Kapitel 34 - 36

Kapitel 34

Ende März 1953 verlobte sich Nigel und wollte heiraten. Es war eine vollkommene Überraschung für seine Eltern. Seine Ver­lobte war Philippa Tennyson d'Eyncourt, vierundzwanzig Jahre alt, munter, hübsch und unbelesen. Vita war sehr erfreut, wenn­gleich sie und Harold Witze machten über die »Tenniscourts«, wie sie die Tennyson d'Eyncourts nannten. Vita mochte Philippa:

  • »Ich hätte mir wirklich keine nettere Schwiegertochter wünschen kön­nen.«

Harold fand sich anfangs schwerer mit der Verlobung ab, da er Nigels Gesellschaft in Albany nicht verlieren wollte, doch am Ende sollte er es sein, der Philippa am meisten liebte und auf sie baute. Mit Betrübnis stellte er fest, daß er nicht mehr in der Mitte des öffentlichen Lebens stand - er sagte Vita, daß die Morgenpost mehr Briefe für Nigel als für ihn enthalte. Vita beruhigte ihn sogleich und schrieb abwiegelnd, Nigel erhalte doch wohl »größtenteils Briefe von aufdringlichen Wählern und Hochzeitsglückwünsche«. Als man Harold zum Ehrenmitglied von Balliol, seinem alten College, machte, gratulierte sie

  • »meiner einzigen Liebe, meiner wahren Liebe, meinem Hadji, meinem Lockenkopf, meinem Schatz, mei­ner lebenslangen Liebe, meinem törichten klugen Hadji«.

1953 war der Sommer, in dem der Mount Everest bestiegen wurde — »Wütend darüber«, schrieb sie in ihr Tagebuch, empört über die Entweihung des Unbekannten. Es war auch der Sommer der Krönung der junge Königin Elizabeth II. Vita war begeistert und »ungemein bewegt«: insgeheim  immer noch hoffend, als Nachfolgerin von John Masefield (der sie überleben sollte)* zum Poet Laureate ernannt zu werden, verfaßte sie ein Krönungsge­dicht, veröffentlicht im TLS, das geziemenden Respekt mit aristo­kratischer Vertraulichkeit verband:
(* John Masefield (1878-1967) Romancier und bedeutender Lyriker, wurde 1930 Poet Lau­reate [Anm. d. Übers.])

Madame, wie sonderbar, die Krone zu tragen.
Wie sonderbar, in schlichter Bettstatt zu erwachen
Und sich >Wer bin ich bloß?< zu fragen...

Ihre Arthritis erreichte das Knie. Elend schlich Vita die Regent Street hinauf und hinunter und suchte — ohne Erfolg — nach einem Hut, den sie bei Nigels Hochzeit tragen konnte. Sie kaufte ihre Hochzeitsgarderobe in Tenterden, nahe Sissinghurst. Nigel und Philippa wurden am 30. Juli in St. Margarets, Westminster, ge­traut. Im Oktober gab es eine weitere Familienhochzeit: der junge Lionel Sackville-West heiratete Jacobine Mitchells.

  • »Meine Ver­wandten sehen alle ziemlich fade aus«,

schrieb Vita danach in ihr Tagebuch,

  • »bis auf Onkel Charlie, der sich seine Eleganz be­wahrt.«

Ende des Monats erfuhr sie, daß Philippa ein Baby erwar­tete — oder daß

  • »unser kleiner Niggs ein eigenes Mar haben wird«,

wie sie Harold schrieb:

  • »Es hat mich irgendwie aufgeregt und durcheinandergebracht — in denkbar angenehmer Weise — aber du weißt, wie überrascht man über seine eigenen Reaktionen sein kann, und ich komme mir vor, als sei ich vor Freude auf den Kopf gestellt.«

Leonard Woolf hatte unter dem Titel >A Writers Diary< eine Auswahl aus Virginia Woolfs Tagebüchern herausgebracht. Vita las das Buch im Herbst; es war, wie sie in ihrem Tagebuch schrieb,

  • »ein geistiges Ereignis«. »Mein Gott, wie gern hätte ich Virginia wieder! Während ich ihr Tagebuch lese, wird mir ihr Verlust schmerzlich bewußt; dazu das Gefühl, daß ich zuletzt vielleicht etwas hätte tun können, um sie daran zu hindern, daß sie sich das Leben nahm.«

Harold schrieb sie, sie habe die überraschende Entdeckung gemacht, daß Virginia »sich um finanzielle Dinge kümmerte«:

  • »Ich hätte nun angenommen, das sei ihr ganz gleichgültig. Aber ich glaube nicht, daß Geld sie wirklich interessierte; das lag nicht in ihrem Wesen; ich denke, der Grund war die Verbindung mit Leonard, der jüdischen Seite Leonards. Er nahm alle Einnahmen an sich und gewährte ihr 13 Shilling Taschengeld in der Woche... Und dann fängt sie an, mehr Geld zu verdienen, und darf ein bißchen mehr davon behalten, >so daß ich mir ein neues Kleid und einen neuen Hut kaufen kann<!«

Vita rezensierte >Writer's Diary< für den Encounter, bevor sie sich wieder ihrem Observer-Artikel über Hecken zuwandte:

  • »Ich versuchte, zuviel hineinzupressen, und mußte zwei Artikel darausma­chen. Ich bin nicht traurig darüber, weil es sich als schwierig erweist, Themen zu finden, nachdem ich den Kreislauf der Gärten meines Landes nun so viele Jahre lang erzählt habe. Ich frage mich manchmal, wie lange ich das wohl noch aufrechterhalten kann, aber 15 Guineen die Woche läßt man nicht so leicht sausen.«

Wiederholungen waren, wie sie sagte, unvermeidlich. Ihre Schwärmereien - für Trogbepflanzungen, einfarbige Gärten, alte Rosensorten, Kletterrosen in Bäumen, blaue Blumen und weißen, »düsteren« Nieswurz und alle kleinen, feinen, mattfarbenen Blumen - wurden Jahr für Jahr wiederholt. Ebenso ihre Abneigun­gen — gegen hybride Teerosen und die meisten Polyantha-Rosen, die meisten »gefüllten« Arten einer Pflanze und protzige oder über­große Blüten wie die der Riesenchrysanthemen, »zottige Dinger, so groß wie der Kopf eines altenglischen Schäferhundes«.
Als sie mit dem Gärtnern begann, hatten Harold und sie unge­hindert wilde Blumen ausgegraben, wo immer sie sie fanden. In den 50er Jahren, als chemisch behandelte Äcker und Hecken immer weniger Wildblumen aufwiesen, begann sie ihre Leser vor Vandalismus zu warnen. Doch ihre eigenen Aktionen verteidigte sie, weil sie seltene weiße Veilchen oder sogar rosa Anemonen »ret­tete« und sie in die Sicherheit ihres Gartens verpflanzte. Sie behielt ihren entspannten Stil bei, als spreche sie zu Freunden:

  • »Ich sage nie Dinge, die ich nicht meine, oder zumindest nicht in diesem Arti­kel.«

1957 teilte sie den Lesern mit einiger Berechtigung mit:

  • »Ich glaube, ich werde bald aufhören müssen, diese Artikel zu schrei­ben, weil sie zu einer Parodie meines eigenen Stils werden.«

Weihnachten 1953 ohne Nigel und Philippa, war eine Strapaze. Vita und Harolds Versuche, sich in Sissinghurst selbst zu unterhal­ten — für beide ein Kompromiß, weil sie verschiedene Freunde hat­ten — waren im allgemeinen anstrengend und erfolglos. Bens Anstrengungen hielten sich in Grenzen. Vitas Übellaunigkeit rief bei Harold Protest hervor - und Vita entschuldigte sich am 23. Fe­bruar 1954:

  • »Liebling, du hast mich verstimmt, weil du sagtest, ich sei knurrig und du würdest eine Liste meiner Knurrigkeiten anlegen, und daß Nigel sagte, ich sei brummig mit dir gewesen, als Ben da war, und ich sei nicht so unbeschwert wie du. Das regt mich wirklich auf, weil ich Leute hasse, die um Nebensächlichkeiten Wirbel machen oder murren, was ich ganz bestimmt nicht tue. Ich gebe zu, daß ich nicht so unbeschwert bin wie du, aber vielleicht verfällst du in das andere Extrem und bist zu unbeschwert.«

Ein Grund für Vitas üble Laune war ihr schlechtes Verhältnis zu Mac, die mit dem Alter zunehmend anspruchsvoller, oft grob und zuweilen indiskret wurde. Harold drängte Vita, ein für allemal mit ihr zu brechen und sich eine tüchtige neue Sekretärin zu besorgen. Vita kaufte in Deal ein Pflegeheim, Channel View genannt, für Mac, die, nach wochenlangem Hin und Her, schließlich abreiste, um es zu übernehmen. »Du wirst vollkommen glücklich sein«, schrieb Vita im März an Harold. »meine eigenen Gefühle sind ge­mischt. Ich hasse Veränderungen und neue Menschen, aber ich denke schon, daß es so am besten ist.« Seit der Zeit vor dem Krieg war Mac ein Teil von Vitas Leben gewesen. Sie verließ Sissinghurst mit Vitas Segen: Immer wenn Vita sich von jemandem trennte, selbst wenn es nur für kurze Zeit war, pflegte sie mit dem Daumen auf der Stirn dieser Person das Kreuz zu machen. Es war ein Zere­moniell, das Vita von ihrer Mutter übernommen hatte, die es von Pepita und diese wiederum von der Zigeunerin Catalina gelernt hatte. Sie hatte Glück, daß sie für Mac eine Nachfolgerin fand, denn an Komfort hatte sie nur ein Wohn-Schlafzimmer ohne Bad zu bieten. Eine junge geschiedene Frau. Betty Arnett übernahm die Stellung.
Vitas erstes Enkelkind war ein Mädchen, das den Namen Juliet erhielt. Die Nachricht von Juliets Geburt rief in Sissinghurst große Aufregung hervor. Vita berichtete Philippa:

  • »Mrs. Staples brach beinahe in Tränen aus. und Copper eilte zum Turm, um die Flagge zu hissen, und kehrte eine halbe Stunde später zurück, weil er, wie er sagte, vergessen habe zu fragen, wieviel Mr. Nigels Tochter wiege.«

In ihrem Tagebuch schrieb Vita:

  • »Möge Gott Juliet auf ih­rem Lebensweg begleiten. Und wenn sie je Sissinghurst erbt, möge sie es lieben und sich darum kümmern. Amen.«

Im November erzählte Harold, Nigel habe bei ihm angefragt, ob sie jemals daran denken würde, Sissinghurst dem National Trust zu übergeben. Ihre Reaktion war leidenschaftliche Ablehnung, wie aus ihrem Tagebuch hervorgeht:

  • »Ich sagte: Nie, nie, nie! Au grand Jamais, Jamais. Nie, nie, nie! Niemals dies harte Metallschildchen an meiner Tür! Wenn ich tot bin, kann Nigel machen, was er will, aber solange ich lebe, soll kein National Trust noch irgendeine andere fremde Körperschaft mein Geliebtes kriegen. Nein, nein. Über meine Leiche oder meine Asche, anders nicht. Nein, nein. Ich fühlte, wie ich vor Zorn errö­tete. Es ist schlimm genug, daß ich mein Knole verloren habe, aber Sissinghurst sollen sie mir nicht wegnehmen. Das ist wenigstens mein eigen. Il y a des choses qu'on peut pas supporter. Sie sollen es nicht, sie sollen es nicht; ich will es nicht. Sie können mich nicht zwingen. Ich will nicht. Sie können mich nicht zwingen. Ich würde es nie tun.«

Sissinghurst wurde in ein Country Life-Buch über Gärten aufge­nommen, die in diesem Jahr dem Publikum zugänglich waren:

  • »Ist es nicht lustig, daß unser lieber Garten jetzt seinen Platz unter den bekannteren Gärten Englands einnimmt?«

1954 brachten die »Shil­lings« 1394 Pfund ein; vor dem Haus gab es Verkehrsstauungen, und eine öffentliche Toilette mußte installiert werden.
Im August machten Vita und Harold auf Vitas Vorschlag Ferien in der Dordogne; dieser Teil Frankreichs war ihr inzwischen am lieb­sten. In ihrem kleinen Austin fuhren sie zur Höhle von Lascaux, wo sie 1946 mit Raymond Mortimer und Eardley Knollys gewesen war; damals war sie, da gerade erst entdeckt, noch unberührt gewesen. 1954 war sie für Touristen »hergerichtet«, mit Stufen und einem Ge­länder versehen worden, und die prähistorischen Malereien wur­den angestrahlt. Nachdem sie wieder zu Hause waren und Harold sein wochentägliches Leben in Albany wieder aufgenommen hatte, schrieb sie ihm:

  • »Ich vermisse dich! Es ist schrecklich, wenn man so an deine tägliche Gesellschaft gewöhnt ist, mein vollkommen­ster Gefährte, ob auf Reisen oder daheim. Aber wir waren glück­lich, nicht wahr?«

Harold schrieb oben auf den Briefbogen:

  • »Die­sen lieben Brief immer aufbewahren«.

Die Abreise des Wachhundes Mac bedeutete, daß Vita frei war, mehr Zeit mit anderen Freundinnen zu verbringen, wenn Harold in London war. Sie lernte Alvilde Lees-Milne besser kennen. Christopher St. John, fast achtzigjährig, war eine Verpflichtung und so hingebungsvoll wie je: »Meine über alles geliebte Vita - Freude meiner Seele«. Edie Lamont kam, um den Garten zu malen und an einem Juliabend, um Vita nach dem Dinner zu besuchen. »Seltsame Be­gegnung«, schrieb Vita geheimnisvoll in ihr Tagebuch. Zu seinem Geburtstag im November schenkte sie Harold ein Gemälde des Wei­ßen Gartens von Edie. Ihm gefiel das Bild - oder Edie - nicht son­derlich.
Vita wußte, daß er sich über das Älterwerden grämte.

