervor. Während sie auf das Erscheinen von The Garden wartete, arbeitete sie wie besessen in ihrem eigenen Garten. - »Du siehst, daß ich darauf eingestellt bin, alle meine Energien dem Garten zu widmen, nachdem ich die Literatur aufgegeben habe.« Am Tag vor dem Erscheinen des Ge­dichtes versteckte sie sich »vor lauter Elend« im Wald.
Es gab einen besonderen Grund für ihre Verzweiflung. Im März nahm sie an einem Treffen des Dichtungs-Komitees der Schriftstellervereinigung teil, die unter dem Vorsitz von Denys Kilham Ro­berts in seiner Wohnung, in der Nähe von Harolds altem Wohnsitz in Kings Bench Walk, stattfand. Das Komitee - dem Edith Sitwell, Walter de la Mare, Henry Reed, Dylan Thomas. Louis MacNeice und George Barker angehörten — sollte eine Lyrik-Lesung planen, die in Anwesenheit der Königin in der Wigmore Hall stattfinden sollte. Aus dieser Zeit findet sich kein Eintrag in Vitas Tagebuch: erst 1950 schrieb sie in einer depressiven Phase: »Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder ein Gedicht schreiben werde. An jenem lag in Denys Kilham Roberts' Wohnung in King's Bench Walk haben sie mich für immer vernichtet.«
Was geschehen war, findet seine Erklärung in einem Brief, den sie 1951 an Eddy Sackville-West schrieb, um ihn zu trösten, daß er auf der von der National Book League veranstalteten Ausstellung der 100 besten Bücher »repräsentativer Autoren« seit 1920 nicht vertreten war. (Harolds Some People* (*  Deutsch: Miß Plimsoll und andere Leute. (1929) [Anm. d. Übers.].) und Vitas The Land waren dabei.) Vita erzählte Eddy von einem Ereignis, »das mich so sehr verletzte, daß ich es nie jemandem erzählt habe — nicht einmal Harold«. Es handelte sich darum, daß auf dem Treffen keiner ihrer Kollegen Vita für die Lesung aus dem eigenen Werk in der Wigmore Hall vorgeschlagen hatte.
»Nun erhebe ich nicht den Anspruch, Lyrik sehr gut zu lesen; aber ich weiß, daß ich mich hören lassen kann, was mehr ist, als man von einigen Mitgliedern des Komitees sagen kann; also kann man nur schließen, daß sie mich nicht für würdig hielten, auf dem Po­dium zu erscheinen - mit anderen Worten: Meine Poesie war nicht gut genug. Auf mich wirkte sich das so aus, daß ich seitdem nie­mals mehr eine Verszeile geschrieben habe.«[1]
Von Anfang an war es Vitas Bestreben gewesen, eine Dichterin zu sein — und als Dichterin von nachhaltiger Bedeutung bekannt und anerkannt zu sein. Was sie als junge Frau geschrieben hatte, war mit Zustimmung und Beifall begrüßt worden: gegen Mißachtung hatte sie nie ankämpfen müssen. Das war vielleicht der Grund, warum diese Zurückweisung, diese Einbuße an Bestätigung ihr so vollkommen und niederschmetternd erschienen. Die traurige Iro­nie ist, daß The Garden ein interessanteres und subtileres Gedicht ist als The Land. In The Garden, ein wenig kürzer als das frühere Gedicht, gibt es viele Stellen, an denen sich, wie sie schrieb, »Mar­thas Garten in Marias Klause verwandelt«; es ist nicht so sehr ein Traktat über das Gärtnern in Versen als eine lange Meditation, eine Erkundung ihrer persönlichen Metaphysik in Kriegszeiten. Sie widmete das Gedicht der alten Mrs. Drummond:

Das Unkraut meines Gartens laß ich grünen.
Und ich weiß nicht, ob ich Dir Freude mache.
Doch einen winz'gen Fleck hab ich für Dich gejätet.
Um meiner Seele wilde Flecken so zu sühnen.

In der Widmung sprach sie vom Verlust der Leidenschaft, die das Altern mit sich bringt, von der »tödlichen Ruhe«, gesucht

Von einem matten Herzen.
Von einem Geist, der sich verzehrte
In langem Wahn, der immer nur begehrte.

Doch in dem Gedicht zitiert sie vier Zeilen aus Eliots >Das wüste Land< - »April benimmt das Herz«* -, (* T.S. Eliot. The Waste Land (1922) dt. Das wüste Land, 1972 (übers. v. Eva Hesse). Die von VSW übernommenen vier Zeilen lauten: April benimmt das Herz, erheckt Flieder mit der toten Flur, verquickt / Erinnern und Verlangen, langt /Taube Wurzeln an mit Lenzregen< [Anm. d. Übers.]), nur um deren Pessimismus leidenschaftlich zu widerlegen: »Ich will an den Frühling glauben«:

Ich wollte, meine Feder bohrte wie ein blaues Bajonett
Sich durch die Eingeweide unsrer Unterwerfung.

Statt dessen bietet sie keinen oberflächlichen Optimismus an:

Wir wissen nur eines: Wir hatten die Vision,
Die eine Gnade war, und trafen schon
Unsre Wahl zwischen Hoffen und Verzagen
Und hörten den Ruf und folgten ihm nach.
Um auf andere Art
Eine Antwort zu wagen.

Die »Vision« besteht zum Teil im Garten und seinen Blumen:

Ihr träumtet uns. Wir haben die Träume wahr gemacht.
Wir sind eure Vision, die Erfüllung fand.
Ihr sätet uns, und folgsam wuchsen wir zur Nacht,
Doch habt ihr dabei mehr gesät, als ihr gedacht.
Und eine andre Kraft als unsre hielt uns in der Hand.

Vitas »andre Kraft als unsre« ist nicht der liebende Gott des Neuen Testaments. So schreibt sie über hungrige Vögel:

Sie fürchten einander; sie fürchten nicht Dich.
Mag Christus auch sagen: Sie lieben sich.
Doch Christus spricht selten wie die Natur.

Außerhalb des paradiesischen Gartens, der »kleinen, vollkomme­nen Welt«, erstreckt sich ein grausames, ödes Universum:

Am Ende des Lebens ist man entsetzlich allein.
Am letzten Zufluchtsort;
Und wenn man selbst sich fremd, was kann schon sein
Ein Freund? Ein hübsches Versteckspiel zu zwein.

Die inneren Landschaften stehen ebenso im Brennpunkt wie der Anblick des Gartens. Eine Anmerkung im Manuskript, überschrie­ben mit »Allgemeine Themen«, beginnt: »Mut im Unglück. Ent­schiedenheit, Freude zu finden und nicht nachzugeben. Keine Schwärmerei. Kampf. Unkraut. Tod und Verlust. Erfolg und Beloh­nungen.«[2] Die Jahreszeiten in The Garden sind ebenso die des Le­bens wie die des Jahres. The Garden ist ein Gedicht der kritischen Jahre, in dem die gärtnerischen Auflistungen und Litaneien von Ar­ten und Abläufen ebenso der Anlaß wie der Zweck des Schreibens sind. Die Kunst, einen Garten zu schaffen, schrieb sie hier, bestehe darin, »Übermaß mit geschickt gewählten Ruhepausen zu vermäh­len« - ein Gleichgewicht, das sie im Leben vergeblich aufrechtzuer­halten suchte und das nicht nur durch den Krieg von außen be­droht war:

Die Chimären in den Verliesen unsres Seins.
Zerlumpt und bleich, sie selten sehn das Licht.
Sondern im Keller, von Ratten umhuscht.
Dumpf vegetieren, bis der Ruf
Sie aufscheucht, die Köter und Bettler
Und sie wie eine befreite Meute hetzt.
Um das zage Kaninchen der Seele zu jagen.

>The Garden< erhielt den Heinemann-Preis: Vita gab die ganzen 100 Pfund aus, um Azaleen für den Grabenweg zu kaufen; dennoch war sie mit dem Gedicht nicht zufrieden. Ein aufmunternder Brief von Nigel machte sie glücklich: in ihrer Antwort teilte sie ihm mit, wie sehr ihr seine neue Freundin Shirley Morgan (Tochter des Ro­manciers Charles Morgan) gefalle - und ich wäre entzückt, wenn du sie heiraten würdest; und denke bitte nicht, »wenn ich je ein Mädchen nach Sissinghurst mitbringe, wird Mama auf der Stelle zu der Überzeugung kommen, daß ich verliebt bin«. Dieses Mal hätte Vita recht gehabt; im August 1946 erzählte Nigel seiner Mut­ter, er würde Shirley gern heiraten. »Ich hoffe bloß, daß du nicht zu zurückhaltend sein wirst.« Vita schrieb an Harold: »Ich sagte ihm, daß Frauen dazu neigen. Schüchternheit in diesen Dingen mißzuverstehen und sie als Gleichgültigkeit zu deuten ... Sie wäre ein Esel, wenn sie ihn nicht heiratete.«
Das Unbehagen über ihr Gedicht machte ihr jedes Lob, woher es auch kam, kostbar. Sie war erfreut, als ihre alte Widersacherin, Edith Sitwell, ihr einen lobenden Brief schrieb - immerhin gehörte Edith zu den wenigen, »auf deren Meinung ich Wert lege«. Aber Vita war »gekränkt und verwirrt«, daß Desmond MacCarthy das Buch nicht in der Sunday Times rezensiert hatte, und versuchte sich einzureden, das speziell an ihn gesandte Exemplar habe ihn nicht erreicht.
Vor Ausbruch des Krieges war Vita zum letzten Mal in den Ferien im Ausland gewesen. Eardley Knollys und Raymond Mortimer fragten sie, ob sie mit ihnen nach Frankreich fahren wolle, und sie war einverstanden — vorausgesetzt, man benutze ihren Wagen und lasse nur sie fahren. Sie planten, über Paris zu fahren, um Harold zu besuchen, der für die BBC von der dortigen Friedenskonferenz berichtete, und dann weiter bis nach Albi im Süden. »Oh, ich bin so aufgeregt... Oh, Hadji, welch ein Spaß.« Sie mußte sich einen neuen Paß besorgen:

  • »Das Ausfüllen der Fragebogen hat mich wie immer in Wut ge­bracht.*

(* Sie mußte als »Mrs. Harold Nicolson« unterschreiben [Anm. d. Übers.])

  • Du weißt, daß ich dich mehr liebe, als je ein Mensch einen anderen geliebt hat, aber ich hasse es wirklich, wenn man mich behandelt, als ob ich dein Hund wäre... Man erlaubt uns überhaupt kein eigenes Dasein, sondern wir sind abhängig von dem, den wir heiraten. Warum gibt man mir kein Halsband, in das dein Name nebst Adresse eingraviert ist?«

Niemals, so lange sie lebte, konnte sie sich mit der patriarchali­schen Einstellung der Bürokratie aussöhnen. Eine weitere kleine Widrigkeit war ein Besuch beim Friseur. Sie fragte ihn, ob er die ni­kotingelben Strähnen aus ihrem Haar entfernen könne. Der Friseur unterzog das Haar einer »Tönung« — »und das Ergebnis ist eine hübsche marineblaue Schattierung«. Außerdem schnitt er es ihr im Nacken außerordentlich kurz. Vita las >Erziehung des Herzens< und achtete nicht darauf.
Mit ihrem marineblauen Herrenschnitt fuhr sie in die Ferien. Sie war glücklich, Harold zu sehen - im Café de Paris veranstalteten sie ein großes Mittagessen — aber sie kritisierte den Verlauf der Friedenskonferenz. Ihre Bemerkungen mit dem obligatorischen »Du weißt, daß ich keine Feministin bin, aber...« einleitend, sagte sie zu Harold: »Stell dir nur mal vor, diese Konferenz würde anstatt von Männern von Frauen geleitet — würdest du, würde nicht jeder sagen: >Was kann man von Frauen schon erwarten?< Frauen werden ihres Geschlechts wegen verdammt - dabei sind die Männer ge­nauso töricht und kurzsichtig. Q.E.D.**« (** Quod erat demonstrandum: Was zu beweisen war (Euklid: Schlußformel jeder Be­weisführung [Anm. d. Übers.])
Sie fuhr mit Eardley und Raymond nach Süden durch das Tal der Loire, die Auvergne und die Dordogne. Sie »sticht Copper aus«, wie Raymond auf einer Postkarte an Harold schrieb). Aus Souillac schrieb Raymond abermals: >Vita geht es prächtig, und nach langen Tagen hinter dem Steuer ist sie nicht müde und ansprechbar für alles. Wir schnattern und ki­chern unentwegt, wir lesen keine Zeitungen ... Jeder hat seine Aufgaben: Vita fährt und wird vorgeschoben, wenn Charme nötig ist. um etwas zu bekommen — und der Charme wirkt immer. Eardley ist Schatzkanzler, der aus einer gemeinsamen Kasse die Ausgaben bestreitet. Ich bin Cicerone, der über Reiseführern und Landkarten brütet.«
Nachdem sie alle wieder zu Hause waren, schrieb er an Vita:

  • »Die Reise war deine Idee, dir gehörte der Wagen, und du nahmst die Strapaze auf dich, ihn zu steuern. Wir waren die faulen, verschwenderischen Freunde und Fahrgäste. Ich weiß nicht, wann ich eine vierzehntägige Tour so genossen habe. Vielleicht ist Freund­schaft in der Regel doch eine zuverlässigere Basis für solche Expe­ditionen als l'amour — keine wütenden Entzweiungen, keine Erd­beben oder Gewitter oder Zusammenstöße. Ich glaube, wir haben ein interessantes Trio abgegeben.«

Bei ihrer Heimkehr war Vita beschwingt. Raymond hatte die Idee gehabt, sie solle ein Buch über la Grande Mademoiselle (Anne-Ma­rie Louise d'Orleans, leibliche Cousine Ludwigs XIV. und größte Erbin Frankreichs) schreiben.
Doch einen Monat später, als Vass und Neve »Tausende von Nar­zissen« im Obstgarten pflanzten, war sie unfähig, ihnen bei der Ar­beit zu helfen. »Mein Rücken ist schlimmer geworden. Denke ernst­lich daran, mich umzubringen.« Im November fand Harold sie an eine Linde gelehnt »und weinend, weil sie keine Gartenarbeit tun konnte«. An einem anderen Novemberabend fand er keine Vita vor, als er wie gewöhnlich zum Dinner ins Eßzimmer-Cottage hinüber­ging. Er wartete zwanzig Minuten, dann machte er sich auf, sie zu suchen; er fand sie auf der Bank vor ihrem Turm, unfähig, sich zu bewegen.

