Ricarda Huch

18. Juli 1861 bis 17. November 1947

Die Huch zitiert Friedrich Schlegel: «Was ist häßlicher als überladene Weiblichkeit; was ist so ekelhaft als übertriebene Männlichkeit, die in unseren Sitten, unseren Meinungen, ja auch in unserer besseren Kunst herrschen ... Man muß den Charakter des Geschlechts keineswegs noch mehr übertreiben, sondern vielmehr durch starke Gegengewichte zu mildern suchen... Nur sanfte Männlichkeit, nur selbständige Weiblichkeit ist die echte, wahre und schöne... In der Tat sind die Männlichkeit und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen und getrieben werden, die gefährlichsten Hindernisse der Menschlichkeit»
Das war und ist nicht schlecht zu hören in einem Volk, wo immer viel Neigung vorhanden bleibt, das Ideal des Weibes in der Kuh und das des Mannes im Schlagetot zu erblicken.
Thomas Mann, zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs (1924)

Als Thomas Mann im Jahre 1924 Ricarda Huch anläßlich ihres 60. Geburtstages als «erste Frau Deutschlands», ja wahrscheinlich als «die erste Europas» feierte, sprach er offenkundig im Namen des deutschen Bildungsbürgertums. Und Ernst Wiechert rühmte 1947 in einer Rede zu ihrem Gedächtnis:

«Was wir an ihr liebten, war, daß sie Adel hatte, den Adel der Nachhut, der seit einem Menschenalter das Versinkende gegen Lärm und Anspruch der Zeit verteidigte. Sie löste nicht auf, sie band noch einmal zusammen, was zerfallen wollte und zerfiel. Aber ihr Haupt beugte sich weder vor den Diktaturen der Vergangenheit noch vor den Anarchien der Gegenwart. Man sagt mir, daß sie noch über dem Schriftsteller-Kongreß in Berlin wie ein fremder Stern gestrahlt habe.»