  • »Er glaubt, daß er taub wird, aber er hört nur ein bißchen schlechter, und außerdem liebe ich ihn noch mehr als bei unserer Heirat 1913, was eine Menge heißen will.«

Ein memento mori war der Tod von Duff Cooper, ein weiteres der von Ozzie Dickinson.
Ihr Altern, die Isolation und die Arthritis verstärkten noch ihr immer schon exzentrisches Aussehen. Harold wollte nicht zulas­sen, daß sie ihre Breeches in den Ferien trug; und kurz bevor sie nach Frankreich aufbrachen, hatte er ihr geschrieben:

  • »Ich bin froh, daß du etwas mit deinem Haar gemacht hast, denn es sah wirklich ein bißchen nach Schäferhund aus, vor allem im Nacken, wohin Mar während der drei Sekunden nicht blicken kann, wenn sie sich finster im Spiegel betrachtet. Natürlich er­scheint es ziemlich sonderbar. Sorgfalt darauf zu verwenden... Aber es sah nicht gut aus, mein Schatz, und ich bin froh, daß du an­derthalb Stunden dafür erübrigt hast.«

Im Dezember schrieb sie ihm. nachdem sie einen Hut gekauft hatte:

  • »Hier ist nun so ein Punkt, wo Biographen Fehler machen. Wenn je ein Biograph sich anschickt, unsere Leben, das meine und das deine, zu beschreiben und unsere Briefe als Vorlage nimmt, würde er sagen: >V. S-W konnte selbst unter Aufbietung aller Phantasie nicht als eine gutangezogene Frau bezeichnet werden oder gar als eine Frau, die der Eleganz ihrer Erscheinung hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt hätte, doch hier erleben wir sie, im ein we­nig fortgeschrittenen Alter von 62 Jahren, wie sie ihrem Gatten ei­nen Brief schreibt, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, daß sie sich einen neuen Hut gekauft hat. Wir dürfen folglich annehmen, daß solche femininen und frivolen Anwandlungen sie viel stärker be­schäftigt haben, als bislang angenommen wurde...< Warte nur bis du meinen neuen Hut gesehen hast.«

Der Hut war für eine Lesung aus eigenen Werken in der Royal So­ciety of Literature gekauft worden, doch am Ende trug sie ihren al­ten Filzhut. Als Zugabe las Vita den Anfang von >The Land<. Sie sah, daß sie sich dem Wort »böotisch« näherte - es war ein Wort, dessen Aussprache sie sich nie hatte merken können. Als sie es erreichte, hielt sie voller Pein inne und rief »Harold!« »Also« schrieb Harold in seinem Tagebuch, »sagte ich mit lauter Stimme >böotisch!<. Das Publikum amüsierte sich sehr, doch einige glaubten, es habe sich um eine abgekartete Sache gehandelt.«
Das Hut-Problem blieb ungelöst. Als Harold und Vita im Februar 1955 zum Lunch in den Buckingham Palast gebeten wurden, um dem Schah des Iran vorgestellt zu werden, warnte Harold Vita:

  • »Aber wehe, du leihst dir Bunnys Hut mit der riesigen Feder. Kauf dir einen wirklich hübschen. Kein Barett und keine Kappe.«

Nach der Gesellschaft schrieb Vita in ihr Tagebuch:

  • »Nach dem Lunch kamen die Kinder und die Corgis herein und aßen Kandiszucker. Unterhielt mich mit der Königinmutter, die sagt, ihre Schüch­ternheit beim Betreten eines Raums habe sie nie überwinden können. Beim Lunch sprach Winston über Geschichte und war rei­zend ... Ich genoß die Party: sie war es wert, deswegen nach Lon­don zu fahren.«

An einem Märzabend erlitt Harold in Sissinghurst einen leichten Schlaganfall.

  • »Ich blickte ihn an und sah, daß sein armer Mund sich ganz verzerrte, und er sprach so undeutlich, daß ich kaum ver­stehen konnte, was er sagte.«

Nachdem der Arzt gegangen war, lag Vita im Bett und überlegte,

  • »wie ich mich am ordentlichsten aus dem Weg schaffen könnte, falls er stürbe; denn ich hätte keine Lust, ohne ihn zu leben«.

Er erholte sich zufriedenstellend. Zehn Tage später stürzte sie selbst und verletzte sich einen Wirbel am un­teren Ende des Rückgrates.
Zur Überraschung und Freude seiner Eltern erzählte Ben ihnen im April, er werde Luisa Vertova heiraten. Vita war besonders erfreut: Als sie Luisa zum ersten Mal in Vallombrosa begegnet war, hatte sie, wie sie Alvilde Lees-Milne erzählte, »außerordentlichen Gefal­len an ihr gefunden und [zu Nicky Mariano] gesagt, das sei die Frau, die sie sich als Gattin für Ben wünsche«. Harold erlitt im Mai einen zweiten leichten Schlaganfall, und Vita war um ihn in dau­ernder Sorge; es bekümmerte sie auch, daß ihr ein anderer, Francis Steegmuller, mit einem Buch über >la Grande Mademoiselle< zuvor­gekommen war; sie hatte die Arbeit an dem ihren nach mehr als neun Jahren gerade wieder aufgenommen.
Während Harold mit den ersten ernsten Vorboten der Sterblich­keit Bekanntschaft gemacht hatte, erlebte Vita einen plötzlichen Ausbruch neuer Lebenslust. Es ist schwer zu sagen, was der Auslö­ser und wie die Wirkung war. Sie war glücklich über Nigel und we­gen Ben ein wenig ruhiger. Der Weiße Garten war vollkommen, »die Rosen im Mandelbaum wie mit Spitze gesäumt«; am Jahresende er­fuhr sie, daß sie die Veitch-Goldmedaille der Königlichen Gesell­schaft für Gartenbau erhalten hatte: »Ich sage: hoffentlich ist Vass beeindruckt!« Sie kaufte einen Wagen der Marke Jaguar; und im Alter von dreiundsechzig Jahren war sie wieder verliebt. »Ich mag mir die Zukunft nicht ausmalen, es erschreckt mich«, schrieb sie Ende Mai an Alvilde Lees-Milne. Aber sie war glücklich und erregt.
Am Tag danach brach sie mit Harold zu Bens Hochzeit nach Flo­renz auf »und mit einem neuen Kleid für die Hochzeit«, schrieb sie Alvilde (die eine höchst elegante Frau war):

  • »Ganz   hübsch, glaube ich, obgleich es  vielleicht nicht dein Geschmack ist, tiefrosa mit schwarz. Ich ließ ein altes Modell nachmachen und weigerte mich, es anzuprobieren — ich kann es nicht ertragen, wenn Frauen mit Nadeln im Mund um mich herumkrie­chen ... Ich habe einen riesigen, wunderschönen schwarzen Stroh­hut, den ich vor dem Krieg für eine Garten-Party im Buckingham Palast gekauft und seit Nigels Hochzeit nicht mehr getragen habe. Oder etwa bei deiner? Ich verfüge auch über einen seidenen Unterrock, Marks & Spencer, 7/6 bin also gut ausstaffiert.«

Vita genoß die Hochzeit im Palazzo Vecchio mehr als Harold, der sich vor Erschöpfung und einem neuerlichen Schlaganfall fürch­tete. Vita war »so glücklich über Ben und Luisa« nicht nur, weil sie so gut zueinander paßten, »sondern mir gefällt überdies, daß sie Florentinerin ist, weil Florenz mir in meinem Leben immer soviel bedeutet hat; ja, ich glaube sogar, daß ich Ben hier, in der Villa Pestellini, empfangen habe«. (Vorher, als es sich in ihrer Phantasie so fügte, hatte sie Ben angeblich in Coker Court empfangen.)
Als Luisa nach Sissinghurst kam hatte Vita im Turmzimmer »ein langes, sehr nettes Gespräch« mit ihr. »Sie sagt, daß sie schrecklich glücklich ist. Ich glaube, sie ist wirklich heftig in Ben verliebt.« Weihnachten war Luisa schwanger. Gleichwohl unter­schätzte Vita die Komplikationen dieser Ehe nicht. Eines Abends erzählte ihr Luisa »alles über Bens Werben, wenn man es so nennen will! Ben ist noch merkwürdiger, als ich dachte... Ich hoffe, er wird sie nie unglücklich machen.«
Ihre eigenen Gefühle für Alvilde brachten sie im Herbst dazu, wieder Gedichte zu schreiben — »ein Gereime, das ich nicht als Verse bezeichnen möchte«. Mit dem Jaguar fuhren sie und Harold im Oktober abermals nach Frankreich. In Aix-en-Provence begann Vita mit einer neuen Kurzgeschichte »über eine Frau in einem Ho­tel«; das war »Interlude in Two Lives«. Darin wird beschrieben, wie sich ein Mann in mittleren Jahren und eine Frau, die in der Jugend Freunde waren, zufällig in der Provence wiedertreffen. Sie genie­ßen einen wundervollen Monat, beschließen aber, einander nicht anzugehören und sich zu trennen — sie kommen überein, sich jedes Jahr zur selben Zeit und am selben Ort wiederzutreffen. Der Mann ist ein Bohemien und die Frau eine elegante New Yorkerin, die Ge­schichte war zum Teil durch Vitas gehemmte Liebe zu Alvilde inspiriert. Zwei Tage, nachdem sie in Aix mit der Niederschrift der Ge­schichte begann, hatte sie einen Traum:

  • »Ich träumte, ich sähe eine Maus, offensichtlich krank, so daß ich sie, um ihr einen raschen Tod zu gönnen, nahm und in eine Wasser­pfütze warf. Jemand sagte: >Siehst du denn nicht, daß die Pfütze nicht tief genug ist; die Maus wird nicht ertrinken, sondern bloß darin umherschwimmen.« Also holte ich sie wieder heraus, wobei sie mich in den Finger biß. Jemand sagte; >Diese Maus hat eine Krankheit, und du wirst sie auch bekommen.« Ich war darüber schrecklich beunruhigt, weshalb ich sagte: >Harold will mich, Harold braucht mich, und wenn ich eine Krankheit bekomme, kann ich mich nicht um ihn kümmern.««

Vita fühlte sich unbehaglich, weil sie Harold in seiner geschwäch­ten Verfassung untreu war. In einem Brief an Alvilde beschrieb sie ihr Verhältnis zu ihm:

  • »Wir sind 30 Jahre lang unsere eigenen Wege gegangen; haben nie Fragen gestellt: sind nie im mindesten neugierig auf diese Seiten unserer Leben gewesen, obgleich einander zugetan und mit ge­meinsamen Interessen. Ich liebe ihn innig, und er liebt mich; und da er älter wird und sich wegen seiner Gesundheit Sorgen macht... wird er in wachsendem Maße von mir abhängig. Mit anderen Wor­ten: ich könnte nie von zu Hause fortgehen, d.h. mit dir in Roquebrune [in Südfrankreich] wohnen... weil ich weiß, daß er sich sorgen würde, und Sorgen sind das Schlimmste für einen Men­schen, dessen Gesundheitszustand bedenklich ist. Ich habe ihn in der Vergangenheit schlecht genug behandelt und muß es jetzt an ihm wiedergutmachen.«

Doch nach einem Besuch Alvildes. »Kopf und Herz ein Wirbel«, schrieb Vita an sie: »Seltsam, wie ein paar Stunden ein Leben verändern können.«
Die Veränderung des Lebens beseitigte Vitas Ängste nicht. Sie ging voller Sorge um Harold zu Bett und wachte in der Nacht auf, weil sie dachte, Rollo, der auf ihrem Bett schlief, sei tot. »Ich weiß, das geht alles auf die Zeit zurück, als ich Angst um Martha hatte. Aber der wirkliche Grund ist, daß ich mir um H. Sorgen mache«, schrieb sie in ihr Tagebuch. Sie hatte Angst davor, ihn eines Mor­gens zu rufen und keine Antwort zu bekommen - >und dann müßte ich seine Tür offnen und würde feststellen - was? Oh Gott, das Näherkommen des Lebensendes ist so traurig.« Die Erkenntnis, welch ein ungeheures Paradox ihre Ehe mit Harold war, nahm sonderbare Formen an. Am 31. Januar 1956 schrieb sie ihm:

  • »Ein plötzlicher Gedanke: angenommen, du würdest eines Tages vergiftet aufgefunden, wenn wir hier allein gewesen wären, und man würde mich des Giftmordes beschuldigen. Darauf gibt es eine Untersuchung, und man stellt fest, daß ich Zyankali gekauft habe, angeblich, um Wespennester zu vernichten, aber ich kann es nicht beweisen: wo habe ich es aufbewahrt? Was habe ich damit gemacht? ... Leute gehen doch nicht so sorglos mit einem tödlichen Gift um, oder, Lady Nicolson? Kommen Sie schon! Sie können nicht erwarten, daß wir Ihnen das glauben.
    Und dann legt mein Verteidiger unsere Briefe als Entlastungsmaterial vor. Jahre und Jahre mit Briefen voller Liebe.«

Es war, als ob die Erkenntnis, wie tief und wie oft sie Harold ver­letzt hatte - »Ich habe ihn in der Vergangenheit schlecht genug behandelt und muß es jetzt an ihm wiedergutmachen« - sie be­drücke und sich mit der Angst verband, er würde sterben. Die »Jahre und Jahre mit Briefen voller Liebe« waren ein Kapital, das sie in guten wie in schlechten Zeiten bewahrt hatten, ein mächtiges Zeugnis - trotz der freiwilligen Trennung, der Kompromisse, der Widersprüchlichkeiten, der Untreue und der gelegentlichen Täu­schung - der Liebe, an die sie beide glaubten und glauben mußten. Die Briefe sind, für sich genommen, das Entlastungsmaterial für ihre Ehe.
Im harten Winter Anfang 1956 gefror in Sissinghurst das Soda­wasser im Siphon, und Vita versuchte vergeblich, die eisige Zugluft aus dem Eßzimmer fernzuhalten, indem sie Bettlaken und Hand­tücher über Türen und Treppenaufgang spannte. Wie ihre Herr­schaft wurde auch Mrs. Staples, inzwischen fünfundsechzig, langsamer. Das abendliche Dinner wurde vereinfacht; Mrs. Staples richtete nur noch kalte Platten an und stellte eine Thermosflasche mit heißer Suppe für Vita und Harold bereit.
Ende Februar kam Alvilde zu Besuch. »Nach dem Dinner hörten wir Mozart im 3. Programm, und ich las ein paar Gedichte vor (Dylan Thomas' >Fernhill<). Ein angenehmer Abend. A. mag die Dinge, die ich mag.« Im Juli fuhren Vita und Alvilde in die Cotswolds, um noch einmal die Gärten von Hidcote zu besichtigen, über die Vita einen Führer für den National Trust schrieb. Sie wohnten im Lygon Arms in Broadway; dort erhielt Vita ein Tele­gramm mit der Nachricht, daß Dorothy Vellesley gestorben sei. Später beschrieb Vita Alvilde die Beerdigung. Gerry Wellington und die zwei Kinder waren anwesend: Es war ziemlich rührend — bloß ein kleines Loch in der Erde und ein winziges Holzkästchen mit ihrer Asche. Alles, was übrig war von diesen blauen Augen und diesem ungezügelten Geist!«
Alvilde lernte Vitas wunde Punkte kennen. Immer war ihr schmerzlich bewußt, daß sie keine richtige Schulbildung genossen hatte; selbst wenn es um das Gärtnern ging, fühlte sie sich immer noch nicht kompetent. Die Schöpferin von Sissinghurst schrieb an Alvilde: »Ich habe einen Fernkurs für Gartenbau belegt. Ich muß jede Woche einen Prüfungsbogen ausfüllen und zur Korrektur zu­rückschicken.« Harold war sich über ihre Unsicherheiten immer im klaren. »Ich liebe es, Mar in London zu sehen. Es ist, als habe man ein auf dem Lande aufgewachsenes Hündchen an der Leine, das vor den Menschenmassen auf dem Gehsteig und dem wilden Verkehr auf den Straßen in eine Seitenstraße zu entkommen sucht. Deine Hand zitterte vor Schrecken, als wir Piccadilly überquerten. Ach, meine liebe, liebe Mar!«
Kurz bevor sie zu einem vierzehntägigen Urlaub im Oktober nach Frankreich aufbrachen, wurde Vita von einer Wespe in den Hals gestochen, als sie im Garten Megan Lloyd George Tee ein­schenkte. Hals, Zunge und Gaumen schwollen an und sie mußte eine Nacht im Krankenhaus in Pembury verbringen. Sie war aller­gisch gegen Wespen - und hatte einen Abschnitt von >The Garden< ihren Feinden gewidmet, den »kleinen Samurais in lackiertem Samt«. Da die Gefahr, von Wespen gestochen zu werden, immer bestand, war Harold froh, daß sie Philippa gebeten hatten, sie in die­sen Ferien zu begleiten. »Deine Anwesenheit war für uns eine Freude«, schrieb er anschließend an Philippa. »und für mich eine große Befreiung von meiner Angst. Allein wäre ich mit Vita nicht fertig geworden, wenn ein Unglück geschehen wäre. Du bist so flink und so tüchtig.«
Während sie nach Süden fuhren, bekam Vita Lust, Carcassonne wiederzusehen. »Ich habe den Platz seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen«, schrieb sie an Alvilde, »seit ich mit Violet hier gewesen war. Es kommt mir so vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.« Immer noch saß Vita die ganze Zeit am Steuer; sie fuhr sehr schnell und im Kreisverkehr gelegentlich in die falsche Richtung. Wenn sie in Frankreich war, ging sie, die Läden haßte, mit Vorliebe in die gewöhnlichsten Einheitspreisgeschäfte. Höhepunkt der Ferien war Beynac, ein Lieblingsort von Harold und Vita. Beim Dinner verwirrten sie Philippa durch Verschwörerblicke und Getuschel. Nach Einbrach der Dunkelheit schlugen sie beiläufig einen Spaziergang vor - und führten sie an eine Stelle, von der man die in Flutlicht getauchte Burg auf dem Felsen sah, eine Überraschung, die sie sich mit kindlichem Vergnügen für sie ausgedacht hatten. An dem Abend, als sie nach Sissinghurst zurückkehrten, wartete auf Vita ebenfalls ein unerwartetes Vergnügen: Im Dämmerlicht des Oktober stand das dichtbepflanzte Enzianbeet, das Vita soviel Kummer bereitet hatte, in voller Blüte, ein Teppich von kräftigem Blau.

Kapitel 35

An seinem siebzigsten Geburtstag im November 1956 über­reichte eine Gruppe enger Freunde Harold Nicolson einen Scheck über 1370 Pfund und eine Liste mit etwa 20O Namen derer, die für sein Geburtstagsgeschenk gespendet hatten. Harold war überwältigt und verlegen - und sehr froh über das Geld. Vita hatte vorgeschlagen, Wertpapiere zu verkaufen, damit sie auf eine Winter-Kreuzfahrt gehen könnten, und er hatte wehmütig geant­wortet, daß er über keine Papiere und nur über ein lächerlich gerin­ges Einkommen verfüge. Nun war das Problem gelöst. »Ich bin so glücklich, daß man seine Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit gewürdigt hat«, schrieb Vita in ihr Tagebuch. Kurz bevor sie mit dem Kreuzfahrtschiff Willem Ruys im Januar 1957 nach Indonesien aufbrachen, schrieb sie ihm:

  • »Mein lieber Reisegefährte; wie seltsam das Leben spielt... Da gab es dich und mich, die in der Mansarde von Hatfield auf Angela Manner's Hutschachtel saßen. Und jetzt, gute 40 Jahre später, wer­den wir nach Djakarta fahren, und wir lieben uns viel tiefer und rei­fer als damals, während unsere Söhne und Schwiegertöchter und Enkelkinder [Bens und Luisas Tochter Vanessa wurde im August 1956 geboren] heranwachsen und ihr eigenes Leben führen.
    Das alles ist sehr erfreulich: aber was mich noch mehr als alles andere freut, ist, daß du und ich nach allen Fehlern und Unaufrichtigkeiten und Irrtümern, die wir beide im Leben begangen haben, uns näher sind, als wir es je waren...
    Ist es nicht wunderschön, nach 47 Jahren noch einmal in die Flit­terwochen zu fahren? Meinst du nicht auch?«

Niemand außer den Nicolsons wäre der Ansicht gewesen, ihr all­tägliches Leben auf der Willem Ruys habe Ähnlichkeit mit zweiten Flitterwochen. Von den Mahlzeiten und Laudausflügen abgesehen, verbrachten sie den ganzen Tag voneinander getrennt. Harold schwamm jeden Tag: Vita blieb morgens und nachmittags in ihrer Kabine und schrieb an der Tochter Frankreichs*, ihrem Buch über la Grande Mademoiselle; ihre Notizen hatte sie auf ihrem Reisekof­fer ausgebreitet, so daß es, wie Harold sagte, aussah »wie hei einem Picknick«. (* Daughter of France (La Grande Mademoiselle) 1959 Deutsch: Tochter Frankreichs. Das abenteuerliche Leben der Anne Marie Louise d'Orlean 1960 [Anm. d. Übers.]) Nach dem Dinner sahen sie eine Weile dem Tanz zu und waren um Viertel vor zehn in ihren getrennten Kabinen. Außerdem ging Vita die Abschriften ihrer Briefe von Virginia Woolf durch — viele davon undatiert - und brachte sie in die richtige Reihenfolge. Leonard Woolf erwog eine Veröffentlichung der Briefe; er hatte sie selbst durchgesehen und sie, »der Teufel hole ihn, in eine schreckli­che Unordnung gebracht«, wie Vita in ihrem Tagebuch schrieb.
Ihre Beziehung zu Leonard war inzwischen gespannt. Er hatte heftig gegen das erste Buch über Virginia protestiert - The Moth and the Star von Aileen Pippett* — für das die Korrespondenz mit Vita benutzt worden war, und hatte Vita mit, wie sie sagte, »don­nernden Briefen« bombardiert. (* The Moth and the Star. A Biography of Virginia Woolf. Boston 1955 [Anm. d. Übers.]. (Harold äußerte gegenüber Clive Bell die Vermutung, daß Leonards Zorn zum Teil darauf zurückzu­führen sei, »daß sein Eigentum zerstreut und sein Wert herabge­würdigt wird«, und Clive hatte ihm nicht widersprochen.
Im Juli 1956 hatte Vita erfahren, daß Leonard ein paar von Virgi­nias Manuskripten nach Amerika verkauft hatte. »Was für ein son­derbarer Mann er ist«, schrieb sie an Alvilde. »Nun. sie werden Mrs. Dalloway oder Orlando nicht kriegen; es würde mir großes Vergnügen bereiten, ein so enormes Angebot abzulehnen und es Leonard zu erzählen.« Sie hatte Leonard in Monk's House besucht und fand es »ziemlich traurig, an Virginia zu denken und Mrs. Parsons mehr oder weniger an ihrer Stelle zu sehen«. (Mrs. Parsons, eine enge Freundin Leonards, war die Gattin von Ian Parsons, dem Chef des Verlages Chatto & Windus.)
Bevor sie zu der Kreuzfahrt aufbrachen, hatte ein letzter Tropfen das Faß zum Überlaufen gebracht: die Veröffentlichung des Brief­wechsels zwischen Lytton Strachey und Virginia, herausgegeben von Leonard Woolf und James Strachey. Harold war entsetzt über ihre »Dummheit, Niedertracht und Gehässigkeit«. Er und Vita glaubten, Leonard sei nicht nur habsüchtig, sondern habe in der von ihm verantworteten Auswahl ein bedenklich falsches Bild von Virginias Charakter gegeben. Vita hatte ihm geschrieben, sie halte es für das Beste, wenn sie alle Briefe Virginias an sie auf eigene Ko­sten in einer streng limitierten Auflage als Privatdruck erscheinen ließe. Das würde einer späteren Edition seinerseits, »mit den not­wendigen Auslassungen«, nicht im Wege stehen. Leonard, der über das Copyright verfügte, wollte nicht zustimmen.
In dem Buch, das Harold über ihre erste Kreuzfahrt schrieb, Reise nach Java*, hat er sich selbst und Vita auf heitere Weise karikiert. (* Journey to Java. 1957. Deutsch 1959 und 1961 [Anm. d. Übers.].) Als Nigel das Manuskript las, befürchtete er, wie auch Harold, Vita könne das von ihr gezeichnete Porträt übelnehmen: »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß du zur komischen Figur gemacht wur­dest. Er war ein wenig besorgt, glaube ich, er könne dich allzu sehr auf den Arm genommen haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand die offensichtliche Zärtlichkeit übersehen könnte, mit der es das tut. Tatsächlich ist der Gegensatz zwischen euch beiden einer der reizvollsten, eindrucksvollsten Züge des ganzen Buches.« Harold beschrieb Vitas Reisemarotten — ihre riesige Menge an Ge­päck (in der Hauptsache Bücher), die Bedeutung, die sie ihrem Post­stapel beimaß, den sie in jedem angelaufenen Hafen entgegennahm, ihre Schwäche für Souvenirläden, ihre Streitlust. Das Porträt Vitas in Reise nach Java ist das einer reizbaren, exzentrischen, unterhalt­samen, selbstbewußten Tante, die den Verfasser in allen Fragen korrigiert, manchmal zu Unrecht, und die Narren mit Nachsicht be­handelte. Es kränkte sie überhaupt nicht; er schrieb in dem spötti­schen, augenzwinkemden Ton, mit dem er ein Leben lang ihren »Schwierigkeiten« begegnet war. Und was die Nachsicht gegen Nar­ren betraf, so fanden Leute, die in späteren Jahren den Nicolsons zum ersten Mal begegneten, Harold oft harsch, abweisend und ein­schüchternd, Vita hingegen höflich, geduldig und freundlich, beson­ders Kindern gegenüber. Doch Harold war in seinem Selbstverständ­nis und in seiner Beziehung zu Vita liebenswert jungenhaft, und sowohl in seinen Büchern als auch in seinen Tagebüchern schrieb er über sich in irreführender - humorvoll-herabsetzender Weise.
Als sie heimkamen, erfuhren sie, daß es zwischen den Vass' und den anderen Gutsarbeitern einen Streit gegeben hatte. Das lange Idyll mit Vass als Obergärtner war zu Ende; Vita hatte ihn in Verdacht, ein Kommunist zu sein, und war bereits im Sommer, als es um die Strategie für die Sissinghurst-Blumen-Schau ging, mit ihm anein­andergeraten. Nach ihrer Kreuzfahrt, erholt und energiegeladen, warf Vita ihn hinaus. Die Qualitäten, die sie so sehr bewundert hatte, waren nun vergessen. »Nun, ich habe Vass nie geliebt, weißt du«, schrieb sie an Alvilde;
»nicht, wie ich Mrs. Staples oder meinen ungezogenen, warmherzi­gen alten Copper liebe oder meinen einfältigen langsamen William [Taylor] - also tut es mir auch nicht wirklich leid ... Er war ein gut geeigneter Mitarbeiter, der meinen Geschmack und meine Vorstellung von Gartenbau teilte, aber ich habe immer gespürt, daß er ein kaltblütiges Biest war - eine Kröte, trocken, raschelnd, züngelnd - und mich lieber heute als morgen à la laterne aufgeknüpft hätte.«
Alvilde mußte das feststellen, was jeder, der Vita gut kannte, ir­gendwann entdeckte, Vita schrieb ihr am 24. April: »Stand ich im­mer allein? Ja, ich denke schon, nur daß ich beweglicher war, als ich jünger war, und mit Sicherheit verantwortungsloser. Ich denke an Eskapaden mit Violet, von denen ich viele jetzt bedaure; ich meine, ich benahm mich sehr schlecht. Ich hätte nie auf sie hören dürfen.« Es wurde ihr in zunehmenden Maße wichtig, diese frühen Jahre an Harold wiedergutzumachen.
Als sie diesen Brief an Alvilde schrieb, hörte sie im Radio, daß Roy Campbell bei einem Autounfall ums Leben gekommen und Mary schwer verletzt worden sei. Sofort schrieb sie an Mary, die aus Portugal antwortete:
»Ich danke dir für deinen liebevollen Brief. Ich weiß, daß er, trotz allem, was geschehen ist, vollkommen aufrichtig ist, und er hat mich getröstet.
Es gibt da eine Sache, um die ich dich immer schon bitten wollte, wenn ich auch ganz sicher bin, daß es lächerlich und überflüssig ist — hast du noch Briefe von mir? Vielleicht zwischen alten Papie­ren, wo du sie vergessen hast? Sei doch so freundlich und teile mir mit, daß du keine mehr besitzt. Ich hätte dann ein ruhigeres Gewis­sen, also sieh es mir nach.«
Vita bewahrte Marys Briefe weiterhin auf, ungeachtet dieser inni­gen Bitte.
Vass' Ausscheiden brachte ein Problem mit sich: drei Untergärtner waren für die Unterhaltung des Gartens zu wenig. Während des Frühsommers halfen Freunde beim Unkrautjäten, Wässern und Pflanzen. Im Juli stellte Vita einen neuen Obergärtner ein. Ronald Platt - ein gebildeter Mann und »kein Lakai«. Ihre frühere Zofe, Emily Booth, kam herüber, um der alten Jane Gay, der »Giovanna« aus Vitas Kindheit, den Garten zu zeigen. Vita lud sie zum Tee ein: »Ich war so erfreut, sie zu sehen.« »Liebe Miss Vita«, schrieb Giovanna nachher, »ich sah Sie wieder als kleines Mädchen. Ich erinnerte mich an den Abend, als Sie mit den Erwachsenen in der Großen Halle speisten... Ich warf einen Blick auf Sie von der Gale­rie und wunderte mich über die Unbefangenheit, mit der Sie mit, ich glaube, Lord Balfour plauderten.«
Ein halbes Jahrhundert war vergangen, seit diese prunkvollen und zeremoniellen Abende auf Knole stattgefunden hatten. Eddy Sackville-West, der alternde Erbe, lebte jetzt in Irland: Alvilde, die ihn dort besucht hatte, berichtete Vita davon. »Was für ein Trottel«, war ihr Kommentar, »und alles ist so grün, und Eddy modert seinem Alter entgegen, wo doch Knole... ihm gehören könnte — er will es nicht, und ich würde meine Seele dafür geben.«
Doch sie lehnte ab, als Eddy sie fragte, »ob ich dort wohnen und mich um alles kümmern würde, wenn sein Vater tot und er der Erbe sei«. Kein Brot war immer noch besser als ein halber Laib: und viel­leicht war ihr Sissinghurst, mochte sie sich dessen auch nicht be­wußt sein, teurer geworden als Knole - und greifbarer.
Im August ereignete sich etwas in Sissinghurst, das Vitas Unbe­hagen, die Freundschaft mit Alvilde in der augenblicklichen Inten­sität fortzuführen, festigte. »Ich habe die höchst unangenehme Entdeckung gemacht, daß man sich an meinen Briefen zu schaffen macht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer das sein könnte, aber es muß jemand vom Anwesen sein, und es gefällt mir gar nicht.« Ein Brief an Alvilde. den Vita zur Weiterbeförderung im Büro hatte liegenlassen, »ist mit einer verstellten, unleserlichen Handschrift umadressiert worden; auf diese Weise kam ich dahin­ter«.
Die Angst vor dem. was womöglich geschehen konnte, machte Vita ihre alte, inzwischen sichere Beziehung zu Violet um so kostba­rer; im selben Monat schrieb sie Violet einen zärtlichen Brief über die Vergangenheit. »Kurios, daß ich dir nach allen diesen Jahren ei­nen Liebesbrief schreibe, nachdem wir einander schon so viele Briefe geschrieben haben... Du sagtest, sie werde drei Monate dauern, doch unsere Liebe füreinander währte vierzig Jahre.«[1] Viel­leicht gehörte Violet, wie Herold, zu den Menschen, die Vita für et­was entschädigen wollte.
Am 12. September wurde Nigels und Philippas zweites Kind ge­boren — ein Junge, Adam. Es war der einzige Grund zur Freude, den Vita in diesen nervösen Wochen hatte. Am 4. September schrieb sie mit unsicherer« Hand an Alvilde: »Wie ich höre, wird allerlei gere­det.« Sie fuhr für eine Woche mit Edie Lamont, die über ihre Schwierigkeiten Bescheid wußte, nach Suffolk.
Das Geheimnis des abgefangenen Briefes schien bei ihrer Rückkehr noch bedrohlicher, als sie von einem Vorfall in Sissinghurst Place erfuhr, der zwei Männer betraf: das Wort »Erpressung« lag in der Luft. Es war das Jahr, in dem der »Wollenden-Bericht« über homosexuelle Vergehen erschien, den Vita für aufgeklärt und sensi­bel« hielt, doch nach bestehendem Recht war Homosexualität zwi­schen erwachsenen Männern noch immer eine strafbare Handlung. Vita hatte schreckliche Angst vor einem Skandal, vor indiskreten Enthüllungen und vor allem davor, daß Harold in die Sache hinein­gezogen werden könne. Der Vorfall hatte mit ihr überhaupt nichts zu tun, aber wenn, wie sie meinte, die Leute sagten: »Ja. wenn Lady Nicolson selbst...«, konnte das sehr unangenehm werden. Im Interesse aller wünschte sie nicht, daß eine ihrer Freundinnen zum gegenwär­tigen Zeitpunkt für längere Zeit nach Sissinghurst kam.
James Lees-Milne besuchte sie. »Wir unterhielten uns bis zum Dinner in meinem Wohnzimmer und nachher im Eßzimmer - es war eine der eigentümlichsten Unterhaltungen, die ich je hatte.« In seiner Biographie über Harold Nicolson hat James Lees-Milne die Eigenart ihrer Ausstrahlung und Konversation in diesen vertrau­lichen Gesprächen lebendiger beschrieben als jede andere ihrer Freundinnen oder Geliebten:
»Die Unterhaltung mit Vita kannte keine Barrieren. Vorbehalte ir­gendeiner Art gab es nicht. Kein Thema war tabu. Ihr Interesse an allen Aspekten der menschlichen Natur war ebenso grenzenlos wie ihr Verständnis. Ihr Mitgefühl für jegliche menschliche Schwäche oder Zwangslage war umfassend. Das war die Vita, die ich kannte und von Herzen liebte.«[2]
Er beschrieb ihre Stimme als »tief, leicht tremulierend, sanft an­schwellend«, und ihr »kurzes, scharfes Lachen« erinnerte ihn an das Meer, das sich im Strandkies breche. Am Morgen schrieb Vita in ihr Tagebuch: »Ich wollte, ich könnte mit Hadji so sprechen wie letzte Nacht mit Jim, aber wenn ich es versuchte, würde es ihn nur langweilen, und er würde sich einfach entziehen — Gwens Woll­knäuel.« Jedenfalls müsse sie, schrieb sie, die Probleme des Lebens selbst lösen. Hadji »würde sich immer entziehen. Es hätte über­haupt keinen Zweck - für ihn bloß ein Ärgernis und für mich keine Hilfe.« Statt dessen ging sie mit ihm ins Kino, um Die Brücke am Kwai anzuschauen: »Wenn man mit H. zusammen einen Film sieht, ist es, als habe man einen Schuljungen bei sich: er amüsiert sich ungehemmt.«
Alvilde stand den Gerüchten von Skandal und Erpressung skep­tisch gegenüber. Vielleicht hatte Vita eine neue Freundin? Sie tippte auf Edie Lamont. »Nein, sie nicht«, antwortete Vita. »Die Person, die du meinst, ist seit elf Jahren eine bewährte Freundin — fest und unzerstörbar - ein Fels in meinem Leben. Die einzige vertraute Freundin, die ich habe: ich schließe nicht leicht Freundschaft, und sie ist ungefähr die einzige enge Freundin, die ich besitze.« Harold, Violet und Edie waren Vita inzwischen »unzerstörbar« teuer; es war das Unzerstörbare, wonach sie verlangte, und im Grunde nicht die Erregung des Verliebtseins. Zum Glück für den Seelenfrieden aller Beteiligten schifften sich die Nicolsons Anfang Dezember auf der Reina del Mar zu ihrer zweiten Kreuzfahrt nach Westindien und Südamerika ein.
Am ersten Tag auf See erkrankte Vita und bekam hohes Fieber. Der Schiffsarzt sagte, sie habe ein schwaches Herz, »aber ich merke, daß er nicht genau weiß, was ihr fehlt«, schrieb Harold an Nigel. Nach drei Wochen erholte sie sich und genoß den letzten Teil der Reise; Ende Februar 1958 waren sie wieder zu Hause. In Lima kaufte Vita eine Decke aus Lamawolle - »Es ist das weichste, leich­teste Ding, als wäre es aus Tausenden von Kätzchen gemacht«, schrieb sie an Alvilde. Die Decke hielt sie warm, während sie im fro­stigen Turm an ihrer Tochter Frankreichs arbeitete, ein Buch, an dem sie Zweifel hatte: »Ach, Hadji. mein Buch ist so schlecht. Es ist wirklich schlecht. Ich bilde mir das nicht nur ein; ich weiß, daß es schlecht ist. Ich schreibe dir spät in der Nacht. Ich bin noch nicht drüben gewesen, um zu Abend zu essen.«
Im Juli erzählte Luisa Harold und Vita, ihre Ehe mit Ben sei alles andere als gut. Vita sprach mit beiden; was sie am meisten er­schreckte, war Bens »rauher Umgang« mit Luisa. Er sagte seiner Mutter, er wolle lediglich seinen Frieden haben und für sich selbst sein. Harold und Vita waren emsig darum bemüht, die Ehe zu kitten. und Luisa schrieb Vita lange Briefe, vertraute ihr alle traurigen Komplikationen ihres Lebens mit Ben an und zeigte sich dankbar für die »mutmachende, tröstliche Liebe« von Bens Eltern.
Zufriedenheit und Trost empfing Vita in wachsendem Maß aus der sich vertiefenden Vertrautheit mit Edie Lamont. Vita ver­schonte Harold mit Details ihres Privatlebens. In Erinnerung an ihre freimütigen, offenherzigen Unterhaltungen mit James Lees-Milne sagte sie ihm mit mildem Sarkasmus, daß er nie zuhöre, wenn sie etwas sage, »also hat es wenig Zweck, wenn ich es sage. Gwen hat dich zu Recht Mein Wollknäuel genannt, >weil du immer wegrollst<. Wie klug du bist, und welche eine Menge Ärger es dir er­spart.« Er erwiderte scharf, er verbringe mehr Zeit damit, »über Wespen und Alvilde und Bunny« nachzudenken als über seine ei­gene Arbeit, bloß »daß ich darüber kein Wort verliere«.
Kurz vor Weihnachten hatte Vita, was sie in ihrem Tagebuch bei­läufig »eine Art winziger Herzattacke« nannte. Harold, der in Lon­don war, erfuhr nichts. »Es war nichts Schlimmes, aber ich fühlte mich so miserabel, daß ich den Tag damit verbrachte, Papiere etc. zu ordnen und mit dem abscheulichen Register [für Tochter Frank­reichs] weiterzumachen.«
Nigel und sein Partner George Weidenfeld dachten daran, Nabokovs Lolita herauszubringen. Vita las über Weihnachten die Aus­gabe der Olympia Press und war schockiert. Sie schickte Nigel ei­nen formellen, mit Schreibmaschine geschriebenen Brief und bat ihn, das Projekt fallenzulassen, das sie »erschrecke und entsetze«. Sie entdeckte wenig Wertvolles in Lolita und vieles, was abstoßend und zynisch war. Sie fürchtete, die Publikation könne Nigel poli­tisch schaden und den »strahlenden Namen« von Weidenfeld & Nicolson beflecken. Handschriftlich setzte sie hinzu: »Es tut mir leid, daß ich so unliebenswürdig und lästig bin. aber diese Sache regt mich wirklich auf.«
Harold schrieb im gleichen Sinne an George Weidenfeld, obwohl er das Buch noch nicht gelesen hatte - abgesehen von einer beson­ders »wollüstigen Passage«, wie er sich ausdrückte, die Vita ihm ge­zeigt hatte. Weidenfeld & Nicolson wichen nicht zurück: Lolita wurde verlegt, und die erste Auflage von 40 000 Exemplaren war vor Erscheinen verkauft.
Vita war, ebenso wie Harold, konservativ in bezug auf das, was man »Freizügigkeit« in Büchern nannte. Das war weniger Heuche­lei als Vorsicht - eine instinktive Zurückhaltung, durch lebens­lange Erfahrung bekräftigt. Sie griff äußerst selten in das Leben der Jungen ein, wie sie es in diesem Fall getan hatte. An Nigel hatte sie einmal geschrieben: »Du weißt, daß ich immer die Linie ver­folgt habe, dich niemals in deiner Handlungsfreiheit zu beeinträch­tigen ... aber es hat Augenblicke gegeben, da ich fürchtete, du (oder Ben ) könntet diese Lockere-Zügel-Theorie als Gleichgültig­keit interpretieren.« Im Gegenteil - dahinter verbarg sich »eine sehr tiefe, aufrichtige Liebe, die sich niemals einmischen will, son­dern die immer da ist, wenn du sie einmal in Anspruch nehmen willst; wie ein riesiges Bankguthaben, das auf Abruf bereitsteht«.
Die winterliche Kreuzfahrt war zu einem festen Bestandteil des Jahresablaufs geworden. (Vita zahlte.) Anfang Januar 1959 gingen sie ziemlich halbherzig an Bord der Cambodge, um in den Fernen Osten zu fahren. »Unsere niedergedrückte Stimmung beim Ab­schied wird nur von Rollos Kummer übertroffen, der allein gelas­sen wird«, schrieb Harold an Philippa und Nigel. An Bord waren Jewel und Philip Magnus-Allcroft (der Schriftsteller Philip Ma­gnus) und Sonia Orwell. die Witwe George Orwells, mit ihrem zweiteil Mann Michael Pitt-Rivers. Vita war von Sonia fasziniert: »Ich kann mir nicht darüber klarwerden, ob sie eine Schlampe oder ein verlassenes Kind ist. Auf jeden Fall ist sie ein intellektueller Snob, aber entzückend ungebildet«, schrieb sie an Alvilde. Das Briefeschreiben nahm einen großen Teil von Vitas Zeit an Bord in An­spruch: Abgesehen von ihrer anderen Korrespondenz schrieb sie sechsundzwanzigmal an Edie Lamont. Von den angelaufenen Hä­fen gefiel ihr Macao am besten: »Ich glaube nicht, daß H. und ich jemals zwei glücklichere Tage verbracht haben«, notierte sie in ih­rem Tagebuch, und Alvilde schrieb sie, dort würde sie gern wohnen, »in einem nilgrünen Haus zwischen den Banyan-Feigen und Tama­rinden mit dem Blick auf die Fischerboote, die nach China fahren«.
In Colombo wurden sie von einem Vertreter der Agentur Reuter begrüßt, der, laut Vitas Tagebuch, ein »langes Telegramm von Guy Burgess hatte, der nach England kommen möchte, weil seine Mut­ter im Sterben liegt, und der sagt. H. sei der einzige Freund, der Ver­bindung mit ihm gehalten und ihm regelmäßig geschrieben habe«. Während Harold stolz darauf war, daß er Freunde in der Not nicht im Stich ließ, fürchtete er weitere Verwicklungen und machte sich Sorgen, die Verbindung seines Namens mit Burgess könne sich nachteilig auf Nigels politische Karriere auswirken.
Das nächste Telegramm kam von Nigel, der mitteilte, daß er in Bourne in einer Constituency Poll* mit 91 Stimmen unterlegen sei. (* Eine Abstimmung innerhalb des Wahlbezirkes für oder gegen die Fortsetzung der Kandi­datur [Anm. d. Übers.].) (Harold ließ Vita das Telegramm öffnen.) Weder Lolita noch Guy Burgess hatten ihn um sein Mandat gebracht; für die ultra-konservative Klientel seines Wahlbezirks war er nicht konservativ genug, weil er zu den Rebellen gezählt hatte, die sich während der Suez-Krise beim Vertrauensvotum für die Regierung der Stimme enthal­ten hatten.
Die nächste schlechte Nachricht erwartete sie in Dschibuti. Vita fand Briefe von Bunny Drummond und von ihrer Sekretärin Betty Arne« vor, die ihr mitteilten, daß Rollo - der bei ihrer Abreise so traurig gewesen war - gestorben war. Vita war ganz aus der Fas­sung. »Er bedeutete mir so viel«, schrieb sie an Alvilde. »Er war so schön, so gut, ein solcher Kavalier und guter Gefährte.« Auf dem Schiff hatte sie einen schrecklichen Traum von Rollo:
»Ich träumte. B.M. sei tot, und ihr Leichnam lag auf einem Bett und ihr Kopf auf einem Kissen auf einem anderen Bett. Ich blickte auf ihren Leib (der ganz schicklich mit Laken bedeckt war), als ich plötzlich bemerkte, daß Rollo ihren Kopf vom Kissen herunter auf den Boden gezerrt hatte und an dem rohen, toten Stumpf ihres Halses nagte. Ihr Gesicht war noch immer schön - wie ihr Gesicht im Leben. Es entsetzte mich, Rollo an dem rohen Stumpf nagen zu sehen.«
Als sie heimkam, erzählte ihr Vi Pym von einer Zeitungsanzeige; es ging um einen jungen schottischen Collie, den man ausgesetzt und an einer Scheune angebunden gefunden hatte. Vita nahm ihn und nannte ihn Dan. »Er ist sanft, schwarz und weiß und acht Monate alt. Dan tröstete sie über die Tatsache hinweg, daß »alles in Stücke zu brechen scheint«. Sie begann sogleich, Pläne für die nächste Winterreise in die Sonne zu machen. »Wir müssen irgendwohin fahren... ohne uns um die Kosten zu scheren.« Sie schickte vier von Seerys Urnen aus Bagatelle an Sotheby's, wo sie vom National Art Collection Fund erworben und der Wallace Collection einver­leibt wurden. Im März verkaufte sie einen Teil des Silbers aus der Rue Laffitte.
Anfang April 1959 erkrankte sie an einer schweren Lungenent­zündung. Ihre Freundinnen wetteiferten miteinander, ihre Pflege übernehmen zu dürfen, vergrößerten die Spannung und verärger­ten Harold:
»Ich bin immer noch verblüfft über die Art, mit der Alvilde mich ta­delte, daß ich Leuten erlaube, dich zu besuchen, und als Edie mich dann tadelte, daß ich Alvilde zu dir ließ, worauf Vi mich tadelte, daß ich es Edie erlaubt hätte (was nicht zutrifft), und dann sagte Bunny, ich sei gegen Besucher zu >nachgiebig< und solle sie daran hindern, herzukommen und dich zu ermüden. Dieses franchement war ziemlich starker Tobak. Ich hasse all diese Eifersüchtelei und dies Durcheinander. All diese Frauen verabscheuen einander.«
Er sei nicht eifersüchtig, sagte er, wie Frauen es seien.

  • »Du sagst, Ei­fersucht sei das Symptom und die Begleiterscheinung wahrer Liebe. Ich bin anderer Ansicht. Sie ist eine smaragdäugige Ei­dechse.«

Luisa kam, um Vita von ihrem unglücklichen Leben mit Ben zu berichten. Ronald Platt, Vass' Nachfolger, kam um Bericht zu er­statten. Und >Tochter Frankreichs<, das Buch, an dem sie so lange ge­schrieben und das ihr so wenig Vergnügen bereitet hatte, kam heraus und wurde im Lauf des Jahres zweimal nachgedruckt. Das Buch enthielt eine besondere Danksagung an Raymond Mortimer, der ihr vor vielen Jahren in einem französischen Weinberg gesagt hatte: »Warum schreiben Sie nicht ein Buch über das Leben der Großen Miss?«
Nigel schrieb ihr zu ihrem Buch:

  • »Durch deine Bücher habe ich dich immer besser kennengelernt als auf andere Weise. Mit Papa ist es umgekehrt. Dieses Buch hat mir klargemacht, was du an einem Menschen am meisten bewunderst: Mitleid mit anderen.«

Er schrieb auch, daß la Grande Mademoiselle ihn an Christopher St. John erinnert habe. Vita hatte über ihre Heldin - die nie geheiratet hatte - geschrieben, daß sie immer »Freundschaften lieber mit Frauen als mit Männern pflegte und daß diese Freundschaften wahrscheinlich tiefer und leidenschaftlicher waren, als es üblich war... Bittere Enttäuschungen mögen da­bei eine Rolle gespielt haben, daß das andere Geschlecht Mademoi­selle gleichgültig war. Wir müssen zugeben - und warum sollten wir es nicht tun? - daß sie sehr häßlich war, plump, ausgelassen und für Männer reizlos.«
Die alte Christopher zog es vor, keine Parallelen zu ziehen. Sie no­tierte in ihrem Tagebuch, Vitas nettes Buch sei »langweilig« und seine Zentralfigur werde »nie lebendig«.
Mitte Mai wütete Vita gegen die Langsamkeit, mit der sie sich er­holte. »Ich habe die Nase davon voll, für jedermann eine Last zu sein und nicht hinaus zu können. Daß ich all diese Frühlingswochen verpaßt habe, hat mir fast das Herz gebrochen, und ich will verdammt sein, wenn ich den Sommer auch noch verpasse.« Sie schluchzte vor Wut, daß sie nicht in der Lage war, nach unten zu ge­hen, um Besucher, die sie mochte, zu begrüßen. Harold konnte we­nig für sie tun. »Sie hält mich in praktischen Dingen für so inkom­petent, daß sie kein Vertrauen hat, außer in meine Liebe.« Es war Juli, ehe Vita wieder Auto fahren und mit Edie Lamont lunchen konnte. Einen Monat später ging es ihr schon wieder so gut, daß sie einen beschwingten Brief an Evelyn Irons schreiben konnte, die jetzt in New York für die Sunday Times arbeitete: »Während des ganzen Sommers ist Sissinghurst eine einzige lange Garten-Party. Es ist ein echter Spaß: die Leute, die man am wenigsten erwartet, tauchen auf, manchmal alte Freunde, die ich seit Jahren nicht gese­hen habe, und es besteht keine Verpflichtung und macht keine Mühe; sie stellen keine Ansprüche, und man verbringt bloß eine angenehme halbe Stunde mit ihnen, und alles ist sehr nett und locker.« Wenn sie nicht gerade mitten in der Arbeit an einem Buch war, stand Vita den Gartenbesuchern gern zur Verfügung. Manchmal standen sie und Harold gemeinsam königlich im Torweg des Turms und beantworteten Fragen. Sie hatten sich keinen einzigen Teil des Gartens für private Zwecke reserviert; Freunde, die auf Besuch wa­ren und auf ein ruhiges Plätzchen für ihre Lektüre hofften, gerieten zuweilen aus der Fassung, weil es unmöglich war, allein zu sein.
Betty Arnett verließ Sissinghurst, um zu heiraten, und Ursula Codrington kam halbtags als Sekretärin. Vita mußte auch einen Ersatz für Ronald Platt finden. Sie entschied sich für zwei Mäd­chen. Sie waren Freundinnen, beide hinreichend qualifiziert und im Besitz des Diploms der Waterperry Horticultural School. Ihre Namen waren Pamela Schwerdt und Sibylle Kreutzberger. Vita nannte sie »die Mädchen«* und hieß »ihre Jugend, ihr brennendes Interesse und ihre zünftigen Blue Jeans« gut. (* Deutsch im Original [Anm. d. Übers.]) Außerdem »hören sie nicht auf zu arbeiten, wenn man mit ihnen spricht, was mir gefällt. Keine Zeit verschwenden.« Nachdem die Mädchen einen Monat lang im Garten gearbeitet hatten, stand fest, daß das Experiment ein Erfolg war: »Fast alle Arbeiten, die ich ihnen nach dem Früh­stück zugewiesen hatte, waren gegen halb zwölf so gut wie erledigt. Wenn wir diese Mädchen immer hätten, würden wir mit der Zeit noch so etwas wie einen ordentlichen Garten bekommen. Und ir­gendwie habe ich das Gefühl, daß sie nicht nur neue Besen sind, die gut kehren. Aber ich schätze, sie werden fortgehen und heiraten und uns verlorengehen.« Nahezu ein Vierteljahrhundert später, als Vita und Harold lange nicht mehr unter den Lebenden weilten, wa­ren Pamela Schwerdt und Sibylle Kreutzberger noch immer für den Garten von Sissinghurst verantwortlich.

Kapitel 36

Zu Beginn jeder Woche pflückte Vita Blumen und packte sie ein und Harold nahm sie mit in seine Wohnung in Albany und ar­rangierte sie in einer silbernen Vase, die Vita ihm geschenkt hatte: Es war ein liebgewordenes Ritual aus seinen Jahren in King's Bench Walk. Seine »Kelle« - der Korb, in dem er die Blumen transpor­tierte - würde nach seinem Tod »die ergreifendste Kaffeetasse sein, die je gemacht wurde«, sagte Vita. »Oft denke ich, daß ich dir nie gesagt habe, wie sehr ich dich liebe - und wenn du stürbest, würde ich mir Vorwürfe machen und sagen: >Warum habe ich es ihm nie gesagt? Warum habe ich ihm nie genug gesagt?<« »Es ist schreck­lich«, erwiderte Harold, »wie sehr der Tod uns beschäftigt.«
In London öffnete er sein Haus jeden Abend um sechs Uhr, zur Sherry-Stunde, für seine Freunde. Taubheit und Sorgen um die Gesundheit hatten seine Freude an angenehmer Gesellschaft nicht ge­schmälert. Die einzige Konzession, die er an sein Alter machte, be­stand darin, daß er nicht mehr am Montag, sondern am Dienstag nach London fuhr. »Du bist wieder weggefahren — in das ganz andere Leben, das du in London führst«, schrieb Vita am 24. Novem­ber 1959:

  • »Ein merkwürdiges Leben haben wir für uns beide entwickelt: ich hier und du in London, und dann wir beide in unserem wirklichen Heim während der Wochenenden, so glücklich und still und tätig. Nur wenige Leute würden das verstehen; ja, manche Leute glau­ben oft, wir ständen kurz vor der Scheidung. Wie unrecht sie ha­ben.
    Wie unrecht!«

Im August erhielt Vita Besuch von Frances Hamill und Margen Barker, den amerikanischen Händlerinnen, die Virginias Manu­skripte von Leonard Woolf gekauft hatten. Sie boten ihr 600 Pfund für ihr Manuskript von Virginias >Mrs. Dalloway< Vita lehnte ab. Aber sie mochte die beiden Frauen -

  • »Wir saßen unter dem Trompetenbaum, und ich bewirtete sie mit spanischem Chablis« — und war erleichtert zu hören, daß Vanessas Kinder, Quentin Bell und Angelica Garnett, die Rechte an Virginias Werk von Leonard erben und »dann willens und wirklich darauf bedacht sein würden. V.'s Briefe an mich zu publizieren«.

Die Frage ihrer Briefe von Virginia war noch immer heikel. Leo­nard Woolf hatte gesagt, er sei bereit, eine Auswahl davon in einen Band mit Briefen an verschiedene Empfänger aufzunehmen. Vita war dagegen gewesen, weil es »der kontinuierliche Zusammen­hang ist, der sie interessanter macht, wie mir scheint«. In ihrem letzten Brief zu diesem Thema vom 25. September hat sie sich deut­lich ausgesprochen:

  • »Ich war natürlich sehr enttäuscht, deinen Brief zu erhalten, des In­halts, daß du keine Neigung verspürst. Virginias Briefe [an Vita] zu publizieren. Ich kann leider nicht umhin zu sagen, daß sie nach meinem Gefühl weit davon entfernt sind, Virginias Ruf zu vernich­ten, als dieses vielleicht durch andere Bücher geschehen sein mag, weil sie so lebensfroh und menschlich sind und mit Sicherheit jede falsche Vorstellung von der Grimmigkeit Bloomsburys widerlegen würden... Laß wenigstens auf jeden Fall Abschriften anfertigen, und halte bitte deine Schreibkraft dazu an, meine Ordnung nicht durcheinanderzubringen, da ich, als ich sie zuletzt von dir zurück­bekam, Tage brauchte, um sie wieder zu ordnen.«[1]

Daraufhin ruhte die Angelegenheit zwei Jahre lang. Dann fuhr Vita nach Rodmell, um einen Vortrag über das Schreiben von Biographien zu halten, und wollte die Nacht in Monk's House verbringen. »Hoffentlich verfolgt mich kein Spuk«, schrieb sie an Harold »oder wäre es nicht ganz aufregend, Virginias Stimme zu hören, die mich mitten in der Nacht plötzlich anspricht?« Als sie in Monk's House erwachte, schrieb sie in ihrem Tagebuch,

  • »stand ich früh auf, ging in den Garten und blickte über das Tal und dachte daran, wie Virginia fortging, um sich zu ertränken... Frühstückte mit Leo­nard und seinen Hunden und Katzen. Wir gingen im Garten umher und kamen zu Stephen Tomlins Büste von Virginia — es war das ein­zige Mal, daß Virginias Name fiel.«

Die nächste Winter-Kreuzfahrt der Nicolsons im neuen Jahr 1960 führte sie mit der Europa nach Südafrika, mit Zwischenstopps in Aden, Mombasa, Sansibar und Daressalam. Sie bestiegen das Schiff in Venedig, nachdem sie Freya Stark in ihrem Haus in Asolo besucht hatten (»ihr Drehtisch: griechische Vase, Marmor-Badezimmer«, notierte Vita in ihrem Tagebuch). Vita nahm die Arbeit an einem Roman wieder auf, mit der sie im Jahr zuvor begonnen hatte - er spielte auf einem Schiff. In Durban wurden sie von Betty Arnett erwartet, die einen Südafrikaner geheiratet hatte; Vita nahm die Gelegenheit wahr und bat sie, zwei Observer-Artikel für sie zu tippen, »ganz wie in alten Zeiten«. Vita war zwar konservativ, aber als sie die Apartheid mit eigenen Augen sah, war sie entsetzt. »Mama schreit vor Wut«, schrieb Harold an Nigel. »Sie sagt, es sei wieder alles wie bei Hitler und daß die netten Zeitungsleute, die uns gestern abend besuchten, ihre Tage in einem Konzentrationsla­ger beschließen werden. Verdammende Fäuste werden zum Him­mel emporgereckt.«
Die schlechte Nachricht, die sie auf dieser Kreuzfahrt erreichte, war die vom Tod Newton Lamonts, Edies Mann. Als Vita heimkam, schlossen sie und Edie sich noch enger zusammen. (Einmal schrieb Vita in einem Brief an Harold versehentlich »Virginia« statt »Edie«.) Vita liebte Edie und war von ihr abhängig. Bis in ihre letz­ten Tage war Vita nie ohne Liebe oder Sexualität. Ihr großes Abenteuer war nie vorbei. Wie so viele Menschen, denen Vita nahege­standen hatte, war Edie eine Schottin - und unabhängiger als die meisten anderen Freundinnen Vitas.
Auch mit Ursula Codrington hatte Vita Glück gehabt, die ihren neuen Roman Weg ohne Weiser* abtippte: sie ist »erstklassig und schreibt intelligent«:

  • »Sie macht sogar Bemerkungen zu meinem Text und fragt, ob mir aufgefallen sei, daß ich in drei Zeilen drei­mal dasselbe Wort benutzt hätte, und sie hat recht.« (* No Signposts in the Sea. 1961 [Anm. d. Übers.])

Harold war bedrückt über seinen Geldmangel und seine nachlas­sende Energie. Vita versuchte vergebens, ihn zu bewegen, Geld von ihr anzunehmen, anstatt für Weidenfeld & Nicolson ein Buch über die Monarchie zu schreiben, das er nicht schreiben wollte. Vita sorgte sich um seine Depressionen und um seinen schlechten Gesundheitszustand; aber im Juli erkrankte sie selbst, wobei es sich offenbar um eine Wiederkehr der Virus-Lungenentzündung han­delte. Von jetzt an blieb Edie Lamont gewöhnlich die Woche über in Sissinghurst, wenn Harold in London war. »Edie ist für mich ein reiner Engel gewesen, und ich weiß beim besten Willen nicht, was ich ohne sie hätte anfangen sollen. Es ist die wunderbarste Freund­schaft, die ich je hatte.«
Erst im September war Vita wieder auf den Beinen, und sie fuhr mit Edie zur Erholung ans Meer nach Worthing. Sie fuhren nach Brighton hinüber, um B.M.'s alte Häuser am Sussex Square und in White Lodge »jetzt schrecklich zugebaut«, in Augenschein zu neh­men. Im Oktober starb, fast neunzigjährig Christopher St. John. Vi Pym, die ihre Papiere durchsah, schickte Vita einige ihrer Tagebü­cher - darunter auch »die vernichtende Aufzeichnung ihrer Freundschaft mit mir«. Christophers Liebes-Tagebuch, von dessen Existenz Vita nichts gewußt hatte. Auf dem Sofa im Turm, einge­hüllt in ihre Lama-Decke, las Vita »Christophers erschreckendes Dokument«.
Emily Booth' Ehemann, »Wuffy«. Harolds Kammerdiener auf ihrer Hochzeitsreise nach Konstantinopel, war ebenfalls gestorben. Ein weiteres Begräbnis, eine weitere Verbindung mit der Vergan­genheit, die abriß. Eine Verbindung mit der Zukunft war Lionel Sackville-West, Vitas Vetter und Eddys Erbe. Kurz vor Weihnach­ten 1960 besuchte er sie und sie schrieb an Harold:

  • »Es war angenehm, ihn hier zu haben — er nuckelte an seiner Pfeife. Weißt du, es machte mir nichts aus, mit ihm über Knole zu sprechen; er liebt und begreift es so wie ich, was Eddy nicht tut. Ja. ich liebe es, mit ihm darüber zu sprechen, und wenn er und Jacobine erst dort wohnen, werde ich auch wieder hingehen können — Moses steigt vom Berge Pisgah herab, wie es der arme Moses nie tat.«

>Weg ohne Weiser< erschien, während Vita und Harold sich auf ihrer vierten Winter-Kreuzfahrt nach Südamerika befanden. Der Ro­man wurde in Fortsetzungen in Woman's Own abgedruckt, »ein schreckliches Blättchen« sagte Vita, aber es zahlte gut. Dieser Ro­man, ihr letzter, ist Edie gewidmet. Es ist die Geschichte eines Mannes, der weiß, daß er unheilbar krank ist, und als letztes Vergnügen eine Seereise auf einem Kreuzfahrtschiff unternimmt; in seiner Be­gleitung ist Laura, eine Witwe, die er liebt und in der er eine gute Gefährtin findet. Vita erzählte Evelyn Irons, der Charakter Lauras sei eine Erfindung, »außer daß sie mit der Edie der Widmung ge­wisse (geistige, nicht körperliche) Ähnlichkeit hat«.
In diesem Buch versucht Vita zum ersten Mal eine Synthese von Liebe und Lust. Verstand und Herz. Liebe und »Verliebtsein« - eine vollständige Vereinigung, zu spät für ihren todgeweihten Hel­den Edmund. Sie schrieb hier auch über das, was ihr wichtig war - das Schreiben zum Beispiel:

»Ja, diese Zeit ist wunderbar. Es ist wie ein Rausch... Wie ein voll­endetes Bild sieht man auf einmal Form und Sinn des Ganzen vor sich, das man schaffen will. Das soll nicht heißen, daß man es je­mals zur eigenen Zufriedenheit ausführt; einen kurzen Augenblick der Erleuchtung jedoch erfaßt man als Ganzes, was einem vor­schwebte. Das ist... einer der wenigen Augenblicke im Leben, die wert sind, gelebt zu werden, ob das nur zehn Minuten dauert, wäh­rend man gerade ein heißes Bad genießt, spielt keine Rolle.«

Zum ersten Mal schrieb sie (in einem Buch) über die lesbische Liebe, als sie Laura sagen läßt:

»Vielleicht müssen die Beziehungen zwischen zwei Frauen immer unvollständig bleiben, sofern sie nicht lesbische Neigungen haben, die ich nicht teile. Dann soll, wie man mir sagte, die Harmonie nahezu vollkommen sein. Es besteht ja doch eine Art Freimaurer­schaft zwischen Frauen — wie zweifellos auch zwischen Männern — die ein Ausgleich für die natürlichere Leidenschaft und Spannung zwischen den Geschlechtern ist.«

Es gab nur einen Haken bei der vollkommenen Harmonie zwischen zwei Frauen - Eifersucht.

»Sehen Sie, wenn ein Mann auf eine Frau eifersüchtig ist, dann trifft er sich mit seinem Rivalen wenigstens auf gleicher Ebene, Mann zu Mann, wenn aber eine Frau auf eine Frau eifersüchtig ist, dann nimmt sie einen unfairen Wettkampf mit dem anderen Geschlecht auf; sie muß immer befürchten, daß das Natürliche zum Schluß siegt.«

Edmund und Laura sprechen über »das Natürliche« - Liebe zwischen Mann und Frau. Bevor Edmund sich ganz in Laura ver­liebt, glaubt er. Keuschheit verfüge über einen »gewissen Schick«. »Sich einförmig wiederholende fleischliche Gelüste verflüchtigen sich.« Lauras Rezept für eine glückliche Ehe bevor sie sich ganz in Edmund verliebt, entspricht dem, was Vita und Harold so oft auf Podien, in Büchern und im Leben verteidigt haben: »Gegenseitige Achtung, Selbständigkeit... sowohl in bezug auf Freunde als auch auf Bewegungsfreiheit. Getrennte Schlafzimmer... getrennte Fi­nanzen... und die gleichen Wertbegriffe.« Edmund weist darauf hin, daß sie die Liebe vergessen habe. Sie verlieben sich ineinan­der; gleichwohl entgeht Edmund ironischerweise, daß er es ist, von dem sie spricht, als sie ihre Gefühle beschreibt: »Liebe. Zärtlich­keit. Hingabe kann man verstehen, aber nicht diesen unbegreif­lichen Zustand des Verliebtseins; Sie sehen, ich unterscheide da... Im Moment ist alles unwichtig bis auf das eine: Parce que c'etcut lui; parce que c'etait moi.« Das war eine Formulierung, die Vita und Violet oft gebraucht hatten und es - nostalgisch - noch immer taten.
Laura sprach »von etwas Wunderbarem, was einem als reifem Menschen begegnet, wenn man jeden Gedanken daran als unmög­lich beiseite geschoben hat und recht traurig ist. weil man glaubt, daß Erfüllung nirgends auf der Welt zu finden ist«.
Wenn sie wirklich liebte, sagte Laura und sah Edmund dabei an, »daß es fast eine Herausforderung war«, wäre sie »absolut treu, und ich erwarte die gleiche Treue von meinem Partner, in kleinen Dingen wie in großen — bedingungslos«. Jedoch Edmund stirbt und wird im Meer bestattet, ohne erfahren zu haben, auf welch totale Weise er geliebt wurde. Weg ohne Weiser trägt schwer an dem »wenn nur« und »was wenn« von Vitas geteiltem Leben, ihrer geteilten Liebe, ihres geteilten Wesens, die ihr die unteilbare Hingabe und den Reichtum der Treue unmöglich machten.
Auf der Südamerika-Kreuzfahrt langweilte sich Vita, und Brasilien mißfiel ihr. »Für mich ist es ein gräßliches Land, und ich möchte es nicht wiedersehen.« Während der Heimreise, vor Lissabon, erfuh­ren sie, daß Lord Sackvilles amerikanische Gattin, Anne, gestor­ben war. Sie hatte Vita immer mißfallen, und ihr Umgang mit Knole hatte ihr noch weniger gefallen.

  • »Wir heucheln keine Trauer, bloß Onkel Charlie tut uns leid«

- der neunzig war.
Nach ihrer Rückkehr im Februar 1961 hatte sie einen Anfall von Bronchitis, und nach fünfundzwanzig Jahren gab sie endlich ihre wöchentlichen Artikel für den Observer auf. »Große Erleichte­rung«. Nun da Onkel Charlie allein in Knole war fühlte sie sich stark genug, zum ersten Mal seit dreißig Jahren dorthin zurückzu­kehren. Sie ging zum Lunch und nahm Edie mit. »Es war himm­lisch, wieder dort zu sein... Ich werde wieder hingehen.« Sie machte einen zweiten Besuch im Mai als Eddy dort war und einen dritten mit Harold. Der Bann war gebrochen.
Sie bestellte Pflanzen für den Herbst - »Wir leben vielleicht nicht mehr lange genug, um sie ausgewachsen zu sehen« - wohl aber die Enkelkinder. Sie besuchte Alvildes neues Haus in Gloucestershire und gab ihr Ratschläge, was in ein Blumenbeet an der Nordseite zu pflanzen sei: »Päonien vertragen das, Hortensien? Die gefüllte Sorte... Maiglöckchen, Schlüsselblumen, Wachslilien, Mertensia virginice (eine hübsche Vergißmeinnicht-Sorte), Nabelnuß, Phlox.« Violet kam zum Lunch — »wirklich ganz reizend, wenn­gleich geschwätzig« - und sie schrieb an Evelyn Irons, ihre »liebe Zwickmühle«, erzählte ihr, daß Cecil Beaton und Prinzessin Mar­garet und Cyril Conolly und Clive Bell den Garten besichtigt hätten - »es ist wirklich so. als hätte man einen Salon ... Ach, und ich habe eine neue Freundin: Elizabeth Bowen*. (* Elizabeth Bowen (1899-1973); schrieb zahlreiche psychologische, in der Form oft kompli­zierte Romane und Erzählungen. Nähe zu Virginia Woolf und Hanry James [Anm. d. Übers.]). Sie blieb übers Wochen­ende. Ich mag sie sehr. Du siehst, ich habe Spaß am Leben, wenn ich auch nicht in so aufregender Weise herumsumpfe wie du. Weißt du noch: Les Baux?« Es war nicht typisch für Vita, daß sie in ihren Briefen an Evelyn dazu neigte, in einen selbstbewußten Ton ge­spielter Tapferkeit zu verfallen — vielleicht darum, weil es Evelyn war, die sie verlassen hatte, und nicht umgekehrt.
Harolds Buch über die Monarchie erwies sich als unzulänglich. Es war sein siebtes Buch seit Kriegsende, und außerdem schrieb er jede Woche die Haupt-Buchkritik für den Observer. Er war er­schöpft. Nachdem Nigel das Manuskript gelesen hatte, zog er Vita zu Rate. »Ich bin besorgt, und ich brauche deine Hilfe... Sage ihm nicht, daß ich dir geschrieben habe, aber es ist fast sicher, daß er das Thema am kommenden Wochenende anschneiden wird«, schrieb er am 20. September. Vita, die Harold immer schützte, ersparte ihm die Wahrheit nicht. »Vita tröstet mich, wie immer«, schrieb er in sein Tagebuch. »Sie ist kein bißchen über Nigel verärgert, weil er mich zusammengestaucht hat, und ist der Ansicht, daß er völlig im Recht ist.« Das Buch wurde überarbeitet und akzeptabel gemacht.
Das folgende Wochenende war problematischer. Dan. der junge Collie, war hysterisch geworden und hatte angefangen. Leute zu beißen. So. als ahne er sein Schicksal, wurde er krank — und Vita geriet außer sich. Harold benahm sich — nach seiner und nach ihrer Meinung — unangemessen. Er schrieb ihr, nachdem er nach Albany zurückgekehrt war:

  • »Ich weiß, du dachtest, ich hätte dich im Stich gelassen, als der kleine Dan auf der Turintreppe zusammenbrach. Aber in Wirklich­keit war ich hinausgegangen und saß in der Vorhalle, einem zugi­gen Ort, damit ich zur Stelle wäre, wenn du mich brauchtest. Ich weiß, wie du es haßt, angestarrt zu werden, wenn du weinst. Aber nichtsdestoweniger wurde ich gerügt. Du und der kleine Dan, ihr tatet mir furchtbar leid, aber ich verstehe mich nicht darauf, solche Dinge auszudrücken... Darin war ich nie gut, und jetzt, da ich senil werde, ist es schlimmer denn je. Ich liebe dich so und leide, wenn du leidest. Es war in der Tat ein entsetzliches Wochenende.«

Daß Dan eingeschläfert werden mußte, »brach mir das Herz«, schrieb Vita an ihren amerikanischen Briefpartner Andrew Reiber.[2] Doch es war dieses Mal anders als bei Martha und Rollo. Sie ersetzte Dan durch zwei goldfarbene Retriever; Glen wurde ihr Hund, und sein Bruder Brandy ging schließlich in den Besitz der »Mädchen« über.
Vita veröffentlichte Faces. Profiles of Dogs - einseitige Aufsätze über 44 verschiedene Rassen, denen jeweils Photos gegenübergestellt waren, die Laelia Goehr gemacht hatte. Sie machte sich einen Spaß daraus, besonders auf Hunde hinzuweisen, die sie selbst ge­kannt hatte: den Saluki. den Gertrude Bell ihr in Bagdad geschenkt hatte, »der unbestritten dümmste Hund, den ich je besaß«; Pippin. ihr goldfarbener Cocker-Spaniel: Ethel Smyth' zahlreiche engli­sche Schäferhunde, die alle Pan hießen. Im Abschnitt über den »Deutschen Schäferhund« erwies sie »dem Andenken Rollos die Ehre«: Brutus, »die einzige dänische Dogge, die ich je genauer kannte«, hatte Dorothy Vellesley gehört, sie erwähnte Canute, ih­ren Elchhund in Long Barn, True, den Labrador von Edie Lamont, und Dan. »der versucht, die Büschel von Osterglocken im Obstgar­ten zu jagen«.
Um das Buch vorzustellen, erschien sie - zum ersten und einzi­gen Mal - im Wednesday Magazine des BBC-Fernsehens. Harold war ein erfahrener Bildschirm-Mann, doch sie hatte sich bisher standhaft allen Aufforderungen entzogen.
An Bens und Luisas Ehe gab es nicht mehr viel zu kitten. Vita ge­stand Harold widerstrebend, daß es außer einer Trennung keine Lösung gebe. Das Thema wurde von allen erörtert, außer zwischen Ben und Luisa; sie sprachen offen und schrieben freimütig, sowohl an Harold als auch an Vita. Nicky Mariano, der Ben und Luisa lange kannte, mischte sich ein, und Briefe gingen hin und her. Das Mitgefühl seiner Eltern brachte Ben dazu, seine Zurückhal­tung abzulegen; er schrieb am 11. September an sie:

  • »Ihr seid - alle beide - die nettesten, freundlichsten und mitfühlendsten aller El­tern. Bei jeder Krise in meinem Leben habt ihr euch der Lage ge­wachsen gezeigt, und ich habe es euch nie richtig gedankt.«
  • »Arme Luisa. Armer Ben. Arme Vanessa. Mein Herz und mein Mitgefühl werden zwischen den dreien in Stücke gerissen«,

schrieb Vita im November. Aber Ben war es, der zuerst zu ihr kommen mußte. Sie erklärte sich dazu bereit, Luisa zu sagen, daß er die Scheidung wünsche, weil er selbst dazu nicht in der Lage zu sein schien. Luisa fand dieses Einverständnis zwischen Mutter und Sohn schwer verständlich. Vita hatte ihren schwierigen, siebeundvierzigjährigen »dunklen Jungen« schließlich zurück - zumindest hoffte das Luisa, weil aus all dem, was geschehen war, sonst nur sehr wenig zu retten übrigblieb. Am letzten Tag des Jahres 1961 schrieb Vita in ihr Tagebuch:

  • »Entsetzlich kalt. Es fängt zu schneien an. Gegen Abend liegt der Schnee ein paar Zoll hoch. Ben sitzt im Eßzimmer und liest. Ich bleibe einige Zeit bei ihm, doch dann muß ich in den Turm zurückkehren, unter die Lamadecke kriechen und die 18.00-Uhr-Nachrichten hören, wo es heißt, daß es überall mehr Schnee geben und kälter werden soll. Wir trinken Champagner zum Dinner, und ich hoffe, daß das Jahr 1962 angenehmer werden wird als 1961.«

Dreißig Jahre vorher hatte sie einen Traum gehabt, den sie zu einem Gedicht umgeformt hatte. Sie träumte, daß sie in der winterlichen Dämmerung im Garten pflanzte, während ringsum Schnee fiel. Sie wußte, daß sie nicht aufhören durfte und ihre Arbeit beenden mußte. Während sie arbeitete, schien sie von Kerzen umgeben, die der fallende Schnee unter sich begrub, aber nicht auslöschte: Damhir­sche umstanden sie, an deren Geweihspitzen Flammen züngelten:

Und sie wußte, daß sie dem Ende des Pfades näherkam.
Und die Hirsche und die begrabnen Kerzen gingen mit ihr.
Doch sie wußte auch, daß sie nicht aufhören würde
Zu pflanzen, bevor das Leichentuch sie endlich hüllte ein.[3]

Vita verkaufte acht ihrer Manuskripte für 1500 Pfund an Miss Hamill nach Amerika. Mit dem Geld sollte die fünfte Winter-Kreuz­fahrt, diesmal in die Karibik, bezahlt werden. Dieses Jahr sollte Edie Lamont sie begleiten — »falls einer von uns beiden krank wird«, sagte Vita zu Harold, »wird sie ein Fels der Hilfe und des Tro­stes sein«. Am Neujahrstag 1962 brachen sie auf.
Während des Frühstücks im Zuge von Waterloo nach Southampton hatte Vita einen Blutsturz. Sie war sehr besorgt und vertraute sich Edie an. Auf der Antilles verbrachte sie den nächsten Tag in ih­rer Kabine und las Agatha Christie. Harold, dem nichts gesagt wurde, der jedoch Unheil ahnte oder sich über Vitas unübersehbare Abhängigkeit von Edie ärgerte, begann, sich selbst krank zu fühlen.
Auf der Höhe von Martinique hatte Vita hohes Fieber und Bron­chitis. Nachdem der Schiffsarzt ihr Spritzen gegeben hatte, war sie
wieder soweit hergestellt, daß sie im nächsten Hafen am Land ge­hen und irreführend normale Briefe an Freunde in England schrei­ben konnte - mit Anekdoten über Evelyn Waugh, der mit seiner Tochter Margaret an Bord war.
Alles, was Vita wollte, war, nach Hause zurückzukehren. Im Zug von Southampton nach London »haben H. und Edie und ich ein hübsches kleines Abteil für uns, aber ich gehe in den Salonwagen und sehe den schrecklichen verräterischen Fleck auf dem Sitz«. In Sissinghurst wartete der kleine Hund Glen - »makellos schön und mächtig gewachsen«. Der Obstgarten war »verschleiert von malvenfarbenem Tomasinianus; Parrotia in Blüte wie nie zuvor; die Zaubernuß ist schon erblüht; ein paar Krokusse... Ich fühle mich wirklich krank und versuche, es vor Hadji zu verbergen.«
Sie suchte einen Facharzt in London auf - »Edie, mein einziger Schatz, kam«, schrieb sie mit Bleistift unter diesen Eintrag in ih­rem Tagebuch - und ließ im Royal Free Hospital am 23. Februar Tests machen. Dann war sie wieder für ein paar Tage zu Hause; sie beantwortete einen Brief von Evelyn Irons, dieses Mal ohne jeden Versuch, Mut zu heucheln: »Ich sende dir, meine liebe Zwickmühle, wie immer Liebe. Wir hatten Spaß zusammen, nicht wahr? Das Steingutgeschirr, das ich in Tarascon auf dem Weg nach Les Baux kaufte, habe ich immer noch.« Sie fuhr wieder nach London, um sich einer Hysterektomie zu unterziehen. Edie Lamont ging mit ihr zum Krankenhaus. Harold, der inzwischen wußte, was passiert war, schrieb an Vita: »Edies Takt, Scharfblick und Verschwiegen­heit über die Tragödie im Zug nach Southampton haben jede Spur von Eifersucht ausgelöscht. Es war lächerlich, daß ich eifersüchtig war; und ich weiß, daß Edie das ahnte und wunderbar rücksichts­voll war. Aber ich war wirklich eifersüchtig. Idiot, der ich bin.« Er blieb bis zum Schluß auf Edie eifersüchtig und kämpfte dagegen an. Er hatte immer geglaubt, Eifersucht sei kein notwendiger Be­standteil der Liebe. Doch wenn er im Krankenhaus an Vitas Bett saß, fühlte er sich überflüssig und schrieb an James Lees-Milne: »Mrs. Lamont ist geschickt und fähig. Ich bin der unfähigste Mann seit Noah.« Als Vita aus dem Krankenhaus nach Sissinghurst zu­rückkehrte, gab es wenig, was er — alt, unbeholfen, zurückhaltend, furchtsam - für sie tun konnte. In der Regel war Edie da.
Vitas Freundinnen mißverstanden diese Haltung. »Ich habe das Gefühl«, schrieb er aus London an Vita, »daß Edie, Vi, Bunny Gwen und Dorothy [Beale] unter dem Eindruck stehen, als wisse ich nicht, wie krank du gewesen bist, oder daß es mir, wenn ich es wüßte, nicht viel ausmache. Wie wenig sie begreifen!« Der Chirurg hatte ihm gesagt, Vita habe Krebs. Doch er war zu schwerfällig, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen; ihr eigener Arzt mußte ihm mit vie­len Worten erklären, daß es mit Vita nicht besser werden würde.
Vita erfuhr, daß Mac gestorben war; und dann starb im Mai ihr Onkel Charlie. Eddy Sackville-West war endlich Lord Sackville. Am 11. Mai schrieb Vita an Alvilde Lees-Milne; »Ich kann gerade noch die Treppe hinunterwanken und mich in einen Stuhl setzen, in dem Copper mich umherrollt, aber obgleich ich schätze, daß es mir bessergeht,   kann  ich  nicht  sagen,  daß  ich  einen Unterschied spüre.« Sie hätte gern gesehen, was Alvilde aus ihrem neuen Haus gemacht hatte — »aber wann? Die Zukunft sieht sehr düster aus.« Sie war zu schwach, um sich den Behandlungen im Pembury-Krankenhaus auszusetzen. Sie lag in Bens altem Zimmer im Priester­haus, damit sie in der Nähe der Küche war und es für Mrs. Staples und Quinlan, den Diener, keine zusätzliche Arbeit gab. Man habe ihr so viele Lügen über ihren Zustand erzählt, schrieb sie an Harold. »daß ich überhaupt nichts mehr glaube«. Sie war zu schwach, um täglich mehr als einen Besucher empfangen zu können. »Edie macht mich nicht müde, weil ich mich nicht unterhalten muß.« Al­vilde besuchte sie: und sie schaffte es, eine Nachricht an Jim Lees-Milne zu kritzeln, dessen Mutter am 18. Mai gestorben war: »Jim, Lieber, es tut mir so leid. Ich weiß, wie nahe es dir geht.«
Harold, der bis jetzt weiterhin wie gewohnt die Woche über in London gewesen war, kam am 25. Mai für »eine ganze Woche« heim. An Vita schrieb er: »Das wird wirklich schön sein.« Er wußte nun, daß nicht mehr viel Zeit blieb.

