We don't need no education...

Der folgende Text war ursprünglich als einleitender Beitrag zur Vorstellung unseres Forschungsprojekts »Subjektentwicklung in der Truhen Kindheit« (SUFKI) auf der Volksuni 1981 gedacht. Da (damals) im Projekt kein Konsens darüber zu erzielen war, ob dieser Text bestimmte Intentionen unserer Arbeit angemessen widergibt, kamen wir jedoch zu der Einschätzung, daß der Zeitpunkt einer öffentlichen Projektdarstellung verfrüht sei, und sagten die Veranstaltung ab.

Damit hätte die Angelegenheit erledigt sein können, wenn wir den Text nicht an einige von unserer Absage enttäuschte Kollegen weitergegeben hätten. Dadurch kam das Papier nämlich in Umlauf, wurde hier und da zitiert etc. Als daraufhin die Bremer Studentenzeitschrift »Hans & Albert« bei uns anfragte, ob der Text dort abgedruckt werden könnte, hatten wir - angesichts des mehr internen Charakters einer solchen Verbreitung - nichts dagegen einzuwenden. Die bald danach von der Zeitschrift »Demokratische Erziehung« an uns herangetragene Bitte, das Papier veröffentlichen zu dürfen, lehnten wir jedoch mit der Begründung ab, daß der isolierte Text, der ja nicht zur Publikation bestimmt war, für eine breite (mit den Positionen der Kritischen Psychologie nicht so vertraute) Leserschaft mißverständlich sein könnte. Dies allerdings hinderte die »DE« nicht daran, die Überschrift des Papiers, »We don't need no education».« (mit einem Fragezeichen versehen) zum Motto des Schwerpunkts von Heft 5, 1982 zu machen. Dabei wurde in den dort abgedruckten Beiträgen von V'oets, Doormann und Schindler ausgiebig auf das Papier Bezug genommen - und dies, ohne daß die Leser den Text im Ganzen kennen und so überprüfen konnten, ob das, was dort zustimmend oder kritisch darüber gesagt wurde, das Papier trifft. Schon dadurch sehen wir uns gezwungen, es nun doch unsererseits als Grundlage für die Urteilsbildung des Lesers zu veröffentlichen. Eine solche Publikation wird aber besonders dringlich durch die in dem genannten »DE«-Heft enthaltenen Mißverständnisse und Mißdeutungen der in dem Papier vorgetragenen Auffassungen und daran ansetzende Mythenbildungen über unser angebliches pädagogisches Konzept der »No education«.
Wesentlicher Anlaß für Mißdeutungen wie Mythen ist offensichtlich die Überschrift des Papiers, »we don't need no education ».«, die von allen genannten Autoren und der »DE«-Redaktion mißverstanden wurde: Es handelt sich dabei um ein Zitat aus dem bekannten Lied von Pink Floyd, in dem Kinder darüber singen, daß sie die »Erziehung«, die man ihnen angedeihen läßt, nicht haben wollen. Welche Art von »Erziehung« sie dabei meinen, verdeutlicht sich an der nächsten Liedzeile: »We dont't need no thought control«. Das »we don't need no« in der Überschrift des Papiers verweist also auf eine bestimmte Widerspruchssi-tuation, die darin besteht, daß Kinder und Jugendliche unter bestimmten Bedingungen in einer generellen Haltung des Widerstandes gegenüber »Erziehung« sich befinden. Von den Ursachen und Konsequenzen dieses Widerspruchs/Widerstandes, und von nichts anderem, ist denn auch in dem Papier die Rede. Es ist also barer Unverstand, wenn man das »We don't need no« programmatisch deutet, also als Motto einer positiven pädagogischen Position verdreht, in welcher global Erziehung für überflüssig gehalten wird. - So ist dann auch der Boden bereitet für die noch weitergehende Mißdeutung, in welcher (etwa von Voetsj das Papier als eine Art von pädagogischem Manifest in eine Reihe mit Reformpädagogik, Antipädagogik, antiautoritärer Erziehung, Entschulung gestellt wird. Dabei ist nicht nur die ja in umfassender Ausarbeitung vorliegende Konzeption marxistisch fundierter Subjektwissenschaft als theoretischer Hintergrund des Papiers ausgeklammert, sondern offensichtlich auch sein Inhalt nicht zur Kenntnis genommen: Allein das falsch verstandene Schlagwort der »No-Education« erscheint hier für entsprechende Einordnungen und Bewertungen hinreichend. - Um es also nochmals deutlich zu sagen: Einen »No-education«-Ansatz von Klaus Holzkamp, wie ihn etwa Schindler (DE 5, 1982, S.43) beschwört, gibt es nicht. (Jeder, der uns kennt, weiß, daß wir einen solchen Ansatz etwas ausführlicher und umfassender begründen würden als durch das folgende kleine Diskussionspapier mit der provokanten Überschrift.)