Solchen bekundetem öffentlichen Prestige stand Ricarda Huch skeptisch gegenüber. Schließlich war sie nicht nur Dichterin von Berufung, sondern auch Historikerin, die wußte, wie rasch Dichterlorbeer verwelkt und wie leicht der Glaube an Märtyrerkronen erlischt. Die Relativität alles Schriftstellerruhmes erkennend, äußerte sie in unverblümter Wahrhaftigkeit: «Die Einschätzung der Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben hervorgetreten sind, wechselt wohl nach der jeweils herrschenden politischsozialen Richtung; schließlich aber gilt als rühmlich, was als echt und seiner inneren Berufung treu sich erwiesen hat.» Und so mag wohl Anna Seghers ihrer inneren Haltung am nächsten kommen, wenn sie im Jahre 1943 über die Begabung dieser Künstlerin sagte, daß ihr «die Ewigkeit samt ihrem Nachruhm beinah so gleichgültig ist wie der jeweilige Vormittag». Den Begriff einer spezifischen Frauendichtung Ricarda Huch immer abgelehnt. Sie meinte dazu poetisch bildhaft: «Die Musen gehören zu den himmlischen Gestalten, die Mann und Weib nicht kennen; der einzige; der einzige Maßstab für einen Künstler ist Kunst... Geschlecht kann es schon deswegen nicht sein, weil jeder Dichter androgyn ist, es gibt keinen, der nicht Männliches und Weibliches in sich vereinige.» Sie wußte um die Polarität weiblicher und männlicher Züge in jedem Menschenwesen und stellte das Ideal auf, daß diese Kräfte in jedem zu Gleichgewicht und Harmonie entwickelt werden sollte. Die von ihr vertretene Persönlichkeitsart sah sie unter den historischen Frauengestalten besonders rein im Wesen der Romantikerin Caroline Schlegel und im Dichtertum der Annette von DrosteHülshoff ausgeprägt.
Aus solcher Vorstellung heraus war ihr die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau Selbstverständlichkeit. Ihr Auftreten war für die bürgerliche Frauenemanzipation nicht ohne Bedeutung. Gertrud Bäumer, eine der einflußreichsten Agitatorinnen bürgerlicher Frauenbewegung, erinnert sich in ihrer RicardaHuchStudie, wie die weibliche Jugend um die Jahrhundertwende auf das Auftreten der jungen Dichterin reagierte, und betont die suggestive Wirkung ihres dichterischen Elans. «Neu war die Stimme im Sinne der Entwicklung der Frau. Neu nämlich im Grade der Kühnheit, der Schwungkraft, der vollkommenen Selbständigkeit in Ausdruck und Gestaltung. In einer Zeit, in der die Frauen noch um den Mut zu sich selbst rangen, waren wir hingerissen von dem <Evoe> [1], dem Zuruf der Dionysosschar an das brausende Leben, der von ihrer Dichtung ausging.» Die Anerkennung der gleichwertigen schöpferischen Produktivität Rcarda Huchs durch die besten Schriftsteller ihrer Generation, ihre Wahl in die neu gegründete Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, ihre Auszeichnung als erste Frau mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, das alles unterstrich weithin, wie sehr der Kampf um die Gleichstellung der Frau durch ihr Beispiel eine überzeugende ethische Begründung empfing.
Ricarda Huch wurzelte nach Herkunft, Erziehung, Milieu, Weltanschauung, Kulturbewußtsein und Schaffenstendenz im humanistisch gesinnten deutschen Bürgertum. Sie wurde am 18. Juli 1864 in Braunschweig geboren, wohin ihr Vater soeben nach dem Zusammenbruch seines Handelshauses aus Brasilien zurückgekehrt war. Schon in ihrer Kindheit hat sie entscheidende politische Eindrücke aufgenommen. Der Lebensstil des Hauses wurde wesentlich von der Großmutter Hähn mitbestimmt, die unter dem Eindruck der antinapoleonischen Freiheitsbewegung und der bürgerlichen Emanzipationskämpfe des Vormärz aufgewachsen war. Im Gegensatz zu ihrem Vater, einem engagierten Bismarck-Parteigänger, lehnten Mutter und Großmutter die Gewaltpolitik des preußischen Kanzlers entschieden ab. Diese Meinungsgegensätze trugen in die sonst so gepflegte Familienatmosphäre manche unerfreuliche Spannung hinein. Ricarda Huch sagte darüber später ironisch: «Die peinliche Stimmung, die sich infolgedessen verbreitete, verband sich für mein Gefühl mit Bismarcks Namen als eines Mannes, von dem man am besten tut zu schweigen.» Sie blieb ihr Leben lang eine Gegnerin der preußischbismarckischen Reichsgründung.
Das Distanzgefühl gegenüber der neudeutschen «Reichsherrlichkeit» verstärkte sich wesentlich, als sie 1887 nach Zürich übersiedelte, um dort das Abitur abzulegen und an der Universität Geschichte zu studieren, da ein Frauenstudium an deutschen Universitäten noch nicht möglich war. Verstrickt in eine die ganze Familie quälende Lebensbeziehung zu dem mit ihrer Schwester verheirateten Vetter Richard, der in Braunschweig als Rechtsanwalt praktizierte, und bedroht vom wirtschaftlichen Niedergang der Familie, hatte sie den für damalige Zeit ungewöhnlichen Entschluß gefaßt, sich fern der Heimat eine selbständige Lebensstellung zu schaffen. Als eine der ersten deutschen Frauen erwarb sie den Doktorgrad und wurde dann Bibliothekarin und Lehrerin. In diese Jahre fällt auch ihr erstes Hervortreten als Dichterin. Gedichte, Dramen, Novellen, vor allem aber der Roman «Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren» entstanden in jener Züricher Zeit und weckten sofort den Eindruck eines ungewöhnlichen Talentes innerhalb der sich formierenden «Neuromantik».
Im Juli 1898 heiratete Ricarda Huch den italieinschen Zahnarzt Dr. Ermanno Ceconi und zog mit ihm nach Triest. In dieser Hafenstadt an der Adria eröffneten sich ihr neue Horizonte. Hier gewann sie nicht nur den Zugang zum italieinschen Lebens und Kulturkreis, sondern auch zu den einfachen Schichten des Volkes. Ihr Roman «Aus der Triumphgasse» spiegelt das Leben und die Schicksale der Bewohner einer der armen Gassen in der Triester Altstadt, wie sie es erfahren hatte. Andererseits entstand aus den nur kurze Zeit zurückliegenden Kämpfen um die Freiheit und Einheit Italiens und der in der Bevölkerung noch nachwirkenden GaribaldiBegeisterung ein Bild von einer national progressiven Bewegung, die sie bewußt der in Deutschland gängigen Schwärmerei für die Bismarcksche Reichsgründung entgegensetzen konnte. Insofern enthalten ihre «Geschichten von Garibaldi» bereits thematisch ein demokratisches Engagement. Das waren gewichtige künstlerische Errungenschaften. Indes brachten gerade die zwei Jahre in Triest schwere persönliche Belastungen: die Geburt der Tochter Marietta, Krankheit des Mannes, Störungen des eigenen innerlichen Gleichgewichts durch die klimatischen, Umstände bedrückende wirtschaftliche Sorgen. Im Sommer des Jahres 1900 siedelte die kleine Familie auf ihren Wunsch nach München um. Charakteristisch für das Lebensgefühl der jungen Dichterin sind die programmatischen Sätze aus «Ludolf Ursleu»: «Das Leben ist ein grundloses und ein uferloses Meer, ja es hat wohl auch ein Ufer und geschützte Häfen, aber lebend gelangt man dahin nicht. Leben ist nur auf dem bewegten Meer, und wo das Meer aufhört, hört auch das Leben auf.» Das poetische Bild offenbart, auf welch unsicherem Boden sich der von Ricarda Huch vertretene Künstlerindividualismus bewegte. Es gibt aber auch einen Hinweis, warum sie sich gerade zu den Dichtern und Denkern der romantischen Literaturrichtung von 1800 hingezogen fühlte, die sie in dem Buch «Blütezeit der Romantik» positiv als typisch «moderne Menschen» interpretierte. Obwohl sie dann in dem in München entstandenen Roman «Michael Unger» zeigte, daß das Ideal einer Übereinstimmung von Kunst und Leben nur ein «kurzer Traum» sein kann und in der bürgerlichen Gesellschaft der Zeit scheitern muß, bejahte sie dieses Ideal zunächst weiterhin. Auch in den Wirren ihres privaten Lebens. Ricarda Huch bezeichnete ihre Ehe selbst als glücklich. Dennoch zögerte sie nicht, als der Mann, der ihre große,Jugendliebe gewesen war, frei wurde, sich scheiden zu lassen. Weil sie noch immer an die Steigerung des Lebensgefühls als eines höchsten Wertes glaubte, heiratete sie im Alter von 43 Jahren ihren nun 57jährigen Vetter Richard Huch und kehrte noch einmal in ihre Vaterstadt zurück. Die Ehe zerbrach jedoch nach kurzer Zeit. Das Traumbild, das dreiundzwanzig Jahre lang so unerhört gestrahlt hatte, schwand in den Erfahrungen des Alltags hoffnungslos dahin.
Auch im Bereich des Persönlichen hatte die große Leidenschaft getrogen, führte die Lebensmaxime «O Leben! O Schönheit!» in den Hexensabbat. Mehr und mehr erkannte Ricarda Huch, daß die Aufgabe, die dem Dichter gestellt ist, nicht die Verherrlichung des Individualismus und die Verschönerung eines bügerlichen Milieus sein kann, sondern daß ein Leben, das eine Zukunft haben will, gesellschaftliche Aktivität und den Kampf für eine neue Welt fordert. Ihre Zeit schätzte sie als einen Endzustand ein, aus dessen Widrigkeiten nur ein «neues Leben» erretten könne. Ansätze für dieses Neue sah sie in Deutschland nicht. Bezeichnenderweise spielt die einzige Gegenwartserzählung, in der ein ploitisch handelnder Mensch gezeigt wird die kleine Briefnovelle, «Der letzte Sommer» in Rußland und im Kreis von Anarchisten. Aus dieser Situation erklärt sich die Tatsache, daß sie sich seit ihrem 40. Lebensjahr fast ausschließlich historischer Thematik zuwandte. Das war bei ihr keine Flucht aus der Zeit, sondern ein Neuansatz, um sich mit der sie umgebenden willhelmmischen Scheinheiligkeit des Tages kritisch auseinanderzusetzen.
In einem gewaltigen dreibändigen Gemälde »Der große Krieg in Deutschland» entwarf sie am Vorabend des ersten Weltkriegs ein Bild einer der dunkelsten Epochen deutscher Geschichte der Zeit des dreißigjährigen Krieges, wo sie ihren Zeitgenossen das vor Augen führte, was ihnen drohte: die Auflösung aller bürgerlichen Verhältnisse, die Zerstörung aller Kultur, den moralischen Verfall, die politische und soziale Katastrophe. Dabei war die Dichterin alles andere als eine Pessimistin. Das Schlußbild des Werkes, eine Osterfeier des Jahres 1650 auf einem Friedhof neben der zerstörten Kirche, beschwört den Willen und die Kraft zum Wiederaufbau. Ricarda Huch gewann ihr Ansehen in der Welt nicht durch die Kunst ihres Stils, sondern durch ihre geistigmoralische Haltung. Was sie dichtete, verantwortete sie auch im praktischen Leben. Voll persönlichen Mutes und
rücksichtsloser Aufrichtigkeit, schrieb sie 1933, als ihr eine Loyalitätserklärung gegenüber dem soeben etablierten faschistischen Staat abverlangt wurde, in einem berühmt gewordenen Brief an die Preußische Akademie der Künste: «Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diskrimmierung andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Akademie.» Zeugnisse von ihrer Opposition gegen die, «die mit der Hölle im Bunde waren», gab sie auch in ihrem letzten Lyrikband «Herbstfeuer» (1944).
Selbst als Dreiundachtzigjährige hat sie sich in der Trümmerwelt, die der zweite Weltkrieg hinterließ, nicht der Mitarbeit am kulturellen Neuaufbau versagt. Als sie auf dem ersten deutschen Schriftstellerkongreß nach dem Krieg in ihrer Eigenschaft als Ehrenpräsidentin das Wort zu einer
kurzen Ansprache ergriff, erhoben sich die Anwesenden. Ein Augenzeuge der Szene, der Schriftsteller Ehm Welk, deutete den Vorgang dahin, daß man damit «In Ehrfurcht einen universellen Geist, der der Gestalt dieser einzigartigen Frau wirkte», grüßen wollte.

