Frauenkleidung aus Männerhand oder: Warum gibt es keinen weiblichen Gaultier?

Einige Überlegungen zur Rolle der Frauen im Mode-Design

 

Die Rolle der Frauen im Berufsleben

Nach rund 20 Jahren ist die Forderung nach einer beruflichen Gleichstellung von Mann und Frau durch das Engagement der Achtundsechziger-Bewegung und feministischer Gruppen allgemein geworden. So sind auch die Initiativen der politischen Institutionen und der Wirtschaft nicht zu übersehen, die jungen Frauen das Vordringen in Berufsfelder erleichtern sollen, welche bisher von Männern dominiert wurden. In zunehmendem Maße werden Frauen ermuntert, Führungspositionen anzustreben. Eine erfreuliche Entwicklung zeichnet sich hier ab, obwohl die Hintergründe weniger altruistischer Natur sind, sondern vielmehr dem rationalen Kalkül entsprechen. Der Blick auf die demografische Entwicklung läßt nämlich schnell erkennen, daß vor allem die Bemühungen der Industrie aus der bangen Sorge um die zukünftig knappe Ressource "Führungsnachwuchs" entstehen. Die qualifizierte Ausbildung von Frauen ist zu einer ökonomischen Notwendigkeit geworden, denn in den "Chef-Etagen" werden sie nun effektiv gebraucht.

Frauenarbeit in »typischen Frauenberufen«

Sich als Frau auf Gebieten zu beweisen, wo Fertigkeiten zählen, die bisher als "spezifisch männlich" ausgewiesen waren, stellt in vielen Fällen einen zusätzlichen Ansporn dar. Dementsprechend erfährt die berufliche Emanzipation von Frauen gerade in mathematisch-technisch ausgerichteten Berufen eine besonders starke Beachtung. Die Untersuchung der als traditionell "weibliche Domänen" geltenden Bereiche scheint dadurch ein wenig vernachlässigt. Dabei wäre es interessant zu erfahren, ob es sich hierbei tatsächlich um "weibliches Herrschaftgebiet" handelt bzw. ob die Arbeit von Frauen zumindest eine den Männern gleichgestellte gesellschaftliche Anerkennung erlangt.

Das Arbeitsfeld der »Bekleidung« als berufliche Domäne der Frauen

Als interessantes Forschungsfeld bietet sich der Bereich der Bekleidung an. Denn so wie das Anfertigen von Kleidungsstücken bei den meisten Völkern ursprünglich Frauensache war, arbeiten auch heute noch vermehrt Frauen in der Kleiderproduktion. In der Bekleidungsindustrie der BRD bilden sie beispielsweise einen Anteil von rund 80% aller Arbeitnehmer. Wie in keiner anderen Branche stehen hier männliche und weibliche Führungskräfte in einem fast paritätischen Verhältnis zueinander. Eine Untersuchung der Fachhochschule Niederrhein für Textil- und Bekleidungstechnik und des Bundesverbandes der Bekleidungsindustrie ergab hinsichtlich der Alters- und Aufgabenstruktur der Führungskräfte in der Bekleidungsindustrie, daß Frauen einen Anteil von 43,8 Prozent am gesamten Führungspotential haben. Bis zur Altersgrenze von 29 Jahren stehen in mittleren Führungspositionen 28% Frauen einem Anteil von rund 8% Männern gegenüber. Im Alter von 30 bis 39 Jahren sind 38% weibliche gegenüber 20% männlichen Führungskräften zu verzeichnen. Erst in der Altersgruppe ab 40 Jahre überwiegt der Anteil männlicher Führungskräfte, in der Altersgruppe ab 50 - 60 Jahren haben die Frauen immerhin noch 10% aller Führungspositionen inne.[1]
Im Fertigungsbereich haben die Frauen also - quantitativ betrachtet - die Überhand. Wie verhält es sich aber im Bereich des Designs als der kreativen künstlerischen Vorgabe?

Das große Interesse der Frauen am Mode-Design

Da der Umgang von Frauen mit textilen Stoffen, Farben und Formen so eine lange Tradition aufweist, erstaunt es nicht weiter, daß sie ebenso zahlreich in den schöpferischen Arbeitsfeldem des Stoff- und Kleidungsentwurfs vertreten sind. Es gibt weitaus mehr weibliche als männliche Bewerber für das Studienfach Mode-Design, und dementsprechend verlassen auch zu rund 90% junge Frauen die Schulen als ausgebildetete Mode-Designerinnen.[2] Ungefähr ein Drittel der Absolventen findet eine Arbeitsmöglichkeit in der Bekleidungsbranche. Für viele ist der berufliche Alltag zunächst frustierend. Denn eigentlich führte ja der Traum vom eigenverantwortlichen Kreateur, der seiner fantasievollen Inspiration freien Lauf lassen kann, zur Aufnahme des Mode-Studiums.
Die Praxis zeigt jedoch, daß solche Vorstellungen in einer Branche, die neben dem kreativen Potential auch vom Management lebt - die Berufsbezeichnung "Mode-Designer" beinhaltet bereits die Ausrichtung der künstlerischen Tätigkeit auf industrielle Produktionsmaßstäbe - nur schwer realisierbar sind. Gelingt es dennoch, so verhält es sich in der Modebranche nicht anders als in vielen anderen Berufssparten: es ist verblüffend, aber der Durchbruch zur Eigenständigkeit scheint den männlichen Designern besser zu gelingen als ihren zahlreichen weiblichen Kollegen.