  • »Ihr Rücken war steif. Sie ist voller Angst und hat Schmerzen. Schließlich schleppt sie sich hinüber zum South Cottage und geht zu Bett. Aber sie ist unglücklich und fürchtet, ein Krüppel zu werden. Ihr Anblick zerreißt mir das Herz, und dieses Mal schlafe ich schlecht.«

Zwischen diesen beiden Vorfällen hatte er an sie geschrieben und von dem gesprochen, was er verblümt die »begleitenden Komplikationen« nannte:

  • »Was mich außerdem bedrückt, ist die Tatsache, daß die Sorge we­gen deines Rückens schlecht für deine Nerven ist und Augenblicke des Schwindels und der Benommenheit herbeiführt. Ich weiß, daß du diesen nervösen Phasen immer unterworfen gewesen bist, wenn du nicht wach wirst... Die Furcht, du könntest lahm werden, be­drückt mich weniger als die Angst, du könntest diesen Stier nicht rechtzeitig bei den Hörnern packen.«

Harolds eigene Unfähigkeit, den »Stier bei den Hörnern zu packen« und mit Vita freimütig über ihr Trinken zu sprechen, hat et­was Trauriges und Mitleiderregendes.
Vitas Rückenleiden besserte sich; und Ben übernahm, zur Freude seiner Eltern, die Stellung eines Herausgebers des Burling­ton Magazine. Nigel sollte in Kürze in die Redaktion von Contact eintreten und hatte seine Tendenz zur Isolation und Unabhängig­keit durch den Erwerb einer Hebriden-Insel befriedigt. Vitas Pläne für den Garten erhielten neuen Anreiz durch einen Besuch in Bodnant in Nord-Wales, dem Anwesen von Lord und Lady Aberconway. Harry Aberconwav war ein bedeutender Gärtner, und Bodnant beeindruckte sogar Vita. Im Spätsommer hatte sie besonders die »Einmengen von Eucryphias« bewundert, und sie erzählte Ha­rold, sie sollten sie in Sissinghurst anstelle von Kirschen ans obere Ende des Azaleenbeetes pflanzen.

  • »Wir haben im Frühling so viele blühende Dinge und so wenige im Sommer, und sie sind sehr hübsch, ein grünlich-gelbliches Weiß. Es gibt noch andere Dinge, die mich auf Ideen gebracht haben - Wiesenraute in Massen.«

Im Garten geschah nicht alles nach ihren Vorstellungen. Trotz ih­rer Schwäche für »Massen« war sie, wenn es darauf ankam, nicht so unnachgiebig wie Harold. Am 29. Dezember schrieb er in sein Tagebuch:

  • »Nachmittags wandere ich mit Vita umher und versuche sie davon zu  überzeugen, daß Planung zum Gärtnern dazugehört. Ich möchte ihr zeigen, daß man die Oberkante der Böschung am Was­serpfad mit Vorbedacht und planvoll bepflanzen muß. Sie möchte einfach die Sachen hineinstopfen, die übriggeblieben sind. Das ist die Tragödie der romantischen Veranlagung: Die Form mißfällt ihr so sehr, daß sie die Wirkung von Massen übersieht. Sie möchte et­was hineinsetzen, >das sich im Herbst schön rot färbt<. Ich möchte etwas hineintun, was der Perspektive Gestalt verleiht. Schließlich trennen wir uns — nicht als Freunde.«

Es war diese fortwährende Spannung, die Sissinghurst als Garten so überzeugend machte.
Vita, über das, was sie als Autorin erreicht hatte, enttäuscht, be­gann in diesem ersten Nachkriegsjahr, für den Observer ihre wöchentlichen Garten-Artikel zu schreiben, die sie, ob es ihr gefiel oder nicht, einem größeren Publikum bekanntmachten und zu mehr Lesern verhalfen als alles, was sie je sonst schrieb. Das war nicht alles, was die Observer-Artikel bewirken sollten. Sie taten mehr; wie Anne Scott-James schrieb, »veränderten sie die Gestalt des englischen Gartens mehr als jede andere Schrift seit Robinsons The English Flower Garden. Der Sissinghurst-Stil wurde überall nachgeahmt. »In ganz England pflanzte man Tausende von Klet­terrosen zu Füßen von Apfelbäumen. Hybride Teerosen wurden zu­gunsten von Buschrosen verworfen.« Wie Anne Scott-James sagt, gehörten die Sissinghurst-Nachfolger »meistens  einer  höheren Gesellschaftsschicht an, denn wie alles andere hat auch die Gärtne­rei ihre sozialen Aspekte«.[3] Jeder Amateurgärtner wird die Wahr­heit dieses Satzes rasch erkennen: Garten-Snobismus in England ist Gegenstand einer ungeschriebenen Abhandlung eines klugen Gartenliebhabers, die jeder verinnerlicht hat. In der Tatsache, daß der Sissinghurst-Stil auf der rein architektonischen Qualität von Pflanzen und Pflanzen-Gruppierungen beharrt, wird Harolds Ein­fluß spürbar. Die Anmut und der Zauber des Sissinghurst-Stils sind Vitas Werk.

Kapitel 31

Vitas neue Freundinnen nach dem Krieg waren Violet Pym und Edith Lamont. Vi Pym war verheiratet, hatte Kinder und lebte mit ihrem Mann auf dem Gehöft Barnfield, nahe Charing, etwa zwölf Meilen von Sissinghurst entfernt. Sie war eine gute Freundin der »alten Forellen«, wie Vita das Trio in Smallhythe nannte, und durch Christophe St. John hatte Vita Vi kennengelernt. »Ich möchte so gern, daß du sie kennenlernst«, schrieb Vita an Harold. Vi sei »so nett und hat eine wunderschöne Stimme. Sie ist wie ein Kornfeld oder ein Laib Brot oder ein braunes Ei oder Farn im Herbst.« Ihr Gatte war ein »großgewachsener, stattlicher Ex-Major der irischen Garde - attraktiv und kernig. Einfältig, jovial, schaut gern beim Cricket zu - diese Art von Mann.«[1]
Edith Lamont - Mrs. Newton Lamont - lebte in Chart Button und war Malerin; sie und Vita lernten sich an einem »offenen« Tag im Garten von Sissinghurst kennen. Bunny Drummond war eine engere Freundin. Ihre Schwiegermutter, Vitas Mutter-Ersatz, starb im Lauf des Jahres 1947, und Bunny und ihr Mann, der Verleger Lindsay, zogen in den Ort Sissinghurst. Bunny war bereits enger mit Vita verbunden, als die Freundschaft es im allgemeinen gestat­tet. Als sie im März 1947 zum Tee kam, riet ihr Vita, »nicht mit dem Feuer zu spielen«: aber Bunny Drummond konnte es nicht lassen.
Weiterhin verliebten sich Frauen in Vita und erklärten ihr ihre Liebe, ungeachtet ihres Alters und ihrer Arthritis. (Nigel schrieb an Harold, Ben und Vita hätten die Gabe gemeinsam, »unter äußerli­cher Schlampigkeit die Fähigkeit zu verbergen, unversehens wie ein Gott auszusehen. Dagegen sehen du und ich niemals wie Götter, sondern immer wie menschliche Wesen aus; das ist eintöniger.«) Es hatte etwas mit Vitas Aussehen zu tun, mit ihrem Ruhm als Schrift­stellerin, dem romantischen Ambiente von Sissinghurst und ihrer Abgeschiedenheit, die ihnen Vitas Freundschaft als ein besonderes Privileg erscheinen ließ — aufregend, exotisch und unwidersteh­lich. In der Intimität eines tête-à-tête war sie mehr sie selbst als in Gesellschaft: ihre kraftvolle Persönlichkeit, ihre Ausstrahlung, ihre tiefe, schmeichelnde Stimme, ihre geduldige Art, Menschen zu er­mutigen, von sich zu sprechen, wirkten zusammen und verliehen ihr jene Faszination, die einen Nerv in Frauen von geringerem sexu­ellen Raffinement berührten, die zuvor noch nie von anderen Frauen angezogen worden waren. Ihre konventionellen Freundin­nen mittleren Alters aus der oberen Mittelschicht Kents waren in ihrer Schlichtheit empfänglicher, als es Frauen mit größerer Selbst­kenntnis und sexueller Erfahrung gewesen wären.
Im Frühling 1947 starb Edy Craig und ließ Christopher St. John - die achtundvierzig Jahre mit ihr zusammengelebt hatte — und Tony Atwood, inzwischen über achtzig, völlig ratlos zurück. Sie hatten so gut wie kein Geld. Vita gab ihnen das Nötigste zu ihrem Unterhalt, solange die Verhandlungen mit dem National Trust über eine Übernahme des Hauses von Ellen Terry andauerten; so ermög­lichte sie es Christopher und Tony, ihr Leben in ihrem alten Heim zu beschließen, ohne für dessen Unterhalt aufkommen zu müssen.
Vita brach mit ihrem Grundsatz und lud Christopher ein, für ein paar Tage nach Sissinghurst zu kommen: »Ich glaube, ich bin die vermutlich einzige Person, die sie aus den Gleisen des Kummers herausreißen kann, in die sie sich selbst begeben bat.« Christopher, mutlos und gebrechlich, rang sich die Bemerkung ab, sie freue sich, daß Vita Freundinnen habe, »die deine Lebensfreude teilen kön­nen, damit meine melancholische Zuneigung nicht deine einzige Nahrung ist«.
Vita schrieb im Auftrag des National Trust einen neuen Führer für Knole — ganz »kalt und ungerührt«, wie sie sagte, bis sie sich plötzlich der Tatsache bewußt wurde, daß »dies mein Knole ist, das ich mehr als alles in der Welt liebe. Hadji ausgenommen«. Leonard Woolf legte Pepita neu auf, und Vita hätte, im Interesse der neuen Touristenströme, die nach Knole kamen, gern eine Neuauflage von Knole and The Sackvilles gesehen, und sie war wütend, als sie ent­deckte, daß man beim Verlag Heinemann die Druckstöcke für die Illustrationen vernichtet hatte. Aber sie war, anders als ihre Mutter, nach ihren Worten »nicht prozeßsüchtig«.
Sowohl sie als auch Harold standen inzwischen in enger Bezie­hung zum National Trust — Harold als Stellvertretender Vorsitzen­der des Exekutivausschusses und Vita als Mitglied des Garten-Ausschusses unter dem Vorsitz von Lord Aberconway. Später wurde auch sie Mitglied des Exekutivausschusses. Im Sommer 1947 unternahmen sie mit James Lees-Milne eine Rundfahrt zu Besitzungen des National Trust: sie legten 1200 Meilen in zehn Tagen bei herrlichem Wetter zurück und sahen vierzig Häuser und Gärten. »Lieber Jim, ich habe Sie so liebgewonnen«, schrieb Vita danach. »Verzeihen Sie, daß ich so unenglisch bin, das zu sagen.«
James Lees-Milne und Eardley Knollys waren zwei Männer, die sie aufrichtig liebte und schätzte. Von ihren beiden Söhnen stand ihr Nigel inzwischen näher, der mit ihr über Shirley Morgan und über seine Ängste sprach und dessen Vertrauen sie respektierte. Als peinlich und mühevoll erwies sich Bens Versuch, sich aus dem Haushalt seines Vaters in Neville Terrace herauszuwinden und eine eigene Wohnung zu beziehen: »wie ein alter Vogel, der mit schwe­ren, ungeübten Flügeln aus dem Nest plumpst«, sagte er zu seinen Eltern. Immerhin war Ben dreiunddreißig Jahre alt - aber Harold war dennoch gekränkt, und Ben blieb.
Vita, die bereit war, im öffentlichen Leben der ländlichen Ge­meinde eine Aufgabe zu übernehmen, bot sich als Friedensrichte­rin* an und wurde im Oktober vereidigt. (* Justice of Peace - unbezahlter Laienrichter an einem Magistrates' Court, einem Gericht mit begrenzter Zuständigkeit in Straf- und Zivilsachen [Anm. d. Übers.]) Unter ihren Kollegen am Magistrates" Court von Cranbrook waren Sir George Jessel, den sie nicht leiden konnte, und »ein Gewisser Major Robson aus Tenterden, der mich ganz stark an Dada erinnert«. Sie trat auch dem Ko­mitee für die Erhaltung des Ländlichen Kent bei, das im Rathaus von Maidstone tagte, wo ein Porträt ihres Vaters, in der Robe, die er zur Krönung von George V. trug, auf die Versammlung herab­blickte. Die einzige ländliche Aktivität, der sie mit leidenschaftli­cher Ablehnung begegnete, war jede Art von blutigem Sport, insbe­sondere die Hirschjagd. Sie war im Leben und Treiben der Gemeinde verwurzelt — nicht nur als Friedensrichterin und Naturschützerin, sondern auch als Mitglied der Gesellschaft für Dichtkunst in Cranbrook, der Richard Church vorsaß und als Rednerin im Frauenclub — im Gegensatz zu Harold, dessen Aktivitäten sich immer auf London konzentrierten.
Sie hatte kein Buch in Arbeit: der plötzliche Einfall - nach einem Besuch von Gwen — das Leben von Kardinal Newman zu beschrei­ben, zerschlug sich, als sie feststellte, daß bereits zwei Biographien in Vorbereitung waren. Der »ungeheuerliche Materialismus« des Zeitalters Ludwigs XIV. ließ sie ihren Plan, über la Grande Made-moiselle zu schreiben, für den Augenblick zurückstellen. 1947 ver­öffentlichte sie lediglich einen »Essay«, Nursery Rhymes, illustriert von Philippe Jullian, der in einer limitierten Auflage von der Dropmore Press herausgebracht wurde. (Von Michael Joseph 1950 neu aufgelegt.) Das Buch, »Anna« gewidmet, ist der angestrengte Ver­such, in der humorigen, scheinbar gelehrten Manier zu schreiben, die Harold perfekt beherrschte, sie hingegen nicht. In den »Three Blind Mice« zum Beispiel: »Eine helläugige, vollkommen ge­schwänzte Maus kann für viele Leute schon mehr als genug sein. Ernsthafte Spekulationen könnten überdies den Geist zermürben: Wie, zum Beispiel, kam es, daß sie blind wurden?«
Die Artikel im Observer waren eine andere Sache. Ein Artikel über Erdbeerwein an einem Oktobersonntag brachte ihr über 500 Leserbriefe; ein besonderer Postwagen war erforderlich, weil der Briefträger die Briefe nicht tragen konnte.
Auf einer Cocktail-Party im Buckingham Palast Anfang Dezember hatte Vita viel Spaß; sie schrieb an Evelyn Irons: »Ich habe all die großen Tiere gesehen, Molotow, Churchill und so fort. Ich gehe sel­ten zu Parties, aber wenn ich schon gehe, hab ich es gern, wenn sie piekfein sind. Ich trug eine kleine russische Kappe, die ich mir selbst aus einem alten Hut und ein wenig pelzartigem Stoff — beim Kurzwarenhändler des Dorfes vom Meter gekauft — gemacht hatte.« Auf der Party wurde sie dem Premierminister. Mr. Attlee, vorgestellt: von seinem Amt erhielt sie zwei Tage später einen Brief, in dem ihr angetragen wurde, Companion of Honour* zu werden. * Companion of Honour of CH: Orden mit nur einer Klasse, auf (15 lebende Inhaberin­nen) beschränkt [Anm. d. Übers.] Sie zeigte Harold den Brief, der überrascht war, daß sie so wenig Begeisterung zeigte. »Aber irgendwo in ihrem Inneren freut sie sich, glaube ich.«
Harold erfuhr später, daß es sein alter Freund Alan Lascelles, Privatsekretär des Königs, gewesen war, der vorgeschlagen hatte, Vita den CH zu geben, und daß Attlee selbst »eine leidenschaftliche Bewunderung für »The Land« hegte. Es war Ironie, daß es der Füh­rer der Labour Party war, der Vita geehrt hatte und nicht ihren Gat­ten, der sich, Ehren im Sinn, der Labour Party angeschlossen hatte. »Mr. Attlee ist ein netter Mann«, schrieb Vita an Harold. »und er wird noch netter sein, wenn er sich im Fall Cranfield so verhält, wie er soll.«
Harold reagierte mit makelloser Großzügigkeit. Immerhin ak­zeptierte er seine Nominierung als Labour-Kandidat bei der bevor­stehenden Nachwahl in North Croydon - wo es bei der landeswei­ten Wahl eine knappe konservative Mehrheit gegeben hatte. Als er sich der Labour Party anschloß, hatte Vita ihn gebeten, nicht aber­mals für das Unterhaus zu kandidieren; nach ihrer Ansicht würde es ihn »mehr verletzen und verwunden«, einen Wahlkampf durch­zustehen, als er sich vorstellen könne.
In Vitas Interesse machte Harold den Behörden klar, daß »V. Sackville-West« den CH erhalten solle und nicht »Mrs. Harold Nicolson«. Er war betrübt, daß sie sich über das öffentliche Aufse­hen nicht freute - und daß sie so verärgert war, wenn ihr Name mit dem seinen verbunden wurde. »Ich habe nie ganz verstanden, warum«, schrieb er in seinem Tagebuch, »wo ich doch stolz bin, wenn ich mit ihr in Verbindung gebracht werde. Jedenfalls hat die ganze Sache sie nicht froh gemacht, sondern reizbar und nervös.« Er war erleichtert, daß sie fort sein würde - »Gott sei Dank!« - wenn seine Nachwahl anstand: Sie hatte zugestimmt, im Auftrag des British Council eine Vortragsreise durch Nordafrika zu unternehmen. Ihre mangelnde Begeisterung über ihre Auszeichnung stand im Zusammenhang mit ihrer Überzeugung, ihre Tage als Schriftstellerin seien vorüber. Auf Eddy Sackville-Wests Gratula­tionsbrief erwiderte sie, es sei »die geringe Zahl von Ideen, das Austrocknen«, was ihr so zu schaffen mache.
Auch in bezug auf Harolds Wahl hegte sie Befürchtungen. Sie meinte, seine Lebenserfahrung habe ihn nicht für die sozialen Pro­bleme gerüstet, die zu erörtern man von ihm erwartete. Ende Januar 1948 beschrieb sie ihm einen Fall, der vor ihrem Gericht ver­handelt worden war: »Zwei ungezogene Mars, Bruder und Schwe­ster, zehn und elf Jahre alt. die dutzendweise Fahrradlampen gestohlen haben«. Es stellte sich heraus, daß die Kinder, beide stark erkältet, aus einer neunköpfigen Familie stammten, die in »bloß zwei Räumen« lebte:

  • »Sie haben versucht, ein Cottage zu bekommen, und natürlich ge­lingt ihnen das nicht. Das ist nun so ein Fall, der mich interessieren würde, wenn ich du wäre — ein potentieller Abgeordneter. Wie kön­nen solche Kinder eine anständige moralische Erziehung bekommen?
    Ich hasse es, einen Vorschlag anzufügen, der deine vielfältigen Aktivitäten um noch eine vermehren würde, doch ich bin nicht ganz sicher, ob du nicht mehr über das Leben der unteren Einkommensschichten aufgeklärt werden würdest, wenn du dem Gericht von Cranbrook angehörtest. Du würdest Seiten des Lebens ken­nenlernen, von denen ich nicht glaube, daß du sie je wirklich wahr­genommen hast.«

Der Diebstahl von Fahrradlampen war das Standardvergehen der jugendlichen Übeltäter in Kent - zusätzlich zu schlimmeren Problemen. Ein wichtigtuerischer Vertreter der NSPCC* flüsterte Vita über eine andere elfjährige Übeltäterin ins Ohr: »Und es ist meine Pflicht, hinzuzufügen, daß dieses kleine Mädchen geschlechtlichen Umgang gehabt hat.« (* NSPCC: National Society for the Prevention of Cruelty to Children: britischer Kinderschutzbund [Anm. d. Übers.]) Vita war nicht gerade froh, wenn sie die ein­zige Richterin war, was gelegentlich vorkam:

  • »Ich muß in einem großen Lehnstuhl hinter einem Tisch sitzen, während der unglückliche Delinquent vor mir steht: der Raum ist voll mit Polizisten und dem Clerk of the Justice** und dessen Clerk und dem Kriminalkommissar, und alle bringen Anschuldigungen und Beweise gegen den Gefangenen vor und das gewaltige Gewicht des Gesetzes und seines Systems, von dem ich ein Teil bin. (**  Clerks of die Justice: ausgebildete Juristen, die die Laienrichter beraten [Anm. d. Übers.]) Ich habe immer das Gefühl, da sei ein wildes Tier in die Falle gegangen und eingesperrt, und wenn es mir plötzlich an die Kehle ginge, würde ein Dutzend kräftiger Hände es packen und zurückhalten - und vor allem weiß ich: »Ohne die Gnade Gottes und B.M.'s Ehevertrag könnte ich dort stehen< - oder natürlich Catalina oder Pepita.«

Vita reiste im Februar nach Nordafrika. Sie litt an einer Darmerkrankung, während sie unterwegs war. »Ich habe die ganze Zeit starkes Heimweh«, schrieb sie an Nigel. »Ich hasse es, gefeiert und unterhalten zu werden: und ich will bloß wieder zu Hause bei euch dreien sein.« Im Britischen Konsulat in Tunis erfuhr sie durch den Rundfunk von Harolds Niederlage in North Croydon. Sein Telegramm traf wenig später ein: »Geschlagen um zwölftausend, meine Güte«. Vita schrieb ihm:

  • »Persönlich weiß ich, was ich empfinde: Ich bin entzückt, daß du so viele Stimmen bekommen hast, und ich weiß, daß du das Gefühl haben wirst, deine Sache gut gemacht zu haben; aber ich bin, offen gesagt, erleichtert, daß du jetzt mit einem absolut reinen Gewissen den Anderen Ort ins Auge fassen kannst. Meine einzige Sorge ist, daß sie dich möglicherweise deswegen im Stich lassen, aber gewiß wird jetzt Frank Pakenham etwas für dich tun. oder?«

Frank Pakenham war Lord Longford, ein Mitglied der Labour Party und zu dieser Zeit Kanzler des Herzogtums Lancaster. Harold unterhielt sich im September mit ihm und erfuhr ein paar dü­stere Neuigkeiten:

  • »Frank Pakenham erzählt mir, daß ich letzten Dezember auf der Liste für Peerages war: aber dann meinte der Premierminister, Viti bekäme den CH, und das wäre ein dummes Zusammentreffen. Zum Geburtstag des Königs hätte ich wieder ins Spiel kommen können, wäre da nicht die Niederlage in North Croydon gewesen. Liegt mir wirklich daran? Ja. Ich will auf bequeme, schmerzlose Weise ins öffentliche Leben zurückkehren. Das ist nicht anrüchig.«

Vita verließ Afrika, in erster Linie erfreut, die jährlichen Kosten »für die Art von Garten verdient zu haben, »nach der ich seit Jahren gesucht habe«; auf dem Heimweg machte sie in La Tour de Saint-Loup Station, dem Haus von Violet Trefusis nahe Provins, nicht weit von Paris. Saint-Loup war Violets Gegenstück zu Sissinghurst und Vita schrieb in ihr Reisetagebuch, daß sie dort »das merkwür­digste Gefühl von Vertrautheit« überkommen habe.
Im Juni traf sie Violet noch einmal in London und schrieb an Harold: »Sie ist einsam und unglücklich, glaube ich, aber es ist nicht einfach, sich über die Gefühle von Leuten klar zu werden, die man eine halbe Stunde lang in der Halle des Ritz sieht.« Im Herbst schrieb sie Violet einen Brief, der mit den Worten »Meine liebe Teuerste« begann - den zärtlichen Worten, mit denen, wie sie sagte, »unser Lehnsherr angeblich irgendwann im Mittelalter - ich habe das genaue Datum vergessen - Dame Julian of Norwich angeredet haben soll und die mir nun als hübsche liebevolle Anrede für meine Luschka dienen sollen«. Sie schrieb Violet noch einmal, wie sehr ihr Saint-Loup gefallen habe; ein »sonderbares Band« zwischen ih­nen sei ihr »ausgeprägtes Gefühl für den Charakter von Orten. »Wir beide haben es in so starkem Maße, daß es schmerzhaft wird.«[2]
Vitas innig geliebter Hund, Martha, begann an einer Reihe von Herzanfällen zu leiden. Harold schrieb im April, Martha sei keu­chend auf dem Rasen zusammengebrochen, und Vita neben ihr: »Mac kommt und bringt Martha fort. Ich finde Vita in Tränen auf­gelöst am See.« Sie schrieb ihm am 17. Juni:

  • »Ich weiß nicht, ob dir bewußt ist, wie unglücklich ich wegen Mar­tha gewesen bin und noch immer bin. Ich weiß, daß ich sie töten muß - aber wenn sie kommt, ihre Nase auf mein Knie legt und mit ihren goldenen Augen so vertrauensvoll zu mir aufblickt, komme ich mir wie ein Verräter vor. Gestern abend hat sie es wieder ge­macht, kurz nachdem ich mir einen Welpen angesehen habe, der zum Verkauf steht. Sie schien es zu wissen. Es war aber auch so ein hübscher Welpe. Ich liebte das Tierchen auf den ersten Blick und habe es gekauft. Die Leute werden es solange behalten, bis ich es holen lasse. Aber wenn das geschieht, wird es bedeuten, daß Martha tot ist - auf meinen Befehl getötet... Du verstehst, ich bin im Inneren ein einsamer Mensch, und Martha hat mir soviel bedeutet. Sie war immer da, und ich konnte ihr alles erzählen.«

Der Hund, der dreizehn Jahre lang ihr Gefährte gewesen war, starb drei Tage später und wurde im Wald beerdigt - »Ein Tag wie ein Alptraum«. Vita holte Rollo, den jungen Hund, wiederum ein Schä­ferhund, noch am selben Abend. »Er ist so sanft und unschuldig und weiß nichts von der Leere, die er ausfüllen soll.«
Während Martha noch krank war, brannte Sissinghurst Place, das Haus der Drummonds, nieder. Bunny und ihr Mann waren in London. Vita und Harold, durch einen Anruf geweckt, fuhren ge­gen halb drei in der Nacht hinüber und fanden »einen glühenden Backofen« vor. Harolds Tagebuch: »Gegen halb sechs kommen wir zurück, während die Morgendämmerung über dem Wald aufsteigt. Es ist sehr kalt. Ich gehe zu Bett, aber Vita bleibt auf und arbeitet im Garten. Dann holt sie Bunny und Lindsay um acht Uhr vom Zug ab und bringt sie zu den Überresten ihres Hauses.« Bevor ihr Glau­ben an ihre dichterische Kraft sie verließ, hatte Vita daran gedacht, The Garden ein langes Gedicht über das Feuer folgen zu lassen. Sie schrieb es nie; aber der »glühende Backofen«, den sie in jener Nacht beobachtete, und ihre Gedanken über die arme Martha wa­ren die beiden Anregungen für einen Roman, den sie schreiben würde: Die Ostergesellschaft.
Die Vollkommenheit von Sissinghurst kam ihnen nach dieser Ka­tastrophe noch kostbarer vor, und während eines Junis voller »Heu und Rosen« sagte Harold zu Vita, er glaube, er habe es in Sissing­hurst besser als jeder andere. Sein Wohnzimmer und sein Schlafzimmer seien die hübschesten im ganzen Schloß,

  • »und M.L.A. ist der schönste Teil des ganzen Gartens«. »M.L.A.« stand für »Meine Lebensarbeit« - sonst für »Meine Lindenallee«, deren Rabatte im Frühling Harolds ureigene Schöpfung war und in seiner Verantwor­tung lag. Vita gewann Vass, ihren Obergärtner, immer lieber: »Sein Eifer ist schier grenzenlos, und nichts ist ihm zuviel.«
    Vass habe
  • »eine Art von instinktivem gutem Geschmack, außerdem ist er so nett anzuschauen, so dekorativ«.

Sie bearbeiteten das flache, steinige Gelände am Priesterhaus und nannten es Delos. Vass' einziger Fehler sei, daß er alles zu ordentlich machen wolle, mit sauberen Ziegeleinfassungen der Wege, doch

  • »natürlich hat er das wirkliche Delos in den Kykladen nie gesehen«.

In diesem August, während Sibyl Colefax da war, besuchte sie der junge Schriftsteller Denton Welch*, der sehr krank war; seine Schilderung von Sissinghurst ist der letzte Eintrag in seinen veröf­fentlichten Tagebüchern. (* Denton Welch (1915-1948) Romancier und Maler, erlitt als Zwanzigjähriger eine schwere Rückgratverletzung, die ihm zuletzt das Schreiben zur Qual machte. Er schrieb neben drei Romanen auch viele Gedichte und 60 Kurzgeschichten [Anm. d. Übers.]) Er fand es schwierig, mit den Nicolsons ins Gespräch zukommen: »Vita ist zurückhaltend, ein wenig träge. Sie war nicht umgänglich oder lebhaft genug, um ein erstes Zusam­mentreffen wirklich einfach zu machen; doch andererseits wäre es falsch, ihr Verhalten bäurisch oder gleichgültig zu nennen. Ich möchte es als träge Würde umschreiben. Ihre Stimme war leise und auch ziemlich schläfrig - beinahe schleppend.« Ein wenig verlegen bewegte sich die Gesellschaft zum Tee durch den Garten zum Prie­sterhaus:

  • »Und ich erblickte einen langen spanischen Tisch mit stumpfen Zacken und Kurven aus Schmiedeeisen, die dicht am Boden seine Stemmbretter umliefen. Obwohl nur ein großes Bauernbrot und Gurken-Sandwiches auf dem Tisch standen, spürte man einen Hauch von Reichtum und Luxus. Vielleicht lag das an den Gläsern [für Cider] und Tassen, die an jedem Platz standen. Außerdem lag auf einer großen alten, recht schönen Silberschale beinahe ein hal­bes Pfund Butter, die mit geriffelten Holzbrettchen hübsch festge­drückt und gemustert war. Als wir eintraten, zog sich ein Diener hinter einen Vorhang zurück. Der Raum hatte ein Fenster mit Mit­telpfosten, einen gewölbten, aus Ziegeln gemauerten Kamin, Back­steinfußboden und eine hohe Balkendecke. Orientalische Teppi­che, Stücke eines Gobelins hinter einer kleinen mittelalterlichen hölzernen Heiligenfigur. Unsere Stühle stammten aus der Zeit von William und Mary** und hatten hohe Rückenlehnen aus Rohrge­flecht.«[3]

(** Wilhelm III. (von Oranien) (1650-1702). König von England: Mary II. (1662-1694). Kö­nigin von England. Gemahlin König Wilhelms III. von Oranien [Anm. d. Übers.])
Fast alles, notierte Denton Welch,

  • »war nicht jünger als siebzehntes Jahrhundert«.