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 8. Februar 1891 [2]

Sehr geehrter Herr Doktor, Ich freue mich, daß Ihnen meine historische Arbeit [3] gefällt, es ist mir ganz recht, wenn sie unter meinem Namen erscheint, es müßte denn sein, daß Sie es anders wünschten, in welchem Falle es mir auch einerlei wäre.
Die Staatsbibliothek [4] betrachtet mich zunächst weniger als Muse, denn als Abwart oder als Mädchen für alles; den einen Tag muß ich Leitern steigen, was ich zuvor nie versucht hatte, den andern alte lateinische Handschriften entziffern und führe so ein leidlich anmutiges und wechselvolles Leben. Meine Kollegen bevormunden mich schrecklich, und ich sinne auf Mittel und Wege, wie ich mir größeres Ansehen verschaffen kann. Meine Wohnung hat, ziemlich viel individuellen Reiz, es ist so eine altertümliche mit ungeheurem Ofen und merkwürdigen Fenstern; [5] sie ist grade dem alten Theater gegenüber, Untere Zäune, II. Das schlimmste an der StadtbibIiothek ist, daß immer mit verhaltenem Mißtrauen auf meine Handschrift geschielt wird, ich will dieselbe ja auch gar nicht in Schutz nehmen, aber ich kann doch jetzt meine Handschrift nicht mehr ändern, so wenig wie mich selbst. In der Stadtbibliothek las ich so viel Lobpreisendes von den Handschriften der alten Bibliothekaren, daß ich mir zeitweilig ganz verworfen vorkomme, weil mir diese höchsten Ruhmestitel der Männer meines Faches abgehen. Sie sehen, wie lebhaft mir Ihre freundliche Güte in der Erinnerung steht, sonst würde ich Ihre Zeit nicht so in Anspruch nehmen. Gleich höre ich aber auf. Ich war mit dem unseligen «Bundesschwur» bei Schrötter [6], da ich ihn nicht zu Hause traf, ließ ich das Buch da und ging nicht
wider hin, meine Antipathie gegen Theaterdirektoren ist zu groß. Nun habe ich noch keine Nachrichten, er wird es gar nicht lesen. Ihre Tochter soll mir ja nicht schreiben, wenn sie keine Zeit hat, ich freue mich, wenn sie mich nur nicht vergißt. Auf Ihren Artikel in der «Nation» [7] bin ich sehr gespannt. Wenn mich hier friert, denke ich immer an Ihr schönes warmes Büro, und auch sonst noch sehr oft. Ich bitte um freundliche Grüße an Ihre Frau Gemahlin.
Ihre Ricarda Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 4. Dezember 1891

Sehr geehrter Herr Doktor, bitte entschuldigen Sie vor allen Dingen diese Rose [8], ich nehme sie nur faute de mieux, da ich durchaus keinen andern Briefbogen mehr habe und gerade augenblicklich so in der Stimmung bin, an Sie zu schreiben. Es hat mich ganz entzückt, meinen Namen so pomphaft im «Sonntagsblatt» zu lesen, ich werde recht bald wieder etwas dafür schreiben (ohne die mmdeste Empfindlichkeit, wenn Sie es nicht nehmen). [9] Ist Ihnen vielleicht eine französische Dichterin aus dem 16.Jahrhundert Louise Labé [10] bekannt? Sie ist ein Liebling von mir, und ich hatte vor, etwas über sie zu schreiben, da ich glaube, daß man sie wenig kennt, und ihre Werke sind im Buchhandel nicht mehr zu haben. Ich habe zu diesem Zwecke neulich ein paar von ihren Gedichten übersetzt, hie und da dachte ich aber auch, französisch zu zitieren, das Französische der Zeit hat solch einen Zauber, den man gar nicht wiedergeben kann. Es gibt mir auch Gelegenheit, ein paar Bemerkungen zu machen, die mir schon lange auf der Seele brennen, nämlich über die Art und Weise der Literaturhistoriker, das Privatleben der Dichter heranzuziehen, um sie zu beschimpfen und zu verdächtigen, was um so verwerflicher ist, je willkürlicher und gesuchter man dabei vorgehen muß. Möglichst zahm natürlich. Ich werde also nach Weihnachten, oder wann es Ihnen sonst am wenigsten störend ist, von Ihrer Güte Gebrauch machen und Ihnen «Evoe» schicken. So heißt nämlich mein Stück. Ich glaube mehr und mehr, ich habe eine zu wenig glatte, leicht eingehende Fabel gewählt. Ich habe, glaub ich, meine Laune zu sehr walten lassen. Aber dann sage ich mir wieder, zu welchem Zwecke dichtet man denn? Doch nicht, um irgend einem andern Menschen ein Vergnügen zu machen, sondern einer eigenen Nötigung folgend und eigenen Idealen nachgehend. Sind nun diese denen der übrigen durchaus nicht entsprechend, so folgt daraus, daß man sie für sich behält, aber nicht, daß man sie von Grund aus ändere, das könnte man ja gar nicht.

