Marie Hesse geb. Gundert

18. Oktober 1842 bis 24. April 1902

Ich hatte dir so viel zu sagen,
ich war zu lang im fremden Land,
und doch warst du in all den Tagen
die, die am besten mich verstand.
Hermann Hesse, «Meiner lieben Mutter»
1. Strophe (1902)

Die Gestalt der christlich engagierten Marie Hesse, der Mutter des Dichters Hermann Hesse, Tochter eines Missionars und Frau eines Missionars scheint nur wenig in das übliche Bild der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, mit seinen liberalen Frauenträumen vom Auszug aus Unmündigkeit und «Puppenheim» zu passen: für sie lösten sich alle Probleme im Glauben an die Kultgenossenschaft Christi und in der Realisation einer von christlichen Idealen geleiteten Gesellschaft. Und dennoch trug ihr württembergischer Pietisinms auch die Zeichen der Zeit. Mit ihrer religiösen Gläubigkeit verband sie Gedankengut aus dem Humanitätsbestreben der freisinnigen Weltverbesserer. So schrieb sie an ihren Sohn Karl: «Das freut mich, daß Du an Shakespeare Geschmack hast; ich hoffe es macht Dir Lust zum Englischlernen. Ja welche Schätze in Kunst und Literatur liegen nun geöffnet vor Dir! Ich kann mich ganz hineinversetzen in Deinen Hochgenuß, habe ich doch von Herzen geschwärmt für Lenau, Schiller, Eichendorff, Schenkendorf usw.» Auch die sozialen Mißstände der Zeit berührten sie. An die Eltern berichtet sie am 19. März 1882 von Basel aus: «Den Abend brachten wir bei den lieben Freunden Bauder zu. Er war sehr bewegt von all den Mißständen und ungerechten Verhältnissen unserer Tage und würde gerne mit seinen armen Leuten auswandern und als Pastor und Schulmeister in neuen freien Verhältnissen ihnen dienen. <Ich sehne mich nach dem Reich der Gerechtigkeit> seufzte er tief auf nachdem er geschildert, wie bei den Fabrikverhältnissen jetzt auch ein braver fleißiger Hausvater eine zahlreiche Familie nicht durchbringen könne, die Löhne schlecht, plötzlich keine Arbeit mehr, hohe Hauszinsen, Lebensmittel usw.; der edle Bauder erlebt alltäglich was Jesus empfand: <Es jammerte ihn des Volks > ... Dann wieder lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Antisklavereibewegung und fragt an:

»Werden bei Euch auch Flugschriften mit der Aufforderung zur Mithilfe gegen den Sklavenhandel verteilt? Es freut mich, daß alsgemach in Deutschland sich auch Herzen erwärmen für diese ernste Sache. Durch meine Livingstone-Studien stecke ich gegenwärtig so mitten in all diesen Greueln drin, daß ich oft nachts davon träume. Gott schenke Freiheit! O es gibt soviel heilige Arbeit in der Welt, wer nur dazu bereit wäre!»

Marie Hesse wurde in Talatscheri (Tellicherry) im südwestlichen Indien im heutigen Unionsstaat Kerala als drittes Kind des Missionars und Orientalisten Hermann Gundert [1] geboren. Der Vater arbeitete dort im Dienste der Basler Missionsgesellschaft als Prediger Lehrer und Erzieher übersetzte die Bibel in die Malajalamsprache und schuf ein Malajalam-Englisches Wörterbuch das bis heute in Kerala hoch geschätzt wird. Als die Eltern im Jahre 1846 zu einem Erholungsaufenthalt nach Europa fuhren, nahmen sie die Klnder mit. Marie kam zur weiteren Ausbildung in eine private Pension für Missionskinder auf einem Landgut in Gundeldingen bei Basel und blieb dort acht Jahre. Die Botschaft der Achtundvierziger Revolution muß bis in dieses entlegene Mädcheninternat gedrungen sein, denn Marie berichtet in ihrer Selbstbiographie: «Wir sahen uns plötzlich als Gefangene an, als arme Nonnen, die Freiheit und Lebenslust nur dem Namen nach kennen und nun hielten wir Reden über Freiheit und Knechtschaft, über Unterdrückung und Revolution und schlossen meist begeistert mit dem Ruf: Die Stunde der Freiheit wird noch schlagen und das Morgenrot besserer Tage wird anbrechen!»
Indes erfüllte sich solche Hoffnnng nicht. Mit zwölf Jahren kam Marie in das Töchterinstitut der pietistischen Brudergemeinde Korntal in der Nähe von Stuttgart. Die strenge Disziplin und der sektiererisch enge Geist dieser Anstalt behagten dem leidenschaftlichen und eigenwilligen Mädchcn noch weniger. Sie schloß sich dort einer älteren Mitschülerin an, die sich alsbald «frivol» in eine Liebesgeschichte verstrickte, deshalb von den Moralaufsehein hart bestraft und schließlich aus dem Institut gewiesen wurde. Unerschütterlich bekannte sich Marie zu der Verfemten und ging in den «Karzer» weil sie trotz Verbotes mit ihr in Verbindung zu treten wagte. Die Lektüre von Schillers Gedichten, die ihr der drei Jahre ältere Bruder Hermann zugesteckt hatte wurde der Vierzehnjährigen ebenfalls untersagt. Hermann Hesse hat in der späten Prosasammlung «Beschwörungen» vom Korntaler Schulheft seiner Mutter berichtet, das sie mit ihren Lieblingsgedichten aus der klassisch romantischen Literaturperiode füllte, aber auch mit eigenen Versen in denen sich nach Aussage des Sohnes namentlich Schmerz und bittere Empörung über den Verlust der geliebtesten Freundin aussprechen. Schließlich nahmen sie die erschrockenen Eltern, denen alle «Untaten» nach Indien berichtet wurden aus der Anstalt und schickten sie für ein weiteres Jahr nach Corcelles bei Neuchätel einem Dorf der französisch sprechenden Schweiz der Heimat ihrer Mutter wo sie im Hause des Schulmeisters als Kindermädchen und Hausmagd ungewohnte Arbeit leisten mußte. Zugleich lernte sie dort aber auch Französisch und Englisch. Es zeigten sich bei ihr ähnliche Erziehungsschwierigkeiten wie sie dann 35 Jahre später verstärkt bei ihrem Sohne Hermann auftraten.

Endlich, Ende des Jahres 1857 durfte sie zu den Eltern nach Indien zurückkehren. Das lebhafte selbstbewußte Mädchen sah das als ein wahres Glück an. Auf der «Bombay» lernte die gerade Fünfzehnjährige einen jungen Engländer kennen von dem sie überzeugt war, daß er für sie bestimmt sei, daß der Vater dessen Bewerbung ablehnte ohne sie auch nur zu befragen, erbitterte sie über die Maßen. Mit innerem Protest, Kummer, Enttäuschung und Schmerz begann ihr Leben in Indien. Aber die Verhältnisse erwiesen sich schließlich stärker als alles individuelle Aufbegehren. Da auch sie ihre weitere praktische Aufgabe in der Mithilfe bei der Missionstätigkeit sah fügte sie sich nach einiger Zeit und entschied sich für den «schmalen Weg» des Verzichts. Dieser zweite indische Aufenthalt dauerte nur reichlich zwei Jahre. Im Mai i 86o kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Der Vater vertrug das tropische Monsunklima nicht mehr. Er übernahm nun die Leitung des Calwer Verlagsvereins eines Unternehmens das im Dienste christlicher Volksbildung und der Missionspropaganda stand. Calw wurde die neue Heimat der Familie. Hier in Schwaben lernte Marie den Missionsschüler Charles Isenberg kennen. Gleiches Alter die gemeinsame Bildungswelt und Begeisterung für den Gedanken der überseeischen Missionsarbeit mochte die beiden jungen Menschen zusammenführen. Im Jahre 1865 folgte sie ihrem Verlobten nach Karatschi. Ihr Lebensweg als enthusiastische Missionsgehilfin sowie glückliche Frau und Mutter schien klar gebahnt. Da starb nach vierjähriger gemeinsamer Tätigkeit im Gebiet von Haidarabad am unteren Indus der Gatte an den Folgen eines Blutsturzes. Plötzlich stand die junge Frau als Witwe mit zwei kleinen Knaben allein in der Welt. Sie zog sich nach Calw in das elterliche Haus zurück wo ihr der siebenundzwanzigjährige Exmissionar Johannes Hesse der Gehilfe des Vaters bei der Verlagsarbeit begegnete. Zwei in ihren ersten Hoffnungen Enttäuschte aus Indien nach Schwaben Verschlagene trafen aufeinander. Gegenseitige Wertschätzung und der gemeinsame Dienst für die Basler Mission verband sie. Mit den Eltern war man überzeugt, daß durch eine Heirat alles besser ins Gleis käme. Im November 1874 wurde die Ehe geschlossen. Marie schrieb damals ihrem Bruder Hermann nach den USA: «So bin ich denn wieder eine glückliche Gattin an der Seite eines treuen Mannes der mir helfen will, auf dem Weg zur oberen Heimat und mir besonders eine große Stütze ist in der Erziehung meiner Knaben.» In dieser zweiten Ehe gab sie drei Mädchen und drei Knaben das Leben. Hermann Hesse war davon das zweite Kind.
Eine Frohnatur wie Goethes Mutter war Marie Hesse nicht. jedoch die Lust zu fabulieren besaß auch sie. Ihr Sohn Hermann sagte darüber in der Erzählung «Hermann Lauscher»: «Ich habe Leser und Erzähler und Plauderer von Weltruhm gehört und fand sie steif und geschmacklos, sobald ich sie mit den Erzählungen meiner Mutter verglich. O ihr wunderbar lichten gold-gründigen Jesusgeschichten, du Bethlehem, du Knabe im Tempel, du Gang nach Emmaus! Die ganze überschwenglich reiche Welt des Kindeslebens hat kein süßeres und heiligeres Bild als das der erzählenden Mutter an deren Knie sich ein Blondkopf mit tiefen Staunaugen schmiegt... Nächst dem unerreichbaren Klang und Sinn der Bibelgeschichten sog ich tief aus dem Quell der Märchen. Rotkäppchen der treue Johannes und Schneewittchen bei den sieben Zwergen über den sieben Bergen nahmen mich in ihren geschwätzigen Kreis... » Schon früh regte sich in ihr der Drang ihre Erlebnisse sprachlich zu fixieren. In ihren Tagebüchern die sie vierzig Jahre lang führte finden sich neben lyrischen Gedichten Hunderte von kleinen Geschichten. Sie bearbeitete auch englische Blogiaphien z. B. über Livingstone und Hannington für deutsche Leser. Eine eigene poetische Sprache hat sie in all diesen schriftlichen Aufzeichnungen nicht gefunden. Sie besaß aber neben der mündlichen Erzählkunst, die ihr Sohn rühmte, eine andere bisher zu wenig beachtete literarische Begabung: sie war eine ungewöhnliche Briefschreiberin.