Er starb gegen Ende dieses Jahres; und als Jocelyn Brooke, der seine Tagebücher für die Veröffentlichung vorbereitete, Vita die Passage mit der Schilderung des Besuches in Sissinghurst zeigte, bat sie ihn, eine Fußnote anzubringen: ihre Unbeholfenheit, solle es darin heißen, sei darauf zurückzuführen gewesen, daß ih­nen seine Gebrechlichkeit so überdeutlich bewußt geworden sei, daß sie in Verlegenheit geraten seien, »wie sie ihn am besten unter­halten sollten«.
Harold war glücklich, weil er damit beauftragt worden war, eine Lebensbeschreibung König Georges V. zu verfassen. Sofern man ihm freie Hand ließ, war das eine interessante Aufgabe - obgleich sie ihn, wie er einräumte, für wenigstens drei Jahre der Politik entziehen würde, wenn nicht gar, im Hinblick auf sein Alter, für im­mer.
Beide Jungen machten persönliche Krisen durch. Nigel war häu­fig mit Shirley Morgan zusammengewesen, und sie war mehrere Male in Sissinghurst erschienen. Am 30. Juli schrieb Vita in ihr Ta­gebuch:

  • »Niggs ruft mich nach dem Dinner an, um mir zu sagen, daß Shirleys Verlobung morgen bekanntgegeben wird ... Du meine Güte!«

Ihr Verlobter war nicht Nigel, sondern der Marquis von Anglesey. Nigel fuhr daraufhin sofort, allein auf die Hebriden. Von dort schrieb er an seine Mutter:

  • »Ich danke dir sehr für dein wun­derbares Mitgefühl in deinem Brief und am Telephon. Ich brach nach dem Telefongespräch mit dir am Freitagabend in Tränen aus. Zum Teil warst du es, zum Teil Shirley. die mich dazu brach­ten, und ich war sehr überrascht.«

Shirley heiratete im Oktober- »Nigel hat sich zurückgezogen«, schrieb Vita an diesem Tag dankbar in ihr Tagebuch. (Doch die Freundschaft zwischen den beiden blieb bestehen und dauerte ein Leben lang) Während dieses schwierigen Herbstes bat Nigel Vita, ihm 4000 Pfund zu leihen, um zu helfen, den neuen Verlag Weiden­feld & Nicolson mit Kapital auszustatten. Das tat sie bereitwillig:

  • »Da es mein eigenes Geld ist. d.h. nicht aus dem Treuhandvermögen stammt, kann ich damit tun was ich will... Es ist das Geld, das ich für >Long Barn< bekommen habe.«

Das Geld wurde mit Zinsen innerhalb von zehn Jahren zurückgezahlt. Nigels Dankesbrief wurde in Sissinghurst geschrieben. Als echtes Kind seiner Eltern konnte er das schreiben, was er nicht sagen konnte, und hatte zu­gleich das Bedürfnis, ein dauerhaftes Zeugnis seiner Dankbarkeit abzulegen. Mit unausgesprochenem Bezug auf sein persönliches Leben fügte er hinzu: »Ich glaube, es gibt nichts, was ich dir nicht sagen könnte.« wie Ben empfand er die Folgen seiner Erziehung — Isolation:

  • »Ich bin so langsam erwachsen geworden, habe die wirklichen Schwierigkeiten des Lebens so lächerlich spät erfahren und bin noch immer - ich denke, das trifft auch auf Ben zu - in man­cher Hinsicht merkwürdig unreif.«

In ihrer Erwiderung auf seinen Dankesbrief schrieb Vita:

  • »Aber, mein Liebling, du brauchst dich nicht zu bedanken: Du weißt zu gut, daß ich alles für dich tun würde und mir bloß wün­sche, es wäre mehr. (Übrigens wird dir vielleicht zu Ohren gekom­men sein, daß ich >Long Barn< für mehr als 4000 Pfund verkauft habe; ja. das habe ich - um genau zu sein, für 6500 Pfund — aber es gab da eine Hypothek, die ich aufgenommen hatte, um Papas Yacht zu kaufen ...) - Du denkst vielleicht, daß ich, angesichts der riesigen Beträge, die ich mit dem Schreiben verdiene, mehr hätte investieren sollen — aber du mußt wissen, daß ich mein, nennen wir es Taschengeld im­mer für Sissinghurst ausgegeben habe oder für Extravaganzen oder auch, um die laufenden Kosten zu decken, die unmöglich aus dem Einkommen bestritten werden konnten, das ich aus dem Treuhandvermögen und der Pacht beziehe.«

Bald danach gab sie Harold eine detailliertere Übersicht über ihre Finanzen. Sie bekam jährlich 2243 Pfund netto aus dem Familienvermögen und weitere 1000 Pfund, vor Steuern, aus Pachteinnah­men:

  • »Und da die Lohnkosten sich auf 45 Pfund in der Woche oder 234O Pfund im Jahr belaufen, wirst du leicht erkennen, daß nicht mehr viel Spielraum übrigbleibt für Dinge wie Haushalt, elektrisches Licht und Heizung, Kommunalsteuer, Versicherung, Auto, Kohle, Koks (gerade habe ich eine Rechnung über 149 Pfund darüber er­halten). Telephon und tausend Dinge, die für die Instandhaltung ei­nes Hauses nötig sind.«

Ihre Autorenhonorare kamen auf ein separates Konto —

  • »davon habe ich den Traktor und den Anhänger und den Barford-Kultiva­tor und die Heckenschere, die zwei Wasser-Enthärter und viele andere Dinge bezahlt - und natürlich meine persönlichen Ausga­ben ... und alles läppert sich auf verblüffende Weise zusammen.«

Der Garten war während der Sommermonate inzwischen fast jeden Tag für das Publikum zugänglich; Vita hatte ein Kästchen, in das jeder Besucher einen Shilling warf, und diese Shillings - 1948 nur ein paar Pfund in der Woche - wanderten in ihre Lohnkasse. Harold zahlte den Lohn von Sydney Neve, der sich in seinem Auftrag um die Lindenallee kümmerte. Harold war Vita in jeder erdenkli­chen Weise behilflich, außer in finanzieller. Es war ihr Geld, das Sissinghurst unterhielt und ihnen ihren Lebensstil ermöglichte. Doch Harold erzählte ihr, er glaube besser dran zu sein als Gerry [Wellington], trotz dessen herzoglichen Reichtums. »Ja«, erwiderte Vita,

  • »ich ziehe unser unordentliches, emsiges, wackliges Leben, das von der Liebe, die wie seit nunmehr fünfunddreißig Jahren für­einander empfinden, so unzerstörbar überstrahlt wird, allen Titeln und Besitzungen Gerrys vor.«

Wie Nigel war auch Ben zum ersten Mal in seinem Leben verliebt gewesen. Im Mai hatte er an »Meine liebe Mama« geschrieben, um die Situation zu erläutern:

  • »Ich schreibe dies, anstatt alles zu erzählen, zum Teil, weil ich wäh­rend der letzten 24 Stunden keine Gelegenheit dazu hatte, zum Teil, weil es so weniger peinlich ist. Ich werde dich so unverblümt wie möglich mit den Tatsachen vertraut machen. Ich habe mich wahn­sinnig in den jungen Mann verliebt, von dem dir Papa vielleicht er­zählt hat, weil er ihm begegnet ist... ein Student von Christ Church... Es ist bei weitem die überwältigendste Erfahrung, die ich je gemacht habe und je wieder zu machen erwarte. Man sagt, diese Dinge seien verrucht, man wirft dich deswegen ins Gefängnis; aber diese Erfahrung hat in mir Eigenschaften geweckt (Freund­lichkeit, Großzügigkeit, Rücksichtnahme auf andere), von denen ich nie geglaubt hätte, daß ich sie besitze. Diese Erfahrung hat auch meinen wachsenden Zynismus abgetötet. Sie hat mich zur Dichtung zurückgetrieben und zur italienischen Renaissance.«

Zweck des Briefes war die Frage, ob er David Carritt zum Wochen­ende nach Sissinghurst mitbringen dürfe. Vita solle mit »Ja« oder »Nein« antworten und keine Bedingungen stellen. »Sollte deine Antwort >Nein< lauten, würde ich es vorziehen, nicht weiter dar­über zu diskutieren. Nigel braucht es noch nicht zu erfahren.«
Vita sagte »Ja«, und im Laufe des Jahres kam David mehrere Male mit Ben nach Sissinghurst. Ben unternahm einen neuen An­lauf, Neville Terrace zu verlassen: Er erzählte Harold, er wolle mit David in eine Wohnung in George Weidenfelds Haus am Chester Square ziehen. Harold und Vita hatten Angst vor einem Skandal, eine Befürchtung, die zu dieser Zeit nicht grundlos war: doch dar­über hinaus schienen sie ihm seine Unabhängigkeit nur widerwillig zugestehen zu wollen. Sie sprachen über Ben, als sei er ein Jüngling und nicht ein Mann von Mitte Dreißig. Sie haben auch nie seine Leistung als Gelehrter anerkannt oder seine persönlichen Qualitä­ten gewürdigt. Vita schrieb über den Plan mit der gemeinsamen Wohnung an Harold:

  • »Natürlich bin ich deiner Meinung, daß es ein Jammer ist, fast eine Katastrophe. Sieh mal, er wird sich bestimmt mit D. wieder zerstreiten, und in der Zwischenzeit hat es vielleicht einen Skandal ge­geben, der seine beiden Stellungen - im Palast* und beim Burling­ton Magazine — in Mitleidenschaft zieht; und dann säße er auf dem trockenen und hätte seine Karriere verspielt wegen eines schlauen, kleinen Jungen, der das Opfer nicht wert ist. (* Ben war Stellvertretender Kustos der Königlichen Bildersammlung [Anm. d. Übers.]) Ich werde am Wochen­ende mit ihm reden, ob es ihm gefällt oder nicht. Schließlich weiß er, daß ich nicht feindselig bin, was schon viel heißen will... Armer, kleiner Ben — so naiv, so sensibel, so anspruchsvoll, so sehr er selbst und in solch einem Wirrwarr!«

Ben wurde überredet, den Plan fallenzulassen, und er blieb mit sei­nem Vater und seinem Bruder in Neville Terrace wohnen. Er gab auch seine Stellung bei der Königlichen Bildergalerie auf, um sich auf die Arbeit am Burlington Magazine zu konzentrieren. »Wie sehr wünschte ich«, schrieb Vita, »daß er, er vor allen Dingen, hei­raten und Kinder haben könnte... Es ist alles ein großer Jammer, und manchmal tut er mir wirklich in der Seele leid.« Die Affäre mit David Carritt, später ein angesehener Kunsthistoriker und Kunst­händler, war nach sechs weiteren Monaten zu Ende.

Kapitel 32

Im Februar 1949 unternahm Vita eine weitere Vortragsreise im Auftrag des British Council, dieses Mal nach Spanien. Mac be­gleitete sie. Auf dem Weg traf sie Violet in Paris - »mit Federn, die überall aus ihrem Hut hervorwedelten, sah sie aus wie eine Herzoginwitwe« - und fuhr mit ihr für einen Abend nach Saint-Loup. Vita war über die Art entsetzt, mit der Violet ihre alte Zofe Alice be­handelte: »das erinnerte mich an B.M. Es ist wirklich mehr als ein bißchen verrückt... Es ist eine Art von Lust an der Macht, glaube ich: Sie muß jemanden haben, den sie herumkommandieren kann.«
Vita war von Madrid entzückt -

  • »Die Gesellschaft ist hier wie in Paris, was Eleganz und Luxus und Amüsement angeht« -

und sprach zweimal im »Ateneo«. Jemand versicherte ihr entgegen­kommend, man habe in Spanien »immer angenommen«, daß der Herzog von Osuna und nicht der obskure Barbier Pepitas Vater ge­wesen sei. Der irische Hispanist Walter Starkie nahm sie und Mac nach Toledo mit, und an ihrem Geburtstag war sie in Sevilla,

  • »wirk­lich ziemlich verwirrt, trotzdem glücklich«.

Jetzt war Harold an der Reihe, sich zu Hause einsam zu fühlen.

  • »Aber ich weiß, daß ich es in meinem Alter nicht ertragen könnte, sehr lange von ihr ge­trennt zu sein. Ich könnte es einfach nicht ertragen, und ich werde mich nicht dazu bereit erklären.«

Er schrieb ihr:

  • »Du kannst dir nicht vorstellen, wie leer es hier ohne dich ist.«

Vita fuhr weiter nach Malaga, dem Geburtsort ihrer Großmutter.

  • »Nehmen wir nur einmal an, Pepita, als eine kleine muchaga in Malaga, könnte in die Zukunft blicken und ihre Enkeltochter sehen... als Rednerin auf einem Podium — wäre sie da nicht ungläubig und überrascht? Wie hätte Virginia das gefallen!«

Der Dichter Munoz Rojas führte sie in die Straße, in der Pepita geboren worden war.

  • »Ach, welch eine elende Gasse — sehr schmal, man könnte sich fast von einem Balkon zum anderen die Hand reichen, vollgestopft mit Leuten und Kindern, aber es kann keinen Zweifel geben, daß alles genauso war, als Pepita ein kleines Mädchen war.«

Als sie nach diesem Ausflug zum Parador zurückkehrten, wo sie wohnten, wurde Vita von einem harten, trockenen Husten gequält. Sie fühlte sich sehr krank und ging zu Bett. Es war gut, daß Mac bei ihr war, und Vita klammerte sich an ihre »Anna« — besonders als nach ein paar Tagen die Symptome nicht weniger ernst waren und der restliche Teil ihrer Termine abgesagt werden mußte. Sie fuhren auf der Jaen-Straße nach Madrid zurück, in der Hoffnung, in Atarfe ein Haus zu finden, in dem Pepita gewohnt hatte, hatten je­doch keinen Erfolg. »Jetzt reicht's mir, und ich glaube, ich breche gleich in Tränen aus«, schrieb Vita in ihrem enttäuschend kurzen »Spanischen Tagebuch«. Mit hohem Fieber verbrachte sie eine »alptraumartige Nacht« im Sud-Express nach Paris und nahm dann die Fähre. Unterwegs verlor sie ihre Geldbörse und ihre Brille.
Die Grippe, wenn es denn eine war, schlug auf das Herz, und ihre Genesung verlief schleppend langsam. Ihr Puls kletterte in die Höhe, wenn sie länger als zwei Stunden auf den Beinen war. Erst im Juni war sie wieder gänzlich hergestellt: die Krankheit hatte sie al­tern lassen und setzte ihrer Begeisterung, ohne Harold zu reisen, ein abruptes Ende. Gegen Ende des Jahres bat Violet sie, mit ihr nach Spanien zu fahren, um das Versäumte nachzuholen. Vita er­widerte, sie werde nicht einmal mehr nach Paris fahren:

  • »Städte sind nichts für mich. Sissinghurst und Saint-Loup sind meine gei­stige Heimat — und natürlich Knole, das mir für immer versagt ist — durch >einen technischen Defekt, der sich unserer Kontrolle entzieht<, wie man im Radio sagt.«[1]

Knole war ihr besonders gegenwärtig, als sie Violet schrieb, weil Harold ihr gesagt hatte, daß die treuhänderische Verwaltung des Sackville-Nachlasses neu geordnet würde: Nigel und der junge Lio­nel Sackville-West (der Sohn von Vitas Onkel Bertie und nach Eddy Erbe von Knole, falls Eddy kinderlos starb) sollten als Treuhänder eingesetzt werden.