Gestatten Sie mir bitte, daß ich Ihnen ein paar erläuternde Worte über «Evoe» sage. Ich habe es mit Absicht «dramatisches Spiel» genannt, weil es keine regelrechte Tragödie noch Komödie ist. Ich wollte mir damit eine gewisse Freiheit wahren und dem Leser keine Erwartungen erregen, die ich nicht zu befriedigen im Sinne hatte. Ich wollte ein buntes Lebensbild entwerfen, ich hatte so recht meine Lust daran. Es sollte im tieferen Sinne gewissermaßen eine Komödie der Irrungen sein. Weltbejahung und Weltverneinung, um Schopenhauersch zu reden, sollten sich darin gegenüberstehen, und das Leben sollte triumphieren, ohne doch logisch gewonnen zu haben. Wie ja die Lebenslust immer das praktisch Regierende in der Welt ist, das, was trotz allem und allein immer wieder obenauf kommt. Es sollte ein Gemisch von Jubel und Klage sein, in dem der Jubel den letzten Ton hätte. Es sollte mehr als die Komödie ein Gegenstück zum Trauerspiel sein, nämlich eine entsprechend große Erschütterung, aber in umgekehrtem Sinne, hervorbringen, das sollte sein. Vielleicht, ist es alles ganz anders; dem Herrlichsten [11], was auch der Mensch empfunden, reiht immer fremd und fremder Stoff sich an. Es ist mir ein ganz unbeschreiblicher Trost, daß ich so fest auf Ihr Urteil baue; wenn Sie mir sagen würden, Sie hielten es für verfehlt, würde ich dies Stück und etwa auch das Dichten überhaupt aufgeben, wenn ich das über mich gewinnen könnte. Ich finde, jedes Kunstwerk hat einen gewissen untrennbaren, aber untrüglichen Schmelz, ein Gepräge, ein Etwas, was es eben zum Kunstwerk macht. Fehlt das, kann kein andrer Vorzug es retten, ist es da, so können alle etwaigen Fehler es nicht umbringen. Im letzteren Falle ist es wichtig, die Fehler zu kennen und sie künftig zu vermeiden, im andern ist alles ganz egal, dann wird doch nie etwas daraus. Wer nun das mit Sicherheit sagen kann, mich betreffend, dem würde, ich über alle Maßen dankbar sein, und Sie haben das Unglück, daß ich der Überzeugung bin, Sie können es, darum werde ich Ihnen mein Manuskript schicken, einmal und ganz gewiß auch nie wieder.
Ich las neulich mit höchstem Genuß den «Zelter» [12]. Bei Gerold Vogel war ich, traf ihn aber nicht zu Hause. Ich höre bei Baechtold [13] die Vorlesungen über Gottfried Keller, es ist besonders hübsch, weil er sich fast ganz auf Vorlesen aus Briefen und Tagebüchern beschränkt. Das nächte Mal kommt das Dramafragment [14], darauf bin ich sehr gespannt. Bitte die herzlichsten Empfehlungen und Grüße an Ihre Frau Gemahlin und Tochter.
Nicht wahr, Sie sind nicht ärgerlich über diesen schrecklich langen Brief? Mit größter Verehrung Ihre Ricarda Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 17. Februar 1892

Sehr verehrter Herr Doktor! Ich habe es eigentlich sehr gut, fühle mich so in den Schutz der Vorsehung (Sie) befohlen, welche für mich wirkt. Abgeschrieben ist «Evoe» inzwischcn vermittels einer Schreibmaschine, sieht riesig nach was aus, hat 36 Fr. gekostet. Vielleicht gefällt es Ihnen, und Sie machen auch einmal, Gebrauch davon.
Bitte, Herr Doktor, haben Sie einmal ein Stück «Angele» [15] von Hartleben besprochen, und zwar sehr günstig, Ich habe mich nämlich dieses Dinges wegen beinah mit einem Bekannten überworfen, der es mir zum Lesen brachte. Ich las es, sehe voll Entsetzen, wie die Personen schon in der ersten Szene nur ungenügend bekleidet auf die Bühne kommen und es dann so weitergeht, es ekelte mir ein bißchen, ich mag es wohl etwas flüchtig gelesen haben, kurz, ich war außer mir und schrieb eine zornflammende Epistel an den betreffenden Bekannten, daß er mir ein so gemeines und niederträchtiges Stück zu empfehlen wage. Ja, diese Ausdrücke gebrauchte ich, nachher habe ich sehr lachen müssen, ich kann es nun mal durchaus nicht ertragen, wenn die Männer sich hinsetzen und ihre Meinung «über das Weib abgeben, ob man es verachten soll, oder nicht usw. Einem Schopenhauer oder Nietzsche verzeihe ich es leicht, weil die ja noch manches andre gesagt haben. Aber diesen jungen Leuten, die besonders, was das Sittliche anbelangt, keinen Schuß Pulver wert sind. Nachher schrieb mir der Bekannte im Tone schwer gekränkter Unschuld, selbst Sie hätten das Stück sehr günstig besprochen. Da fühlte ich mich zwar etwas geschlagen, was ich aber den Jüngling der Würde wegen nicht merken ließ, sondern ich ignorierte den Einwand möglichst und blieb dabei, daß das Stück sehr gemein wäre, ließ aber die Möglichkeit offen, daß mir in der Hitze des heiligen Zornes vielleicht hie und da etwas Gutes entgangen wäre. Wenn man die vielen Frauenzeitungen liest und dazu die Schriften der Jüngstdeutschen [16], hat man wirklich den Eindruck, als ob ein hitziger Krieg zwischen Männern und Frauen entbrannt wäre, was ja in gewisser Beziehung auch der Fall ist; es macht einen so merkwürdigen und peinlichen Eindruck, weil sie ja doch keine mmute ohne einander fertig werden können und die einzelnen sich fortwährend ausnahmsweise versöhnen. Ich hatte inzwischen einen neuen Menschen angezogen der die Bestimmung hatte, sich möglichst des Lebens zu freuen, nicht an Zukünftiges zu denken und auch nicht zu dichten, höchstens einmal ein gelegentliches Verschen. Ich bin aber ziemlich schlecht mit dem gefahren und machte die Beobachtung, daß man gleich viel schlechter mit den Leuten auskommt, man ein bißchen Vergnügen für sich in Anspruch nimmt, während man ausgezeichnet fährt, wenn man so tut, als ob man eigentlich gar nicht da wäre. Die Unlust wog die Lust, die ich von dem neuen Menschen hatte, so ziemlich auf.
Ich habe neulich eine historische Novelle [17] geschrieben für ein Preisausschreiben des hiesigen Familienblattes; sie paßt aber eigentlich gar nicht für ein Familienblatt und stimmt auch sonst nicht zu den verlangten Bedingungen, das geschieht mir aber recht, denn ich schrieb die Geschichte, nur des Preises wegen, ich bin in letzter Zeit so geldgierig geworden, weil ich so viel für die elende Dissertation ausgeben muß. Ich schicke sie zwar doch ein, die Novelle, weil ich sie nun einmal geschrieben habe.
Darf ich um herzliche Grüße an Ihre Frau Gemahlin und an Ihre liebe Tochter bitten? Mit den bekannten dankbaren freundschaftlichen Gefühlen bin und bleibe ich Ihre Ricarda, Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 1. Mai 1892