An Hermann Gundert

Kalikut, [2] 23. Juli 1859

Wir hier haben nun den stärksten Regen, den man sich wünschen kann: Der große Teich vor unserem Haus ist übergelaufen und alles ist mit Wasser bedeckt. Alle Sachen werden schimmelig und feucht, die Bücher ganz besonders; die Nadeln usw. in der Schule rosten. Hier lernt man erst verstehen, was es heißt: Dinge die der Rost und die Motten fressen und danach Diebe graben. Motten, Diebe und Rost sind hier recht zu Hause. Oft kommt es mir vor, wenn man in Indien gewesen sei, könne man erst recht verstehen, was einige Ausdrücke in dem Alten Testament meinen. Nun zum Beispiel: Elia sagte: Ich höre das «Rauschen» eines gewaltigen Regens (1.Kön. 18,41 [3] ). Hier hört man das Rauschen eine gute Stunde ehe der Regen wirklich komt ...

An Hermann Gundert

Kalikut 18. September 1859

... In Indien misse ich den Frühinig sehr. Es war mir zu Hause immer die liebste Zeit und mit den blütenbedeckten Bäumen und frischen Blumen öffnete sich auch mir ein Freudenkelch. Ich fühle noch, wie es mir so wonnig durch alle Glieder fuhr! Dieses Gefühl kriege ich hier nie mehr. Überhaupt scheint einen alles nichts mehr anzugehen und ich spüre selten das wonnige Jugendglück, das mir zu Hause in Europa so inlebte. Alles bekommt kälter, je mehr man daneben schwitzt und ein seltsames Gefühl von Einsamkeit zittert durch mich. Ach! Mensch, was ist Erdenleben! ...

An Julie und Hermann Gundert

»Möris Messageries Imperiales, 21. September 1865 [4] [5]

Schon zwei Tage auf dem Meer! Gottlob, daß wir noch alle munter sind, essen singen und schwatzen können! Das Wetter ist herrlich die See ruhig. Die «Möris» ist ein schönes großes
Schiff, behaglicher als alle die ich seither sah. Wir sind dreihundert Passagiere meist Franzosen und Engländer. Mit einer Hindukinderfrau bei einer englischen Familie konnte ich chon Malajalim [6] sprechen.
Wir sechs Mädchen sind nebeneinander in zwei Kabinen. Unsere Herren haben sich jedenfalls gleich als Schwaben zu erkennen gegeben es ist ihnen alles so neu, und sie sind so unbeholfen. Bruder K. macht sich fast lächerlich mit seiner Pflichttreue, wenn er uns sogar in der Kabine noch behüten will. Ja behüten und beaufsichtigen, nicht etwa bedienen! Ich will aber kein Geschwätz machen, die Brüder sind so gut und besorgt um uns. Wir denken viel an daheim und freuen uns des festen Bandes, das uns trotz aller Entfernung verbindet... Nun ist's Nacht geworden. O welch eine Nacht! Da hätte Eichendorff auch geseufzt: «O wer da mitreisen könnte in der herrlichen Sommernacht!» [7] Wenn ich ans Beschreiben gehen will, so fällt mir Geibels «Nacht am Meer» ein: «O was in solcher stillen Nacht durch eine Menschenseele zieht, bei Tag hat's keiner nachgedacht und spricht es aus kein irdisch Lied.» Ja bei Tag hat's keiner nachgedacht! Wie wäre es möglich zu malen, wie die dunkeln Bergabrisse am Sternenhimmel so ernst emporragten, wie die Fluten ringsum flimmerten und flammten, wie die roten und grünen Lichter der Schiffe und des Leuchtturms auf den Wellen tanzten, wie Messina [8] im tiefsten Frieden vor uns lag nichts als ein Heer von Lichtlein im Hafen schlummernd. Nie werde ich den zauberhaften Eindruck jener Nacht auf dem Meer vergessen.

Kairo 25. September 1865

Ich meine die Pause - von Messina bis Kairo sei viel länger gewesen als bloß vier Tage. Welchen Wechsel haben wir erlebt! Gleich am Morgen selbiger gerühmten Messina-Nacht erhob sich ein starker Wind also, daß das Schiff wie eine Nußschale hin und her geworfen und die meisten Passagiere auf Schmerzenslager hingestreckt wurden. Sie haben mich, die einzige ganz gesund Gebliebene unendlich gedauert. Oben auf dem Verdeck lagen die halb Gesunden in den Stühlen immer wieder durch einen heftigen Stoß zu Boden geschleudert. Hinauf und hinunter zu gehen war eine Anstrengung unsere ganze schöne große «Möris» schaukelte wie eine Kinderwiege. Unten in der Stickluft war's fast nicht auszuhalten, ich konnte ja auch den andern nichts helfen so war ich meist oben. Da hörte ich eines Tages zwei Engländern zu, wie sie über unsere Brüder lachten. Auch die Frauenzimmer meinten, sie seien doch gar zu bescheiden und zu auffallend einfach in ihrer Kleidung. Der Ältere, dem man den alten Indier ansah, ein schöner hochgewachsener Mensch meinte dann: «Nun ja, lachen kannst du aber verachten darf man diese Deutschen nicht.» Er sagte, daß er in Deutschland gewesen sei und das deutsche Volk gern habe. Ich war in meinem Herzen ganz kochend gegen diese Spötter und als der Jüngere bei Tisch unsere armen Brüder mit ihren aufgestützten Armen und ungeschickt mit den Hühnlesknochen beschäftigten Pilgern so spöttisch ins Auge faßte, mußte ich mir immer vorsagen: «Liebet eure Feinde» so wütend war ich. Bei Nacht schämte ich mich aber und nahm mir vor, keinen Zorn mehr zu kriegen. Und siehe da, als ich zum Frühstück kam, machte mir der ältere der Herren freundlich Platz und fragte: «sie sind nicht krank?» In meinem Erstaunen antwortete ich englisch und darüber war mein guter Freund, denn das ist er jetzt, so verdutzt und hintendrein so erfreut daß er sich in ein langes Gespräch mit mir einließ und sich dann anbot, wir sollten ihn nur benützen, er sei bereit, uns mit Rat und Tat beizustehen. Den langen langen Sonntag, den ich mit der einsilbigen G. allein auf dem Verdeck zubrachte, hat er mir angenehm verkürzt. Schon am Montag um elf Uhr kamen wir nach Alexandrien. [9] Bis aber das kleine Boot zum Abholen kam und die Vorstellung vor dem Arzt der Cholera wegen vorbei war, wurde es drei Uhr und erst um vier Uhr hatten wir der <Möris» und dem Mittelmeer den Rücken geboten und saßen in der Eisenbahn. Es gab so viel Neues zu sehen, daß die Leiden der Seefahrt bald vergessen waren. Wir guckten hinaus bis wir zu müde waren und endlich alle schliefen. Plötzlich wachte ich auf an schrillem Pfeifen und Schreien, steckte den Kopf zum Fenster hinaus und fragte in aller Unschuld: «Quelle station?» [10] «Le Cairo, Cairo» hallte es und eilig rieben wir die Augen wach, stiegen aus und schleppten unsere Masse Handgepäck dahin, wo die Omnibusse standen, Lastträger einander prügelten, Esel schrien und Fackeln die wirre Szene grell beleuchteten.
An unserer Seite sprach jemand Deutsch und lud uns ins Iris Hotel «de l'Oriern» ein. Ich glaube die Brüder hätten noch eine Stunde lang beraten und den letzten Bus abfahren lassen, allein wir bestanden darauf, wir müßten jetzt fort. Marie meinte: «Bhütis wie ging's dene Brüder, wenn wir nit derbi wäre!» Es ist jedenfalls leichter, allein zu reisen. Es war ein Uhr vorbei, als uns im Hotel unsere ganz orientalischen Zimmer ohne Sessel, mit hohen Jalousiefenstern und Moskitovorhängen um die Betten angewiesen wurden und wir den schlechten Tee geschlürft und kurz Andacht gehalten hatten. Heute um ein Uhr geht's weiter nach Suez.