  • »Sie freut sich darüber, aber später bricht sie zu­sammen. Armer Schatz, sie versteckt sich in der Dunkelheit meines Arbeitszimmers und schluchzt und schluchzt in einer Ecke.«

Auf­grund ihres Geschlechts, des »technischen Defekts«, konnte sie Knole nicht nur nicht erben, sondern sie sah, wie es sich immer wei­ter von ihr entfernte: ihr Geschlecht - und inzwischen ihr Alter - versagten ihr jede wirkliche Verbindung mit Knole.
Saint-Loup war ihr ebenfalls besonders gegenwärtig, als sie Violet schrieb, da diese sie im Juni nach London gebeten hatte, um ihr mitzuteilen, daß sie ihr den Besitz testamentarisch vermachen wolle. Vita äußerte Bedenken: Saint-Loup solle an Violets Schwe­ster und ihre Kinder fallen. Erst als Violet sagte, daß sie Sonia ihren Besitz unter keinen Umständen vererben werde, nahm Vita an — bis auf weiteres:

  • »Du bist jünger als ich, und ein Dutzend Dinge kön­nen sich ereignen, die dich veranlassen, deine Meinung zu ändern, die, wie ich weiß, sowieso nicht unumstößlich ist, so daß es viel­leicht nie dazu kommen wird.«[2]

Vita kannte Violet die, als sie älter wurde, das Versprechen und das Entziehen von Legaten als emotionale Waffen einsetzte. Auch schrieb Violet ihre Erinnerungen, und Vita war darüber entzückt:

  • »Ach, Duntreath! Wie sich das mit meinen eigenen Erinnerungen vermischt. Die Eulen... die Waffenkammer... und unsere junge unschuldige Liebe. Ich denke, du solltest dieses Buch mir widmen, oder? ... ja? nein? Ich wäre so geschmeichelt und dankbar, wenn du's tätest« [Die Auslassungspunkte stammen von Vita].:!

Aber Vio­let widmete Don't Look Round dem Andenken ihrer Mutter. Vita ließ in der Spitze des Turms eine Uhr mit einem tiefen Glockenspiel einbauen.

  • »Liebling, es ist zu aufregend! Ich ging hinun­ter, um einen Blick darauf zu werfen, und sie hatten das Zifferblatt herausgenommen. Es sieht phantastisch aus... Die Vergoldung ist vielleicht ein bißchen hell, aber das wird nicht lange so bleiben.«

Ihre Vorkriegsidee von einem Weißen Garten wurde neu belebt — von Harold:

  • »Ich stelle mir Massen von Aschenpflanzen vor, Hasenöhrchen [stachys lanata] in Massen, ein gut Teil Eberraute und einige Heiligenblumen — der ganze Hintergrund soll überwiegend grau sein. Und dann möchte ich, daß aus diesem Dschungel Kaiserlilien aufsteigen.«

Vita konnte es nicht unterlassen, darauf hinzu­weisen, daß sie diese Idee zuerst gehabt habe (obgleich sie an einen weißen Grund mit rosa Einsprengseln gedacht hatte):

  • »Mein einzi­ger Hadji — welch schöne Tage — wie glücklich wir immer zusam­men sind. Ich glaube, deine Idee von einem grauen und weißen Garten ist wunderhübsch, und ich werde alles nach und nach pflanzen.«

Vita kochte nicht und konnte nicht kochen, und wenn Mrs. Sta­ples - »der Fels, auf dem der ganze Bau ruht« — krank war, wie im Herbst 1949, war das Leben sehr karg. Vita bewirtete gelegentliche Besucher nicht, sondern nur solche, deren Besuch sie für notwendig hielt. Harold fühlte sich James Pope-Hennessy besonders eng ver­bunden, der ein Jugendfreund Nigels aus der Balliol-Zeit war; als James' Mutter starb, kam er nach Sissinghurst, und Vita überließ ihm ihr Schlafzimmer. Harold war ihr dafür dankbar.
Eine andere Freundin, die Hilfe brauchte und die immer häufi­ger an Wochentagen, wenn Harold und die Jungen in London wa­ren, zu Besuch kam. war Vi Pym. Als Vita sich von ihrer Krankheit erholte, schrieb sie Harold, außer ihm gebe es nur

  • »einen anderen Menschen, den ich lieber hier als nicht hier hätte: aber ich werde dir mündlich sagen, wer es ist, für den Fall, daß der Brief in falsche Hände fällt. Ich nehme an, du weißt ohnehin, um wen es sich han­delt, aber erinnere mich daran, daß ich es dir sage, falls wir uns mißverstehen sollten.«

Im Oktober kam Vis achtzehnjährige Tochter bei einem Reitun­fall ums Leben. Vita blieb in Barnfield, um ihrer Freundin in ihrem Leid beizustehen. »Mein Liebling — mein Schatz - ich halte mich an dir fest, an dir allein, in dieser Qual. Was du mir warst - bist — weißt du«, schrieb Vi an Vita. Sie schrieb auch an Harold:

  • »Ich wußte nicht, daß Vita so wunderbar sein kann. Ich liebte sie schon vorher aber jetzt — seit sie das mit mir durchgestanden hat - noch viel mehr. Ich habe oft gedacht, wie nett es von Ihnen ist, uns nicht übelzunehmen, daß wir Freundinnen sind, mals on ne cht ricn. Nun darf ich es Ihnen vielleicht sagen, daß ich dankbar bin und immer versuchen werde, mich für Sie um Vita zu kümmern.«

Mac war auf Urlaub in Kanada gewesen, und als sie nach Horse-race zurückkehrte, kam man überein, daß sie nur noch zeitweise für Vita arbeiten sollte. Harold argwöhnte, daß Vita sich am lieb­sten eine noch tiefere Einsamkeit wünschte:

  • »Wenn alle Diener, Gärtner und Landarbeiter wie Dornröschen in Trance gefallen sind und sie und Rollo und das kleine Rotkehlchen vor dem Eßzimmer die einzigen Dinge in Sissinghurst sind, die sich regen.«

Er mochte und vertraute Vi Pym und stimmte mit ihr überein, daß man sich um Vita kümmern mußte. An einem Tag im Juni hatte Vita ihm ge­schrieben: »Gestern abend beim Dinner sah ich dich plötzlich an und ertappte dich dabei, wie du mich über den Tisch hinweg mit ei­nem sonderbar liebevollen Ausdruck anblicktest - woran dachtest du?«
Vielleicht hatte er sich Sorgen um sie gemacht. In der Silvester­nacht 1949, schrieb er in seinem Tagebuch über das vergangene Jahr:

  • »Es wurde mir verdüstert, weil Vita in Spanien so krank wurde. Sie scheint sich völlig erholt zu haben, und ihrem Rücken geht es jedenfalls viel besser. Ich glaube jedoch, daß es tun ihre Ner­ven nicht zum besten steht, die Arme. Sie regt sich leicht auf und ist manchmal verwirrt und unaufmerksam. Sie vergißt vieles und kann sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. Dadurch wird sie rastlos und unglücklich.«

»Verwirrung und Unaufmerksamkeit« waren vielleicht die Ursache für den sonderbaren Zwischenfall, der »The Novice to her Lover« betraf. Das war ein Gedicht, das Vita, kurz bevor sie nach Spanien reiste, im Februar 1949 an die Zeitschrift Poetry Review geschickt hatte. Es wurde in der Juni/Juli-Nummer veröffentlicht. Im No­vember setzte Vita Poems 1935-1948 von Clifford Dyment auf ihre Auswahlliste für die King's Medal for Poetry, denn sie gehörte der Jury an. In Dyments Buch fand sie ein Gedicht, das ihrem eigenen »Novice«-Gedicht täuschend ähnlich war. Die beiden waren fast identisch. Beide bestanden aus zwölf Zeilen; das seine, genannt »St. Augustin at 32«. begann:

Mädchen, warum folgst du mir,
Wenn ich komme zu dieses heil'gen Ortes Schwelle?

Und Vitas:

Warum mußt du mir folgen.
Wenn ich komme zu dieses heil'gen Ortes Schwelle?

Die folgenden zehn Zeilen sahen sich ebenso täuschend ähnlich - wie Vita mit Erstaunen feststellte und an Clifford Dyment schrieb. Er erinnerte sie daran, daß sie ihm 1944 einen Brief über sein Buch The Axe in the Wood geschrieben habe, das das »Augustin« -Ge­dicht ebenfalls enthalte und von ihr herausgehoben und mit beson­derem Lob bedacht worden sei. Der Herausgeber von Poetry Review, John Gawsworth, schrieb an den New Statesman, und dort ging man der Sache nach. Vita war tödlich niedergeschlagen«. »Ich gleiche einem Auto, das in einer kalten Garage gestanden hat und sich weigert, auch nur einen winzigen pétard von einem Zünd­funken von sich zu geben... Die komische Geschichte mit Clifford Dyments und meinem Gedicht ist mit einemmal aufgebauscht wor­den, ich frage mich, warum niemand früher darauf gekommen ist.« Die Arthritis hatte ihre Hände erreicht: sie mußte sich im Peinbury-Krankenhaus Tiefenbestrahlungen unterziehen. Harolds nimmermüde Aktivität, im Vergleich mit ihrer unfreiwilligen Untä­tigkeit, versetzte sie zuweilen in Rage. Ihr Tagebuch vom 11. Januar 1950:

  • »Er arbeitet zu viel. Er hat ein Fahrplan-Hirn, das ihm keine Verschnaufpause gönnt. Allmählich wird es bei ihm zur Besessen­heit. Ich beginne den Augenblick nach dem Lunch oder Dinner zu fürchten, wenn ich weiß, daß er sagen wird: »Nun, ich muß jetzt ge­hen und arbeiten.«

Und am 14. Januar:

  • »Ich wünschte, ich könnte schreiben. Ich müßte einen Roman schreiben, um Geld zu verdie­nen. Ich mache mir Sorgen wegen meiner Finanzen - schrecklicher Einkommenssteuerzuschlag und die Kosten von Sissinghurst. Ich weiß nicht, wie ich es weiter unterhalten soll.«

Sie fuhr nach Lon­don, um sich bei ihrem Anwalt nach ihrem zu erwartenden Ein­kommen zu erkundigen, speiste mit Violet im Ritz und besuchte mit ihr eine Vorstellung von Gigi. Es tröstete sie, Violet zu sehen, was ihr ein Gefühl von Kontinuität vermittelte:

  • »Ist es nicht kurios, wie wir nach allen unseren péripéties wieder zusammengefunden haben - und uns wieder so gern haben wie je zuvor, als wir in Portman Square im Ledersessel deines Papas vor dem Kamin saßen und ich in die Hill Street zurückging und mir zurief: >Ich habe eine Freundin! Ich habe eine Freundin!«... Das ist eine kuriose Geschichte mit dir und mir, Luschka.
    Das war sie im­mer.«[4]

Drei Tage danach wurde die Geschichte von den zwei ähnlichen Ge­dichten im New Statesman unter der Überschrift »Eine Frage der Inspiration« ausgebreitet. Neben den Gedichten wurden Briefe bei­der Verfasser abgedruckt. Dyment schrieb: »Alles, was ich weiß, ist, daß mein Gedicht zuerst im Januar 1943 in St. Martin's Review veröffentlicht und in der Folge in Buchform 1944 und 1949 nachgedruckt wurde und daß es keine Übersetzung ist.«
Vita hatte geschrieben, sie habe ihre Version 1942 oder Anfang 1943 verfaßt, als sie an ihrem Buch über die Heilige Therese von Lisieux schrieb und die »Novice« im Kopf gehabt habe. Sie habe ihr Gedicht in einem Brief an eine »gerade konvertierte Katholikin und Anhängerin der Heiligen gesandt«, die sagte, sie habe es weder je­mandem gezeigt noch es je abgeschrieben. Als Poetty Review Vita später nach einem unveröffentlichten Gedicht fragte, fand sie es in ihrem Manuskriptbuch und schickte es.
Die Schwäche von Vitas Position bestand darin, daß sie nicht nachweisen konnte oder wollte, daß sie ihr Gedicht wirklich »1942 oder Anfang 1943« an ihre konvertierte Freundin (Gwen?) ge­schickt hatte, also bevor sie Dyments Gedicht gedruckt zu Gesicht hätte bekommen können. »Es ist natürlich undenkbar«, schrieb sie, »daß ich oder Mr. Dyment ein Gedicht vom anderen >geklaut< haben könnten... Aber welche Erklärung gibt es dann? Ich habe keine anzubieten.«[3] Vor langer Zeit hatte Vita Harold gegenüber eingeräumt, mit ihrer »Erinnerung, ob eine Zeile von mir oder von einem anderen stammt«, sei es im allgemeinen schlecht bestellt; Harold hatte allen Grund, sich bei der ganzen Affäre unbehaglich zu fühlen:

  • »Jeder, der die Tatsachen liest, wird überzeugt sein, daß du Dyments Gedicht irgendwo gefunden und aufgeschrieben hast; daß du dann diese Abschrift in eine Mappe gelegt, sie Jahre später wie­dergefunden, für einen eigenen Gedichtentwurf gehalten, es her­ausgenommen und angefangen hast, es zu verbessern, und es dann, wiederum ein paar Jahre später, an die Poetry Review gesandt hast. Niemand wird glauben, daß es sich um eine Vermählung edler See­len und um einen Zufall handelt... Und nach den Datierungen zu urteilen, scheint es wahrscheinlicher, daß du Dyment nachgeahmt hast als umgekehrt.«

Dem zum Trotz, was Nigel seiner Mutter gegen Kriegsende ge­schrieben hatte, kandidierte er nun doch bei den Parlamentswah­len 1950 - als Konservativer, im früheren Wahlkreis seines Vaters, in West Leicester. Die Tatsache, daß sein Vater inzwischen Mitglied der Gegenpartei war, gab Anlaß zu mancherlei Bemerkungen. Vita war stolz und so nervös wie eine typische Mutter: während des Wahlkampfes schrieb sie ihm:

  • »Ich habe dir etwas Honig zum Frühstück, einen Kuchen und Ing­werkekse geschickt. Aber dein Abendessen macht mir Sorge: daher schicke ich dir eine Büchse Puter, die du aufbewahren und auf die du zurückgreifen kannst, wenn du einmal abends besonders hung­rig bist und im Hotel nichts zu essen bekommen kannst. Hast du sie aber erst einmal geöffnet, dann mußt du den Inhalt auf einen Teller ausleeren und darfst ihn nicht in der Büchse aufbewahren. Und stell den Teller irgendwo ins Kühle, z.B. auf ein Fenster­brett, nicht oben auf die Heizung. Ich schicke einen Büchsenöffner mit. Ein bißchen Butter zum Frühstück: und ich werde später in der Woche noch etwas schicken. Etwas Schokolade und ein wenig Käse... Der Schloßgraben fließt über. Die Enten sind selig. Triumphierend segeln sie über das hinweg, was ein Irisbeet sein sollte und frü­her auch gewesen ist.«

Als Postskriptum fügte sie mit Bleistift hinzu: »Vergiß nicht, daß ich jederzeit hinkäme, wenn du mich brauchtest. Falls ich mich nützlich machen kann.« Sie war bereits einmal in Leicester gewe­sen, hatte sich den Photographen gestellt und die »Mutter des Kandidaten« mit Anstand gespielt. Sie sagte Harold, daß, neben ihm, Nigel »meinem Herzen am nächsten« sei: »Es mit Ben aufzunehmen, ist für mich zu schwierig - ich habe bei Ben etwas ver­säumt und bin oft unglücklich darüber. Nigel jedoch ist mein Schatz, meine Freude und mein Stolz:, wie es dir ja auch ergeht.« Copper brachte an der Garagentür ein Plakat der Labour Party an; wütend riß Vita es wieder ab. Aber Coppers Ansicht teilte die Mehr­heit. Labour war wieder gefragt, und Nigel gewann West Leicester nicht.
Das Echo auf ihre Artikel im Observer trug ein wenig dazu bei, Vitas Selbstachtung wiederherzustellen. Leute erzählten ihr, sie seien bloß wegen ihrer wöchentlichen Beiträge von der Sunday Times zum Observer übergewechselt. Immer noch kamen Wagenla­dungen von Briefen an. Ihre selbstbewußte, vertrauliche Schreib­weise lud zur Korrespondenz ein. »Wie schützt man die ausgesuch­ten Sorten von Primeln vor den Angriffen der Sperlinge? ... Dies ist wirklich ein >S.O.S.<-Ruf«, schrieb sie in diesem Frühling, und: »Haben Sie schon einen Schneeball-Strauch? Wenn nicht, bitte be­sorgen Sie sich gleich einen«, und: »Ich möchte wissen, was Sie von Steingärten halten.« Sie riet zur Kühnheit beim Beschneiden der Rosen, für sie spielte es keine Rolle, ob die Fuchsien Frost bekamen; und so strömten Woche für Woche die Briefe.
Auch nach ihrem Rundfunk-Beitrag »Durch Blätter schlen­dern«, einer Sendefolge über die kleinen Freuden des Lebens, er­hielt sie viele Briefe:

  • »Weißt du, wenn ich Aufnahmen von meiner Stimme hörte, habe ich sie nie leiden können. Sie kam mir ziemlich monoton und gouvernantenhaft vor; so war ich überrascht, in wie vielen Briefen mir ihretwegen Komplimente gemacht wurden... »Ihre unvergleichlich liebliche Stimme«, sagte ein Brief (von einem Unbekannten). Idiot. Aber ein netter Idiot.«

Nichts davon konnte die zunehmende Arthritis in ihren Händen wieder gut machen oder die Tatsache, daß ihr Arzt sie nach einem Kardiogramm dringend zur Vorsicht gemahnt hatte.
Ende März, als die Clematis in den Ölkrügen fast in Blüte stand und Vita keine Lust hatte, ihr Heim zu verlassen, reiste sie zu einem
kurzen Besuch zu Violet nach Saint-Loup. Sie schrieb an Harold aus Violets Gartenzimmer, das mit Wandbildern von Philippe Jullian geschmückt war-

  • »sehr heiter und bezaubernd und vollkom­men phantastisch... Violet ist reizend zu mir - wirklich — und das Essen ist göttlich, aber ich möchte so gern nach Hause.«

Als James Pope-Hennessy Violet im Juni in London begegnete, machte sie Scherze über Sissinghurst und prahlte damit. Vita sei vom Komfort in Saint-Loup so beeindruckt, »daß sie versuchen will, Sissing­hurst bewohnbar zu machen«.
Vita hatte nicht die Absicht: statt dessen begann sie kurz nach ih­rer Rückkehr mit der Arbeit an einem neuen Roman, >Die Ostergesellschaft<. Auch verlieh ihr die Universität Durham die Ehrendok­torwürde für Literatur und viele alte Freunde kamen zu Besuch nach Sissinghurst — Leonard Woolf, Lord Salisbury (in einem Rollstuhl), Margaret Irwin, die Autorin von historischen Romanen. Ozzie Dickinson. Cyril Joad, der Philosoph und Rundfunkmann, Ivy Compton-Burnett und Sibyl Colefax (inzwischen sehr gebrech­lich, ebenfalls in einem Rollstuhl, aber noch immer unablässig plaudernd).
Sibyl Colefax war es auch, die das schwarze Spitzenkleid be­schaffte, das Vita auf einer Party in Hertford House anläßlich des fünfzigsten Jahrestages der Eröffnung von Seery Wallace Collection trug. (Vita besaß kein Abendkleid.) Sie drapierte das geliehene Kleid mit einem schwarzen Spitzenschal und trug - zum letzten Mal - ihre Kette mit Diamanten und Smaragden und die Ohrringe, deren Verkauf sie am Morgen in die Wege geleitet hatte. Danach schrieb sie begeistert an Harold:

  • »War das gestern nicht eine wun­derbare Party? Ich denke, es hat einiges für sich, wenn man einmal in vier Jahren zu einer Party geht... Meine roten Fingernägel wirken hier ganz deplaziert!«

Dieser Brief kreuzte sich mit einem Brief von Harold:

  • »Ich wünschte, Mar kaufte sich auch so ein Kleid wie das von Betty Hussey. Schwarz steht dir so gut, und du kannst es immer mit verschiedenen Schals etc. tragen. Aber du sahst ge­stern abend mit deinem Schmuck so prachtvoll aus, daß ich mir wünschte, du kämest öfter auf Parties und brauchtest nicht mit Si­byl als Vermittlerin Kleider zu schnorren.«

Auf der nächsten wichtigen Gesellschaft, im  Februar im Buckingham Palast, lieh Vita noch einmal das schwarze Kleid aus, das Mrs. Hussey gehörte, dann kaufte sie sich ein Abendkleid, das achtzehn Pfund kostete, was für diese Zeiten billig ist.

  • Da es die nächsten zwanzig Jahre halten soll, falls ich solange lebe, werden sich die Kosten auf weniger als ein Pfund jährlich belaufen!«

James Pope-Hennessy, der ebenfalls auf der Party in Hartford House gewesen war fand, Vita habe an jenem Abend »sehr be­drückt und krank« ausgesehen. Am folgenden Sonntag kam er zum Lunch nach Sissinghurst:

  • »Harold, in einem orangefarbenen Hemd, trank Sherry, Violet Trefusis überschäumend in weißem Kleid aus Baumwolle und Vita furchtbar, erschreckend krank aus­sehend... ein anstrengender, unerfreulicher Tag.«[6]

Beim Lunch schlug Violet vor, Harold und Vita sollten im September mit ihrem Fiat, den sie in Italien verkaufen wolle, nach Florenz fahren: sie könnten dort im L'Ombrellino wohnen, dem Haus auf dem Hügel Bellosguardo oberhalb Florenz, das ihrer Mutter gehört habe.
Vitas Arzt sagte Harold, ihr Herz sei noch immer erweitert, sie müsse sich mit Copper am Steuer abwechseln und dürfe nicht ermüden. Ihre Arthritis griff auf ihren rechten Ellenbogen über (»Ich zerbreche, das ist mit mir los!« schrieb sie in ihr Tagebuch), und sie machte sich im stillen Sorgen wegen der 2814 Pfund, die sie noch immer an Einkommenssteuer schuldete.
»Wo soll ich sie um Him­mels willen, hernehmen?« Erst Ende August erzählte sie Harold von dem Roman, an dem sie schrieb, und diese Neuigkeit trug nicht zu seiner Beruhigung bei.

  • »Du liebe Güte!... Du warst letzten Sonntag überhaupt nicht in guter Verfassung, und ich fürchte, die Belastung durch einen Roman wird dich wieder ganz nervös und unruhig machen.«

Mitte September brachen sie mit Violets Wagen auf. Sie fuhren durch Val d'Isere, wo Vita vor mehr als zwanzig Jahren mit Hilda Matheson gewesen war — »es gibt dort jetzt 28 Hotels!« Am Col d'Iseran, den sie dieses Mal mit dem Wagen und nicht zu Fuß erreichten, hielten sie an, um ein paar Enzian-Samen einzusammeln.
In Rapallo stellte Harold fest, daß er in Alessandria seine Mappe »mit seinem ganzen Geld, seinem Paß und drei Kapiteln seines Buches« vergessen hatte. Die Mappe wurde nicht wiedergefunden, und der »arme Harold war deprimiert«. In solchen Krisen wuchs Vita über sich hinaus: Harold schrieb ihr später, wie sehr ihn ihre Sanftheit getröstet habe.
»Sie war wie der Schwanensee, anstelle ei­nes furchtbaren Tumultes.« Von diesem Augenblick an begannen sie, die Reise zu genießen, sich einander zu erfreuen und Gespräche zu führen.

  • »Und wie glücklich wir waren, mein süßer, süßer Mar! So glücklich. Unsere Jugend schien zu uns zurückzukehren.«

In Lerici saßen sie an jenem Abend am Meer, und Vita erzählte ihm mehr über ihren Roman, an dem sie schrieb. Auf dem Wege nach Lucca gruben sie wilde Zyklamen aus, die sie zu Hause einpflanzen woll­ten. (Vita hielt die Wurzeln feucht, indem sie sie in ihrem Toiletten­beutel aufbewahrte; Ableger steckte sie in eine rohe Kartoffel.) Am Abend erreichten sie L'Ombrellino.

  • »Gehen auf den Balkon und lassen die unfaßbare, von Zypressen eingefaßte Schönheit von Florenz auf uns wirken.«

Bernard Berenson, inzwischen dreiundachtzig Jahre alt, war nicht weit entfernt in seinem Sommerhaus in Vallombrosa. Er wollte sich unbedingt um Violets vornehme Gäste kümmern: er schickte seinen Jeep und seinen walisischen Chauffeur, um sie ab­zuholen. In Vallombrosa unterhielt sich Vita lange mit Berensons Gefährten Nicky Mariano über Geoffrey Scott, der sie beide geliebt hatte; und sie traf kurz mit Luisa Vertova zusammen, einer jungen Kunsthistorikerin, die bei Berenson arbeitete. Berenson war ein Gönner Bens — und fünf Jahre darauf sollten Ben und Luisa heira­ten.
Der einzige Kummer in diesen Ferien wog schwer; während sie bei Berenson waren, erfuhren sie, daß Sibyl Colefax gestorben war. »Bestürzt«.
Zu Violet nach L'Ombrellino zurückgekehrt, fuhren sie mit Violets anderem Gast, Gaston Palewski, nach Florenz und speisten mit Harold Acton bei La Pietra. »Inmitten der schönsten Zinnien, die ich je gesehen habe«. notierte Vita. Erholt und in neuer Harmonie kehrten sie mit dem Zug zurück.

  • »Es gibt Tage und Augenblicke, die ich nie vergessen werde«.

schrieb Vita an Harold

  • »alles Dinge, die unseren Schatz an Erinnerungen vermehren. Habe Dank dafür, daß du immer so zärtlich zu mir warst — mein vollkommener Ge­fährte, mein teuerster Freund, mein Liebster.«

Kapitel 33

Bevor Harold und Vita gemeinsam nach Italien aufbrachen, hatte Ben es endlich geschafft, Neville Terrace zu verlassen und in St. Georges Square, Pimlico, einen Teil einer Wohnung zu bezie­hen. Harold besuchte ihn dort:

  • »Viel flotter als Neville Terrace. Ich fürchte, viel >Frohsinn< haben wir unseren Söhnen nicht mitgeben können. Das meint Sibyl vermutlich, wenn sie sagt, wir seien schlechte Eltern gewesen.«

Obgleich Ben sich so danach gesehnt hatte, Neville Terrace hin­ter sich zu lassen, liebte er seinen Vater ohne Einschränkung. Vita gegenüber verhielt er sich weiterhin ambivalent, ja feindselig, wie sie glaubte. Manchmal war er »bezaubernd« zu ihr, und sie war ge­rührt und entzückt. Manchmal war er stumm und entzog sich kühl all ihren Versuchen, ihn bei den Mahlzeiten ins Gespräch zu ziehen, so daß sie in ihrer außerordentlichen Nervosität Harold gegenüber die Geduld verlor - »halb schläfert mich seine Ruhe ein, halb bringt sie mich in Rage«. Nach einem Wochenende im Dezember 1950, als Ben wieder einmal »bezaubernd« gewesen war, schrieb sie an Harold:

  • »Ihm gegenüber bin ich in einer Zwickmühle: Er versetzt mich in Schrecken, wenn er mit übler Laune hier ankommt, und wenn er dann guter Laune ist, liebe ich ihn. Ich meine oft, ich sollte netter zu ihm sein, und ich wäre es gern, aber er macht mich zuweilen so schrecklich schüchtern. Ich fühle mich in seiner Gegenwart nicht entspannt, komme mir vor wie ein Auto, bei dem die Kupplung klemmt - es knirscht und schleift und nichts geschieht.«

Aber nach den glücklichen Ferien war Vita ein neuer Mensch. Mit dem Roman ging es »gut voran«, und Michael Joseph hatte ihr ei­nen Vorschuß gegeben. Wieder schreiben zu können, »veränderte das Leben vollständig«

  • »Ich war die letzten zwei, drei Jahre so unglücklich, weil ich nicht schreiben konnte; ernstlich bekümmert war ich, weil ich glaubte, es sei für mich endgültig vorbei. Damit will ich nicht sagen, daß ich glaube, mein Roman werde etwas taugen - du weißt, daß ich kein guter Romancier bin — aber schon das bloße Schreiben ist aufre­gend; es hält mich am Leben, lebendig in einer imaginären Welt, die wirklicher erscheint als die gewöhnliche Welt.
    Natürlich würde ich lieber Gedichte schreiben. Vielleicht kehrt auch das eines Tages zurück. Meine Depression ist verflogen.«

Nigel erzählte ihr, er und Lionel Sackville-West hätten im Auftrag des National Trust Verhandlungen geführt, zusätzlich zum Schloß auch den Park zu übernehmen, um spekulativen Baumaßnahmen vorzubeugen. Vita hatte von Knole geträumt - von »den Hirschen, die durch den Stallgang galoppierten, mit klappernden Hufen auf den Holzbohlen« — und nachdem sie die Neuigkeit von Nigel erfah­ren hatte, schrieb sie an Mason, den Kommissionär in Knole, und bat ihn um einen Schlüssel für das Gartentor. Nach dem Tod ihres Vaters hatte man ihr einen Schlüssel ausgehändigt - er war, zu­sammen mit dem Schlüssel zur Villa Pestellini, in einer grünen Lederschatulle aufbewahrt und in Long Barn zurückgelassen wor­den. Als das Mobiliar von Long Barn gesichtet und verkauft wurde, verschwand die grüne Schatulle. Sie glaubte nicht, daß sie je wie­der einen Schlüssel für Knole benutzen würde, aber »ich würde mich nicht so ausgesperrt fühlen, wenn ich einen Schlüssel hätte«, wie sie Harold erzählte und dabei wieder ihre alte Klage an­stimmte:

  • »Wäre ich doch bloß Dadas Sohn und nicht seine Tochter gewesen.«

Lord Sackville, ihr Onkel Charlie, schickte ihr einen neuen Schlüssel. Er verdarb ihr die Freude, indem er ihr sagen ließ, er hoffe, sie werde ihn nicht wieder verlieren; für diesen Fall habe er nämlich das eingravierte Wort »Knole« aus dem Schlüssel entfer­nen lassen. Sie sagte Harold nichts davon, beschloß aber, Copper zu bitten, »auf meinem Schlüssel das Wort >Knole< neu einzugravie­ren«. Diese Demütigung beschrieb sie in ihrem Traumbuch. Zu Ha­rold sagte sie lediglich: »Ich bin so glücklich, ich schreibe mit mei­nem Schlüssel für Knole in der Tasche.«
Überraschenderweise luden die Nicolsons jemanden über Weih­nachten ein - Rose Macauley — und überraschenderweise war Vita traurig, als Rose wieder abreiste. Während ihres Besuchs gaben sie in dem großen Raum sogar eine Cocktail-Party. Die Gäste kamen nicht aus der literarischen Welt, sondern waren Freunde aus der Umgebung, wie die Beales. Pyms, Lamonts und Drummonds.
Nach Weihnachten wurde Harolds neunzigjährige Mutter in ihrem Londoner Haus am Tedworth Square ernstlich krank. Bald nach Vitas Geburtstag, im März, stand fest, daß es mit ihr zu Ende ging. Vita lud Rollo in den Wagen und fuhr nach London, um bei Harold und seiner Familie zu sein:

  • »Es ist alles ziemlich schlimm - unten Freddy betrunken und oben seine Mutter sterbend... Froh, als ich ging.«

Um Harold von dem Elend abzulenken, führte sie ihn ins Victoria and Albert-Museum und nach Kew,

  • »aber es fiel eiskalter Regen«.

Es gab nichts, was sie in Tedworth Square hätte tun kön­nen; sie war Lady Carnock nie nahe gewesen, die am Karfreitag, dem 23. März 1951, starb. Harold ging zu ihrer Einäscherung, was Vita Sorgen machte, »da er letzte Nacht offensichtlich im Schlaf­zimmer ohnmächtig geworden ist und sich den Rücken und den El­lenbogen aufgeschlagen hat«. Lady Carnocks Tod führte zu Vitas erstem und einzigen Besuch auf St. Michaels Mount bei Gwen und Sam St. Levan; sie und Nigel wohnten mit der versammelten Fami­lie der Urnenbestattung bei.
Harold glaubte, seinen ältesten Bruder Freddy bei sich in Neville Terrace aufnehmen zu müssen. Vita war entschieden dagegen; das sei zu viel für ihn, sagte sie, nicht fair gegen Nigel und würde die Parrotts - das Ehepaar, das sich um den Haushalt kümmerte - aus dem Haus treiben. Sie hatte kein Mitleid mit Freddy, obgleich ihr der Kummer von Menschen, die ihr weniger nahestanden, sehr zu Herzen ging - so wie im Fall von Ivy Compton-Burnett, die gerade ihre Freundin und Gefährtin Margaret Jourdain verloren hatte. Während die Diskussion um Freddys Zukunft im Gange war, schrieb sie an Harold, daß sie Ivy eine »Zuflucht« in Sissinghurst angeboten habe, wenn sie kommen wolle. »Ich ertrage es wirklich nicht, an den Kummer, den Schmerz und die Einsamkeit der Leute zu denken. Ich kann es nicht ertragen. Hadji. Stell dir nur vor, es ginge um dich oder mich! und so verwandeln sich die eigenen in die Gefühle anderer Leute.« Harold ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Außerdem sah er keine andere Möglichkeit, als sich in Neville Terrace um Freddy zu kümmern:

  • »Mar hat keinen Sinn für familiäre Verpflichtungen. Ich schätze, es ist eher ein bedint als ein aristokratisches Gefühl... Außerdem glaube ich, daß Freddy nicht mehr lange zu leben hat. Wenn er stirbt, möchte ich das Gefühl haben, daß ich wenigstens ein biß­chen getan habe, um ihm seinen letzten Lebensabschnitt weniger schrecklich und jammervoll zu machen. Aber warum regt sich Mar so über Ivy Compton-Burnett auf: warum ist sie ein solcher Engel, wenn es um die >Forellen<, um Mrs. Carey, Mrs. Lamont, die alte Mrs. Drummond geht: warum ist ihr soviel daran gelegen, daß Elviras Mama Blumen geschickt werden — wo sie doch für Tante Cecilie überhaupt nichts übrig hat und niemals einen Augenblick lang daran gedacht hat, meiner Mama Blumen zu schicken? ... Aber ich liebe dich deshalb nicht weniger, so wie man die Verrücktheiten ei­nes Menschen liebt, der einem alles in der Welt bedeutet.«

Im Juni vermehrten sich Harolds Probleme, als bekannt wurde, daß Guy Burgess und Donald MacLean sich nach Rußland abge­setzt hatten.* (* Guy Burgess, Mitarbeitet in der Ostasien-Abteilung des Außenministeriums und Do­nald MacLean, Leiter der Amerika-Abteilung, waren bereits auf der Universität Kom­munisten gewesen. Sie waren von Southampton über Frankreich, Bern und Prag nach Moskau geflohen [Anm. d. Übers.]) Als Harold noch im Auswärtigen Amt tätig war, hatte Guy Burgess zu seinen engsten Freunden gehört, während des Krie­ges hatten sie in der Propaganda-Abteilung zusammengearbeitet und sich häufig in Clubs und auf Gesellschaften getroffen. Harold hatte seine Gesellschaft immer sehr geschätzt. Er sorgte sich um Guys Schicksal auf der anderen Seite, wie seine Tagebucheintra­gung vom 8. Juni zeigt - demselben Abend, als Vita, die allein in Sissinghurst war, in ihr Tagebuch schrieb, daß »der zunehmende Mond und die Venus dicht aneinanderrückten, ein wundervoller und romantischer Anblick« — in der er schrieb, die Russen würden Guy nur einen Monat oder zwei ausnutzen »und dann in aller Stille in ein Salzbergwerk abschieben. In meinen Träumen starrt mich sein sonderbares Gesicht aus versoffenen, blinden Augen an.« Am Wochenende war Vita über sein Schweigen und seine gedrückte Stimmung verwirrt. Ihr Tagebuch vom 9. Juni:

  • »Die Iris schießt sehr rasch aus der Erde. H. macht sich noch im­mer Sorgen wegen Guy Burgess und MacLean. Es scheint ihn zu verfolgen. Es ist sonderbar und interessant, wie Dinge mit einem­mal sein Interesse ganz absorbieren. Ich werde ihn nie verstehen — d. h., obgleich er ein Gesundheitsapostel ist, fragt er mich nie nach meinen [arthritischen] Händen, die mir wirklich Kummer ma­chen. Also sage ich nichts.«

Am Sonntag war er immer noch »mürrisch«.

  • »Ich hoffe, es ist die Aussicht, daß Freddy in dieser Woche nach Neville Terrace um­zieht.« Oder handelte es sich um etwas Ernsteres?

Er schrieb ihr aus London:

  • »Nein, mein Schatz, ich verberge nichts vor dir. Weder bin ich mit einem Spionagering in Verbindung gebracht worden, noch habe ich auf irgendeine Weise mit Guys üblem Verhalten etwas zu tun. Ich habe seit zwei Jahren weder von ihm gehört noch mit ihm gesprochen.
    Wenn ich dieses Wochenende deprimiert war, war das auf das Zu­sammentreffen mehrerer Umstände zurückzuführen.«

Da er nun wußte, was geschehen war, mußte er den ganzen Verlauf seiner Freundschaft mit Guy noch einmal überdenken. Harolds Biograph, James Lees-Milne, hat geschrieben: »Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Guy Burgess Harold [während des Krie­ges] vertrauliche Informationen entlockte, die er an seine Auftrag­geber in Moskau weitergab.«[1]
Später im Jahr heiratete James Lees-Milne. Seine Frau war Avilde, Tochter eines Generalleutnants und der früheren Frau des Viscount Chaplin. Vita und Harold waren die Trauzeugen bei der schlichten Trauung vor dem Standesamt in Chelsea. Da sie ver­schiedenen Konfessionen angehörten und Vita für James Lees-Milne eine besondere Vorliebe hegte, war Vita um diese Ehe beson­ders besorgt.
Die erste Sammlung ihrer Observer-Artikel wurde in Buchform veröffentlicht. In ihren Artikeln machte Vita weiterhin aus ihren gärtnerischen Vorurteilen keinen Hehl: »Ich hasse, hasse, hasse American Pillar und ihre süßlich-rosige Gefährtin [Dorothy] Perkins.*« (* Rosensorten [Anm. d. Übers.]) Sie verdammte Rabatten und die Farbe gewöhnlicher Ter­rakotta-Blumentöpfe: man solle sie, so riet sie, weiß kalken oder cremefarben anstreichen.
Mehr und mehr Fremde kamen, um den Garten zu besichtigen: 1951 nahm sie 550 Pfund von den »Shillings« (wie sie die Besucher nannte) ein und war stolz darauf: »Ich glaube, wir haben hier etwas geschaffen; unter unseren Händen ist aus der Verwahrlosung etwas Liebliches und Friedliches hervorgewachsen.« Sie hielt Vorträge vor der Royal Horticultural Society und ärgerte sich über die Tatsa­che, daß ihre Tüchtigkeit als Gärtnerin und schlimmer noch, die als Schriftstellerin in solchem Maße mit ihren Observer-Artikeln verknüpft wurde. »Ich kriege innerlich die Wut, wenn die Leute wieder einmal Schloß Chevron ans Licht ziehen, und der Observer ist natürlich am allerschlimmsten.« Sie hatte das Gefühl, daß sie - im doppelten Sinne - aus den falschen Gründen Anerkennung fand. Sie bestellte Torf, und die Firma schrieb in ihrer Antwort: »Dürfen wir uns erlauben, einer so bedeutenden Gärtnerin den Torf kostenlos zu liefern?« »Das ist doch Unsinn«, sagte Vita zu Harold.
Wenn die »Shillings« Leute waren, die sie kannten, suchten sie Vita gern persönlich auf. Mit guten Bekannten, mit denen sie wenig zu sprechen brauchte... sah Vita gemeinsam fern: Muffin the Mule, ein Kinderprogramm... das für Vita zu einer Art Kult geworden war. »Wie die Leute einem auf die Nerven gehen! Dottie ruft an: ob ich nicht für einen Tag nach Penns kommen will, bevor sie ins Ausland reist? Violet ruft an: ob ich mich mit ihr in London treffen will? Die Boy-Scouts von Cranbrook: ob ich ihre Ausstellung eröffnen will? Ich habe nichts dagegen; es nimmt wenig Zeit in Anspruch... Aber, im Ernst, Hadji, ich will arbeiten.«
Sie hatte Jacquetta Hawkes gern für ein Wochenende um sich, deren Buch A Land sie sehr bewundert hatte; und sie mochte Freya Stark - »sie hat ihr Leben wirklich voll und ganz gelebt«. Dorothy Bussy, die Verfasserin von Olivia, kam zum Tee und wurde eine Freundin:, als Vita sie in London besuchte, »unterhielten wir uns bis ich weiß nicht wann - es war eines der Erlebnisse, die ich nie ver­gessen werde.« Eine Mrs. Wilton kam und behauptete, sie sei »ent­weder B. M's Tochter und Seery der Vater oder Dadas Tochter von Constance Hatch«. Bunny Drummonds Mann starb, und Bunnys abendliche Besuche wurden noch häufiger. Harold schrieb Vita im November: »Ich mißtraue allen deinen Parasiten — sie nutzen dich aus. Außer Vi [Pym], die uneigennützig ist.« Aber wenn nötig, konnte Vita unbarmherzig sein. Eine gefühlvolle Freundin, der Vita verboten hatte, noch einmal nach Sissinghurst zu kommen, nannte sie »einen Engel mit dem Flammenschwert«, der sie vom Paradies ausschließe.
Die Nicolsons hatten das Alter erreicht, in dem ihre Namen in den Erinnerungen und Biographien bedeutender Zeitgenossen auf­tauchten. »Es ist eine Menge über uns drin«. schrieb Vita an Harold über die Hugh-Walpole-Biographie von Rupert Hart-Davis. Doch das Jahr 1952 begann damit, daß Harold entdeckte, Roy Campbells in Kürze erscheinende Biographie Light on a Dark Horse werde eine »scheußliche Attacke« auf die Long-Barn-Episode enthalten. Vita war der Meinung, man solle versuchen, eine einstweilige Verfü­gung gegen den Verlag zu erlangen. Raymond Mortimer und Alan Pryce-Jones (Herausgeber des Times Literary Supplement), beide alte und bewährte Freunde, rieten davon ab, überhaupt etwas zu unternehmen. Harold war mehr aufgebracht als Vita die, wie er sagte, »sich darüber lustig macht«. 1946 hatte Vita Campbells Talking Bronco zustimmend und vollmundig rezensiert und ihn als »einen unserer bedeutendsten lebenden Dichter« bezeichnet: und sie hatte jedes Verständnis für rachsüchtige Liebe. Nichtsdestowe­niger schrieb sie in ihrem Tagebuch, seine Autobiographie sei »alles andere als angenehm«.
Um dieselbe Zeit erhielt Vita eine Kopie des Schreibmaschinen-Manuskripts von Dorothy Wellesleys Erinnerungen >Far have I Travelled< von der jungen Ursula Codrington zugeschickt, die als Dotties Sekretärin tätig war. (Miss Codrington erledigte bald auch für Vita Büroarbeiten und half ihr bei der Beantwortung einiger hun­dert Briefe, die auf einen Observer-Artikel über die Schneckenplage eingingen.) Vita fand das Buch »ganz einfach schrecklich«:

  • »Sie äußert sich nicht indiskret oder unangenehm über Gerry oder ähnliches, sondern es ist einfach dümmlich. Eine Mischung aus Gejam­mer und Prahlerei.«

Dann erhielt sie einen Anruf von Mary Camp­bell, die ihr mitteilte, Roy sei der Dichter, der bei Foyle's Literary Luncheon im Dorchester geehrt werden solle. Mary bat Vita, nicht hinzugehen, »damit Roy keine Szene machen kann«. Vita ging nicht. Statt dessen speiste sie mit Violet im Ritz, kaufte sich bei Poulson & Skone ein Paar neue Stiefel und bestellte bei Burberry's einen neuen Mantel und einen Rock.
Nigel kandidierte bei einer Nachwahl in Bournemouth East für die Konservativen. Vita und Harold begleiteten ihn am Wahltag durch seinen Wahlkreis und waren dabei, als sein Sieg verkündet wurde:

  • »Vita ist so stolz auf ihn, ihre Augen leuchten sanft. Es ist gefährlich, aber köstlich, jemanden so innig zu lieben.«

Am 19. Februar 1952 waren sie Zeugen, als er zum ersten Mal seinen Sitz im Unter­haus einnahm. Anschließend fuhr Harold nach Griechenland — »Und ich stecke hier«, schrieb Vita an Jim Lees-Milne, »wie eine alte Rübe im Lehm der Weald.«
Im Frühling starb König George VI. seine Witwe, Königin Eli­zabeth, jetzt Königinmutter, äußerte den Wunsch, Sissinghurst zu besuchen und am 4. Juni dort zu lunchen. »Ich werde einen Rock anziehen müssen«, sagte Vita. Lady Diana Cooper machte Harold mit dem Protokoll vertraut, und er gab es an Vita weiter:

  • »Sie sitzt am Kopf des Tisches und ich zu ihrer Linken ... Der Grund ist, daß, wenn sie ein Haus betritt, dieses theoretisch das ihre ist, und darum sitzt sie am Kopf des Tisches!«

Vor dem königlichen Besuch brach Freddy, Herolds Bruder, in Neville Terrace zusammen und kam ins Krankenhaus. Am 27. Mai traf es Vita selbst.