Sehr verehrter Herr Doktor! Unglaublich, daß ich auf einen Brief, der mir so viel Freude gemacht hat, erst nach so langer Zeit antworte. Sie werden sich kaum vorstellen, was mir meine neue Schultätigkeit für Arbeit gibt, mir fehlt nämlich jedes Selbstvertrauen und gänzlich die Gabe freier Rede. Ich glaub, ich habe bei weitem mehr Angst vor den Kindern als sie vor mir. Auch ist mir dies quälend und geradezu unmöglich, dichterische Schönheiten klarmachen zu sollen. Kinder im Alter von 14 Jahren ziehen immer das Sentimentale und Künstliche dem Einfachen und Naiven vor. Ich habe in dieser Zeit darin schon die lustigsten Erfahrungen gemacht. Dann habe ich ein Gefühl völliger Hülflosigkeit, sehe ein, daß sie so empfinden und urteilen, wie es in dem Alter natürlich ist, und verschweige das Schönste, was sich sagen ließe. Ich spreche überhaupt so ungern über Poesie außer mit Leuten, denen ich ein vollendetes Verständnis zutraue. Ich habe mich entschlossen, ihnen etwas germanische Mythologie vorzutragen, aber dabei ist mir eben meine Unberedsamkeit hinderlich. In dem Lesebuch von Baechtold, welches ich benutzen muß, stehen auch zwei Gedichte von Ihnen, «Firdusi» und «Der alte Häuptling», darauf freue ich mich, ich werde dann auch einiges von Ihnen erzählen.
Das Wetter wird Sie etwas am Genuß Ihrer Ferien gehindert haben, ich beneidete Sie etwas um den See und das Rudern und das Dichten, ohne es Ihnen zu mißgönnen. Heute ist hier so ein Arbeiterumzug und sozialistische Geschichten, seit ein paar Tagen redet man von nichts anderm, und ich bin ganz abgemattet von nutzlosem Streiten und Ärgern. Es macht mich ganz nervös, wenn ich Leute, denen es gut geht, während eines reichlichen Mittagessens von, den unverschämten Arbeitern reden höre, die nicht arbeiten wollen usw. Ich finde es ganz begreiflich, daß ein Arbeiter Sozialist wird, ohne daß ich deshalb selbst Sozialist wäre. Das versteht dann keiner, ich werde schließlich gereizt, man fällt über mich her und sieht mich für einen verrückten Umstürzler an. Ich glaube, die wenigsten Leute haben genügende Fähigkeiten, sich in die Lage andrer hineinzuversetzen; wenn ich von irgendwelchen Freveln höre, bin ich immer aufrichtig überzeugt, daß ich sie auch begangen hätte, wenn ich in der gleichen Lage gewesen wäre, und so viel schlechter als die meisten andern Menschen bin ich doch auch nicht.
Nun hatte ich mich so auf einen ruhigen Sonntagmorgen mit Briefschreiben gefreut, anstatt dessen muß ich über Sozialdemokratie diskutieren, was mir unsagbar verhaßt ist.
Ich möchte Sie so gern über manches, den Schulunterricht betreffend, fragen, aber mündlich, schreiben ist so umständlich. Aber das ist wahr, so kleine Mädchen in diesem Alter, das ist etwas entzückendes. Ich habe einige von ihnen schon mehr lieb, als ich glaube verraten zu dürfen, der anderen wegen. Es ist so schwer, nicht zu verziehen, was man lieb hat.
«Evoe» ist jetzt im Druck, ich denke, daß es Anfang Juni erscheint, ich habe eine schreckliche Angst davor, grade als ob ich an den Pranger gestellt würde. Darf ich hoffen, daß Sie mir erzählen, wenn Ihr Drama [18] fertig ist? Ach, bitte, schreiben Sie mir doch einmal, was eigentlich von dem «Glück» von E. Hodler [19] zu halten ist? War es etwa Animosität gegen Bern, daß es hier nicht gefiel? Ich habe es noch nicht gelesen. Bitte um herzlichste Grüße an Ihre liebe Familie. Von Herzen Ihre Ricarda Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 17. Mai 1893

Sehr verehrter Herr Doktor! Ich höre, daß Sie wieder einmal fast verunglückt [20] sind. Es scheint ein ganz besondrer Stern über Ihnen zu walten, der Sie wenigstens immer wieder aus der Klemme herausholt, nachdem er sie hineingebracht hat. Näheres über Ihr Befinden weiß ich aber nicht und hoffe doch sehr, es ist gut genug, daß Sie mir bald selbst ein bißchen davon erzählen können. Ich hätte Ihnen gern einen Jauchzer nach Sizilien geschickt, wenn mir nach jauchzen zumute gewesen wäre; aber es war mir eher nach jammern, und das darf doch auf Sizilien sich nicht vernehmen lassen. Diesmal habe ich mich recht verstrickt und allerlei angerichtet, was schwer in ein gutes Geleise zu bringen ist. Sie erzählen es aber keinem Menschen, nicht wahr? Ich verlasse mich also darauf. Es ist eigentlich schwer zu erzählen, und ich würde es gar nicht können, wenn Sie nicht meinen Roman gelesen hätten und also eine ungefähre Vorstellungg haben von dem, was hinter mir liegt. Wahrheit ist, daß jener Ezard [22] lebt, Dichtung ist, daß seine Frau gestorben wäre und sie ist meine Schwester. [21]Das ist nun schlimm genug, aber doch fühle ich mich in gewisser Weise glücklich dabei. Aber das schlimme ist, daß ich gezwungen bin, fort von Hause zu sein und mich in neue Verhältnisse einzuleben, die mir, dann allmählich lieb werden. Es gefiel mir auch hie und da einer. Kurz, Sie wissen ja, wie gut Z. mir gefiel. Er verdient es ja auch, er ist sehr reizend in seiner Art, so einfach und natürlich, und ich ließ mich leichtsinnig gehen und dachte auf Augenblicke, ich könnte ihn wirklich lieben. [23] Kaum wurde es ernst, da merkte ich, daß ich doch ohne den, den ich Ezard nennen will, gar nicht sein kann. Aber ich merkte es zu spät.
Denn inzwischen hatte er, während er anfänglich mich um keinen Preis hatte lassen wollen, beschlossen zu versuchen, ob er sich an den Gedanken gewöhnen könnte, daß ich einen andern herrate. Das ist alles, was meine Familie, die wir sehr unglücklich gemacht haben, seit Jahren ersehnt. Wenn er es also versuchen will, darf ich ihn doch nicht darin stören und ich bin also ganz durch meine Schuld und gegen meinen Willen mit Z. verlobt. Aber ganz heimlich natürlich, denn er ist ja noch nicht geschieden. Ich glaube, ich habe sehr unklar erzählt. Ich habe Z. recht lieb, und er ist ganz unbeschreiblich zart und gut gegen mich, da er alles dies weiß und erträgt in der Hoffnung, ich würde ihn immer lieber genwinnen. Aber ich kann mir noch nicht denken, daß es ein gutes Ende nimmt, und eigentlich war ich noch nie in meinem Leben so unglücklich wie jetzt. Denn so unglücksvoll mein Verhältnis zu jenem andern auch war, so war es doch das Schönste, was man sich denken kann, und da etwas anderes nie wieder so sein kann, bleibt mir nichts als Resignation, und dazu eigne ich mich am allerwenigsten. Die Schule ist wundervoll, macht mit große Freude. Nicht wahr, Sie beschützen mich ein bißchen, wenn mein Roman erscheint und es einen Krach gibt.