Wenige »Top-Designer« - und viele unbekannte Mode-Designerinnen

Diese Vermutung ergibt sich aus folgendem beobachtbaren Mißverhältnis: einer Vielzahl unbekannter Mode-Designerinnen steht eine geringe Anzahl männlicher Kreateure gegenüber, die einen internationalen Ruf genießen. Der Anteil der Frauen an den 241 im Verband Deutscher Mode-Designer organisierten Kreateure liegt beispielsweise bei rund 80%; der Männeranteil ist demnach verschwindend klein. Trotzdem sind es immerhin zwei Männer, Karl Lagerfeld und Wolfgang Joop - gegenüber einer Frau, Jil Sander -  die als deutsche Designer den internationalen Durchbruch geschafft haben.
Es gibt eine Reihe bekannter weiblicher Kreateure, die gleichfalls als sogenannte "Personality-Designer" unter einem eigenen Label arbeiten, doch das internationale Modekarussell wird vor allem von männlichen Top-Designern in Bewegung gehalten. Die entscheidenden Impulse auf die Gestaltung von Bekleidung, besonders der Damenmode, gehen heute vor allem von Designern wie Claude Montana, Karl Lagerfeld, Romeo Gigli, Giorgio Armani, Kenzo, Ungaro, Issey Miyake oder Jean-Paul Gaultier aus. Diese kleine Gruppe männlicher Star-Designer genießt einen hohen Bekanntheitsgrad, Prestige und Anerkennung. Die Vielzahl der weiblichen Mode-Designer arbeitet dagegen anonym und ist - dienstbaren Geistern gleich - damit beschäftigt, die Ideen der großen Meister der Haute Couture und des Prêt-à-porter bis hin zur "tragbaren" Konfektion umzusetzen.

Geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung im Mode-Design

Mit dieser ein wenig überspitzten Darstellung soll die Tätigkeit der Frauen keineswegs geringer eingeschätzt werden als die Arbeit der Männer. Sie soll vielmehr verdeutlichen, daß auch in Berufsfeldern, die traditionell den Frauen zugeordnet werden, eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung entdeckt werden kann: so scheinen Frauen und Männer ihre Fähig- und Fertigkeiten auf unterscheidliche Weise in den Prozeß des "Mode-Machens" einzubringen. Bemerkenswert ist es allemal, daß die Frau trotz der anthropologischen Nähe, die sie zur Aufgabe des Bekleidens hat, ihrer Schlüsselposition nicht mehr sicher sein kann, wenn die traditionelle Aufgabe zur gesellschaftlich anerkannten Profession wird.
Interessanterweise verhält es sich im Bereich der Eßkultur ähnlich: das Kochen ist ja auch seit vielen Jahrhunderten Frauensache - die wegen ihrer hohen Kochkunst ausgezeichneten Köche sind jedoch überwiegend männlichen Geschlechts.
Und umgekehrt: Obwohl das Kochen für viele Männer bereits zum Hobby geworden ist, sind die Frauen am heimischen Herd immer noch die »offiziellen Küchenchefs.«

Die dominante Mode-Kompetenz der Frauen im Privatbereich

Ähnliches gilt auch für die Lösung des Kleiderproblems in der Privatsphäre von Familie und Partnerschaft.
Frauen beweisen hier mehr Kompetenz als Männer. Aus einer Untersuchung der Fachzeitschrift »Textilwirtschaft« über das Konsumentenverhalten beim Kleidungskauf geht hervor, daß Frauen mehr Spaß haben am Einkauf; sie bummeln dementsprechend mehr durch die Städte und suchen in verschiedenen Geschäften nach Einzelteilen, bis sie das gewünschte Outfit zusammen haben. Ein größerer Teil der Männer hingegen läßt sich gerne beim Kleidungskauf von der Ehefrau oder der Partnerin »an die Hand nehmen«; »Lowinterest«-Artikel wie Unterwäsche und auch Hemden und Krawatten bringen Frauen ihren Männern in vielen Fällen »so nebenher vom Einkauf mit«. In den Großstädten ist eine ansteigende Modebereitschaft der Männer zu verzeichnen. Modeläden frequentieren sie jedoch nicht so gern wie die Frauen. Stattdessen bevorzugen sie das »klassische Fachgeschäft« bis hin zum Herren-Ausstatter, denn da weiß »Mann«, was man hat. Sie haben auch mehr Stammgeschäfte und sind durchschnittlich treuere Kunden als Frauen. Ihre Markentreue ist ebenfalls stärker als bei Frauen und jungen Leuten unter 30 Jahren ausgeprägt.[3] Der Widerspruch zwischen der weiblichen Mode-Kompetenz im Privatbereich einerseits und der Dominanz der männlichen Mode-Designer im professionellen Bereich andererseits soll im folgenden näher ergründet werden.

Die männliche Tradition des Schneiderhandwerks

Daß die Kleidung für Frauen auch heute noch vermehrt von Männern kreiert wird, kann zunächst einmal damit begründet werden, daß das Schneiderhandwerk eine männliche Tradition aufweist. Aus diesem Handwerk entwickelten sich ja die Berufsbilder des Couturiers, der Couturière und später des Designers und der Designerin. Wie bereits erwähnt, gehört die Herstellung von Kleidern im Altertum und im Mittelalter im allgemeinen zu den hausfraulichen Tugenden. Im alten Griechenland waren es allerdings schon damals die Männer, die Kleidung anfertigten. Die Schneiderkünste des griechischen Philosophen Hippias, der um 400 v. Chr. lebte, wurden hochgelobt.
Bei den Germanen jedoch war Spinnen, Weben und Nähen ausschließlich die Sache der Frauen. Kaiser Karl der Große trug noch die Kleider, die seine Frau und seine Töchter für ihn hergestellt hatten. Erst in der Stauferzeit, um 1200, wendete sich das Blatt. Den verfeinerten Kleidungsvorstellungen entsprachen aufwendigere Details wie z. B. die Einengung der Taille im 10. Jahrhundert. Das Zuschneiden wurde komplizierter und erforderte bald eine berufliche Ausbildung. Das Schneidergewerbe entwickelte sich zunächst als ein berufliches Betätigungsfeld der Männer. Die Schneider bildeten sehr früh eine unabhängige Handwerkergruppe und gründeten in den mittelalterlichen Städten eigene Zünfte.
Die Organisation von Frauen in Schneiderzünften war erst viel später möglich, in Frankreich nicht vor 1675. Herstellen durften Schneiderinnen bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts lediglich Unterkleidung und Zubehör.[4]

Die Modehändlerinnen und Modehändler als Modekünstler

Nachdem die französische Revolution die Zünfte allgemein aufgehoben hatte, gewann gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein anderer Berufsverband an Bedeutung.
Es handelte sich dabei um die 1760 gegründete Zunft der Marchands und Marchandes des modes, welche aus der Zunft des Mercieurs, der Kurzwarenhändler, hervorgegangen war.
Diesen Modenhändlern und Modehändlerinnen war nur die Herstellung bestimmter Kleidungsstücke vorbehalten: Mäntel, Umhänge und Brust- oder Schultertücher, sogenannte Fichus. Das hinderte sie jedoch nicht daran, entscheidenden Einfluß auf die Mode zu nehmen. Sie waren nämlich zusätzlich für die Garnierung der Kleider und den Kopfputz zuständig. Da die Kleideranfertigung sehr zeitaufwendig und teuer war und sich der Kleiderschnitt, besonders der Hofroben, nicht wesentlich änderte, wurde der Aufputz zum Indikator für modischen Wechsel. Die Kaufleute verstanden ihr Handwerk und wußten das Detail des Aufputzes gewinnbringend zu gestalten. Aktuelle Geistesströmungen wurden thematisch aufgenommen und modisch verarbeitet. Die Gedanken Rousseaus wurden beispielsweise in einen Kult der Natürlichkeit transformiert, indem ein Kopfputz erfunden wurde, der à la jardinière genannt wurde und aus einem Arrangement frischer Gemüsesorten bestand.
Aufgrund solch skurriler Ideen und anderer fantasievoller Zusammenstellungen galten die Modehändler und Modehändlerinnen eher als Modekünstler und waren weitaus bekannter als die Schneider.[5]

Die Putzmacherin Rose Bertin

Die berühmteste unter ihnen war wohl Rose Bertin (1744 - 1813), die Putzmacherin der Königin Marie-Antoinette. Sie lernte ihr Handwerk in einer Pariser Modehandlung und wurde durch die finanzielle Unterstützung einer Fürstin Teilhaberin des Geschäfts. Dann eröffnete sie eine eigene Modehandlung »Au Grand Mogole« in der Rue St.-Honoré und stattete einflußreiche Adlige aus. 1772 wurde sie die Putzmacherin der Dauphine Marie-Antoinette. Später gehörte ihr ein elegantes Modehaus in der Rue de Richelieu. Rose Bertins Einfluß auf die höfische Mode ihrer Zeit war beträchtlich. Dementsprechend selbstbewußt war ihr Motto, sie lasse sich weniger ihre Ware als vielmehr ihren künstlerischen Geschmack bezahlen.[6]

Das Elend der Schneiderinnen und Modistinnen

Die Mehrzahl der Schneiderinnen hatte hingegen - ungeschützt, da unorganisiert unter sehr schweren Lebensbedingungen zu arbeiten. Die industrielle Revolution brachte durch den Einsatz von Maschinen eine zunehmende Integration der Frauen in den Prozeß der Textil- und Bekleidungsproduktion. Dies geschah jedoch nicht zu ihrem Vorteil, sondern trug vielmehr dazu bei, daß weibliche Arbeitskräfte noch mehr ausgebeutet werden konnten.

»Die Arbeit an den Maschinen, sowohl beim Spinnen als beim Weben, besteht hauptsächlich im Zusammenknüpfen gebrochener Fäden, da sonst die Maschine alles thut; diese Arbeit erfordert keine Kraft, aber größere Gelenkigkeit der Finger. Männer sind dazu also nicht nur unnöthig, sondern wegen der stärkeren Muskel- und Knochenentwicklung ihrer Hände sogar weniger geeignet als Weiber und Kinder, und so natürlicher Weise fast ganz von dieser Art Arbeit verdrängt. Je mehr also die Thätigkeit der Arme, der Kraftanstrengung, durch Einführung von Maschinen auf die Wasser- oder Dampfkraft geworfen wird, desto weniger Männer brauchen beschäftigt zu werden - und da Weiber und Kinder ohnehin billiger und, wie gesagt, in diesen Arbeitszweigen besser als Männer arbeiten, so werden sie beschäftigt.«[7]

Viele Schneiderinnen mußten in Heimarbeit handwerkliche Perfektion zu Hungerlöhnen ausführen oder wurden als billige Arbeitskräfte in den Fabriken eingesetzt. Die Arbeitsbedingungen der meist jungen Mädchen, die um 1840 als Näherinnen in Londoner Putzmacherläden arbeiteten, beschrieb Engels folgendermaßen:

»... - es sollen ihrer im Ganzen 15 000 sein - welche im Hause wohnen und essen, meist vom Lande herkommen und so die vollständigen Sklaven der Brotherrschaft sind. Während der fashionablen Saison, die etwa vier Monate im Jahre dauert, sind selbst in den besten Etablissements die Arbeitsstunden täglich fünfzehn, und wenn dringende Geschäfte vorkommen, achtzehn; in den meisten Läden indes wird während dieser Zeit ohne alle feste Zeitbestimmung gearbeitet, so daß die Mädchen nie mehr als sechs, oft nur drei oder vier, ja zuweilen nur zwei Stunden in vierundzwanzig zur Ruhe und zum Schlaf frei haben, und neunzehn von zweiundzwanzig Stunden gearbeitet wird, wenn sie nicht, was oft genug vorkommt, die ganze Nacht durcharbeiten müssen! Die einzige Grenze, die ihrer Arbeit gesetzt wird, ist die positive physische Unfähigkeit, die Nadel auch nur eine Minute länger zu führen.«[8]