Suez 26. September 1865 an Bord der »Impératrice«

Die Fahrt durch die Wüste ging gut und ohne allzu große Hitze vorbei.
Heute sind wir an einem kräftigen Platsch aufgewacht, das Seewasser hatte schon unsere ganze kleine Habe durchnäßt. Es tobt wieder und der Kapitän meint, es werde so bleiben. Hoffentlich werden die Mädchen nicht wieder seekrank! Mr. Hyde hat uns auf dem ganzen Schiff herumgeführt, es ist eine ganze Ökonomie auf dem Hinterdeck, auch eine Metzgerei, alles sehr schön eingerichtet und die wirklich kohlschwarzen Knechte tragen zum Reiz des ganzen bei. Zum Servieren haben wir lauter höfliche Weißgesichter, zum Fächerziehen langbezopfte Chinesenburschen. Mit den Mitreisenden stehen wir jetzt auf gutem Fuß, nach unserem Gesang gestern scharten sie sich um uns und lobten die deutsche Musik. Heute hat uns Mr. Hyde englische Stunde gegeben so possierlich, daß Vorübergehende nicht wußten ob er deutsche oder wir englische Stunde haben.

1. Oktober 1865

Wir schwitzen drauf los die Hitze ist schrecklich. Ich hatte wirklich schon ganz vergessen wie heiß es hier ist! Mr. Hyde sagte Aden [11] sei so heiß er glaube der Teufel wohne elort. Die Fahrt geht doch schneller als man meinte schon sehen wir auf einer Seite Land und es heißt morgen früh werden wir in Aden sein. Der Wind hat uns heute nacht recht erquickt nach dem unerträglich schwülen Tag. Das schlechteste auf dem Schiff ist das Wasser das man fast nicht trinken kann. Ich habe mich schon ganz ans Zitronenaugen gewöhnt das ist das beste gegen den Durst. Appetit hat man wenig nur Reis und Curry schmecken mir jeden Tag zweimal ausgezeichnet. Ich werde in Aden nicht an Land gehen hab's ja schon zweimal besucht das trostlose Gestade!

16. Oktober 1865

Heute nacht sind wir in Pondicherry [12] angekommen. Ich schlief erst gegen Morgen und wachte auf, als die Sonne herrlich aus dem Meer aufstieg. Die Wonne dieses Anblicks zugleich mit dem eigentümlich indischen Geruch der zum Fenster hereindrang sagten mir zum ersten Male recht deutlich, daß ich im Osten nah beim schönen Indien sei! Es war ein halb wehmütiges Gefühl und doch pries ich mich glücklich. Während des Ankleidens stieg ein Hindu dicht vor meinem Fensterchen am Seil aufs Verdeck guckte beherzt herein und schrie lustig: «Madame!» Der Anblick heimelte mich so an, daß ich beinahe geschrien hätte: Hindu Hindu! Als ich aufs Verdeck kam saß es voll von wunderlichen Gestalten: Zauberer trieben ihre Künste Körbe voll Waren standen zum Verkauf bereit. Herr Hyde fuhr an Land und kam mit Schätzen beladen zurück jeder von uns sechs Bräuten hat er einen Fächer mitgebracht!

An Julie und Hermann Gundert

Haidrabad 8. Dezember 1865 [13]

In Karatschi [14] trafen wir unseren Butler und Oberknecht Muhammed Khan, der nun für das Gepäck sorgte. Er ist ein großer bärtiger Mann mit seidenem Turban, weißem Anzug, untadeligem Benehmen und vollkommenster Würde dabei treu und gutmütig. Er spricht so feierlich sein Hindustani [15] und guckt mich dabei so ernsthaft an, als ob ich alles verstände so, daß ich ihm oft grad ins Gesicht lachen muß was ihn keineswegs aus der Fassung bringt.
Am Montag machten wir einen Ausflug im Boot und in der Nacht begaben wir uns zur Eisenbahn. Die ist einmal geschickt eingerichtet! Je drei Personen gingen in einen Wagen, legten sich auf die breiten Ruhebetten das Gepäck stellte man in die Mitte des Wagens; und nun schlief man, wenn auch der Mond noch so mild auf die sandige Einöde schien. Ja nichts als Wüste sah man so oft man hinauslugte, bis man endlich morgens in dem oasengleichen gartenreichen Kotri anlangte. In dem kleinen Dampfer kam uns Freund Bardsley entgegen. Es war ein kalter Morgen ich hüllte mich dicht in Tuchjacke und Schal. Lieblich war die Fahrt über den Indus; wie im Traum ging's dann dem Ufer entlang an des Emirs Landgut an alten und neuen Forts vorbei, vorbei an den erbärmlichen, echt ägyptischen Lehmhütten vor denen Esel wiehern und Kamele auf den Knien ausruhen vorbei an den grauen flachdachigen Gebäuden bis ans Missionshaus vor dem ein paar Rosen freundlich blühen, Fremdlinge im Wüstenland.

An Julie und Hermann Gundert

Haidrabad 20. Dezember 1865

Am Montag fing ich meine Sindhi-Lektionen [16] an und treibe es nun regelmäßig. Von der Frau und den Kindern unseres Butlers habe ich einen feierlichen Besuch erhalten, nachdem ich ihr einen in ihrem netten Logis neben der Küche abgestattet hatte. Sie kam schön gekleidet mit Schmuck behangen. Wir mußten lachen, weil wir uns eben gar nicht verstehen konnten und als ich deshalb meinen Mann zu Hilfe rief, tat sie schrecklich verlegen so, daß ich merkte es gehe gegen ihr Anstandsgefühl ihn da zu sehen. Sie sagte ihre Kinder sollen nähen lernen, das sei aber genug; mehr zu lernen sei gegen die Landessitte und das Englische sei keine gute Sprache! Die Leute hier sind keck und sagen was sie denken, ihr Auftreten besonders die schöne Tracht ist sehr verschieden von unseren Malabarleuten. Ein stolzes schönes Volk!

An Friedrich Gundert

Haidrabad 8. Juar 1866 [17]

Es ist mir ganz wunderbar zumut, wenn ich mich so geschwind aus Haidrabad hinaus in eine Straße Stuttgarts versetze welcher Unterschied!, daß wir hier sehr glücklich sind und mir der Ort je läner je lieber wird, hast Du schon merken können. Wir haben kalte Zeit und sitzen gern am Feuer und doch haben wir den prächtigsten Rosenstrauß auf dem Tisch stehen und frisches Gemüse zum Essen, beides von englischen Freunden geschickt. Freund Anderson von Kotri war wieder unser Gast, er kommt nur so geschwind und bleibt gern über Nacht so, daß ich jetzt immer ein Bett für ihn bereithalte. Das ist ein wunderbarer Mensch sag ich Dir, voll Leben, voll Musik, voll Poesie er mahnt mich oft und viel an unseren Hermann. Anderson ist aber dabei erfahren, einunddreißig Jahre alt hat Menschenkenntnis und allerlei gelernt. Er wirtschaftet allein im Garten und Haus, spielt gut Harmonium kennt fast alle größeren deutschen Musikstücke besonders die Oratorien, aus denen er uns plötzlich etwas aus vollem Herzen vorsingt; dann deklamiert er wieder aus Shakespeare oder lehrt unsren dicken faulen Haushund Dan ein Kunststücklein...