Dieser Brief ist gewiß sehr verworren. Ich konnte es doch nicht übers Herz bringen, Ihnen nichts zu erzählen, und da mußte ich Ihnen eben alles sagen, und das ging so schwer auf einmal. Ich habe so viel zu tun, Schule, Bibliothek, Freundinnen und dann noch Verlobtsein! Ach Gott. Sie haben mich gewiß inzwischen ganz vergessen, und nun bin ich auf einmal so dick und anspruchsvoll da. Ihre Ricarda Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 28. Mai 1893

Lieber Herr Doktor! Sie haben mir einen so reizenden Brief geschrieben! Ich war ganz erschrocken nachträglich, als ich sah, in welcher Gefahr Sie gewesen sind; davon hatte ich keine Ahnung. Am besten kann ich verstehn, daß solche Unglücksfälle Ihr Selbstbewußtsein erhöhen; das würde mir genau so gehn. Körperlich habe ich zwar nichts durchgemacht, woran ich das hätte erfahren können, aber sonst..
Was die, romantische und antike Liebe betrifft, haben Sie schon recht, ich bin ganz Ihrer Meinung. Wenn ich jemand anders liebte, würde ich auch auf die Dauer nicht im Zweifel sein, was ich zu tun hätte. Das schlimme ist aber, daß ich Zaeslin eigentlich gar nicht liebe. Ich war mal einen Tag lang in ihn verliebt, das kann ja passieren, nicht? Ich hätte mich schon wieder von ihm getrennt, wenn ich den Mut fassen könnte, ihm so weh zu tun. Er hat nämlich etwas so Weiches und Zartes an sich, daß man Angst hat, man könnte ihn zerdrücken, wenn man ihn fest anfaßt. Ich will Sie nicht länger mehr mit der unseligen Geschichte plagen, so was kann man brieflich doch nicht andern klar machen. Wäre ich nicht Sklave und müßte Geld verdienen, so wäre ich von Zürich weggegangen, vielleicht zu Ihnen. So muß ich hier aushalten und habe noch dazu so viel zu tun, da ich für eine Zeitlang Stunden eines andern Lehrers mit übernehmen muß, daß ich ganz abgehetzt und ermattet bin.
Denken Sie sich einen jungen, kräftigen, liebefähigen und -bedürftigen Menschen, der, weil er die Person, die er möchte, durchaus nicht bekommen kann, zur Ehelosigkeit und Unterdrückung seiner Natur verdammt sein soll. Es ist nämlich furchtbar hart, Sie glauben gar nicht wie. Und es will mich niemand begreifen wenn ich sage, ich will noch lieber Z. ohne volle, ganze Liebe heiraten und darin meinetwegen unglücklich werden und untergehn - dann geschieht doch etwas, und es nimmt ein Ende. Es kann nun einmal alle Wissenschaft und Kunst nicht für den unterdrückten Lebensquell
entschädigen. Übrigens ist es natürlich alles meine Schuld. Ich würde für Richard alles tun und ertragen, sogar Schande und die Verachtung der Welt, aber sozusagen in ein Kloster gehn und von fern an ihn denken, das eine kann ich nicht. Das begreifen Sie, nicht wahr? Das Leben könnte so schön sein. Das macht mich am meisten wütend, daß grade ich so glücklich sein könnte und nicht kann.
Aber nun will ich auch nie mehr von dieser verdammten Geschichte reden. Ich komme Ihnen gewiß ganz verrückt vor. Denken Sie, ich beneide Sie, daß Sie so schön ruhig liegen und die Welt anschauen können. Von Herzen Ihre Ricarda Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 16. Dezember 1983

Lieber Herr Doktor!Es ist ohne Zweifel reizend, sich in so lieblicher Beleuchtung [24] zu sehen. Ich war einigermaßen gespannt auf die Rezension, denn ich wußte von andern, daß sie erschienen war. Hertz [25] hat sie mir aber nicht geschickt, ob aus pädagogischen Rücksichten, um mich nicht eitel zu machen? Manches hat mich ganz nachdenklich gestimmt, und ich würde mich gern mit Ihnen darüber unterhalten. Ich finde nämlich nicht, daß man zwischen Poesie Wirklichkeit einen solchen Unterschied machen muß. Das heißt, man soll natürlich nicht aus Dichtung ein Vor-und Musterbild, Rezept für alle Menschen machen wollen, aber ich finde doch, was man an einem Buche schön findet, darf man nicht, wenn man derselben Sache im Leben begegnet, tadeln und umgekehrt. (Was Werther anbetrifft, so ist Zugrundegehen wegen unerwiderten Liebe meiner Ansicht nach allerdings etwas Krankhaftes, denn bis dato kann ich mich nicht entschließen zu glauben, daß einseitige Liebe etwas Natürliches und auf die Dauer Existenzberechtigtes ist.) Sind denn meine Ursleuen eigentlich so ganz schreckliche Frevler, daß man im Leben nichts mit ihnen zu tun haben dürfte? Es wurde mir ganz sonderbar zumute, wie wenn ich vielleicht gar keine ganz ausgebildeten Moralbegriffe hätte. Ich erwarte übrigens nicht, daß Sie mir hierauf antworten, denn über so etwas kann man sich doch eigentlich nur mündlich unterhalten. Sie vergessen doch nicht, mir die Berliner Briefe [26] zu schicken. Ich würde mich sehr darüber freuen. Neulich hatte ich als Aufsatzthema eine Beschreibung Zürichs aufgegeben. Da hat ein Mädchen unter den hiesigen Berühmtheiten mich aufgezählt. Denken Sie sich mein bleiernes Entsetzen! Ich überging den Fall aber mit Stillschweigen, denn ich hätte doch nur grob werden können, was das sehr gefühlvolle und etwas dumme Kind doch nicht verdiente. Inzwischen friste ich im Schweiße meines Angesichts mein Leben. Ich konnte Ihre Rezension nicht ohne Rührung lesen, Sie haben meinen armen Liebling, den Ursleuen, so viel freundliche Teilnahme geschenkt. Ich bin höchst gespannt, was das Fräulein Tochter malt. Gretchen Götz ist, glaub ich, ein bißchen beleidigt, daß ich mich nicht an sie gewandt habe. [27] Aber ein ganzer Kalender voll kleiner Kinder für ein kinderloses Ehepaar! Übrigens ist sie wirklich ein herziges Mädchen. Bitte sehr herzliche Grüße an Ihre Familie!
Wenn Ihr Sohn nach München geht, so erfahre Ich es doch, ja? Ich möchte es dann meinem Vetter [28] in M. schreiben. Von Herzen Ihre R. Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 16. Mai 1984