Ich hatte ursprünglich vor, dem »We-don't need no«-Text, da er ja offenbar sehr mißverständlich ist, eine ausführliche klärende Einleitung voranzustellen. Nachdem ich jetzt das Papier noch einmal gelesen habe, erscheint mfr dies jedoch überflüssig. Die Mißverständnisse, die ihm gegenüber produziert werden, sind nämlich in dem Text selbst schon hinreichend geklärt: Daraus geht eindeutig hervor, daß hier nicht Erziehung als solche, sondern nur eine bestimmte Art von »Erziehung« in einer historisch bestimmten Widerspruchssituation gemeint ist. Dem ausdrücklich als bürgerlich-humanistisch bzw. reformpädagogisch zugewiesenen Konzept des »Wachsenlasscns« ist das materialistische Konzept der Entwicklung aufgrund gesellschaftlicher Lebensnotwendigkeiten des Kindes etc. gegenübergestellt. Ebenso klar ist zum Ausdruck gebracht, daß hier als Alternative zur »Erziehung«, wie sie die Pink-Floyd-Kinder besingen, nicht das »Garnichts-mn« der Erzieher, sondern eine Unterstützungstätigkeit der Erwachsenen im wirklichen Entwicklungsinteresse der Kinder herausgestellt wird, etc. Ich spreche deshalb statt aller ausführlichen Kommentare und Erläuterungen nur die Empfehlung aus, den Text (der hier mit minimalen textlichen Korrekturen in der Originalfassung belassen ist) unter Berücksichtigung seiner besonderen Entstehungsgeschichte und Funktionszuschreibung und ohne vorschnelle Einordnungen in gängige pädagogische Denkschemata - in Ruhe zu lesen.
Was man dabei allerdings nicht finden wird, ist eine Explikation der theoretischen Grundlagen des dargelegten Position (damit wollten wir die Volksuni-Hörer nicht belasten, sondern lieber notwendige Erklärungen mündlich beisteuern). Ebensowenig wird man ausführliche Darlegungen über die Eigenart von Erzie-hungsaktivitäten, die durch die Unterstützungstätigkeit der Erwachsenen bestimmt sind, finden (darüber wollten wir auf der Volksuni in drei weiteren, anschließenden Beiträgen unter Aufarbeitung unserer Projekt-Befunde etwas sagen). - Weitere Klärungen in beiden Richtungen habe ich in einem auf der »Marxistischen Woche« 1982 des IMSF in Köln gehaltenen Vortrag »Was kann man von Karl Marx über Erziehung lernen?« versucht (der in DE 1, 1983 unter dem Titel »Über die Widersprüchlichkeit fortschrittlicher Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft« veröffentlicht wird).
Manche von Euch haben sicherlich das Thema unserer Veranstaltung mit dem Pink-Floyd-Zitat: »We don't need no education - zur Problematik der 'Erziehungsziele'« etwas fragwürdig gefunden: Fallen die Kritischen Psychologen damit auf die antiautoritäre Phase zurück? Da dies unwahrscheinlich ist, werden sie wohl ihr eigenes Thema nicht so ernst genommen haben. Vermutlich wurde es nur als provokative Anreiße eingeführt, die man dann während der Veranstaltung wieder zurücknimmt, indem man versichert, man denke »natürlich« nicht daran, die Erziehung abschaffen zu wollen, sondern habe nur einige damit verbundene Probleme aufwerfen wollen etc. - Nun, es wird sich ja im folgenden herausstellen, wie ernst wir unser Thema genommen haben und was wir damit zum Ausdruck bringen wollten. Damit dies klar werden kann, wollen wir am Anfang zunächst einiges darüber sagen, was wir hier unter »Erziehung« und »Erziehungszielen« verstehen, richtiger: was »man« unter unseren gesellschaftlichen Verhältnissen »normalerweise« darunter versteht.
Wenn man von »Erziehung« redet, so meint man damit gemäß den bei uns herrschenden Vorstellungen üblicherweise nicht lediglich einfach nur Aktivitäten, bei denen man von einander lernt, sich oder anderen Aufgaben stellt und bemüht ist, sich wechselseitig dazu anzuhalten, diese Aufgaben auch zu erfüllen. Von »Erziehung« wird sogar meist selbst dann nicht gesprochen, wenn man von jemandem etwas lernt, der auf dem fraglichen Gebiet mehr weiß oder kann, als man selbst. (Ein Student, der von einem Dozenten in der Vorlesung etwas gelernt hat, wird sich mit Recht dagegen verwahren, er sei von diesem damit auch »erzogen« worden, ebenso, wie sich viele Dozenten dagegen verwahren werden, als »Erzieher« der Studenten fungieren zu sollen.) »Erziehung« meint vielmehr gemeinhin eine Sonderveranstaltung zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen, die sich aus deren besonderem Verhältnis zueinander begründet.
Dabei macht man »selbstverständlich« folgende Prämissen:

  1. Der Erwachsene vertritt dem Kind gegenüber gesellschaftliche Anforderungen hinsichtlich bestimmter Fähigkeiten und Haltungen, die das Kind zunächst nicht nur nicht erfüllen kann, sondern auch nicht erfüllen will bzw. erfüllen wollen kann.
  2. Die »Erziehung« der Kinder durch die Erwachsenen besteht demgemäß aus »Maßnahmen«, mit welchen das Kind fähig und willig zur Erfüllung der genannten Anforderungen, damit zu einem selbständig lebensfähigen, für sich und andere nützlichen Mitglied der Gesellschaft gemacht werden muß. 
  3. »Erziehung« impliziert demgemäß unvermeidlich immer auch eine Machtausübung der Erwachsenen gegenüber den Kindern, die sich erst in dem Maße reduzieren kann, wie das Kind selbst gelernt hat, das Notwendige und Nützliche zu tun. 
  4. Zu problematisieren wäre nicht die Tatsache einer derart verstandenen »Erziehung«, sondern lediglich deren Art; es wäre also etwa zu fragen, wie weit die Erziehung in »demokratischem« oder »autoritärem« Stil erfolgt, wieweit dabei in »kindgemäßer« Weise Überforderungen, aber auch Unterforderungen vermieden werden, wieweit die Erwachsenen den Kindern freundlich und liebevoll gegenübertreten oder ihre Forderungen hart oder gleichgültig durchdrücken etc.

Im Hinblick auf die Ziele der Erziehung folgt aus solchen Vorstellungen:

  1. Der Erwachsene kennt die Ziele, die in der Erziehung zu verfolgen sind, und wirkt entsprechend auf das Kind ein.
  2. Der Erwachsene versucht nach Möglichkeit, dem Kind die Notwendigkeit der Erziehungsziele zu vermitteln, so daß das Kind den von den Erwachsenen gestellten Anforderungen aus Einsicht in deren Berechtigung und Nützlichkeit genügen kann. 
  3. Sofern aufgrund des noch begrenzten Entwicklungsstandes des Kindes eine solche Einsicht nicht vermittelbar ist, muß der Erwachsene die Erziehungsziele auch gegen den Widerstand des Kindes durchsetzen, und damit die langfristigen Interessen des Kindes an dessen Stelle, quasi »stellvertretend« für das noch einsichtsarme Kind, warhnehmcn; eine derartige (natürlich wiederum in »kindgemäßer« und »demokratischer« Form etc. vorzunehmende) Disziplinierung des Kindes rechtfertigt sich für den Erwachsenen dem Kind gegenüber daraus, daß das Kind (wie antizipierbar ist) später, bei höherem Einsichtsstand, die Durchsetzung der Erziehungsziele als in seinem Interesse liegend billigen und dem Erwachsenen u.U. sogar danken wird. Dabei wäre ein wesentliches Moment der »Verantwortung« des Erziehers gegenüber der Gesellschaft, damit auch gegenüber dem Zögling, angesprochen. 
  4. Auch hinsichtlich der Erziehungsziele wäre mithin nicht die Tatsache des Setzens von »Erziehungszielen« (wie geschildert), sondern allein deren Inhalt zu problematisieren: Für »Linke« (wie sie ja wohl mehrheitlich in diesem Raum versammelt sind) käme es mithin darauf an, möglichst »fortschrittliche« Erziehungsziele zu formulieren und beim Kind zu realisieren, nach dem Motto: »Erziehung zur Demokratie«, »Erziehung zum Frieden«, »Erziehung zu« einer kritischen Haltung gegenüber dem Kapitalismus, »Erziehung zur« Selbständigkeit, »zur« Fähigkeit, seine eigenen Interessen zu erkennen und organisiert durchzusetzen, etc. Die gesellschaftliche »Nützlichkeit«, auf die hin die »Linken« ihre Kinder zu erziehen hätten, wäre mithin die Nützlichkeit bei gemeinsamen gesellschaftsverändernden Aktivitäten oder so ähnlich.

Vielleicht wird manchen von Euch bei meiner Darstellung der gängigen Vorstellungen über »Erziehung« und »Erziehungsziele« etwas unbehaglich geworden sein. Manches daran »paßt« einem sicherlich nicht und fordert sozusagen den »antiautoritären Protest« heraus. Bei etwas genauerem Hinsehen wird man aber finden, daß es gar nicht so leicht ist, etwas Fundiertes dagegen einzuwenden - zumal ja die Erziehungspraxis in unserer Gesellschaft weitgehend von solchen Vorstellungen geprägt ist und damit - wenn auch recht und schlecht - die individuellen Fähigkeiten und Haltungen zur Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens immer wieder »anerzogen« werden. Besondere Probleme ergeben sich dabei aus der am Schluß benannten Möglichkeit, im Rahmen dieser Erziehungsvorstellungen auch »fortschrittliche« Ziele zu verfolgen. - Was kann man denn dagegen haben?
Um die Gründe für unsere Problematisierung derartiger Erziehungsvorstellungen und -praktiken zu verdeutlichen, hebe ich zunächst eine globale Voraussetzung heraus, die hier drinsteckt: Man nimmt nämlich an, daß die Kinder von sich aus zunächst ungesellschaftliche Wesen sind, denen man die Gesellschaftlichkeit, sei es mit Zwang oder Liebe oder einer Mischung aus beidem, von außen aufprägen muß. Gerade in dem Diktum der Erziehung zu gesellschaftlicher Nützlichkeit steckt sogar beinahe drin, daß die Kinder zunächst quasi »Schädlinge« sind, gesellschaftsabträgliche Neigungen haben, die man ihnen in der Erziehung »austreiben« bzw. in nützliche Neigungen transformieren muß (eine Auffassung, die ja in der Psychoanalyse wissenschaftlich stilisiert worden ist). - Demgegenüber folgt nun aber aus unserem Grundkonzept der subjektiven Notwendigkeit der immer erweiterten Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensumstände, aber auch aus unseren dieses Konzept konkretisierenden Projekt-Erfahrungen, daß das Kind sich selbst, sozusagen aus »eigenem Antrieb«, individuell vergesellschaften muß. Dies nicht deswegen, weil in ihm irgendein »intrinsischer« Wachstumstrieb im Sinne der »humanistischen Psychologie« oder Reform-Pädagogik steckt, sondern weil es nur so seine Ausgliefertheit und Angst überwinden kann: Wir haben aufgewiesen, daß ein angstfreies Dasein, damit sowohl produktive Daseinserfüllung wie sinnliche Befriedigung in »menschlicher« Form, nur in dem Grad erreichbar ist, wie das Individuum in »kooperativer Integration« gemeinsam mit anderen bewußt seine Lebensverhältnisse vorherbestimmt, damit auch vorsorgend die Grundlagen für seine elementare Bedürfnisbefriedigung schaffen kann. Demnach muß das Kind also in seinem ureigensten Lebens- und Entwicklungsinteresse seine Fähigkeiten zur Realitätsverfügung entwickeln, kooperative Beziehungen aufnehmen, dabei von anderen lernen, gesellschaftliche Erfahrungen sich aneignen: Nur so kann es seine kindliche Ausgeliefertheit schrittweise reduzieren, seine Angst loswerden und aus dem, was es schon an Nützlichem kann und damit aus der Bedeutung, die es auch für andere hat, das Kraftgefühl der eigenen Unabhängigkeit, Sicherheit und Spaß am Leben gewinnen. Wer Säuglingen wirklich zusieht, der weiß, daß die Höhepunkte ihres Daseins nicht darin bestehen, daß sie hungrig sind und befriedigt werden, sondern in der Zwischenzeit liegen, wo sie weder hungrig noch satt sind (und wo nach psychoanalytischen und verwandten Vorstellungen eigentlich gar nichts passieren dürfte): »Menschliches« Glück und »menschlicher« Kontakt mit den Eltern entsteht etwa dann, wenn der Säugling nach langen und hartnäckigen Anstrengungen, die Schnur zum Mobile erwischt hat
und nun jubelnd und stolz das Ding selbst in Bewegung setzen kann. - Wenn die Kinder sich aber selbst aus subjektiver Notwendigkeit gesellschaftlich nützliches Wissen und Können aneignen wollen: Ist dann eine Erziehung, die eben dies den Kindern abfordert und notfalls abzwingt, nicht eine überflüssige Verdoppelung und eigentlich irgendwie paradox? Mancher wird dem nun sofort entgegenhalten: Was ihr da an kindlicher Entwicklungs- und Lemwilligkeit etc. schildert, ist doch Euer Idealbild, das mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun hat. Tatsächlich sind doch da die passiven, weinerlichen, nörgelnden, aufsässigen, eigensinnigen, faulen Kinder, die den gesellschaftlichen Anforderungen, die Du als Erwachsener vertrittst, nicht nachkommen v/ollen, die alles liegen lassen, alles kaputt machen, frech im Kindergarten, schlecht in der Schule sind, und deren eigene wohlverstandene Interessen Du deswegen permanent gegen ihre Un-einsichtigkeit und Unwilligkeit durchsetzen mußt. Das geschilderte gängige Konzept von »Erziehung« und »Erziehungszielen« sei deswegen (einerlei ob man es nun schön finden will oder nicht) doch einfach realistisch: Man könne sich ja in der »Theorie« da alle möglichen Alternativen ausdenken, in der »Praxis« sei damit nichts anzufangen, und in diesem Stil weiter. - Wir würden darauf antworten: Sicher, sicher. Das leugnen wir natürlich auch gar nicht, daß es massenweise solche Kinder gibt. Aber: Diese Kinder sind ja nicht von Natur aus so. Wenn sie jetzt faul, aufsässig, widerspenstig, passiv sind, dann auch deswegen, weil man ihnen vorher den Spaß am Lernen und an der Selbstentwicklung gründlich ausgetrieben hat, und immer noch weiter austreibt, und gerade durch jene Art von »Erziehung«, die den Zustand der Lern- und Entwicklungsunwilligkeit permanent beseitigen will. Wir können das hier sogar noch zuspitzen: Es sind häufig eben gerade jene von den Erwachsenen vorgegebenen und durchgesetzten »Erziehungsziele«, die eine Entwicklung der Kinder in Richtung auf die Realisierung solcher Ziele behindern oder unmöglich machen. Eine so gefaßte Erziehung wäre demnach zu weiten Teilen eine systematische Entwicklungsbehinderung - und dies unabhängig vom Inhalt der Erziehungsziele, also auch im Falle von deren »Fortschrittlichkeit«: Eine in der geschilderten Weise von den Erwachsenen betriebene »Erziehung zum Frieden« oder »zur Selbständigkeit« würde also in Wahrheit die Entwicklung von Persönlichkeiten, die tatsächlich für den Frieden kämpfen, ihre eigenen Interessen kollektiv vertreten werden, etc. eher behindern. Von da aus wäre dann auch die eigentliche gesellschaftliche Funktion dieser Art von »Erziehung« zu verdeutlichen: Überall da, wo zwischenmenschlich vermittelte Lernprozesse zwischen Erwachsenen und Kindern zur »Erziehung« der Kinder durch die Erwachsenen formiert werden, geht es (ob die Beteiligten das nun wissen oder nicht) um Beschränkungen der Entwicklung in Richtung auf erweiterte kollektive Selbstbestimmung als Vorbereitung auf die fremdbestimmte Erwachsenenexistenz unter bürgerlichen Klassenverhältnissen. Das Kind »lernt« so mit Hilfe der »Erziehung«, indem es notwendige und nützliche Dinge lernt, gleichzeitig immer auch, sich zu bescheiden, sich zu individualisieren, sich einzurichten und anzupassen. Und die Erwachsenen vertreten so, auch da, wo sie in ihren inhaltlichen Erziehungszielen das Gegenteil bewirken wollen, allein durch die Tatsache, daß sie ihre Kinder in der geschilderten Weise »erziehen«, den Kindern gegenüber weniger allgemeine gesellschaftliche Interessen als die Interessen der Herrschenden.
Diese ziemlich weitgehende Behauptung, »Erziehung« als Sonderveranstaltung enthalte als wesentliches Bestimmungsmoment das der partiellen Entwicklungsbehinderung im Interesse der Herrschenden, muß natürlich nun näher begründet werden. Dazu ist zunächst eine Bemerkung über den wissenschaftstheoretischen Status der kritisch-psychologischen Grundkategorien, wie »subjektive Notwendigkeit zu bewußter gemeinsamer Umweltverfügung in kooperativer Integration« o.a. nötig: Wie aus den letzten Darlegungen schon hervorgeht, handelt es sich dabei nicht um normative Begriffe, in welchen Idealzustände angezielt oder an der vorfindlichen Realität nur das »Ideale« herausgehoben wird, sondern um analytische Begriffe, mit welchen für die Betroffenen an deren gegebenen Befindlichkeiten und Weltbeziehungen das darin liegende Verhältnis zwischen den Notwendigkeiten/Möglichkeiten erweiterter gemeinsamer Welt Verfügung, damit Angstüberwindung etc. einerseits und den historisch bestimmten Behinderungsbedingungen, durch welche die Realisierung dieser Notwendigkeiten und Möglichkeiten eingeschränkt ist, andererseits, durchschaubar werden soll. Damit soll gleichzeitig, indem an der jeweils gegenwärtigen eigenen Lage die Widersprüchlichkeit zwischen deren Wirklichkeit und der Möglichkeit erweiterter Weltverfügung etc. faßbar wird, für die Betroffenen der entwicklungslogisch nächste Schritt der Überwindung von Ausgeliefertheit und Angst in Richtung auf bewußte gemeinsame Selbstbestimmung der eigenen Lebensverhältnisse etc. erkennbar und lebenspraktisch realisierbar werden. - Wenn also vorhin behauptet wurde, die Passivität, Lernunwilligkeit der Kinder, ihre Tendenz, die allgemeinen und eigenen Interessen zu verletzen etc., seien wesentlich auch das Resultat eben jener »Erziehung«, die diesen Zustand dann durch fremdgesetzte Anforderungen und Disziplinierungen zu ändern trachtet, so heißt das von unserer Konzeption aus: An der Erziehung sind jene entwicklungsbe-hindernden Faktoren aufzuweisen, durch welche die subjektive Notwendigkeit der Kinder zur Verfügung über ihre eigenen Lebensumstände in kooperativer Integration eben jene Erscheinungsform annimmt, in welcher sie als ihr Gegenteil, nämlich eben Resignation, Lernunwilligkeit, Unselbständigkeit, Destruktivität, Unfähigkeit zur Wahrung eigener Interessen, etc. zutagetritt, womit die Disziplinierung der Betroffenen durch »Erziehung«, wiederum als durch deren eigenes Verhalten gerechtfertigt erscheint, und so fort, in einem Teufelskreis. Dabei ist natürlich in Rechnung zu stellen, daß die intendierte »Erziehung« nur ein Teilaspekt von »zufälligen« oder institutionalisierten Entwicklungsbehinderungen unter unseren gesellschaftlichen Verhältnissen ist, die insgesamt in die gleiche Richtung wirken. Hier soll jedoch gemäß der Themenstellung zentral von der intendierten Erziehung durch die Erwachsenen die Rede sein.
Ein wesentliches potentiell entwicklungsbehinderndes Moment der »Erziehung« liegt schon in der geschilderten Fremdgesetztheit der Erziehungsziele für das Kind durch die Erwachsenen: Wenn diese Fremdgesetztheit von Zielen nicht nur situationeil begründet und in einem Kooperationszusammenhang immer wieder aufgehoben vorkommt, sondern als durchgängiges Erziehungsprinzip, ist dies mit der subjektiven Notwendigkeit des Kindes, selbst Verfügung über seine Lebensumstande zu gewinnen, grundsätzlich unvereinbar. Man kann nicht die eigene Selbstbestimmung erweitern, indem man von anderen gesteckte Ziele verfolgt. Das hierin liegende Paradoxon wird besonders deutlich bezüglich des Ziels der »Erziehung zur Selbständigkeit«: Die Selbständigkeit von einem anderen durch Einsatz von Machtmitteln »anerzogen« zu kriegen ist in sich ungefähr genauso widersinnig wie die berühmte Aufforderung »Sei spontan«. Um wirklich ein Stück Selbstbestimmung und »Selbständigkeit« für sich zu erreichen, bleibt den Kindern damit hier keine andere Wahl, als sich den Forderungen der Erwachsenen zu widersetzen: Darin liegt die Erscheinungsform der Verfügungserweiterung, die unter diesen Behinderungsbedingungen zutagetritt. Dieser subjektiv notwendige Widerstand ist unabhängig davon, wieweit das Kind oder der Jugendliche die Berechtigung der fremdgesteckten Erziehungsziele aufgrund der Erklärungen der Erwachsenen einsehen kann. Im Gegenteil: Gerade die Einsichtigkeit der Forderungen kann das Kind u.U. in eine besonders ausweglose Situation bringen, da die Erwachsenen dem Kind quasi immer ein Stück voraus, in einer in dieser Hinsicht unangreifbaren Position sind, und das Kind so seine eigene Fremdbestimmtheit durch die Erziehungsziele auch noch durch die Übernahme der fremdgesetzten Argumente permanent bestätigen müßte. Dabei wird dem Kind auch die Durchsetzung seiner eigenen Interessen durch die fremden Erziehungsziele quasi »weggenommen«: Wenn das, was in seinem eigenen Interesse ist, gleichzeitig durch die Erwachsenen von ihm gefordert wird/ kann das Kind diese Interessen ja nicht mehr als seine eigenen durchsetzen, sondern nur noch als Erfüllung fremder Forderungen: Es ist dann weder für mich noch für andere unterscheidbar, ob ich aus eigenem Interesse handle, oder nur, weil ein anderer es von mir verlangt hat, so daß daraus häufig nichts anderes resultieren kann als eine durch diesen Widerspruch bedingte Lähmung der emotionalen Hand-lungsbereitschaft. So kann das Kind, im Bestreben, durch Widerstand gegen die fremdgesetzten Ziele einen Rest an Selbstbestimmung zu bewahren, unter bestimmten Umstanden sich der Realisierung seiner eigenen Interessen, die hier in Form fremder Forderungen erscheinen, widersetzen. - Damit hätte die »Erziehung« hier also die »Zöglinge« genau in die Verfassung der Widerständigkeit, Unzugänglichkeit, Lernunwilligkeit, etc. gebracht, die den weiteren und verschärften Einsatz der Erziehung rechtfertigt. Was dabei auf der Seite der Kinder herauskommt, ist, je nach den näheren Umständen, Resignation, Destruktivität, Bockigkeit, Albernheit, in jedem Falle aber eine tiefgreifende Störung der kooperativen Beziehungen zu den Erwachsenen, da das Kind hier die subjektiv unabweisbare Verfügung über seine eigenen Angelegenheiten in Aneignung gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten nicht mit der Unterstützung der ewig besserwissenden, raisonnierenden, fordernden und drückenden »Erzieher«, sondern nur gegen sie, und - wenn es gut geht - ohne sie und um sie herum gewinnen kann. Auch der so mit der »Erziehung« entstehende Gegensatz zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen ist in gewisser Weise »systemfunktional«, da eine durchgreifende und kraftvolle Solidarisierung zwischen den Generationen in manchen Lebensbereichen ein bisher ungeahntes Widerstandspotential gegen die herrschenden Verhältnisse mobilisieren würde (was aber nicht zu unserem gegenwärtigen Thema gehört).
Man mag nun aufgrund der vorgetragenen Kritik an der Erziehung mittels fremdgesetzter Erziehungsziele bestimmte Konsequenzen für die Art dieser Erziehung selbst ableiten wollen. Etwa die Konsequenz, man müsse eben mit dem Aussprechen von Erziehungszielen sehr behutsam und vorsichtig sein, nur da Forderungen stellen, wo offensichtlich das Kind nicht von selbst in dergleichen Richtung aktiv wird, wo offensichtliche Fehlentwicklungen, bis hin zu Selbstschädigungen etc. beim Kind auftreten und so das Unterlassen einer erzieherischen Korrektur unverantwortlich wäre. Vielleicht sogar die Konsequenz einer»paradoxen Erziehung«, wie es etwa schon vom alten Salzmann empfohlen und wie es neuerdings von der Kommunikationstheorie vorgeschlagen wird: Nämlich die Erziehung durch das »Gegenteil«, also, wie Salzmann sagte, Erziehung zur Freiheit durch Unterdrückung, Erziehung zur Ordnung durch Herstellung unerträglicher Unordnung o.a. - Nun wird von uns natürlich nicht geleugnet, daß man im Umgang mit Kindern gelegentlich eingreifen muß, oder so: Nur geht es uns gar nicht primär um die Frage, wann und wieweit man in die Handlungen der Kinder eingreifen soll oder muß, sondern um die besondere Art von Machtverhältnis der Erwachsenen zu den Kindern, die mit der »Erziehung« nach vorgegebenen Erziehungszielen mitgesetzt ist, und die daraus erwachsenden Entwicklungsbehinderungen. Und unter diesem Gesichtspunkt erweist sich nun, daß mit den benannten Konsequenzen an dem Widerspruch zwischen der Notwendigkeit erweiterter gemeinsamer Weltverfügung bei den Kindern und deren Fremdbestimmung durch die Erziehung und durch die Erziehungsziele der Erwachsenen grundsätzlich nichts geändert und insbesondere kein Fortschritt in Richtung auf die Entwicklung wirklich kooperativer Unterstützungsbeziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen gemacht ist. Bei der Vornahme, Erziehungsziele nur sparsam und behutsam zu artikulieren, bestimmte Handlungen der Kinder über die Forderung des Gegenteils hervorzurufen o.a., handelt es sich nämlich lediglich um erziehungstaktische Maßnahmen, also eine erzieherische Manipulation der Kinder, durch welche diese in indirekter und »geschickter« Weise, aber dafür um so sicherer, dahin gebracht werden sollen, die vorgegebenen und fremdgesetzten Erziehungsziele der Erwachsenen zu realisieren. Die geschilderten, durch die Zielvorgaben bedingten Widersprüchlichkeiten, die das Kind bei der Entfaltung seiner bewußten Selbstverfügung einschränken, bleiben dabei aber prinzipiell die gleichen. Nur wird es für das Kind komplizierter und schwieriger, sich der Vereinnahmung durch die Erwachsenen zu widersetzen, und die psychischen Erscheinungsformen des Verhältnisses zwischen subjektiver Entwicklungsnotwendigkeit und äußerer Entwicklungsbehinderung werden andere sein, was hier nicht ausgeführt werden soll.
An dieser Stelle mag man nun vom Standort der Erwachsenen einwenden: Aber, um Gottes willen, was sollen wir denn da nun machen? Wir sind doch nicht nur »besserwisserisch« (wenn dem Kind das auch so erscheinen mag), wir wissen es doch tatsächlich besser als das Kind. Dafür sind wir schließlich Erwachsene und vielleicht sogar noch fortschrittliche Erwachsene. Wir wissen doch, wie nötig Menschen gebraucht werden, die sich für den Frieden einsetzen, die selbständig und solidarisch für die gemeinsamen Interessen kämpfen, und die dazu natürlich das nötige Wissen und Können zu Hause, im Kindergarten und später in der Schule erworben haben müssen. Und da sollen wir darauf verzichten, unsere Kinder, wie behutsam, einfühlend und liebevoll auch immer, zu solchen Menschen zu erziehen? - Wir (vom Projekt) teilen natürlich die Auffassung, daß derartige Menschen gebraucht werden, und auch, daß Bedingungen geschaffen werden sollten, unter denen sich fortschrittliche Menschen entwickeln können. Wir bleiben aber dabei, daß man durch »Erziehung« mit den genannten vorgegebenen Erziehungszielen das Gegenteil begünstigt, und dies auch dann, wenn man den Kindern noch so fortschrittliche Erziehungsziele setzt. Was wir nämlich radikal anzweifeln, ist die Auffassung, daß man für die Entwicklung der Kinder nur etwas tun kann, wenn man sie von der geschilderten Position des »besseren Wissens« aus erzieht, und daß die Alternative zur Vermeidung der dadurch gesetzten Manipulation sozusagen nur das Garnichtstun sei. Um zu verdeutlichen, warum und wie man zur Förderung von deren selbstbestimmter Entwicklung mit Kindern zusammenleben kann und muß, ohne sie zu »erziehen«, greifen wir nun auch noch die letzte und scheinbar stärkste Bastion der Konzeption der »Erziehung« durch »Erziehungsziele« an, nämlich die Auffassung, daß die Erwachsenen es tatsächlich »besser wissen«, daß sie tatsächlich die Interessen der Kinder besser kennen als diese selbst, und daß sie infolgedessen tatsächlich ohne das Kind festsetzen können, wie und wohin es sich entwickeln muß, um es dann per Erziehung möglichst weitgehend dahin zu bringen.
Mit der Vorstellung, man könne »Fortschrittlichkeit«, »Selbständigkeit«, »Fähigkeit zur solidarischen Durchsetzung gemeinsamer Interessen« etc. als inhaltliches Handlungs- und Befindlichkeitsinventar fixieren und dann die Kinder daraufhin »erziehen«, werden die Tatsache und die Gesetzlichkeiten der kindlichen Subjektentwicklung (und Subjektentwicklung überhaupt) total ausgeklammert. Entwicklung in Richtung auf erweiterte Umweltverfügung etc. ist nämlich immer die Negation der Widersprüche eines gegebenen Zustands der Abhängigkeit und Fremdbestimmung in einem notwendigen nächsten Schritt der Überwindung dieser Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Ob in einem bestimmten Entwicklungsschritt die bewußte Weltverfügung erweitert worden ist, läßt sich also nicht an irgendwelchen äußeren Merkmalen ablesen, sondern sozusagen nur»von innen, aus der Perspektive des Kindes, das hier seine Subjektentwicklung unter konkreten situationalen und personalen Behinderungsbedingungen vollzieht, und ein Stück Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gegenüber diesen konkreten Behinderungen durchsetzen muß. Die Handlungsweisen und Befindlichkeiten des sich entwickelnden Kindes sind also in ihrem Inhalt weitgehend durch den vorgängigen Zustand der A bhängigkeit und A ngst geprägt, gegen den sich das Kind in seiner Selbstentwicklung durchzusetzen trachtet. Wer diesen »inneren« Entwicklungszusammenhang negiert, dem müssen die verschiedenen Erscheinungsformen kindlicher Entwicklung völlig unverständlich bleiben. Wer diesen Zusammenhang aber berücksichtigt, für den ist gleichzeitig klar, daß er dem Kind nicht »von außen«, durch fremdgesetzte Erziehungsziele, die jeweils nächsten Entwicklungsschritte vorgeben darf, und zwar deswegen nicht, weil er aus der Außensicht, also ohne das Kind und über diese'; hinweg, darüber, welcher Entwicklungsschritt jeweils für das um seine Eigenständigkeit und Weltverfügung kämpfende Kind subjektiv notwendig ist, schlechterdings gar nichts wissen kann.
Von da aus verdeutlicht sich nun auch der Zusammenhang, in dem die fremdgesetzten Erziehungsziele, die der Erwachsene an das Kind heranträgt, stehen: Auch sie hängen natürlich nicht perspektivlos in der Luft, sondern sie gehören in Wahrheit, meist ohne daß dies bewußt gemacht wird, zur Lebens- und Entwicklungsperspektive des Erwachsenen: Es sind seine Vorstellungen darüber, was und wie das Kind, in seinem, des Erwachsenen, Interesse, werden soll, die hier an das Kind herangetragen werden. Wir haben im Projekt diese unbewußte »Erziehungs«-Haltung »Prometheus-Komplex« genannt, mit Bezug auf die Zeile in Goethes »Prometheus«-Gedicht: »Ich forme Menschen nach meinem Bilde«. Dabei stehen natürlich hinter den Interessen der Erwachsenen allgemeinere, mit der Subjektivität der Betroffenen nicht vermittelte Normen darüber, wie ein Kind beschaffen sein muß und sich zu verhalten hat, das dabei ist, sich zu einem tüchtigen, beßhigten, nützlichen, fortschrittlichen Menschen zu entwickeln. Das Interesse des Erwachsenen daran, das Kind in diese Richtung zu »erziehen«, ist mithin auch ein Interesse, mit jenen Normen nicht in Widerstreit zu geraten und damit in seiner »Erzieher-Funktion bestätigt und anerkannt zu werden. Diese Haltung manifestiert sich z.B. darin, daß Erwachsene, etwa Eltern, ihr Kind soweit als ihr »Geschöpf« vereinnahmen, daß sie sich permanent für Verhaltensweisen des Kindes entschuldigen, auf Leistungen des Kindes »stolz« sind, und z.B. als Eltern bescheiden abwinken, wenn das Kind von Dritten gelobt wird. - Es sind also derartige Entwicklungsinteressen aus der Erwachsenen-und Norm-Perspektive, die dem Kind durch den Erzieher permanent als die durch diesen wahrgenommenen, wohlverstanden kindlichen Entwicklungsinteressen verkauft werden. Damit wird auch deutlicher, wogegen das Kind Widerstand leistet, wenn es seine Eigenständigkeit nur durch Verweigerung gegenüber den Erziehungsanforderungen der Erwachsenen durchsetzen kann.
Aus dem Umstand, daß die kindliche Subjektentwicklung nur »von innen«, aus den Widersprüchen des je konkreten Entwicklungsstandes des Kindes, begreifbar ist, folgt zunächst, daß man von einem Entwicklungsgang in Richtung auf kooperative Weltverfügung etc. nicht Gradlinigkeit erwarten kann, sondern mit mannigfachen und langen Umwegen rechnen muß. Die subjektive Notwendigkeit dieser Umwege ist diesen dabei nicht von außen anzusehen, sondern ergibt sich, wie gesagt, aus dem jeweiligen Zustand der Abhängigkeit, der dabei vom Kind aufgehoben wird. Somit können durchaus auch Handlungen und Haltungen solche notwendigen Umwege zu erweiterter Selbstbestimmung darstellen, die äußerlich wie das Gegenteil, der Verzicht auf die Aneignung gesellschaftlicher Möglichkeiten zur individuellen Verfügungserweiterung, aussehen. So mag etwa erst durch die Lernverweigerung im Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die fremdgesetzten Erziehungsziele der Erwachsenen jener Grad an kooperativer Integration und Verfügungserweiterung erreichbar sein, der es dem Kind dann ermöglicht, a\if einem höheren Niveau trotz des Dnicks der Erzieher oder um diesen herum seine Lerninteressen wahrzunehmen. Wer diese »innere« Logik der Subjektentwicklung einmal begriffen hat, dem wird die Blindheit und Menschenfeindlichkeit der üblichen »Erzieherei« allmählich aufgehen, und er wird einsehen, daß er selbst als Erwachsener erst einmal lernen muß, mit Kindern so zu leben, daß sie seine Unterstützung und seinen Rat tatsächlich annehmen können, weil sie nicht mehr argwöhnen müssen, daß ihnen dabei fremde Interessen als ihre eigenen Entwicklungsinteressen eingeredet und aufgeprägt werden sollen.
Wenn wir sagten, daß man bei der kindlichen Subjektentwicklung notwendige Umwege in Rechnung stellen muß, so darf man daraus nicht ableiten, daß wenigstens des Endergebnis solcher umweghafter Entwicklungen, der Heranwachsende bzw. neue Erwachsene, den Vorstellungen der Erzieher, etwa von einem selbständigen und fortschrittlichen Menschen, entsprechen muß. Wie aus den früheren Ausführungen hervorgeht, kann die individuelle Subjektivität nicht nur auf mannigfachen Wegen erreicht werden, sondern sie muß auch mannigfache Erscheinungsformen annehmen, die durch den individuellen Entwicklungsweg und die historischen Verhältnisse, in die hinein er sich realisiert, geprägt sind. Sofern man also einen Menschen mit inhaltlich bestimmten Eigenschaften, Handlungsweisen und Beziehungen vor sich sieht, wenn man sich vorstellt, wie das eigene Kind einmal »sein« soll, so sind das mithin zwangsläufig immer die eigenen Vorstellungen in der Perspektive der Erwachsenen, die über die Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten des Kindes hinweggehen, also von erzieherischer Machtausübung, nicht aber von kooperativen Beziehungen zum Kind, zeugen. Mehr noch: Sofern sich das Kind in seiner Entwicklung diesen inhaltlichen Vorstellungen der Erwachsenen, und sei es von Selbstbestimmtheit und »Fortschrittlichkeit«, aufgrund von Erziehungsmaßnahmen anmißt, hat es sich damit in Wahrheit fremden Zielen unterworfen, und damit seine wirkliche Subjektivität und Selbstbestimmtheit aufgegeben. Es wird sich mithin, wenn ihm irgendwann die entgegengesetzten Ziele mit Druck oder Belohnungen vorgegeben werden, auch diesen unterwerfen, und Du wirst es dann nicht wiedererkennen. - Man sollte sich also, so schwer es fällt, daran gewöhnen, daß die Kinder nicht so werden müssen, wie man sie sich vorstellt, und man sollte lernen, sie, sofern sie dies wollen und annehmen können, in ihren eigenen Anstrengungen, auf ihrem eigenen Weg und in ihrer eigenen Form der subjektiven Lebensbewältigung und Daseinserfüllung zu unterstützen. Wenn es einen dabei befremdet, was da aus den Kindern wird, und wenn die Kinder einem dabei fremd werden, so ist dies zunächst einmal ein gutes Zeichen. Weiterhin wird man dann nach den eigenen Beschränkungen und Beschränktheiten zu suchen haben, durch die diese Fremdheit entstanden ist. Vielleicht gelingt es einem so allmählich, dazu beizutragen, die Beziehung mit den Kindern als eine Beziehung zwischen zwei eigenständigen Subjekten zu entwickeln und so ggf. das böse Erbe der eigenen früheren »Erziehungsmaßnahmen« im gegenwärtigen Verhältnis zu überwinden.