An Julie und Hermann Gundert

März 1866 [19]

Ich habe jetzt den ersten Schritt getan, um eine Mädchenschule in Gang zu bringen und sehe nun mehr und mehr die Schwierigkeiten. Ich hatte unseres Butlers Frau von meinem Plan gesagt, so kam sie am bestimmten Tag und führte den Zug von sechs Mädchen und zwei winzigen Kindlein feierlich an. Ich staunte nur, daß ihr schmuckes Töchterlein und die Schwägerin in Gesellschaft so schmutziger armer Mädchen kommen mochten, es sind halt Mohammedaner und keine Kastenleute! Daß es mir an etlichen meiner Schülerinnen herzlich geekelt hat, will ich gar nicht leugnen. Ich hatte ein altes Hemd in Stücke gerissen und ließ sie daran ihre Kunst probieren, staunte aber über ihre völlige Unwissenheit, nachdem doch einige schon über ein Jahr in der früheren Nähschule gewesen waren. Bald erzählten sie, wie man ihnen da immer buntes Zeug und allerlei Sachen geschenkt habe. Als ich ungerührt blieb, fingen sie an zu gähnen und als ich auf's Arbeiten drang, warfen mir zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen alle die Fremden urplötzlich ihre Arbeiten in den Schoß und liefen mit lautem: «Salaam Madam Sahib!» davon und ich saß allein da mit dem Knechtsweib das mir erklärte, die Mädchen wollten bloß kommen wenn ich ihnen Kleider schenke! Ich war schrecklich mutlos und niedergeschlagen, das kann ich Euch sagen. Siehe da am andern Tag kommen mehrere der Mädchen ganz fröhlich und gingen erst als ich sie fortschickte. Gestern kamen bloß zwei aber gerade die ordentlichen und es ging gut. Eine von ihnen hat ihr Säcklein fertig genäht und als ich nun ein Schnürlein in den Zug machte und es ihr an den Arm hing machte das arme Kind so ein beschämtes dankbares Gesichtlein, daß ich sah sie hatte auf nichts mehr gehofft. [20]
Neulich besuchten wir bei blendender Glut die Moscheen, welche eigentlich bloß Grabmale sind von außen und innen bemalt mit Nischen und prachtvollen Kuppeln versehen. In ihrem kühlen Halbdunkel verrchtet der gläubige Mohammedaner sein Gebet am Marmorsarg eines Mir Mohammed und seiner Zwillingssöhne. Es heißt, nachdem der eine Bruder gestorben sei, habe sich der andere hier auf den Grabstein gesetzt ohne Speise und Trank bis er nach vierzehn Tagen auch starb erst sieben Jahre alt!

An Hermann Gundert

8. April 1866

Mein Herzenspapa! Vielen Dank für Dein Letztes! Seit ich verheiratet bin, habe ich noch kein Verslein gedichtet, wir haben aber viel reelle Poesie im Alltagsleben. Will an Deinen Wunsch denken, vielleicht ist's aber eingerostet bei mir. Ich muß Dir etwas schreiben, was Dich vielleicht freuen wird. Ich fragte neulich Frau Lidbetter, ob sie von einem Engländer Barns[21] in Karatschi wisse. In ihrer lebhaften Weise rief sie gleich: «Was meinen lieben Barns? Das ist ja mein besonderer Freund, er ist ganz daheim in unserem Haus und hat manchen glücklichen Abend hier zugebracht.» Ja wenn ich bei meinem letzten Bestuch in Karatschl bei Lidbetters logiett hätte, hätte ich ihn öfters gesehen! Sie erzählte von seiner leidenschaftlichen Liebe zur Musik, seinem Gitarrespiel, seiner Freundlichkeit gegen die Kinder, seiner großen Begabung für Sprachen, wie er fließend Sindhi und Hindtistani rede und es so gut mit den Eingeborenen könne. Sie konnte nicht genug sagen, wie männlich und zuverlässig er sei. Besonders rühmte sie seine zärtliche Liebe zu seiner Mutter. Ich fragte, ob er verheiratet sei? Nein, aber er habe einmal geliebt ihr habe er sein Geheimnis anvertraut, er habe
jahrelang auf ein deutsches Mädchen gewartet und immer gespart und vorgesorgt für einen Haushalt, aber dann sei alles vergeblich gewesen. Als er nach fünf Jahren wieder angefragt habe, sei ihm gesagt worden das Mädchen sei im Begriff sich zu verloben! Dann sei ihm allmählich alles gleichgültig geworden, er sei immer einsamer und hoffnungsloser geworden und jetzt sei er zu seiner Mutter nach England zurückgekehrt. Frau Lidbetter hofft zuversichtlich, daß er sich dort ganz erholen und und doch vielleicht glücklich verheiraten werde. Wie erstaunte sie, als ich ihr, der treuen mütterlichen Freundin sagte wie ich ihn kenne! Mir hat's großen Eindruck gemacht: ich freue mich, daß der Mann, den ich liebte ein so edler Mensch ist, es tut mir weh, daß seine Treue keinerlei Lohn fand; bitter weh, daß er so viel Schweres hatte. Ich hoffe und bete, Gott wolle ihn reichlich segnen. Frau Lidbetter sagte, er sei in seinem Wandel jedenfalls ein Christ, viel davon reden sei freilich nicht seine Sache.

An Julie und Hermann Gundert

16. August 1866

Wir sind plötzlich von der Welt abgeschieden. Wenn zu Euch keine Sindhi-Post[22] kommt, so müßt Ihr bloß denken: «Gottlob, so haben unsere Kinder in der Wüste doch Regen bekommen!» Ja der heiß ersehnte Regen ist an allem schuld. Noch im letzten Briefsprach ich unseren Durst danach aus und in selbiger Nacht wurde derselbe reichlich gestillt. Die Fenster des Himmels öffneten sich aber so sehr, daß über sechzig Meilen Eisenbahnlinie weggeschwemmt, mehrere Brücken zertrümmert, viele Häuser umgerissen, in Karatschi englische Familien nachts auf die Straße geschwemmt wurden und bei Freunden Obdach suchen mußten. Am Sonntag regnete es so, daß gar kein Gottesdienst gehalten werden konnte. Herrlich war's abends an einem trockenen Fleck der Veranda zu sitzen und den Regenduft in vollen Zügen einzuatmen und dann gab's noch im Westen den großartigsten Sonnenuntergang und im Osten aus finstern Nachtwolken ein fortwährendes Blitzen über den ganzen seltsam vielfarbigen Himmel hin.
Bei uns ist nur der Kamin in der Küche eingefallen sonst nichts. Jetzt wollen wir unser liebes Gärtlein, das uns seit dem Regen täglich einen Rosenstrauß liefert recht nett einsäen; ich habe von Kotri Samen bekommen für Reseden, Levkoien usw. Zum Glück ist das Gärtchen bis jetzt von den gefräßigen Heuschrecken, die wie Wolken einherschwärmen, verschont geblieben. da es so unter dem Schutz des Hauses steht.

An Hermann, Friedrich und David Gundert

Haidrabad 19. September 1866 [23]

Meine lieben teuren Brüder! Möchte Euch allen drei nur kurz gratulieren zu Eurem herzigen Neffen Theodor Isenberg dem einzigen ganz deutschen Kind in Haidrabad. Ihr dürft stolz auf ihn sein soweit das überhaupt erlaubt ist; denn allgemein wird der prächtige große dicke schwere kräftige Bube mit seinem Köpflein voll nettem dunkelblondem Haar bewundert. Ach Ihr hättet wohl eine Freude wenn Ihr ihn ein Weilchen herumtragen und alle seine seltsamen Arten von Gesichtlein sehen könntet: er gähnt nach Herzenslust und scheint einen oft anzulächeln. Am ersten Tag sah er seinem Papa ganz lächerlich ähnlich: Nase Stirn Kopfform insgesamt. Seither meine ich seien die Züge weniger klar: er ist eben ein köstliches Kind mit zarter feiner Haut, rosaweiß und wenn er im Bad (wobei er jämmerlich schreit) seine fetten roten Beinlein herumschlenkert und sein hohes prächtiges Brüstlein (Gundertisch - hoffe er singt einst gut) hebt ist's eine wahre Lust. Das stark ausgeprägte runde Kinn hat er auch von seinem Großpapa Gundert. Die Augen anfangs dunkelblau scheinen immer mehr ins Braune überzugehen. Er schaut oft ganz klug in die Welt hinaus ... Ich werde eine unverbesserliche Schwätzerin mit dem Kind; sobald ich's auf dem Arm habe muß ich mit ihm reden und er hat's gern. Ich bin jetzt auch recht dankbar für die Amme, ich hätte sonst nicht so schnell erstarken könen und das Kind gedeiht prächtig. Sie liebt ihn zärtlich, heißt ihn ihren kleinen Herrn, ihre Perle.

An Julie und Hermann Gundert

Haidrabad 26.Juli 1868

Gestern früh machte ich den versprochenen Besuch bei Bibi Milka, der Witwe des Mir Abasali. Ich fühlte mich sehr unwohl und hätte die Fahrt nicht unternommen, wenn ich die Strapazen des Weges gekannt hätte. Sie wohnt drei Meilen von hier, aber der Weg ist eigentlich unbefahrbar, wir kamen nur sehr mühsam voran, manchmal fast im Sand versinkend. Unterwegs zerbrach der Wind meinen Schirm und mit dem dünnen kleinen Strohhut im unbedeckten Wagen in der furchtbaren Hitze und die Augen voll Sand, fühlte ich mich erbärmlich. In der langen zerbröckelnden Mauer des Hauses fanden wir endlich die Pforte, wo der Bibl Bruder meinen Mann zurückhielt während ich in den Raum eintrat, den kein männlicher Fuß je betreten darf. Arme Bibl, in dieser Wüste ein ganz verwilderter früherer Garten mit verfallenen Mauern statt Häuslein drin da muß sie ihr Leben fristen und ist erst fünfundzwanzig Jahre alt schön und liebenswürdig und gefühlvoll! In ihrem eigenen Haus das ein höchst einfaches aber hohes reinliches Parterre ist kam sie mir entgegen und drückte mir herzlich die Hand. Sie war von Kopf zu Fuß in weißen Musselin eingehüllt und der einzige Schmuck war ihr anmutiges Gesicht und feines Benehmen. Bald füllte sich das Gemach mit Frauen die bedeutendsten wurden mir vorgestellt der Bibl Mutter setzte sich neben mich. Es schwindelte mir im Kopf, ich war nahe daran in Ohnmacht zu fallen. Mit einem stillen Seufzer zu Gott suchte ich mich zusammenzuraffen und mit den Frauen zu sprechen. Die Bibl sagte, daß sie ein Hindostani-Evangelium besitze es aber ohne Erklärung nicht lesen könne. Ich versprach ihr das nächstemal Sindhi vorzulesen was sie freute. «O was wird die Sindhi lesen können» sagte eine der andern Frauen verächtlich lächelnd. Mir wurde immer elender, ich mußte der Bibi sagen, daß ich mich krank fühle und heim müsse. Sie begleitete mich vors Haus, und bat mich, bald wiederzukommen und meine Kleinen zu bringen. Mehrere Frauen gingen mit bis zu der Pforte die für sie ewig geschlossen bleibt und sie von aller Lebensfreude trennt. Dort stand ein Knecht und führte mich an den Wagen. In der Luft wurde mir's bald besser.

An Hermann Gundert

Calw, 7. Dezember 1874
Gewiß seid Ihr im Geiste auch bei uns gewesen in letzter Zeit und hättet am zweiundzwanzigsten auch gern die Hochzeit mitgefeiert. So bin ich denn wieder eine glückliche Gattin an der Seite eines treuen Mannes, der mir helfen will auf dem Weg zur obern Heimat und mir besonders eine große Stütze ist in der Erziehung meiner Knaben. Mein Johannes[24] ist so liebevoll gegen sie, gibt sich in Freistunden so nett und lebhaft mit ihnen ab, spielt und lacht mit ihnen, lehrt Theodor Latein und ist zugleich so sicher im Auftreten, so fest und konsequent ohne je böse oder gereizt zu scheinen, daß die Kleinen Respekt und Liebe kriegen müssen. Theodor hält auch alles auf seinen neuen Papa Karlchen, probiert wo er kann etwas Opposition allein so nach und nach merkt er, daß es nichts fruchtet, daß er doch immer den kürzeren zieht und, daß es keine Schande ist den neuen Papa zu lieben und das zu zeigen. Gegenwärtig brummt und schreit er immer vor sich hin etliche lateinische Sätze die Theodor von Papa gelernt hat. Die Kinder sind sehr froh an unsrem großen hellen Logis und dem trockenen kinderwuselnden Marktplatz vor den Fenstern. Karlchen meint: «Der liebe Gott muß uns doch arg lieb haben, daß er uns so ein schönes Haus schenkt!»
Dem lieben Johannes geht's über Erwarten gut; er arbeitet den ganzen Tag hat mit mir eine Reihe von Danksagungsbesuchen machen müssen und ist frisch und munter. Natürlich ist täglicher Verkehr zwischen dem Elternhaus und unsrem. Samstagabend waren die Lieben da Papa spielte auf dem Harmonium und wir sangen. Gesungen wird bei uns sehr viel nach dem Essen beim Aufstehen während der Arbeit oder abends; denn Johannes hat seine größte Freude am Gesang wiewohl er selbst kaum eine Melodie allein singen kann, d. h. nach seiner eigenen Melodie singt er allerlei Lieder Psalmen und Herzensgedanken! Theodor errät ganz nett die zweite Stimme zu fast allem was ich singe. In einem komischen Briefe der Johannes sehr gaudierte, schreibst Du lieber Hermann von uns als außerordentlichen Leuten. Wenn Du mich aber fast den ganzen Vormittag mit Zimmerreinigen und Kochen beschäftigt sähest, würdest Du am Ende doch noch an eine ordentliche Hausfrau glauben. Ich habe bloß ein unwissendes aber williges braves vierzehnjähriges Mägdlein da muß ich überall vor und mitmachen. Das macht mir aber viel Freude und ich merke, daß ich da noch was lernen kann und so geht's gut. Wir kochen jetzt natürlich selbst und ich habe von meiner neuen russischen Kusine, [25]die am Tag vor der Hochzeit bei mir war, etliche russische Speisen kochen gelernt, die Johannes sehr munden. Auch mein außerordentlicher Eheherr ist ein sehr ordentlicher Vater der Buben ankleiden hilft und mich bei einem vorübergehenden Unwohlsein aufs allertreuste pflegte, sogar im Wohnzimmer den Teppich putzte und den Staub abwischte damit ich ruhig liegenbleibe!

An Julie und Hermann Gundert

Weißenstein 8. Juli 1876 [26]

Teure Eltern! Johannes hat vom Schiff aus sein Blatt vollgeschrieben nun mach ich von der neuen Heimat aus weiter. Ja Gott sei Dank wir sind da und es ist alles so viel schöner und lieblicher geworden als ich Je gedacht! Ich will suchen der Reihe nach zu erzählen. Also in Lübeck aufs Schiff etwa zwei Stunden lang auf der Trave dann ins schöne Meer hinaus köstliche Luft prächtiger Sonnenuntergang nach neun Uhr erst um zehn noch heller Tag und schon um zwei Uhr morgens lacht die Sonne wieder zur Kajüte herein und weckt Adelchen,[27] die nun bloß spielen und trinken wollte. Die Milch war sauer wir kochten Nestles Kindermehlbrei und zwar, da der Spiritus ausging, mit Kölnisch Wasser!
Dienstagmorgen neun Uhr Ankunft in Reval[28] das allerliebst daliegt. Eine Langweilerei mit Zollbeamten usw. ehe man ans Land konnte wo am Ufer die drolligsten Figuren standen: Weiber mit herrlichen Hauben und nackten Füßen, Kutscher in langen Schlafröcken, miserable Beamte in schmierigen Uniformen, estnische Bauern mit wallendem Haar usw. Inwendig ist Reval nicht so schön wie von ferne, das Pflaster unter aller Kritik schlecht, schmutzig eng, wimmelnd von den wunderlichsten Fuhrwerken und Karren; Tag und Nacht hört das Rasseln nicht auf; die Leute leben abends alle erst recht auf, die Kutschen fahren bis nach Mitternacht und dann schon vor dem frühen Morgen fahren die Bauern vom Land scharenweise herein. In einem unbeschreiblich komischen Dröschklein fuhren wir an das schöne Wohnhaus des Baron Stackelberg, wo alle Türen weit offen standen aber zuerst kein Mensch zu erspähen war. Endlich stöberte Johnny den alten Baron bei seiner Toilette auf und wir wurden aufs liebenswürdigste und herzlichste von demselben bewillkommt. Tante Catty war ausgegangen, da sie uns erst abends erwartet hatte kam aber bald und war sehr lieb. Wir haben viel Güte und Freundlichkeit von den beiden erfahren dürfen, auch um die Kleine war alles rührend besorgt und die Kleine sah recht heiter an den schönen Gernälden vielen Spiegeln Kronleuchtern usw. herum und es schien ihr zu gefallen besonders auf dem Balkon. Später wurde Baby recht unruhig und war sehr unzufrieden wenn man sie mir abnahm; bei Nacht ließ die Helle und der entsetzliche Straßenlärm uns nicht viel schlafen. Mit Baron Ungern-Sternberg fuhren wir dann in der Eisenbahn von Reval fort am Donnerstagmorgen. Etwa zwei Stunden ging's per Bahn dann stiegen wir aus, tranken einen Tee und bestiegen einen nicht leicht zu beschreibenden Kasten, vor dem drei Pferde gespannt waren. Das Fahren gefiel Adelchen sehr sie war herzig lieb, schlief, sang, lachte und trank abwechselnd. Unser Gefährt rumpelte merkwürdig und man konnte sich nirgends anlehnen dazu drohte der Regen. So baten wir auf der nächsten Station - zwanzig Werst von der ersten entfernt - um einen bedeckten Wagen und erhielten nach langem Warten ein etwas zivilisierteres immerhin noch drollig genug aussehendes Gefährt, dessen Deckel uns von drei Seiten vor dem Regen schützte. Wir waren übrigens sehr guter Dinge, sangen auch und langten gegen halb fünf Uhr in Kaltenbrunn an, wo Johanna mit ihrem Vetter Reinhold Stackelberg und dessen Frau schon lange auf die Glocken unserer Postchaise gewartet hatten mit einem guten Essen. Es war dort wundernett dieser herzliche Willkomm diese freie ungekünstelte Gastfreundschaft war überaus wohltuend. Johanna hatte von Weißenstein gehört, daß wir an diesem Tag vorbeikämen und so winkte sie uns gleich von weitem zu. Adelchen freute sich am Knaben Wolter und nagte mit Behagen ein Beinchen Geflügel ab. Nach kurzer Rast fuhren wir weiter bis endlich der Kirchturm und die russische Kuppel samt Schloßturm von Weißenstein zu sehen waren. Abends nach sieben Uhr war der glückliche schöne Moment wo vor der Haustüre der Eltern Hesse alle Kinder vereint waren. Hermann half mir herunter, nachdem er schon die Kleine von Johnnys Arm herab dem Großvaterle in den Arm gelegt hatte. Mir war als kennte ich alle schon; es bedurfte keiner Vorstellung, man lag sich am Hals und freute sich inniglich. Papa [29] Hesse war ganz rührend lobte laut seinen guten Herrn nahm mich in die Arme und führte mich durchs ganze Haus und durch den Garten in hellem Jubel. Dann kam der Tee von der alten buckligen Anna gemacht und von der jungen Greta serviert. Die junge Anni kocht und die herzige Liny ist Adelchens treue Dienerin und hat sich schon lange gefreut gehabt und immer gefragt: «Wann kommt denn mein Herr und mein Fräulein?» Adelchen hat sich schnell an Liny gewöhnt, aber die alte Anna mit dem runzligen Gesicht und der hohen estnischen Mütze, die wie ein Turm auf dem Kopf sitzt fürchtet sie geradezu und schreit, sobald sie in die Nähe kommt.
Georg [30] ist noch etwas gewachsen, Gustav ungeheuer groß und dick, treuherzig und voll Witz und Humor mit großem Schauspielertalent; Hermann, ein allerliebster anspruchsloser netter freundlicher Mensch hat mit Adelchen gleich zärtlichste Freundschaft geschlossen und sie ist gern bei ihm. Jenny sieht sehr schlecht aus, ist aber immer heiter und für alle treu besorgt ... Die erste Nacht schliefen wir im Gastzimmer aber am folgenden Tag zogen wir herüber in zwei nette Zitnnier visavis von den Eltern, da es im Hause doch sehr voll und nie still ist; diese Zimmer waren den lieben Eltern für ihre Gäste angeboten worden und es ist so nett und traulich da; wir können uns zurückziehen, wenn wir wollen, wie jetzt zum Schreiben und sind doch ganz daheim, sehen dem Papa direkt in sein Zimmer hinein und können aus und ein gehen mit eigenem Schlüssel. Natürlich sind wir eigentlich immer drüben, meist im Garten, der gar lieblich und schön und gut ist mit lachenden Blumenbeeten, schönen Wegen, von den Brüdern sinnreich benamst mit schattigen Plätzen und frischem grünem Rasen. Jedes Blümchen, jedes Salat und Gemüsestöckchen kennt und liebt Papa, sie sind alle wie seine Kinder! Man lebt im Garten, frühstückt dort, ißt dort zur Nacht, schläft nach dem Essen im Gras, spielt, studiert, arteitet und singt dort, ein frisches, frohes Ferienleben gesund und köstlich.
Heute sind wir aber auch alle vor die Stadt hinaus auf die Wiese, haben das Heu zusammengerecht, uns dreingelegt und gesungen, daß es eine Lust war. Der alte Papa Staatsrat hat in Hemdärmeln geschafft um die Wette mit seinem mächtigen Sohne Gustav der ein Herkules an Körperkraft ist. Johannes hat auch heuen helfen und war so glücklich und wohl dabei, überhaupt ist er voll Leben und Heiterkeit spielt und ißt alles mit.
Noch habe ich kein Wörtlein von Mama [31] gesagt die gute liebe Mama, immer so voll Güte und Aufmerksamkeit gegen alle! Sie hat recht die Gabe, dem Hause vorzustehen alles kriegt eine Art und Geschmack was sie anrührt und sie selbst kommt mir schöner jünger vor als damals in Calw. Wie eine Königin schreitet sie einher unter ihren Söhnen von allen geliebt und geehrt. Die Bilder an der Wand, die schönen illustrierten Sprüche usw. sind fast alle von ihrer Hand; Papa sagt sie sei sein Kopf beim Gärteln, er bloß die Hand, alles ist schön um sie her. Ich habe nun auch das Handküssen und küssenlassen gelernt, ohne das kommt man hier nicht durch ... Eine alte Freundin von Papa, Frau Dittmar schickte ein prächtiges großes Kalb und einen ganzen Kübel voll Butter zu Johannes' Willkomm.

An Julie und Hermann Gundert

Weißenstein, 20. Juli 1876

... Am Sonntag hat Johannes über Petri Fischzug gepredigt und die sonst halb leere Kirche war sehr voll und alle möglichen Kutschen und Equipagen hielten davor. Von den Stackelbergs allein waren achtzehn hergefahren, von vier verschiedenen Gütern, teils ziemlich weit weg. Es kamen endlose Besuche nach der Predigt aber mein Johnny bekam sein schreckliches Kopfweh und lag recht elend auf seinem Bett und konnte sich von niemand sehen lassen als von der teuren Johanna und Tante Catty. Es kamen aber nicht bloß Gäste ins Haus, sondern auch Vorräte an Butter und Brot, Gurken und Beeren. Nachmittags kam obendrein eine kleine Kiste aus Reval, die uns allen viel Freude und wahre Erbauung verschaffte, obschon sie sehr materiellen Inhalts war. Da kam Wein und Champagner, Käse Sardinen Bonbons heraus. Abgeschickt hatte sie ein Friedrich Starck Delikatessenhändler in Reval mit nettem Brief. Dieser Friedrich Starck aber war einst ein armer Estenbube gewesen den Papa von der Gasse aufgelesen, allerlei lernen lassen hat und dann als Hausknecht angestellt hatte. Ein ganz armer aber sehr begabter und strebsamer Knabe, hier geschult immer für sich weiter lernend. Später kam er mit einem griechischen Heiligen zusammen, las mit ihm nächtelang Legenden, wollte heilig werden, wollte sonntags nicht für Papa anspannen usw. Papa steckte ihn gegen jedes Recht einen Tag ins Zuchthaus, um ihn zum Verstand zu bringen, entließ ihn dann im Frieden und der Bursche tritt anderswo in Dienst. Später wird er Schneider und lebt hier.
Plötzlich wird er vollends wahnsinnig, rennt nackt durch die Straßen, schlägt Scheiben ein zerstört alles. Papa wird gerufen, der Wahnsinnige folgt ihm wie ein Lamm, zieht Schlafrock und Stiefel an und wird von ihm am Arm in seine Wohnung geführt, aufs Bett gelegt und festgebunden; nun speit der Unglückliche ihn an, stößt ihm Schere, Bügeleisen, Elle an Gesicht und Kopf, droht ihn zu ermorden und wütet entsetzlich. Papa mutterseelenallein bei ihm. Endlich kommt jemand; Papa gebietet, acht Soldaten zu bringen. Nun wird der Unsinnige geknebelt, in eine Kutsche gesteckt und nach Reval ins Narrenhaus befördert, allwo man ihn nach längerer Zeit als unheilbar entließ. Papa behandelte ihn dann, während er die schauerlichsten epileptischen Anfälle hatte, und siehe da: Gott tat ein Wunder und heilte den Armen vom Wahnsinn und von der Epilepsie und gab ihm ein neues Herz und frommen Sinn. Nun wurde er Schneider und schaffte sich immer mehr empor. Neuerdings hat er eine Handlung und schreibt, er schicke hier seinem Wohltäter ein Opfer seiner Erstlinge! Er hat schon zwei Töchter, die als Lehrerinnen ihr Brot verdienen, und läßt die Kleinen gut erziehen, schreibt, die eine nehme sogar Violinstunden. Ihr könnt Euch denken, wie es Vaterchen freute.
Am Montag war Johannes wieder wohl und wir spazierten allesamt nach Müntenhoff, einem schönen Gut mit viel Wald und romantischen Schluchten, früherem Steinbruch usw. Dort rüstete Vaterle mit unermüdlicher Energie einen schönen Stoß von dürren Ästen, Klötzen und Tannenreisern, und nun ging ein herrliches Feuer los. Ich dachte an mein Vaterle daheim, der auch so gerne Feuerlein machte. Hier kann man darin so frei handeln wie in Indien. Abends hielt Papa Hesse wieder seine Bibelstunde, und zwar über Psalm 78, ergreifend kindlich, klar und voll Gebet. Seit wir hier sind ist er zweimal gerufen worden zu Sektionen, das eine Mal zu einem totgeprügelten Esten. Solches wird ihm jetzt im Alter schwer. Im übrigen praktiziert er auf
seinem Zimmer ganz frisch und heiter und die Bauern laufen herzu. Er sagte mir neulich, als wir in seinem Zimmer saßen: «Das ist mein köstliches Zimmer, das hat mir mein Gott so wunderbar geschenkt, es gibt doch nirgends eine geschicktere Doktorsstube. Mag im Salon vor sich gehen, was will, die Kranken kommen ungesehen da herein; ich schließe zu und nun geht's los. Ja, dies Zimmer ist geweiht. Ich sagte: »Durch Gebet« Aber er lächelte freundlich und sagte jovial: «Ha nun, das versteht sich ja am Rand, aber nein, ich meine, durch Handarbeit
ist sie geweiht. Treue Arbeit und unerbittlicher Gehorsam das ist's, was die rechte Weihe gibt. Hu! Und Gott sei Dank, gearbeitet habe ich diese fünfundvierzig Jahre wie toll!»
Auch heute noch ist's so: schreibt und praktiziert er nicht gerade, so arbeitet er im Aufzug mit hohen Stiefeln und uraltem Hut und abschabtem Schlafrock im Garten wie ein Knecht
und kommt schweißtriefend, aber voll Dank und Freude über seine lieben Pflanzen wieder heim. Macht Toilette und erscheint beim Essen. Nachmittags schläft er immer zwei Stunden, was in diesem Land des Sommerlichts, wo man im Schlafen nachts zu kurz kommt, für alte Leute notwendig ist. Ich lege mich auch oft ein Stündchen hin nach dem Essen, da ich mit Adelchen unruhige Nächte habe und auch ganz unwillkürlich immer spät zu Bett komme, denn das Nachtessen ist, erst um neun Uhr, und dann fängt das gemütliche Springspielen im Garten oder das Musizieren usw. erst an.
Gestern hielt Johannes in der Kirche von sechs bis sieben einviertel Uhr Bibelstunde und darauf spazierten wir auf den zwei Werst Gottesacker hinaus und kamen erst um halb zehn Uhr zum Abendessen heim. Am Kirchhof war's schön. Die fünf Hesseschen Gräber beieinander, daneben eine Bank zum Ausruhen unter drei großen Bäumen, die Vaterchen einst selbst gepflanzt hat. Auf dem Heimweg hatten wir das prachtvolle Abendrot rings Horizont und Weißenstein mit seiner grünen russischen Kirche, dem weißen lutherischen Kirchturm, den
schönen Ruinen und dem Wall sah in seltsamen Beleuchtung reizend aus. Wir sangen auf dem ganzen Heimweg Lieder, und Vaterle, der Kleine zwischen der großen Mama und dem noch größeren Gustav schritt so stillfroh dahin, frohbereit zum Sterben und doch auch froh zu leben...
Am Dienstag besahen wir das von Vater gegründete Armenhaus an dem der dicke gute Malz, ein gebildeter Este, ein warmer Christ und Missionsfreund Hausvater ist. Die freundliche Frau machte uns gleich einen trefflichen Kaffee. Das Töchterlein kam barfuß hereingesprungen, entfernte sich dann aber etwas verlegen. Man sieht beständig barfüßige Esten mit Schuhen in der Hand, denn zum weiteren Gehen ist's ihnen so bequemer. Die Bettler die herumziehen mit langen Haaren, barfuß in braunen Kutten, mit einem großen Bettelsack stehen vor die Küche hin und singen in seltsam eintöniger Weise ein Lied oder das Vaterunser und weichen nicht, bis sie abgefüttert worden oder doch etwas in ihren Sack bekommen haben ...

An Johannes Hesse

Basel 2. August 1881 [32]

Herzensjohnny! ... Es ist eine Familie mit sechs Buben in unsere nächste Nachbarschaft gezogen. Der Frau sagt man sehr Schlimmes nach und die Kinder haben ganz abscheuliche Worte im Mund. Die Buben hatten's gleich auf Hermann abgesehen. der einen Tag mit ihnen auf der Wiese Höhlen grub u. dgl. Sie schickten ihn einmal Rechen und Hacke zu holen ein andermal die Gießkanne und Fahne, später um Puppenwagen und Spielzeug. Da mußte ich ernstlich einschreiten, verbot den Buben unseren Garten und warnte Memmerling [33] vor ihrem Umgang. Jetzt trutzen sie scheint's und rufen ihm Schimpfnamen nach wo sie ihn sehen. Es ist aber schwer, Hermann ganz im Hof und Gärtchen zu halten. Die Wiese daneben war so bequem. Gestern spielten die Kinder, Hermann verkaufte Bilder und Papier. Nun nannte ihn Adelchen: «Herr Papiermann». Wütend schreit er: «Habe ich dir nicht gesagt, daß ich der Tagedieb bin?» Adelchen antwortet gelassen: «ja weißt unser Papa war früher Missionar und ist jetzt ein Schreiber und so kannst du vor ein paar Stunden Tagedieb gewesen und jetzt doch Papiermann geworden sein.» Was sich Hermann unter Tagedieb denkt, das erklärte er gestern: «Einer, wo ganz lieb eben am Tag bei den Leuten holt was er braucht oder will.» Bete du mit mir für Hermännle und bete für mich, daß ich Kraft bekomme ihn zu erziehen. Es ist mir als wäre schon die Körperkraft nicht ausreichend; der Bursche hat ein Leben, eine Riesenstärke, einen mächtigen Willen und wirklich auch eine Art ganz erstaunlichen Verstand für seine vier Jahre. Wo will's hinaus? Es zehrt mir ordentlich am Leben dieses innere Kämpfen gegen seinen hohen Tyrannengeist, sein leidenschaftliches Stürmen und Drängen ... und Gott muß diesen stolzen Sinn in Arbeit nehmen, dann wird was Edles und Prächtiges draus, aber ich schaudere beim Gedanken was bei falscher oder schwacher Erziehung aus diesem passionierten Menschen werden könnte.

An Karl Isenberg

Basel 12. März 1882 [34]

Wir haben prächtiges Wetter, ja es ist schon ordentlich heiß beim Marschieren. Wir haben die Vorfenster weggetan und der Gärtner ist bestellt zum Herrichten unseres Stückchen Landes, das den Winter über als Spielplatz benützt und gehörig hartgetreten worden ist. Es ist nur gut, daß wir so ländlich wohnen und Hermann auf der Wiese daneben seine überschüssige Energie hinauslassen kann. Gestern sah ich ihm von meinem Arbeitstischchen am Fenster aus zu, wie er sich ganz unglaublich wild und lustig mutterseelenallein auf der Wiese wälzte und herumwarf, tanzte, hopfte, Purzelbäume schlug ohne Unterbrechung ohne Ermüden über eine Stunde lang, gerade wie ein ausgelassenes Füllen oder Geißböcklein. Die Kleider sehen natürlich danach aus, aber solche Leibesübung ist das beste für ihn, sonst kommt er auf Lumpereien und dann kommen Klagen von oben und unten und rechts und links: «Hermann hat mein Kind gestoßen! Hermann hat eine Scheibe eingeworfen! Hermann wirft die Nachbarskinder mit Steinen! Hermann springt ganz weit fort» u.dgl. Wenn ich nur jemand draußen den Namen Hermann nennen höre, ist mir's schon angst, was wieder los sei. Ja er ist ganz furchtbar lebhaft, rasch, umtriebig und folgt leider nicht. Dann kann er wieder so nett und lieb sein, der Marulla [35] Bilder zeigen, und sie herzen und mir selbstgedichtete Liedchen vorsingen wie z.B.
Das Vöglein im Wald,
so nett ist es halt,
und singt so schöne Liedlein
und schlüpft dann in sein Nestlein
Im Bett singt der vierjährige Kramp oft lange, lange aus dem Stegreif ganz nette Sachen und Reime. Er dauert mich ganz, daß er dann wieder so bös und heftig ist. Adelchen wird groß und dick und sieht so frisch und gesund aus, ebenso Marulla, die immer selbständig laufen möchte und doch nicht kann. Ich bin mit den Kindern viel im Hof, wo wir gegen die Sone unsere spanische Wand aufstellen und die Bank dahinter...

An Karl Isenberg

Calw 13. Mai 1892

... Herr Repetent [36] Wüterich sagte mir, Hermann habe gar keinen Willen mehr, sondern bloß noch Phantasie. Zu klagen hatten sie nichts besonderes. In den Lektionen halte er sich ganz gut und aufmerksam, aber in der Arbeitszeit schaffe er nicht, sondern dichte. Herr Ephorus [37] bat für ihn um ein halbes Jahr Urlaub zur Erholung, und wir nahmen Hermann mit nach Boll, wo er sehr freundlich aufgenommen wurde. Über den Sonntag waren wir noch mit ihm dort, dann fuhr Theo nach Günzburg und ich nach Hause zurück. Einige Wochen ging's gut, und wir hofften das Beste, dann trat wieder Kopfweh, Appetitlosigkeit und Schlafmangel ein. Am 21. Juni beim Frühstück kam von Boll [38] ein Brief, ich möchte sofort kommen, denn gestern habe Hermann einen Selbstmordversuch gemacht. Natürlich reiste ich gleich ab, bestellte telegraphisch David, daß er von Stuttgart an mit mir reise. Ach war das ein Reisen! In Brodersens Restauration, als Gefangener, finster und verstört saß Hermann finster und grüßte uns nicht. Es waren die qualvollsten Stunden meines Lebens, die ich bei ihm - Tag und Nacht - zubrachte. Nach langen Beratungen war David heimgereist. Am Morgen kam Doktor Engelhorn (der Oberarzt) furchtbar scharf und streng sprach Blumhardt, [40]der alle Krankheit vergessen zu haben schien und bloß Bosheit und Teufelei herunterdonnerte daß einem Hören und Sehen verging. »Der Herr hat's ihn geheißen«, dachte ich und verstummte, als er und Brodersen (der übrigens voll Liebe und Mitleid mir nicht Gutes genug tun konnte und dessen Teilnahme ein süßer Tropfen im bitteren Wermutsbecher war) von schlechter Erziehung und ihren Früchten predigten. Schließlich riet Herr Pfarrer Blumhardt, zu Pfarrer Schall [41] nach Stetten zu gehen und zwar »unangemeldet mit Sack und Pack vor ihn hinstehen« und bitten, daß er Hermann nimmt, sonst behalte er ihn keinesfalls. In Stetten ging's über Erwarten gut. Die Gartenarbeit brachte Appetit und Schlaf, und Hermann wurde körperlich auffallend gekräftigt.