Lieber Herr Doktor! Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich gleich noch einmal auf die «Jugend»-Geschichte [29] duplizieren. Ich betone bei jeder Gelegenheit, daß Frauen ebenso sinnlich, veranlagt sind als Männer, denn man begeht große Ungerechtigkeiten gegen die Frauen unter dem Vorwande der entgegengesetzten Meinung. Es ist sogar schwerer für eine Frau, dem zu widerstehen, weil durchschnittlich der Intellekt bei ihr weniger ausgebildet ist als bei den Männern, weniger Gegengewicht da ist. Das Unwahre liegt meiner Meinung bei Halbe, Zola [30] und allen solchen Leuten nicht in dem, was sie schildern, sondern darin, daß sie nichts als das schildern. Es ist, wie wenn einer die Natur sähe mit Augen, die nur für eine Farbe da sind. Das heißt, das scheint mir doch auch allerdings unwahr, daß sich solche sinnliche Leidenschaft schon bei solchen Kindern zeigen sollte. Das ist schon mehr pathologisch und hat etwas Widerwärtiges. Starke Sinnlichkeit ist wunderschön, wenn ebenso starke Charaktereigenschaften nebenhergehen. Nimmt man einen Idioten, so ist der absolut unfähig, seinen sinnlichen Trieben den mmdesten Widerstand entgegenzusetzen. Das weiß jeder, es wird niemandem einfallen, ein Theaterstück darüber zu schreiben. Abgesehen davon, daß es ganz unschön ist, entbehrt es ja auch jedes Konfliktes, eben weil jeder Widerstand fehlt. Ebenso können auch Kinder nicht die Helden von Dramen sein. Überhaupt finde ich den Kampf gegen sinnliche Liebe nie ein würdiges Objekt für eine Dichtung. Allerhöchstens für eine Tendenzschrift, etwa, um unsere schiefen gesellschaftlichen Verhältnisse zu zeigen. Aber sonst sollte in Dichtung sinnliche Liebe nie getrennt auftreten, sondern eben Liebe an sich, jeder weiß, daß sinnliche Liebe dabei inklusiv ist, sonst wirkte sie gar nicht so hinreißend, aber sie muß sich als menschliche Leidenschaft zeigen und als solche wirken, der etwaige Widerstand muß gegen sie als Ganzes gerichtet sein und nicht gegen eine etwa allzugroße Intimität, die sich nicht paßt etc. etc. Dies ist eine Ästhetik, wie es sein kann morgens früh vor der Schule. Ich habe nicht viel Zeit zum Nachdenken. Alle diese jungen Leute sind überreizt und sehen die Welt getrübt. Herzlichst grüßend Ihre Ricarda Huch

An Lou Andreas-Salomé

Zürich, den 20. April 1895

 

Seht geehrtes Fräulein [31]! Ihre, Teilnahme für meinen Schuljammer hat mir damals schon wohlgetan, und ich konnte sie um so mehr genießen, als ich ihrer gerade in dem Augenblick, als ich Ihren Brief bekam, nicht so bedurfte. Ich lebte schon im Hinblick auf die Ferien und den Frühling, und bei mir hängt das meiste vom Wetter ab, wenn es warm ist und die Sonne scheint, kommt mir alles schön vor. Ich habe auch wie Sie die Ansicht, daß ein Handwerk viel schöner ist als ein Beruf, der das Gehirn in Anspruch nimmt und doch nicht eigentlich freie Geistesarbeit ist. Z. B. war, einmal mein Ideal, Buchbinder zu werden oder Photograph, sehr gern würde ich auch Freundinnen den Haushalt führen.
Aber alles das würde erst Geld kosten und teils wenig teils nichts einbringen. Jetzt bin ich wenigstens sicher, ganz unabhängig zu sein, und das entschädigt für vieles. Mit meiner scheinbaren Passivität ist es so beschaffen: die meisten Sachen sind mir gleichgültig, deshalb tue ich darin ganz, was andere wollen, oder lasse mich sonst vom Schicksal treiben. Sogar der Beruf ist mir vergleichsweise gleichgültig. Meine Energie konzentriert sich auf die wenigen Dinge, wo ich wirklich ordentlich beteiligt bin, daher kommt es, daß ich den Leuten vielleicht unberechenbar erscheine, weil ich für gewöhnlich die Gefälligkeit und Nachgiebigkeit selbst bin und pötzlich auf Punkten, die andere vielleicht gar nicht begreifen, schrecklich hartnäckig sein kann. Sie sehen, ich bin unerhört einfach, meistens aus einem Punkte zu erklären. Als ich von zu Hause fortging, war mein Wille auf das Fortgehen überhaupt gerichtet, und das setzte ich durch, in allen übrigen Punkten machte ich gern Konzessionen, weil mir nicht, so viel daran lag. Übrigens bin ich überzeugt, daß fast jeder Beruf auf die Dauer in gleicher Weise wirkt; für meine Konstitution würde einer passen, der recht viel Bewegung in frischer Luft erfordert, aber solche gibt es ja für Frauen kaum. Ich glaube auch nicht, daß ich das Lehrertum auf die Dauer aushalte, wenn ich nicht das Gefühl hätte, ich könnte jeden Augenblick rauslaufen, wenn es sein muß, würde ich verzweifeln, so aber betrachte ich es wie ein Intermezzo. Es hat mich sehr belustigt, daß meine Gedichte [32] in Rußland so viel Beanstandung erfahren haben, dazu würden viele Leute höhnisch lächeln, die finden, ich sollte mich in meinen Gedichten nicht immer nur mit Liebe und solchen ungefährlichen Sachen beschäftigen. Rußland möchte ich auch kennen - eigentlich habe ich keine Sehnsucht nach fremden Ländern, besonders der Natur wegen. Ich beantworte Ihren Brief jetzt erst, weil ich inzwischen Ferien hatte und während der Zeit in etwas bewußtloser Seligkeit herumgetaumelt bin, unfähig etwas zu tun. Nächste Woche ist leider die letzte. Ich habe gestern an Helene Lange [33] ein ganz unähnliches Bild von mir geschickt für die «Frau», [34] ich hatte kein anderes.
Mit der Hoffnung, einmal wieder etwas von Ihnen zu hören, Ihre Ricarda Huch

An Marie Baum [35]

Zürich, den 15. März 1896

...Meine Abkehr von der Welt war ein ausgezeichneter Einfall. Nein, man sollte doch nie Menschen oder Abenteuer suchen. Ich spüre so recht, was für eine krankhafte Erscheinung es an mir war, nun ich mich in meiner gemütlichen Einsamkeit wiege. Ich habe mich mit köstlichen Büchern umgeben und genieße also den erlesensten Umgang. So lese ich jetzt ein Buch von Brandes [36] «Moderne Geister» Darin sind z.B. behandelt Heine, Björnson, Turgenjew, Stuart Mill, die Goncourts, und wenn man darin liest, hat man ordentlich ein bißchen das Gefühl, als lebte man in einer Elitewelt. Aber letzten Sonntag hättest Du da sein sollen, da hat uns Marianne «Frühlings Erwachen» [37] von Frank Wedekind vorgelesen. Ganz hochmoderne Dekadenz oder eigentlich liegt es schon unten und fällt gar nicht mehr. Aber nicht hübsch, zum Lachen, einfach greulich... Es ist zu eigen, daß man sich in der Welt so aufregt, obgleich doch alles nur einen Augenblick dauert. Es gehört zu den Wahrheiten, die man täglich erfährt und die einem doch in Fleisch und Blut übergehen. Mein liebes Herz, was denkst Du bei dieser Chronik? Magst Du sie hören? Man hat aber doch an einem langen Tage immer mal einen Augenblick, wo es einem wohltut, sich ein bißchen zerstreuen zu lassen. Denk auch an Deine Gesundheit. Es ist ja schon wahr, daß Du immer sicher sein kannst, Dich in vier Wochen oder noch kürzerer Zeit wieder ganz zu erholen, wenn es Dir innerlich gut geht. Auch wie schön hatten wir es doch im Sommer und Herbst! Aber wir waren uns ja dessen auch immer bewußt, das ist wnigstens tröstlich... An der Schule wurde in letzter Zeit wild Pestalozzi gefeiert [38], und ich bin in den Verdacht der Ketzerei gekommen wegen einiger liebloser Bemerkungen über diesen Mann. Dr. Brun sagte, Pestalozzi käme gleich nach Christus, ich sagte, ich könnte mir noch größere Männer als Pestalozzi denken, worauf man sich mit Staunen und Grauen von mir abwandte

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 16. Juni 1996

Lieber Herr Doktor! Es war mir gar nicht recht, daß Sie mir die gewünschte «Bund»-Nummer nun doch geschickt haben; ich habe extra nicht geschrieben, um Sie einmal eine Weile ungestört zu lassen. Ich war ganz beschämt. Jetzt muß ich Ihnen aber notwendig schreiben, damit Sie nicht durch Gerüchte oder Zeitung erfahren, daß ich fortgehe, aus Zürich, aus der Schweiz. Nicht wahr, bitte, Sie empfinden andern klein wenig betrübtes Erstaunen dabei. Und eigentlich klingt es so dumm und ist es ja wohl auch, denn ich gehe nur von Skylla zu Charybdis, aus einer Schulstelle in die andere. Nach Bremen. Kennen Sie Bremen? Ich gar nicht, aber sicher ist, daß es da weder Berge noch See gibt. Annehmlichkeiten sind die, daß ich ganz wenig zu tun habe und doch soviel Geld bekomme wie hier. Es soll da im nächsten ein Mädchen-Gymnasium eröffnet werden, das diesen Winter quasi eingeleitet wird durch eine Art Vortrags-Lyzeum; ich werde jede Woche zwei Vorträge halten müssen, sonst nichts. Und von Mai an hat man wenigstens dies erste Mal bis das Gymnasium in Gang ist - 4 Monate Ferien. Das ist doch was. Und dannn wissen Sie ja, daß ich schon voriges Jahr das Gefühl hatte, ich sollte mal weg. Als es nun so nah und wirklich herankam, schien es mir zwar doch unmöglich, aber die Dame, die das Ganze unternimmt, war selbst hier, höchst anziehend, noch jung... d.h. in meinem Alter und das tat eigentlich das meiste dazu. Es lag ihr so viel daran, daß ich käme, es schien mir schließlich, als sollte, es so sein, und wenn das Schicksal stark nach einer gewissen Richtung hin zu steuern scheint, denke ich immer, man sollte nachgeben. Manchmal denke ich, ich werde umkommen vor Heimweh. Aber versprechen Sie mir, daß Sie mir auch zuweilen nach Bremen schreiben, ja? Und daß wir doch Ostern nach Itallen reisen, wenn es irgend möglich ist Natürlich gehe ich nicht fort, ohne Ihnen Adieu gesagt zu haben. Anfang Oktober muß ich spätestens hier fort. Und grade jetzt ist es so himmlisch schön hier auf meinem Berge. Einen so wichtigen Entschluß fassen ist doch furchtbar schwer, aber ich halte es für ganz gesund, wenn man es von Zeit zu Zeit muß. Die Vorträge, die ich halten muß, sind fortlaufend, es muß ein literarisches und geschichtliches Thema sein, für das literarische denke ich die romantische Schule, das scheint mir sehr ausgiebig zu sein. Es wird natürlich doch auch viel Arbeit machen, aber immerhin interessante. In Ihrer Besprechung meines «Mondreigens» haben Sie einige so reizende Sachen gesagt, z.B. von der Illusion, die man sich in der Jugend von der unendlichen Dauer des Lebens macht. Und was für einen Spaß hat mir hernach die Rezension des Buches von M. Janitschek [39] gemacht. Nämlich kurz vorher habe mir das gekauft, verführt durch das Titelblatt, ich dachte, es wäre gewiß so was komisch Modernes und es wurde eines Nachmittags bei mir vorgelesen - lauter Damen gottlob. Zuerst lachten wird, aber allmählich ekelte es einen doch an. Und am meisten ärgerte ich mich daß sie, wie mir scheint, eine nicht unlöbliche Tendenz dabei hat, nämlich zu zeigen, daß die Frauen ebensogut von Fleisch und Blut sind wie Männer und entsprechend beurteilt werden müssen. Aber das Wie ist eben immer die Hauptsache. Es ist kaum zu begreifen, daß diese Person einen Mann hat, er ist ja Professor in Straßburg, der doch die Sachen vorher gelesen haben wird; mir wäre es peinlich, wenn mein so was schriebe und veröffentlichte; man sollte denken, ein Mann wäre darin noch empfindlicher. Bitte schreiben Sie mir ja nicht, bis Sie einmal eine gelindere Zeit haben, ich kann Ihnen so nachfühlen, wie hassenswert Ihnen alles Schreiben zuweilen sein muß.
Ihre Ricarda Huch

An Marie Baum

Bremen, den 23. Januar 1897

... Ich fange an, an das Glück zu glauben [40]; manchmal ist es mir schwindelnd. Aber Du kannst Dir denken, wie ängstigend das auch gerade wieder ist; und wie ich mich immer quäle, nicht daran zu denken. Gestern schrieb Richard, Großmama hätte gesagt, sie sähe jetzt, daß es der Wille Gottes wäre, daß wir uns lieben, und sie wollte nichts mehr dagegen tun und sagen. Daß sie nun plötzlich den Finger Gottes in der «Teufelei» sieht, ist so riesig echt und charakteristisch für Großmama, aber es ist so unendlich über allem, was ich je zu hoffen wagte, daß ich mir immer vorhalte, daß es ganz gewiß Wahrheit ist. Denn ich liebe doch Großmama nun einmal so, ich möchte sagen blind und es war mir hauptsächlich ja ihretwegen immer schwer zu denken, daß ich Richard nie haben könnte, ohne sie aufzuopfern. Richard wird jedenfalls, bis alles entschieden ist, nach Paris gehen. Mitte Februar ist der späteste Termm seiner Abreise aus Braunschweig. