Die ferne Vergangenheit

Einleitung

Das Wort »Utopie« läßt sich als »guter Ort« wie als »gar kein Ort« übersetzen. Skeptiker verbinden die zwei in der Überzeugung, daß ja niemals ein Ort ein guter gewesen sei. Für sie finden sich das goldene Zeitalter genauso wie das Matriarchat oder die Amazonen nur in der Literatur oder in der Phantasie. Dennoch haben Gesellschaftswissenschaftler/innen aller Zeiten Lebensstile beschrieben, die zumindest aus unserer Perspektive Prototypen der Utopie sein könnten. Anders als das untergegangene Atlantis oder ein Planet im äußersten Weltraum haben die im folgenden diskutierten Gesellschaften tatsächlich existiert: mit Menschen aus Fleisch und Blut, in bestimmten geographischen Gegenden, zu bestimmten Zeiten und auf dieser Erde. Diese Völker oder ihre Nachkommen weilen noch unter uns, obgleich ihre Gesellschaften gewaltsamen Wechselbädern unterlagen.
Doch die Krux bei allen Gesellschaftssystemen (in diesem Fall: für alle Formen des Lebens) ist, daß sie sich wandeln, wie Khanna in Teil IV ausführt; und von daher sind unsere Utopien weder abgeschlossen noch vollkommen. Anders als die geplanten, streng kontrollierten und statischen Utopien, wie sie im allgemeinen in der Realität oder in der Fiktion von Männern erfunden werden, unterliegen diese Gesellschaften der Wandlung, da die Welt draußen wie drinnen sich ebenso verändert. Tatsächlich zeigt unser »guter Ort« auch jene Kräfte, die eine Utopie in eine Dystopie verkehren können.
Die Kulturen, die wir als utopische Modelle und als typisch für viele von den Europäern im ausgehenden 15. Jahrhundert kolonisierten Völker aussuchten, sind die Hopi (Pueblo-Indianer) in Nordamerika sowie Kreta in Europa. Ihre beeindruckenden Errungenschaften in Kunst und Handwerk, Wissenschaft und Technologie waren größtenteils einheimisch und stammten aus ihrer Geschichte sowie der geschickten Anpassung an die Umwelt, die ihnen die Produktion von Lebensmittelüberschüssen und einen kreativen Umgang mit überschüssiger Energie ermöglichten. Im Gegensatz zum weitverbreiteten Glauben im Westen, daß eine Führungsklasse unabdingbar zur komplexen Sozialproduktion gehört, zeigen diese Kulturen, daß freiwillige Arbeit in gleichberechtigten Gesellschaften, die Land und Bodenschätze gemeinsam besaßen, bemerkenswerte Leistungen vollbringen kann.
Ihre Architektur beispielsweise widerlegt die Behauptung, daß Monumentalbauten nur in Staatsgesellschaften entstehen. Die Hopi bauten ausgeklügelte vier- und fünfstöckige Steinhäuser, die ersten Wohnblöcke in Nordamerika, sowie große unterirdische Zeremonien-kivas als Symbol für Mutter Erde. Die gewaltigen Rundgräber, tholos, der frühen Kreter entstanden vor mehr als 5000 Jahren - lange vor den Pyramiden. Diese Bauwerke waren Treffpunkte für Zeremonien der Lebenden, aber auch Heimstätten der Toten. Damit wurde »der Glaube an die Große Muttergöttin« assoziiert.[1]
Während diese Kultur ihre Wurzeln in ferner Vergangenheit hat, wahren die Hopi noch immer »in bemerkenswertem Maße«[2] die Kultur ihrer Vorfahren. Ihre direkten Ahnen waren die Hitsan Sinom — oder Korbflechter — aus der archaischen Wüstenkultur, die vor mehr als 10.000 Jahren im südwestlichen Teil Nordamerikas entstand. Bei der Ankunft der Spanier lebten die Pueblo-Indianer in friedlicher Eintracht mit den Apachen.[3] Trotz ihres selbstgewählten Namens als »Volk des Friedens« erhoben sie sich gegen die Grausamkeiten der spanischen Eroberer im ausgehenden 17. Jahrhundert und massakrierten sie.
Ungeachtet der enormen Belastung durch ihre trockene Umwelt und der Abschlachterei zunächst durch die Spanier und später durch die Anglo-Amerikaner widerlegen die »Zähigkeit der Pueblos und ihr Überlebenswille als Volk und Gemeinschaft über viele Jahrhunderte«[4] die anthropologischen Klischees über die Zerbrechlichkeit matrilinearer Kulturen. Solche Kulturen bieten Frauen und ihren Kindern sozialwirtschaftliche und emotionale Sicherheiten, ohne den Status der Männer abzuwerten. Dies haben Anthropologinnen beim Studium der Hopi herausgefunden, deren Untersuchungen LeBow mit denen der Anthropologen vergleicht. (Rohrlich und andere fanden ähnliche Unterschiede in den Untersuchungen über die australischen Ureinwoh-nerinnen, je nachdem ob eine Anthropologin oder ein Anthropologe geforscht hatte.)[5] Die Verteilung der Arbeit nach Geschlechtsrollen führte auch nicht notgedrungen zur Ungleichheit in matrilinearen, matrifokalen, vorstaatlichen Kulturen. Auch dies ist wiederum anders in patriarchalen Staaten, wo unterschiedliche Rollenverteilung den Frauen besser bezahlte und angesehene Arbeit vorenthält. Die aktiven sozialen Rollen der Hopi-Männer und -Frauen zeigen sich auch in ihrem übermütigen und humorvollen Sexualverhalten,[6] das den katholischen und protestantischen Missionaren so schockierend vorkam, daß sie im großen und ganzen auch keine Erfolge in deren Bekehrung aufweisen konnten.
Falls wir glauben, daß die Physiker der Moderne [7] oder Utopie-Autoren (siehe Pearson: »Zeit und Revolution« in Teil IV) nicht-lineare, multidimensionale Konzepte der Wirklichkeit entwickelten, so enthüllt uns ein Blick auf die Hopi-Kosmologie einen viel früheren Beginn für diese Ansichten. Ihren unterschiedlichen und dennoch gleichberechtigten Geschlechtsrollen liegt zudem ein »wechselseitig ausgeglichener« Dualismus zugrunde:

  • ... die Vorstellung des Wandels in linearen Begriffen von Ursache und Wirkung, die wir ja allgemein hegen, fehlt im Denken dieses Volkes. Leben erscheint ihnen in Begriffen von miteinander verwobenen und vielgesichti-gen/vielschichtigen Einheiten, die sich beständig nach der eigenen Fasson, im eigenen Rhythmus und Tempo wandeln. Darüber hinaus schließt das Hopi-Konzept der ausgeglichenen wechselseitigen Interdependenz verschiedener Aspekte der Wirklichkeit eine willkürliche dualistische Trennung aus, die unser Denken strukturiert und Grundlage unserer traditionellen ethischen Auffassung der sich widerstreitenden Kräfte von Gut und Böse bildet. Dualität kommt in der Weltanschauung der Hopi nur in zwei Ergänzungen vor, die als unzertrennliche Teile des Ganzen gesehen werden, und keine davon ist der anderen unterlegen.[8]

Das minoische Matriarchat (die erste europäische Zivilisation) war eine »ursprüngliche und originäre Schöpfung«,[9] die der »Ankunft weiser Männer aus dem Osten«[10] zum Beispiel aus Sumer oder Ägypten nur wenig verdankte. Zunächst hatten die fast zeitgenössischen kretischen und sumerischen Kulturen viele Gemeinsamkeiten: Beide waren egalitäre neolithische Kulturen, organisierten sich in Verwandtschaftssystemen, in denen Frauen, die sich in der Pflanzenzucht und ähnlichen Entwicklungen hervortaten, herausragende Rollen spielten. Zu diesem Zeitpunkt könnte man beide als utopische Prototypen bezeichnen.
Später entwickeln sich Kreta und Sumer unterschiedlich, was sich besonders in der Kunst ausdrückt. Minoische Kunst und minoisches Handwerk erreichten Höhepunkte, die von keiner anderen Zivilisation in der Bronzezeit erreicht wurden — und das in einer Gesellschaft, die nicht nur Künstlern, sondern auch dem ganzen Volk weitgehende Autonomie zusicherte. Da das minoi-sche Kreta weit über 1500 Jahre mit der Welt in Frieden lebte, konnte sich seine politische Macht ausdehnen und die Clan-Strukturen blieben verhältnismäßig intakt. Die Priesterschaft aus Frauen und Männern unter der Leitung der Priesterinnen diente den Göttinnen.[11] In Sumer erreichte die Kunst ihren Höhepunkt an der Schwelle der Staatsgründung; später wurde sie immer einheitlicher und statischer unter dem Druck, die Errungenschaften der kriegerischen Könige zu verherrlichen. Als die Staatsgewalt zentralisiert und die Kriegsführung chronisch wurde, zerfielen die Clan-Strukturen, und — anders als bei den androgynen Geschlechtsrollen im minoischen Kreta — die Frauen wurden aus herausragenden Stellungen verdrängt und im Haushalt unterworfen. Folglich wurden auch die Kinder in einer Geschlechtshierarchie erzogen, die sie ebenso darauf vorbereitete, die Klassenhierarchie zu akzeptieren.[12]
Im antiken Sumer sehen wir den militaristischen, patriarchalen Staat in voller Blüte, der nur durch die Schaffung einer Kluft zwischen Frauen und Männern überleben konnte. Das ist der Prototyp einer Dystopie, gegen die sich allüberall Völker erhoben, um Utopien in der Wirklichkeit oder Vorstellung zu erschaffen.

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