  • »Vor dem Dinner gehe ich hinaus, um ein paar vertrocknete Lilienblüten abzuschneiden, und breche zusammen. Herz. Schließlich gelingt es mir, ins Büro zu kriechen und Anna [Mac] anzurufen, die zum Essen bei Bunny ist.«

Sie erzählte Harold nichts von dem Vorfall und versuchte, ihre Schwäche zu ver­bergen, besonders, als Freddy vier Tage später starb. Seine Urne wurde in Sissinghurst beigesetzt.
Trotz dieser Leiden war der Besuch der Königinmutter ein Er­folg. Sie saß am Kopf des Tisches, wie es die Etikette verlangte, und Harold zu ihrer Rechten und Nigel zu ihrer Linken. (Ben war in Ita­lien.) Vita saß am anderen Ende. Sie tranken Tee im Erechtheum und gingen durch den Garten. Das Personal und die Beales wurden vorgestellt, die Pyms kamen mit einem Korb Kirschen, und dann gab es Tee im großen Zimmer. »Alles verläuft comme sur des roulettes« schrieb Vita in ihr Tagebuch. Viti war prachtvoll und hei­ter«, schrieb Harold in das seine.
Sie verlor diese Heiterkeit, als Rollo ein paar Tage später vom Hund eines Gartenbesuchers gebissen und ernstlich krank wurde. Jetzt fiel Harold auf, daß auch Vita krank aussah. Er bedrängte Mac, und sie erzählte ihm von dem Herzanfall.

Harold und Vita waren um die Gesundheit und Sicherheit des anderen in ungewöhnlichem Maß besorgt. Vita sorgte sich so sehr darum, was Harold nicht nur in Flugzeugen, sondern auch in Zü­gen, Taxis, bei Gewittern oder beim Überqueren der Straße zusto­ßen konnte, daß es sie zum Weinen brachte. In ihrem Roman >Die Ostergesellschaft< läßt sie ihre Heldin Rose über ihren Gatten sa­gen:

»Ich lebe in einer ständigen Angst... es vergeht kein Tag, keine Stunde, da ich mir nicht ausmale, daß etwas Furchtbares gesche­hen könnte.«

Warum?

»Es heißt doch übrigens, Angst entspringe einem verborgenem Schuldgefühl, nicht wahr? Ich wüßte nicht, daß ich irgendein größeres Unrecht begangen hätte...«

sagt Rose. Woher ihre gemeinsamen Ängste auch kommen mochten, beide Nicolsons hätten Vitas erfundener Rose zugestimmt. Was ihn selbst anging, war Harold ein Gesundheitsapostel. Vita war es nicht. Doch ungeachtet ihrer brennenden Sorge waren sie einander in Krankheitsfällen keine Hilfe, da sie beide hoffnungslos unprak­tisch waren. Als Harold Anfang des Jahres Grippe hatte, steckte Vita ihm ein Thermometer in den Mund, ging fort und vergaß es völlig. Wenn sie ihm seine Kissen aufschüttelte, waren sie unbeque­mer als vorher. »Sie hat wunderbare und überragende Qualitäten, doch die einer Pflegerin ist ungeachtet ihrer Zartheit, nicht, darun­ter.«
Vor Angst um Vitas Gesundheit gelähmt, benahm sich Harold wie er selbst sagte, »ungeschickt«: »Als Patientin ist sie schwierig zu behandeln, verabscheut, wenn man sich um sie bemüht, ist aber selbst nicht vorsichtig.« Sie herrschte ihn an, und dann bat sie ihn um Verzeihung: es war für die beiden einfacher, über Rollos Krank­heit zu sprechen als über die ihre; und es war Harold ganz unmög­lich, offen mit ihr über das Trinken zu reden, zu dem die Sorge um Rollo sie verleitet hatte. Während dieser unglücklichen Tage im Juni kam Lady Powerscourt (die Schriftstellerin Sheila Wingfield) zum Lunch, und »Viti ist völlig konfus und wiederholt sich die ganze Zeit. Ich bin schrecklich verlegen und betrübt.«
Dasselbe passierte, als James Lees-Milne und James Pope-Hen­nessy an einem Augustabend kamen. Sie schrieb Harold, der in London war, das Dinner sei nicht gut verlaufen, »und ich glaube, es war ein schrecklicher Reinfall... Es tut mir leid, und ich fühle mich verwundet und unzulänglich.« James Pope-Hennessy, um beide be­sorgt, sagte Harold, daß Vita in »benebeltem Zustand« gewesen sei. Ein undatiertes Tagebuch-Gedicht Vitas:

Es gibt Zeiten, da ich den Anblick von Leuten nicht ertragen kann.
Ich weiß, sie sind reizend, intelligent, weil es mir jeder sagt.
Aber ich wünschte, sie gingen fort.
Ich kann mit niemandem etwas anfangen.
Sie erscheinen mir alle unwirklich, die reizenden, intelligenten
Leute.
Und ich glaube, ich erscheine ihnen ebenso unwirklich.

Harold verließ Neville Terrace und zog in ein Appartement in GI Al­bany, was ihn glücklich machte; Vita freute sich für ihn. Albany ist ein elegantes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert im Stadtteil Piccadilly, ursprünglich ein Herrenhaus, das man in ein Appartement­haus umgebaut hatte, das sich zu beiden Seiten des mit Arkaden versehenen Rope Walk hinzog. Harold hätte in London keine bes­sere Bleibe finden können. Die Räume gehörten John Sparrow, der zum Rektor von All Souls, Oxford, ernannt worden war; er behielt ein Dachzimmer für sich und bot Nigel die übrigen an, was dieser unter der Bedingung akzeptierte,  daß auch Harold einziehen konnte. Harolds Räume lagen im Erdgeschoß auf der Rückseite. Am Wochenende, nach dem Umzug, schienen sich die Sorgen ver­flüchtigt zu haben. Vitas Tagebuch, Sonntag. 29. Juni:

  • »Sitze bis zehn Uhr abends mit H. im Weißen Garten, wir planen Verbesse­rungen für ihn, der immer besser gedeiht. Die Kaiserlilien wachsen schnell. Kletterrose schön im Mandelbaum. Ein vollkommen ruhi­ger, windstiller Abend, duftend und warm.«

Im August gingen sie zusammen auf eine Garten-Tour durch Wales und Irland, wo Vita zuvor nie gewesen war. Sie wohnten in Clandeboye, das für Harold in seiner Kindheit ein verzaubertes Haus gewesen war, als er dort mit seinem Onkel, Lord Dufferin und Ava gewohnt hatte. Vita kam es weniger zauberhaft vor. Sie notierte in ihrem Tagebuch, sie fühle sich dort nicht wohl. Demütig schrieb Harold in das seine:

  • »Ich hatte Vita den Eindruck vermittelt, daß Clandeboye eines der prächtigsten Häuser Irlands sei, vollgestopft mit wunderschönen Möbeln und schönen Gemälden. Sie findet einen Adelslandsitz vor, mit Relikten aus Burma von 1850 und schlechten Kopien von Reynolds und Gainsborough.«

Es war eine Enttäuschung; aber Harold hatte sich daran gewöhnt, daß sich seine Familienmythen denen Vi­tas unterwerfen mußten. Als Nigel ihm erzählte, er habe sich im­mer mehr als ein Sackville denn als ein Nicolson gefühlt, bemerkte Harold:

  • »Es ist leider wahr, daß keiner unserer Jungen jemanden aus meiner Familie in der Weise als Angehörigen betrachten, wie sie es bei Eddy, Lionel etc. tun. So lebe ich denn in der Nähe von Sackville Street [in Albany] und bin beeindruckt, überwältigt, ge­demütigt von dieser düsteren, schwermütigen Sippe.«

Es war ein Spaß — nicht mehr: ein alter Ärger, der keine Kraft mehr hatte, zu verletzen. Bei der Ankunft zu Hause fand Vita »ein paar Herbst­zeitlose noch in Blüte und die Zinnien noch sehr gut... Rollo glatt und rund, aber schmollend.« Fast umgehend ließ sie Rollo wieder im Stich und nistete sich mit Violet in L'Ombrellino ein. Philippe Jullian, Harolds alte Liebe Jean de Gaigneron und Rolfe Faucigny-Lucinge, ein alter Begleiter Violets, waren ebenfalls dort. Philippe Jullian erinnerte sich, wie er mit Vita und Violet durch Florenz fuhr: »Die beiden Frauen schwelgten in einer lässigen Musterung der Passanten und sprachen ihre Urteile aus wie zwei moderne Schülerinnen von Oscar Wilde: >Oh, meine Liebe, dieses Profil: rei­ner Donatello!<«- (Vita war eine Bewunderin männlicher Schön­heit: als sie Harold in jenem Jahr von einem ihrer Fälle vor Gericht erzählte, beschrieb sie den Angeklagten als »einen der schönsten Männer, die ich je gesehen habe, mit dichten, grauen Locken wie Alvilde [Lees-Milne] und einem Teint wie eine reife Nektarine. Er­ leuchtete buchstäblich vor Farbe und Schönheit, als er auf der Anklagebank saß.«) Während die anderen in Florenz spazierengin­gen, saß Vita meist in der Villa, korrigierte ihre Fahnen von Die Ostergesellschaft und die von Violets Don't Look Round. Sie schrieb an Harold:

  • »V. ist gerade mit dem üblichen tourbillon nach Florenz aufgebro­chen. Ich weiß wirklich nicht, warum ihre Diener bei ihr bleiben. Sie gibt ihnen nie Anweisungen und verflucht sie dann, weil sie nicht das getan haben, was sie wollte. Sie sagt niemals, wie viele Leute zum Dinner oder Lunch erwartet werden... Ich werde ein­fach nicht aus ihr klug... Und doch kann sie so reizend und weich­herzig sein. Sie ist wirklich ein Rätsel.«

In einem Brief an Alvilde Lees-Milne schrieb sie zwei Jahre später, sie glaube, Violet sei »eine höchst unglückliche, ja tragische Person«, was daher rühre, daß »man sie liebt und bei ihr viele Dinge toleriert, die man sonst nicht tolerieren würde. Sie ist wie une âme damnée: tanze, tanze, tanze, kleine Lady.«
Violet war ein Rätsel, und rätselhaft war auch das »unzerstör­bare« Band zwischen ihnen. Wieder daheim, dachte Vita an ihrem 39. Hochzeitstag über ihre gleichfalls unzerstörbare Liebe zu Ha­rold nach und spürte, daß sie danach verlangte, das ebenso große Rätsel zu enthüllen, das er in sich barg.

  • »Ich trage mich mit dem Gedanken, einen neuen Roman zu schreiben«,

notierte sie in ihrem Tagebuch.

  • »Er soll von der Ehe handeln und den Problemen, die mit diesem Sakrament verbunden sind.«

Während sie im Obstgar­ten Äpfel pflückte - Allington Pippinäpfel, Cox und Blenheims - mit Enzian zu ihren Füßen, »wie am Mittelmeer«, umkreisten ihre Gedanken vage ihr neues Buch, und eine Zeile von John Masefield ging ihr durch den Kopf:

  • »Die Tage, die uns glücklich machen, ma­chen uns weise.«

Weihnachten bemerkte Harold zum ersten Mal, daß Vitas Schul­tern sich krümmten. »Armer Liebling, es ist ihre Arthritis.« Sie war sechzig. Am 27. Dezember schrieb Vita in ihr Tagebuch:

  • »Ich spüre, daß H. die Vorstellung haßt, älter zu werden (das tue ich auch).«

Nach vierzehn Jahren gab er seine Kolumne »Randbemerkungen« für den Spectator auf.
Mit Erscheinen der Liste der Neujahrsehrungen wurden sie Sir Harold und Lady Nicolson: Harold hatte für seine Biographie über George V. das KCVO* erhalten. (* Knight Commander of the Royal Victorian-Order: das Ritterkreuz des Victoria Ordens, mit dem der persönliche Adel verbunden ist [Anm. d. Übers.]). Sie waren nicht erfreut; sie dachten sogar daran, abzulehnen. Es bedrückte sie, weil die Ehrung, weit davon entfernt, eine Ehre zu sein, ihnen langweilig und bürgerlich erschien.

  • »Wenn man mir nie etwas geschenkt hätte, wäre mir mein potentieller Ruf erhalten geblieben«,

schrieb Harold an Vita,

  • »so gering bewertet zu werden, vermindert mein Prestige.«

Vita verbot Mrs. Staples, sie »Mylady« zu nennen:, sie blieben Mr. und Mrs. Ni­colson für alle Diener und Gärtner - so ihre Anweisung. Vita ließ auf den Umschlägen ihrer Briefe an Harold das nun überflüssig ge­wordene »Hon.« weg und richtete sie einfach an Harold Nicolson. Wann immer es möglich war, blieb sie bei V. Sackville-West und haßte es, »Lady Nicolson« genannt zu werden.
Ihr Roman >Die Ostergesellschaft< erschien im Januar 1953. Die erste Kritik, die ihr unter die Augen kam, war die von Margha­rita Laski im Observer — »geringschätzig und verletzend«, wie Harold fand, der über die Seelenruhe verblüfft war, mit der Vita es aufnahm. »Ich bin ganz darauf eingestellt, daß sie es in Stücke reißen«, schrieb Vita über ihr Buch in ihr Tagebuch. Nicht alle Kritiken waren ablehnend: es gab einen »schönen ganzsei­tigen Artikel« im TLS, der, wie Vita vermutete, von Alan Pryce-Jones stammte. Harold mochte das Buch.

  • »Die größte Leistung besteht natürlich darin, daß du einen Hund beschrieben hast, ohne einen Augenblick in Gefühlsduselei zu verfallen — das ist eine Leistung und beschämt alle Katzenliebhaber und Pudelfälscher. Ich hoffe, Rollo fühlt sich durch das Porträt geschmei­chelt.«

Der Schäferhund in >Die Ostergesellschaft< heißt Svend und ge­hört Sir Walter Mortimer, der seine Ehe mit seiner Frau Rose nicht vollzieht. Ihrer unvollkommenen Vereinigung wird die lebendige Liebesehe von Roses ansonsten farbloser Schwester gegenübergestellt. Der Roman setzt Romantik gegen Rationalismus. Offenba­rung gegen Vernunft. Rose liebt ihren Gatten Walter, doch dieser liebt nur seinen Hund Svend und Anstey, sein Haus. Er schläft al­lein mit Svend auf seinem Bett und ist so zufrieden wie Vita mit Rollo. Rose erkennt in ihm »irregeleitete Leidenschaft«. Zynismus und einen Zug zur Grausamkeit. In einer ein wenig gekünstelten göttlichen Prüfung verliert Walter sowohl seinen Hund - zumindest glaubt er das — und sein Haus, das niederbrennt. In dieser extremen Situation wendet er sich Rose zu: er erkennt, daß er auf egoistische Weise »im Laufe der Ehejahre ein System errichtet hatte, durch das er sie von sich abhängig machte, ohne selbst Nachteile zu erleiden«, indem er sie — irrational und unverbildet, wie sie war - in eine Rolle gedrängt hatte, die sie nie gewählt hätte.
>Die Ostergesellschaft< ist kein guter Roman, doch für jeden, der sich mit Vitas Leben und Charakter befaßt, bewegend zu lesen. Die beste Passage — das nächtliche Feuer in Anstey, inspiriert durch das Feuer in Sissinghurst Place - ist eindrucksvoll. Doch der Ursprung für die bewegende Wirkung des Buches liegt im Kampf der Charak­tere. Vita liebte die Einsamkeit und Abgeschiedenheit: auch Vita erfuhr, wie Rose, Leidenschaft, Irrationalität und Transzendenz. Die nicht vollzogene Ehe reflektiert ihren eigenen ungelösten Dualismus ebenso wie das Rätsel ihrer geschlechtslosen Liebe zu Harold. Es ist, als verlangte sie nach einem apokalyptischen Ereignis, das die getrennten Teile ihres Lebens miteinander verschmolz.