An Karl Isenberg

Calw, 6. Juli 1892

... Gott sei Dank, wir haben bisher aus Stetten recht gute Berichte bekommen. Nicht bloß schrein Herr Inspektor zweimal zufrieden, sondern Hermann selbst hat wiederholt ordentlich - zwar kurz - geschrieben. An seinem Geburtstag bekam er von Herrn Inspektor einen Blumenstrauß und Hefenkranz, durfte bei ihnen den Kaffee trinken und nachher mit drei Lehrern in den Wald spazierengehen. Er treibt täglich eine Stunde Livius, [42] Geschichte, usw. In der Schule vikariert [43] er auch eine Stunde am Tag, morgens arbeitet er im Garten, und infolge davon sei der Schlaf ordentlich. »Neben mir wohnt ein sienzehnjähriger Bengel namens Tom, der schon so oft im Karzer saß, daß dieser >Onkel Toms Hütte< heißt«. Es steht also über Erwarten gut so weit, aber wir müssen stets gefaßt sein auf ganz unmotivierte Ausbrüche - wie er ja damals uns so entzückt über Maulbronn schrieb und vier Tage drauf davonlief! Daß er aber in treuen, guten Händen (auch der Menschen) ist, gereicht mir sehr zum Trost und zur Beruhigung.
Ich war in letzter Zeit sehr in Anspruch genommen durch Konkordanzkorrekturen, [44] wo ich jede Bibelstelle nachschlagen muß. Ich übernahm's vom Geschäft, um etwas nebenher zu verdienen und seit ich mich eingelebt habe in die Arbeit macht sie mir auch wirklich Freude. Ich bringe so sehr viel Zeit an der Bibel zu und freue mich immer wieder an vielen herrlichen Stellen.

An Adele Hesse

Calw, 23. Oktober 1892

Herzliebes Tochterle! Wenn Gedanken Briefe wären, hättest schon viele von mir, mein teures Kind. Bei uns schneit's immer wieder und ist schon rechter Winter. Marulla sah vorhin bei Frau Inspektor ihre künftige Lehrerin, Fräulein Braun und meint «für die werde keine schwärmen». Karl will erst heute nachmittag 4 Uhr kommen.
Von Hermannle erhielt ich am Freitag einen rührenden Brief, sehr zärtlich, aber auch sehr unglücklich, bittet um Verzeihung, fühlt, daß er «im innersten Mark krank» sei und hat Angst vor der Zukunft. Hubers [45] andere Freunde hatten ihn eingeladen. Heinrich Pfisterers [46] Ferien sind aus. Ihm selber ist's beengend, wenn man ihn als fragt, wie lange er (Hermann) noch Vakanz [47] habe. Armes, liebes Kind! Es ist mir ein großer Trost, daß er mir doch so geschrieben hat. Von Hametweil immer noch keine Antwort und wir sollten doch wissen wohin, wenn es in Basel bald wieder aus ist. Hermann hatte auch Fräulein Häfelinger gesehen und schreibt Grüße von ihr ...

An Hermann Hesse

Calw, 17. März 1893

Mein liebes Kind! Habe nur guten Mut zur Ostervakanz und komme Du gerne heim. [48] Mit Gottes Gnade wollen wir alle einander lieben und wohltun, uns des anbrechenden Frühlings freuen und neue Kraft zur Arbeit holen in der freien Zeit. Wann bekommt Ihr Ferien und auf wie lang? Am Karfreitag ist Konzert. Ostermontag Gesangsverein-Ausflug, Osterdienstag reist Karl fort. Hans [49] darf für acht Tage in die Vakanz zu Onkel David als Pauls Freund. Es wird nun wohl nimmer nötig sein, Dir vorher noch die Wäsche nach Cannstatt zu schicken oder doch? Heute kam endlich von Theo eine Karte. Er hat leider noch keine Stelle, hofft aber immer. Hast Du von ihm nähere Nachrichten? Heute schneit es wieder drauflos doch ist man froh zu wissen, daß das nimmer Regel sondern bloß noch Ausnahme sein wird. Wir hatten große Wäsche, Schneiderei und viel Arbeit, um gerüstet zu sein für Ostervakanz und Karls Abmarsch. Wenn Du wirklich Mut hast, einen Teil des Wegs zu Fuß zu machen, so sei doch bitte recht vorsichtig und gehe nicht zu schnell, das ist bei Herzfehlern sehr schädlich. Ist das Wetter nicht recht verlockend, so reise lieber ganz mit Bahn. Denke Dir, Karl hat auf der alten Trompete noch blasen gelernt und sich damit oft Spaß gemacht. Überhaupt war er gern wieder ein Weilchen daheim und war recht häuslich. Mir war's sehr lieb, ihn da zu haben; er hatt ja so früh schon unter fremde Leute müssen und da war's gut wieder still zusammen leben. Der Vetter dauert mich, daß er nun nicht Vakanz hat an Agnes' Konfirmation, da sie um acht Tage verschoben ist. Wilhelm Dreiß begegnete uns neulich strahlend und wir gratulierten.
Großvater geht's wieder viel besser, er hat mehr Appetit und guten Schlaf. Der neue Wärter Kunz pflegt ihn sehr sorgfältig. Großvaterle selber sagt: «Der Seiltänzer hopst als nur geschwind auf mein Bett und zupft an mir herum, bis ich ihm schön genug daliege!»

Karl und Adele lernen für Tantele wie Schulkinder zusammen ihre französischen Regele mit Eifer und machen ihre Übersetzungen. Karl muß ja in Dransfeld auch Französisch und (wahrscheinlich Englisch), Klavier und alles - außer Religion das die Eltern geben - unterrichten. Der bisherige Hauslehrer mußte schon krankheitshalber fortreisen und so sind sie jetzt ein Weilchen ohne.
Bitte schreibe mir wann und für wie lange Du Vakanz bekommst und wegen der Wäsche bitte. Ich möchte Dir so gerne Mut und Hoffnung einsprechen teures Kind. Geben kann's Dir nur Gott und Ihn bitten wir drum für Dich. Gewiß gibt es auch für Dich einen befriedigenden Beruf und ein Lebensglück, aber es gilt einstweilen Geduld haben, das lernen, was jetzt gerade Du lernen kannst. Deine Gesundheit kann sich ja auch bessern. Alle grüßen herzlich - innig küßt Dich deine Maina

An Marulla Hesse

Calw, 2. März 1901

... Bei uns waren die großen Ereignisse der Woche Herrnanns Ankunft [50] am Mittwochnachmittag und unsere Schlittenfahrt nach Aidlingen [51] am Dienstag. Hermann sieht recht mager aus, ist aber munter, treibt Italienisch, hat uns einen Abend schön vorgegeigt, einen Abend zwei seiner neueren Gedichte vorgelesen - fast zu viel Anregung für den schwachen Hausvater. Er ist zutunlich und lieb hat sich im hintern Gast-Zimmer nett häuslich eingerichtet, ordnet für Papa einige Zeitschriften, spielt im «Waldhorn» nach Tisch etwas Billard und treibt seine Studien. Dienstagmorgen, als ich zu Papa kam, sagte dieser, er sei jetzt bereit, nach Aidlingen zu fahren. Zuerst war mir's ein Schreck, denn ich war in keiner Weise drauf gerüstet, hatte den Vetter zum Essen eingeladen, nachmittags sollte Missionsverein sein usw. Doch da der Morofsche Schlitten zu haben war, fuhren Papa, Tante Jenny und ich um halb elf Uhr ab. Vorher saß uns die gute E. in vollster Seelenruh eine Stunde her, während an mir jeder Nerv zappelte. Es war wundervolles Sonnenwetter, mild und schön und der letzte gute Tag zur Schlittenfahrt ... Wir hatten Theo telephoniert und so wartete vor der Apotheke - von unglaublichem Schmutz und rieselnden Bächlein umgeben - die ganze Familie gespannt auf uns, alle Gänse im Dorf empfingen uns bei der Einfahrt mit Flügelschlagen und ohrenzerreißendem Geschrei, die ganze Dorfjugend johlte freudigen Gruß! Ich Din sehr froh und dankbar, daß wir Kinder und Kindeskinder wiedersahen und einige herzliche Liebesstunden beisammen waren. Die drei Kinder sind allerliebst auch Thusnelde reizend nett und zutraulich, nur schläft sie von jeher sehr wenig und sehr unruhig. Wir hatten große Freude an den Enkelein. Hermann wollte durchaus mit nach Calw und weinte bitterlich beim Abschied. Auf dem Heimweg war unvergleichlich schöner Sonnenuntergang.