Krankheit, körperliche und seelische Gebrochenheit waren die Folgen der menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen:

»Mattigkeit und Erschlaffung, Schwäche, Verlust des Appetits, Schmerzen in den Schultern, dem Rücken und den Hüften, besonders Kopfschmerzen treten sehr bald ein; dann Verkrümmung des Rückgrats, hohe, verwachsene Schultern, Abmagerung, geschwollene, fließende und schmerzhafte Augen, die halb kurzsichtig werden, Husten, Engbrüstigkeit und kurzer Athem, sowie alle weiblichen Entwicklungskrankheiten. Die Augen leiden in vielen Fällen so stark, daß unheilbare Blindheit, gänzliche Desorganisation des Auges eintritt, und wenn das Gesicht gut genug bleibt, um eine Fortsetzung der Arbeit möglich zu machen, so endigt gewöhnlich die Schwindsucht das kurze, traurige Leben dieser Putzmacherinnen.«[9]

Für viele Schneiderinnen war die Prostitution eine zusätzliche Einnahmequelle, um überleben zu können.

Die Anfänge des organisierten Frauenhandwerks im Schneidergewerbe

Gleichzeitig kündigte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Gegenbewegung an, indem nun auch Frauen verlangten, das Schneiderhandwerk erlernen zu können. Sie wurden wie die Männer in den Schneiderbetrieben ausgebildet, was bereits um die Jahrhundertmitte zu Konflikten führte. Obwohl die eigentliche Ursache eine strukturelle Veränderung des Schneidergewerbes durch die Industrialisierung war, wurde das Eindringen der Frauen in die »Männerwelt« für die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen verantwortlich gemacht. [10] In den Schneidergewerkschaften wurde nun versucht, das Frauenhandwerk einzuschränken oder aber Frauen weiterhin ganz auszuschließen. In einer Ausgabe des »Fachblattes des Deutschen Damenschneider-Handwerks« von 1951 wird berichtet, daß in Deutschland erst 1911 vielerorts mit der Gründung eines »Fachvereins selbständiger Damenschneiderinnen« begonnen wurde. Darauf kam es im April 1912 zur Gründung des »Reichsverbandes deutscher Schneiderinnen.« Dies geschah durch die Initiative des »Verbandes für handwerksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau«, der 1909 ins Lebens gerufen wurde. Hierbei handelte es sich um den Zusammenschluß von Frauen aus verschiedenen Berufen. Der Verband leistete Aufklärungsarbeit für selbständige Handwerkerinnen; gleichzeitig setzte er sich für die ordnungsgemäße Ausbildung von Frauen ein. Um diese jedoch gewährleisten zu können, waren Fraueninnungen notwendig. Der Konstituierung solcher Innungen stand der sogenannte Schöffenparagraph entgegen: der § 31 des Gerichtsverfassungsgesetzes räumte nur Männern eine Befähigung zum Amt des Schöffen ein. Erst 1922, rund ein Jahrzehnt später, erfolgte die Annahme des Gesetzentwurfs, der auch Frauen ermöglichen sollte, zu Schöffen und Geschworenen gewählt werden zu können. Von 1922 bis 1927 entstanden dann die Fraueninnungen in der Damenschneiderei, der Wäscheschneiderei und im Putzmacherhandwerk.[11] Die Löhne in der Textil- und Bekleidungsindustrie sind immer noch im unteren Bereich der Tarifskala angesiedelt. Auch heute, so berichtet Elizabeth Wilson, können noch ähnlich unwürdige Arbeitsbedingungen angetroffen werden: »In den neuen asiatische Fabriken sind es wieder Frauen, oder besser gesagt Mädchen - oft nicht älter als 10 oder 11 Jahre - die ausgebeutet werden...«[12]
Dieser historische Rückblick verdeutlicht, inwieweit die Dominanz der Männer im Mode-Design in Verbindung damit gebracht werden kann, daß die Frauen noch nicht sehr lange in die Tradition des Schneiderhandwerks eingebunden sind. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß die kreativen Ressourcen der Frauen noch gar nicht voll ausgeschöpft sind. So prognostizieren gerade die Fachleute aus der Textil- und Bekleidungsbranche speziell den weiblichen Designern große Erfolge für die 90er Jahre.

Vom Schneider zum Modeschöpfer

Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schneiderte eine Couturiere ein Kleid nach den Vorstellungen der Kundin, die den Stoff und Kleiderbesatz bereits eingekauft mitbrachte. Erst Frederick Charles Worth entwarf Kleider nach eigenem Gusto. Seine Kleiderkreationen spiegelten seine persönliche Auffassung von weiblicher Schönheit wider. Worth war der erste, der seine Entwürfe mit seinem Namenszug etikettierte und auch der erste, der seine Kleider nicht an einer Puppe, sondern an einem Mannequin vorstellte. Er schuf einen unverkennbaren Stil und prägte die Mode seiner Zeit entscheidend. Die Tumüre und der berühmtberüchtigte Cul de Paris sind seine Schöpfungen.
Worth gilt als der Begründer der Haute Couture, vor allem, weil er das Berufsbild des Schneiders/der Schneiderin und des Modehändlers/der Modehändlerin hin zum Modeschöpfer erweiterte. Er verschaffte sich damit ein Image, welches ihn mit seiner Klientel gesellschaftlich gleichstellte.
Die gesellschaftliche Anerkennung, die ein Couturier fortan genoß, wurde durch das Schaffen von Jacques Doucet und Paul Poiret weiter gefestigt.[13]

Berühmte Modeschöpferinnen

Dafür, daß sich auch Frauen als Modeschöpferinnen etablieren konnten, legte die Schneiderin Jeanne Becker, die unter dem Namen Madame Paquin berühmt geworden ist, den Grundstein.
Als erste Frau ihres Berufsstandes wurde sie mit der Légion d'honneur ausgezeichnet, war zeitweise Präsidentin der »Chambre Syndicale de la Couture Parisienne« und sogar Vorsitzende der Modenschau-Organisation der Pariser Weltausstellung 1900.
Im Hause Paquin herrschte eine Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, die auch heute bei vielen erfolgreichen Mode-Designerinnen auffällt: während die Frau die künstlerische Aufgabe übernimmt, lenkt der Mann die Geschäfte. Madame Paquin war bekannt dafür, daß sie neue Kreationen geschickt an gesellschaftlich relevanten Orten in Szene zu setzen wußte. Obwohl sie luxuriöse Stoffe und noble Pelzausstattungen liebte, berücksichtigte sie beim Entwurf der Kleider jedoch auch deren bequeme Tragbarkeit. Die ab 1910 aufkommende Mode der engen Röcke lehnte sie ab, da sie immer die Pariserinnen vor Augen hatte, "die mit den Unbilden der Métro zu kämpfen haben."[14]
Ebenso erfolgreich waren schon sehr früh Jeanne Lanvin und auch die Schwestern Callot. Während Jeanne Lanvin ein ausgezeichnetes Gespür für das Modebedürfnis der Frauen ihrer Zeit besaß, zeichnete sich die Arbeit der Callots vor allem durch präzises handwerkliches Können aus.
Berühmt geworden ist auch Madame Grès mit ihren kunstfertig drapierten Kleiderskulpturen. Sie eröffnete 1931 ihren ersten Modesalon und fertigte bis 1980 ausschließlich Haute Couture, danach auch Prêt-àporter. Modetrends haben sie zu keiner Zeit interessiert. So ändert sich die Silhouette ihrer Kleiderentwürfe in 50 Jahren nur unerheblich. Madame Grès arbeitete für eine bestimmte Klientel und für einen klar definierten Frauentyp: »Frauen, deren Körper schon wie ein Entwurf ist.« Dabei steht für sie mehr die Persönlichkeit als der makellose Körper im Vordergrund, denn ihrer Meinung nach hat jede Frau "immer etwas Hübsches, was man zeigen kann." Weiter betonte sie in einem Interview: "Meine Kleider werden gemacht, um den menschlichen Körper zu respektieren."[15]

Coco Chanel

Es wären noch viele Modeschöpferinnen zu nennen, als bisher einflußreichste Frau der Modegeschichte des 20. Jahrhunderts gilt jedoch Coco Chanel. Ihre Kleiderauffassung hat sich bisher nicht überlebt und ist vor allem noch in der aktuellen Tages und Arbeitskleidung für Frauen spürbar. Sie bestand aus der Art, wie sich Coco Chanel selbst zu kleiden pflegte: elegant und komfortabel, dabei aber praktisch und bequem. Von sich sagte sie: »Ich war die erste Frau, die das Leben dieses Jahrhunderts lebte.« [16] Sie revolutionierte die Kleidung der Frauen, indem sie diese von allen repräsentativen Elementen befreite und stattdessen die Selbständigkeit und vor allem die Mobilität der Frauen in den Vordergrund stellte. Die Falten in den Röcken boten die Möglichkeit, die Beine übereinanderzuschlagen und mühelos in ein Auto zu steigen. Die gefütterte Rückseite des Rocks sollte das Knittern verringern, kurze Rücksäume und hochgeschnittene Armlöcher dienten der Bewegungsfreiheit. Pelze und Leder wurden als wärmendes Futter verwandt und repräsentativer echter Schmuck durch unechten Modeschmuck ironisiert.
Coco Chanels Ziel war es, einen Kleiderstil zu kreieren, der von vielen Frauen kopiert werden konnte; Luxusmode lehnte sie ab.[17] Sie lancierte das »kleine Schwarze«, das Hemdblusenkleid und das legendäre »Chanel-Kostüm«. Dieses schlichtgeschnittene, ein wenig trachtenmäßig anmutende Kostüm gibt es in zeitgemäß abgewandelter Form immer noch zu kaufen. Interessanterweise kann beobachtet werden, daß es heute bevorzugt von Frauen getragen wird, die repräsentative Pflichten zu erfüllen haben. Auch die schwarze Samtschleife, der typische Chanel-Haarschmuck, ist heute ein unerläßliches Accessoire für Frauen, die sich "standesgemäß" elegant geben wollen.
Für die Mode der 60er und 70er Jahre setzten Mary Quant und Barbara Hulanicki richtungsweisende Impulse.
Mary Quant eröffnete 1955 die Boutique "Bazaar" in der Londoner King's Road. Erst acht Jahre später wurde sie bekannt, als die englische "Vogue" Kleider vorstellte, die sie bereits 1959 entworfen hatte. Es handelte sich dabei um kurze Hängerkleidchen, die dann groß in Mode kamen.
Die Polin Barbara Hulanicki gründete das englische Versanduntemehmen "Biba's Postal Boutique", aus dem später ein großes Warenhaus hervorging. Für das erste Kleid, welches per Versand angeboten wurde, gingen 17.000 Bestellungen ein. Von Biba ging die Mode der Kleider und Mäntel in Midi- und Maxilänge aus. Diese bildete somit einen Kontrapunkt zur herrschenden Courreges-Mode, die als "harter Schick" bezeichnet wurde, weil ihr ein konstruierter geometrischer Schnittaufbau zugrunde lag.[18]
Die nähere Umschreibung der Arbeit einer bedeutenden Designerin der Modegeschichte hat gezeigt, daß es neben den männlichen Kreateuren auch immer schon Frauen gab, die als Modeschöpferinnen entscheidende Impulse setzen konnten.
Auch heute setzt sich eine Reihe von Frauen als Mode-Designerinnen erfolgreich durch, z. B. aus Deutschland Jil Sander, Brigitte Haarke, Beatrice Hympendahl, Susanne Wiebe, dann Donna Karan, Katharine Hamnett, Vivienne Westwood, Martine Sitbon, Lolita Lempicka, Chantal Thomass, Sonia Rykiel, Laura Biagiotti, Popy Moreni oder Rei Kawakubo.
Woran aber liegt es, daß die Top-Designer immer noch mehrheitlich männlichen Geschlechts sind und die Damenmode wesentlich stärker beeinflussen als ihre Berufskolleginnen?

Die problemorientierte Arbeitsweise und zweckbetonte
Designauffassung von Mode-Designerinnen

Aus den Biografien früherer und heutiger Modeschöpferinnen kann eine Erklärung abgeleitet werden, die über die Rückführung auf die männliche Schneiderhandwerkstradition hinausgeht. Obwohl die Designauffassungen in erster Linie individuell verschieden sind, kann bei näherer Betrachtung gleichfalls wie zu Beginn erwähnt - eine geschlechtsspezifische Differenzierung vermutet werden. Dabei unterscheiden sich Frauen von Männern in ihrer Arbeitsweise, Kleiderphilosophie wie auch in bezug auf das ihnen beim Entwurf vorschwebende Frauenbild.
Frauen - so scheint es - stellen ihrer Arbeit eher eine Problemorientierung voran. Sie entwerfen Kleidung für eine Klientel mit speziellen Bedürfnislagen.
Coco Chanel revolutionierte die Damenkleidung, weil sie Kleidung für die selbständige, vom Mann unabhängige "moderne Frau" kreieren wollte. In diesem Sinne entwirft auch Jil Sander Kleidung für "Karriere-Frauen." Auch die Berliner Designerin Brigitte Haarke schaffte den Durchbruch, indem sie mit ihrer "Mode für Mollige" nicht nur eine Problemlösung, sondern auch eine Marktlücke fand.
Die Mode-Designerinnen haben demnach ein konkretes Frauenbild vor Augen, das sich nicht nur bei den drei beispielhaft aufgeführten Designerinnen, sondern in vielen Fällen an der eigenen Person orientiert.

Die abstrakten Visionen der Männer

Wenn Männer für Frauen Kleidung entwerfen, kann ihnen die eigene Person natürlich nicht in dem Maße dienen. Sie orientieren sich stattdessen an einem Frauenbild, das ihrer Wunschvorstellung entspricht; realitätgetreu muß es nicht sein. Emanuel Ungaro liebt, wie er sagt, an Frauen besonders die Verführung. Die erotische Ausstrahlung der Frau steht für ihn beim Entwurf im Vordergrund.
Yves Saint Laurent, so kann man lesen, »liebt die Frauen. Aber nicht als naturhaftes Wesen, auch nicht die Femme fatale; Yves Saint Laurent liebt die Frau, die niemals aus der Rolle fällt, die sich perfekt bewegt und immer weiß, was sich gehört. Für sie entwirft er seine distinguierte Mode.«[19]
Azzedine Alaia läßt die Frauen eher nackt als angezogen erscheinen, wenn er ihnen die Kleider hauteng auf den Leib schneidert. Die Betonung der Körperformen soll als Huldigung an den weiblichen Körper verstanden werden. In diesem Sinne vervollständigen seine Kleiderideen die Frau zum Gesamtkunstwerk.[20]
Für den Mailänder Modedesigner Romeo Gigli besteht ein großer Unterschied im Entwerfen von Männer- und Frauenkleidung. In einem 1987 veröffentlichten Interview mit dem "Wolkenkratzer-Art-Journal" sagt er: "Eine Frau muß ein Traum sein, also kann ich es mir leisten, meine Vorstellung frei fließen zu lassen. Eine Frau ist ätherisch, sie besteht aus Poesie. Bei Männern ist Kleidung hauptsächlich ein praktisches Problem: ein Jackett, ein Paar Hosen und ein Sweater. Ich will einfach Kleidung machen, die, ohne daß man nachdenken muß, getragen werden kann, in der man tun kann, was man tun will. Sie ist auch viel einfacher zu entwerfen. Am Morgen mach' ich einfach meinen Wandschrank auf und trage die ersten Sachen, die ich sehe. Wenn ich eine Frau wäre, dann wäre es anders. Eine Frau ist hinreißend, das ist eine ihrer Eigenschaften, eines der schönen Dinge an ihr".
Yohji Yamamoto inspiriert die Frau zu Entwürfen für Damen- und Herrenmode: " Der Körper einer Frau mit seinem Reichtum an Formen provoziert mich zu immer neuen Silhouetten. Der männliche Körper inspiriert mich nicht. Er ist viel schlichter, geheimnisloser."[21] Anmut und natürliche Sicherheit sind Eigenschaften, die er an Frauen besonders schätzt. Frauen mit hochhackigen Schuhen und Schlitz im kurzen engen Rock mag er nicht. Ebenso wie Arinanis Entwürfe, jedoch auf eine andere Weise, haben Yamamotos Kleider keinen direkten erotischen Aufforderungscharakter. Sie lassen die Frauen vielmehr geheimnisvoll kühl und distanziert erscheinen.
Issey Miyakes Kleider sind eher abstrakte Körperskulpturen, über welche die berühmte Diana Vreeland einmal sagte: "In seinen Kleidern steht man sich selbst nackt gegenüber, lernt laufen, als hätte man nie zuvor einen Schritt getan."
Der Franzose Christian Lacroix revolutionierte die Haute Couture mit bizarren kniekurzen Ballonröcken, die wie Theaterkostüme anmuten.
Wenn Mode-Designer heute als Stars der Alltagskultur gelten können, dann ist Jean-Paul Gaultier wohl der eindrucksvollste. Er brachte androgyne Elemente in die Mode: »Wir bewegen uns auf die androgyne Gesellschaft zu. In jedem Menschen steckt etwas von beiden Geschlechtern.«[22]
Gaultier stellt traditionelle Zwecke und Symbole von Kleidern auf den Kopf und arrangiert diese Versatzstücke geschickt zu einem schrillen Outfit. Daher nennt man ihn auch den "Hofnarren der Mode". Gaultier war der erste, der anstelle von Models einfach Menschen von der Straße auf den Laufsteg schickte, um seine Kollektion vorzustellen.

»Dress-to-success« versus »Dress-to-impress«

Diese beispielhafte Gegenüberstellung der Intentionen männlicher und weiblicher Mode-Designer erweckt den Eindruck, als machten Frauen für Frauen den »Dress-to-success« und Männer für Frauen den »Dress-to-impress«. Dieser Vermutung entspricht die Antwort, die Charlotte Seeling, Chefredakteurin der deutschen »marie-claire« in der Fernsehsendung »Mona Lisa« auf die Frage gab, ob Damenmode von Männern besser gemacht würde als von Frauen: »Das kommt darauf an, für welche Gelegenheit: für den Tag finde ich, daß Frauen das heute besser machen; z. B. Jil Sander ist nicht umsonst die Nummer 1 in Deutschland unter den Designer. In Amerika hatte den größten Erfolg Donna Karan in den letzten Jahren, auch eine berufstätige Frau, die weiß, was andere Frauen im Alltag brauchen. Die Männer sehen Frauen oft gern als Knallbonbon, in ganz engen Kleidern und kurzen Röcken und tiefem Dekolleté. Wenn es mir Spaß macht am Abend, dann gehe ich auch gern mal als Knallbonbon. Da sind die Männer vielleicht dann kreativer.«

               

 

Der Modeschöpfer Emanuel Ungaro glaubt, daß Frauen wie auch Männer gute Kleidung für Frauen machen können. Den Männern räumt er allerdings mehr Möglichkeiten ein, da sie den größeren Abstand haben. Das Zutreffen dieser Überlegung würde jedoch umgekehrt bedeuten, daß die Frauen die berühmteren und erfolgreicheren Designerinnen für Männermode stellen. Dies kann so eindeutig allerdings nicht behauptet werden. Ebenso kann man nicht explizit sagen, daß Frauen ausschließlich problemorientiert entwerfen. Sonia Delaunays Kleiderentwürfe waren vorrangig künstlerisch inspiriert und Elsa Schiaparelli, die auch "shocking Elsa" genannt wurde, kreierte in Zusammenarbeit mit Künstlern surrealistische Kleider.[23]
Auch Varvàra Stepànova, eine Künstlerin der russischen Avantgarde, entwickelte bereits 1922 Kleidungsstücke, die, obwohl unter der Prämisse der Funktionalität entstanden, noch heute Avantgarde-Designer zu neuen Ideen anregen.[24]
Jean-Paul Gaultier verehrte die britische Szene-Designerin Vivienne Westwood, die derzeitig bekannteste Frau für experimentelle Kleiderentwürfe "jenseits jeglicher Nützlichkeit."
Sie gilt als die Mutter der Punkbewegung und wird von Fachleuten als eine der einflußreichsten Modeschöpferinnen der Gegenwart bezeichnet. Im Herbst 1990 wird sie die Modeklasse der Wiener Hochschule für Angewandte Kunst übernehmen und löst damit den Designer Jean Charles de Castelbajac ab.
Grundsätzlich lassen die Beobachtungen jedoch folgende Unterscheidung zu: Männer sind vorrangig an der Entwicklung und Realisation ihrer Vision interessiert, während Frauen ihre Idee auf einen konkreten Anlaß ausrichten. Frauen scheinen hier, ähnlich wie in vielen anderen Lebensbereichen, vernunftorientierter zu sein als die Männer, die ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Daß nur wenige Frauen ihre Kleider tragen können, hindert die Männer nicht daran, erst einmal an der dahinterstehenden Grundidee festzuhalten.
Jedoch: Natürlich müssen auch die Männer ihre Kreativität zügeln, wenn sie ihre Entwürfe verkaufen wollen. Das wird deutlich, wenn man die spektakuläre Wirkung einer Modenschau von Thierry Mugler oder einer Kollektionspremiere von Gaultier mit dem doch recht braven Eindruck vergleicht, welchen die einzelnen Kleidungsstücke dann auf dem Bügel im Geschäft haben. Das Interessante aber ist, daß gerade die experimentelle Auseinandersetzung erst die Innovationen hervorbringt, von denen die Mode schließlich lebt. Denn die Freiheit der spielerischen Möglichkeiten überwindet das Herkömmliche, um Neues zu schaffen.
Den Männern fällt es offensichlich leichter, davon Gebrauch zu machen. Auch wenn Frauen dafür in der "Not" erfinderischer sind, so erlangen doch die Männer mit ihren "gesponnenen" Ideen mehr gesellschaftliche Anerkennung. Ihre raffinierten bis skurrilen Kleiderentwürfe rühren an die Sehnsüchte und Wünsche, die insgeheim in vielen Frauen schlummern. Traum und Illusion sind ja wesentliche Bestandteile der Mode - und erträumt wird bekanntlich nicht das tatsächlich Realisierbare sondern vielmehr das unerreichbare Fantastische.
Dieses allein erklärt aber nicht, warum in der Mode hauptsächlich der Mann die Aufgabe des Visionärs und Innovators übernimmt.