Vitas letzter Morgen, der 2. Juni, war warm und sonnig. Bis zum Lunch leistete Edie ihr Gesellschaft. Dann löste Ursula Codrington sie ab. Die letzten Worte, die Ursula Vita sprechen hörte, galten Glen, dem goldfarbenen Retriever, der an ihrer Tür schnüffelte.
Harold war im South Cottage und schrieb an einer Rezension, als Ursula kurz nach ein Uhr, nachdem sie die Fenster von Vitas Schlafzimmer weit zur Weald hin geöffnet hatte, durch den Garten ging, um ihn zu suchen.

  • »Ursula kommt und sagt es mir. Ich pflücke einige von ihren Lieblingsblumen und lege sie auf ihr Bett.«

Vita hatte nicht mehr genug Zeit gehabt, Harold zu sagen, daß sie Edie gebeten hatte, Glen zu sich zu nehmen, wenn sie stürbe. Zwei Tage später kehrte Edie, um Vitas Wunsch zu erfüllen, nach Sissinghurst zurück, um den Hund zu holen. Harold saß mit seinen Söhnen und mit Philippa im Garten. Als Edie ihm sagte, warum sie gekommen war, verließ ihn seine vorübergehende Beherrschung. Weinend erhob er sich mühsam von seinem Sitz unter dem Trompe­tenbaum, um Glens Leine zu holen.

Im verlassenen Turm ist alles so geblieben, wie Vita es hinterlassen hat und oben im Turm schlägt die Glocke der Uhr die Stunden - eine Glocke, die dem Menschen, der unter ihr arbeitet, hell und dumpf zugleich in den Ohren klingt. In den dreißig Jahren, die Vita das Turmzimmer benutzte, hatte sie es nicht renovieren lassen. Die gefransten Samtstreifen an den Wänden waren 1962 bereits ebenso verblaßt und verschlissen wie die aprikosenfarbenen Samtvorhänge. Überall in Sissinghurst waren die alten Stickereien, Stücke von Gobelins, Quasten, Brokate, Seiden- und Samtstoffe staubig, entfärbt, zerschlissen und unersetzbar.
Die Wände des Turmzimmers sind mit Bücherregalen gesäumt. Sie ziehen sich durch den Bogengang, drei Stufen hinab, bis in das Türmchen, wo sie bis an die Decke reichen. Hier befinden sich die Bücher über Sexualpsychologie, die Vita mit Violet und dann mit Harold gelesen hatte: sechs Bände Havelock Ellis*, jeder mit dem Besitzervermerk »V.N.«. (* Henry Havelock Ellis (1851-1939);. englischer Schriftsteller. Verfasser bahnbrechender Werke über Sexualpsychologie. u.a.: Studies in the Psychologie of Sex (1897-1924), dt. 1922-1928 [Anm. d. Übers.]). In den Band Sexuelle Inversion hat Harold ein Verlaine-Zitat geschrieben: On est fier quelquefois quand on se compare. Dort finden sich Edward Carpenters The intermediate Sex und Otto Weiningers Geschlecht und Charakter** mit dem Ver­merk »VN. Polperro 1918« auf dem Vorsatz; Passagen über männliche und weibliche Charakteristika sind dick angestrichen. »Wenn [Frauen] heiraten, geben sie ihre eigenen Namen auf und nehmen ohne das Gefühl eines Verlustes den ihres Mannes an«, schrieb Weininger. »Ich bin anderer Ansicht«, kritzelte Vita an den Rand. (** Otto Weininger (1880-1903) entwarf eine Philosophie der Geschlechter (Geschlecht und Charakter, 1903 orientiert an dem Gegensatz Weib-Trieb/Mann-Geist [Anm. d. Übers.]
Rechts im Türmchen stehen ihre Gartenbücher. Auf der linken Seite steht ein niedriger geschnitzter Schrank; darin befindet sich ein schwarzer Gladstone-Koffer mit den Initialen »V.N.«. Das dicke Leder weist einen langen Schlitz auf. wo Nigel, der den Schlüssel nicht finden konnte, ihn aufgeschnitten hat - und das Manuskript aus dem Jahre 1920 über Vita und Violet entdeckte, das er in Portrait einer Ehe veröffentlichte.
Auf dem Boden liegen alte persische Teppiche, und auf den Fen­sterbänken hat Vita die Perlen, Kiesel, Muscheln, Scherben und Töpfe, die sie auf ihren Reisen sammelte, angeordnet. Auf dem Kaminsims in der anderen Ecke des Raumes stehen zwei chinesische Kaninchen aus Kristall - eines davon wird in Schloß Chevron beschrieben, wo es Sebastian gehört - eine Photographie von Rollo, blaue persische Keramiken und gerahmte Gedichte und Ge­bete, von Christopher St. John auf Pergament geschrieben und illu­striert. In der Nähe von Vitas Sofa stehen die englischen Lyriker und Shakespeare. Auf der anderen Seite des Zimmers sind Harolds gesamte Bücher, die Werke von Virginia und Reisebücher — ihre ei­genen Bücher sind unaufdringlich in Bodenhöhe im Regal unter dem großen Fenster aufgestellt.
Auf ihrem wurmzerfressenen Schreibtisch stehen Photos von Harold, Virginia, Luisa, Vanessa, Ben, eine Reproduktion von Branwell Brontes Gemälde seiner Schwestern und kleine Stiche von Knole. Hinter dem Schreibtisch im Regal die Memoiren von la Grande Mademoiselle. Im rechten Winkel zum Schreibtisch stehen in einem Gestell ihre Nachschlagewerke - Wörterbücher, der The­saurus, das Rhymer's Lexicon (auf das Titelblatt hat sie geschrie­ben: »Ein Reimer - ja, das bin ich«) - und ihr Adreßbuch, das Gar­ten-Rechnungsbuch, ein »Ausgeliehene Bücher«-Buch und das Buch, in dem sie ihre Träume notierte.
Alles ist so, wie sie es hinterlassen hat, bis zu ihren Briefen in ih­rer Kladde. Nur die Lampe, die sie benutzte, ist durch eine hüb­schere ersetzt worden. Eine schmiedeeiserne Tür verschließt nun den Zugang zum Turmzimmer, so daß man einen Blick hineinwer­fen, aber nicht eintreten kann:

Magst, Fremder, alle Wege gehn.
Die Dich in meinem Garten locken,
Doch hierher komme bitte nicht.
Wo ich zwar scheu, doch unerschrocken.

Auf ihrem Schreibtisch stehen Blumen, genauso wie früher, wenn sie arbeitete. Ein Gegenstand fehlt: der kleine Sarkophag aus rosa Marmor, der ihre zwei Tintenfässer aus der Long-Barn-Zeit enthal­ten hatte. Darin befindet sich ihre Asche, die bei ihren Vorfahren in der Sackvillschen Familiengruft in Withyham beigesetzt ist.
Vita hatte Harold vor langer Zeit gesagt, sie wünsche keinen Gedenkgottesdienst. In der Kirche von Sissinghurst wurde nur ein einfacher Trauergottesdienst für sie abgehalten. Als Harold starb, fand in London ein gemeinsamer Gedenkgottesdienst statt. Vita hatte wiederholt gesagt, sie wolle nicht weiterleben, wenn er stürbe. Darin ahmte er sie zwar nicht nach, aber er wurde, wie Nigel nach seinem Tode 1968 schrieb, »nie wieder der alte. In Wirk­lichkeit starb er mit ihr.«[4] Er verfiel körperlich und geistig immer mehr. Er hatte ihr einmal geschrieben:

  • »Ich kann mir ein Leben ohne dich einfach nicht vorstellen, und ich verbanne die Vorstel­lung aus meinen Gedanken... Wenn ich etwas tief empfinde, bin ich völlig unfähig, es auszudrücken. Du verstehst das, aber wer wird etwas verstehen, wenn du von mir gegangen bist?«[5]

Vita hatte ihn einmal gefragt, ob er wieder heiraten würde, wenn sie vor ihm stürbe. Er vemeinte heftig. Er werde seine schwinden­den Jahre dazu verwenden,

  • »über dich nachzudenken und mich all unserer gemeinsamen glücklichen Tage zu erinnern... Nein, mein Engel - weder in dieser noch in einer anderen Welt soll ein Fremder zwischen dich und mich treten.«[6]

Er hoffte, »jedes Blatt« in Sis­singhurst werde ein Band zwischen ihnen sein. Doch nicht einmal der Garten konnte Harold trösten.
Eddy Sackville-West, inzwischen Lord Sackville, schrieb an Evelyn Irons:

  • »Ja, liebe Evelyn, es ist alles sehr traurig, und man fragt sich, was wohl aus dem herrlichen Garten werden wird. Solange Harold lebt, denke ich, wird er derselbe bleiben... aber die Gärten von Leuten neigen dazu, mit ihnen zu sterben, selbst wenn der Status quo beibehalten wird - oder vielleicht gerade deshalb.« Er meinte, daß »etwas unternommen werden muß, um das Weiterbestehen zu sichern... aber er kann nie mehr der gleiche sein.«

In beiden Punkten hatte er recht. Im Jahr, bevor Harold starb, ging Sissinghurst in den Besitz des National Trust über, womit seine Zukunft sichergestellt war. Nigel und Philippa bauten die Räume des Personals im Südflügel des Torhauses zu einem Heim für ihre wachsende Familie und deren Nachkömmlinge aus. (Nigel und Philippa wurden 1970 geschieden.) Der Garten wurde weiterhin von den »Mädchen« betreut, die Vita selbst eingearbeitet hatte. Es ist der Garten, den Vita geschaffen hatte, obgleich er »nie mehr der gleiche sein kann«.
Im Streit mit ihren Gärtnern über den Einsatz von Unkrautvertil­gungsmitteln hatte Vita auf verlorenem Posten gestanden; sie hatte eine Schwäche für Blumen, die sich zufällig ansiedelten, die von nirgendwo kamen. Sie sorgte dafür, daß sich Wildblumen selbst aussäten, wie wilde Stiefmütterchen und die winzigen dunklen Veilchen. »Rollos Pfad« — ein diagonaler, gepflasterter Weg quer durch Delos — ist verschwunden: die ziemlich grellen roten und gel­ben Blumen in den Urnen am Eingang, aus Samen gezogen, die Vass aus dem Krieg mitgebracht hatte, sind fort. Vitas eigenwillige, geheimnisvolle, vornehme Handschrift, die den Garten prägte, ist weniger spürbar. Delos selbst ist von einem Steingarten in einen Sträuchergarten verwandelt worden:, er war immer ein schwieriges Fleckchen, und die Änderung ist eine Verbesserung. Dauerndes Ex­perimentieren und Erneuerungen sind Teil des Lebens eines Gar­tens, den jedes Jahr Zehntausende von Leuten besuchen. Die Gras­wege sind durch Pfade aus York-Steinen ersetzt worden, die den Tritten so vieler Füße standhalten. Aber die weißen Rosen ranken sich von den Apfelbäumen, und die Schönheit, die Vita schuf, ist er­halten geblieben im Schutz der rosenfarbenen Mauern, in den Blumen, die Jahr für Jahr blühen und vergehen und die ihr Denkmal sind.

Kein Herz, wie Freunde, brechen und kein
Vertraun enttäuschen sie, wie's die Liebe kann.
Sie brauchten immer nur sich selber treu zu sein:
Ein angemessnes Ende ist der Tod und rein
Für Blume, Freund und Liebe.