Warum also gibt es keinen weiblichen Gaultier?

Um genauer zu sein, müßte man fragen, warum es so wenige Designerinnen gibt, die wie Gaultier die Freiräume der Fantasie ausschöpfen und weitläufige Trends setzen. Eine Designerin, die wie Gaultier oder Moschino zugleich Konventionen in Frage stellt, durch "schräges" Design provoziert, dabei anerkannt ist und aus dem ganzen ein profitables Showgeschäft zu inszenieren verstehen, gibt es offensichtlich nicht.

Kulturelle Ursachen

Zunächst einmal können kulturelle Ursachen für die eher zweckorientierte Designauffassung der Frauen verantwortlich gemacht werden. Der Hinweis auf die männliche Tradition des Schneiderhandwerks hat verdeutlicht, daß die Frauen erst damit begonnen haben, sich eine angemessene Position im Modegeschehen zu erobem.

Evolutionsgenetische Bedingungen

Die Mentalitätsunterschiede zwischen Mann und Frau, die wir im Mode-Design beobachten, sind auch, ähnlich gelagert, in anderen Lebensbereichen vorzufinden.
Es kann daher angenommen werden, daß die biologische Verankerung des Menschen auch heute noch einen sehr starken Einfluß auf die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ausübt. Auch Wolfgang Wickler und Uta Seibt weisen darauf hin: »In allen menschlichen Gesellschaften hat das biologisch vorgegebene Geschlecht weitreichende soziale Konsequenzen und bestimmt die biologische wie kulturelle Differenzierung des Verhaltens.«[25] Demnach kann die Geschlechterdifferenzierung als eine mögliche Ursache dafür angesehen werden, daß sich männliche und weibliche Kreativität in ihrer Ausrichtung unterscheiden. Zugrunde gelegt wird dabei, daß es sich bei Mann und Frau um verschieden spezialisierte Geschlechter handelt, die zum Zwecke der effektiven Fortpflanzung eine Symbiose bilden.
Mann und Frau haben geschlechtstypische Aufgaben und sind mit entsprechend spezifischen Verhaltenskomplexen ausgestattet. Die Kooperation der beiden Geschlechter wird durch kulturelle Rollenklischees abgesichert. Die Frau erfüllt primär die Funktion der Arterhaltung, da sie die Fähigkeit besitzt, Kinder zu gebären. Ihr Körperbau und ihre Physiologie sind darauf ausgerichtet. Sie übemimmt die Verantwortung für die Nachkommen und ist für die Kinderpflege und die Erziehung zuständig. Aus dieser Aufgabe ergibt sich die tragende Rolle der Frau in bezug auf die Sicherung kultureller Werte und das Bewahren von Traditionen.[26] Die für uns heute noch bedeutsamen Fertigkeiten der neolithischen Kultur wie das Töpfern, Korbflechten, Spinnen, Weben, Kochen und Färben gehen auf die Frau zurück.[27] Der sorgenden Frau entspricht der Mann als Jäger und Verteidiger. Seine Ausstattung ist primär auf den Konkurrenzkampf mit gleichgeschlechtlichen Gegnern angelegt. Daher verfügt er über einen Verhaltenskomplex, der es ihm ermöglicht, eigennütziger zu handeln als eine Frau. Vermutlich ist die Frau durch ihre stammesgeschichtlich bedingte Spezialisierung auch in ihrer Kreativität mehr auf eine sorgende Haltung hin geprägt. Die Intention des Bewahrens und Sicherns liegt ihr näher als die Eroberung neuen Terrains; hierzu müßte sie zunächst Sinn und Zweck erkennen. Der Mann, so finden wir es im Mode-Design auch bestätigt, ist eher auf Eroberung und Überwindung geprägt. Die Ausrichtung seiner Kreativität beinhaltet Innovation und Zerstörung zugleich. In der Geschichte vieler menschlicher Kulturen gibt es Hinweise auf eine derartige Symbiose der Geschlechter. Da sich die biologischen Geschlechterrollen zunehmend auflösen, kann eine Zuordnung spezifisch weiblicher oder männlicher Eigenschaften nicht explizit bewiesen werden.
Unser Beispiel »Mode-Design« zeigt jedoch, daß die geschlechtstypischen Spezialisierungen tendenziell immer noch existieren - und vermutlich auch notwendig sind.
Eine Frau kann und sollte sich auch dazu bekennen, aber gerade die Festlegung der Frau auf ihre stammesgeschichtlich bedingte Aufgabenstellung erschwert ihre gesellschaftliche Gleichstellung mit dem Mann. Aus diesem Grund werden von feministischer Seite Theorien, die auf eine biologische Geschlechterdifferenzierung abheben, eher abgelehnt. Daß eine Frau ihre »typisch weiblichen« Eigenschaften keinesfalls negieren sollte, zeigen unsere Beobachtungen im Mode-Design. Designerinnen wie Coco Chanel, Jil Sander, oder Donna Karan verdeutlichen beispielhaft, daß sich bei Frauen der Erfolg gerade dann einstellt, wenn sie - im Sinne ihrer biologischen Spezialisierung - problemorientiert arbeiten. Ausgerichtet auf eine konkrete Zielsetzung sind sie auch innovativ tätig.
Der Durchbruch gelingt ihnen in unserer immer noch von Männern dominierten Welt erst dann, wenn sie in der Lage sind, neben der »weiblichen Intuition« auch »männliche« Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen und rationales Kalkül gezielt einzusetzen.

Texttyp

Feministische Essays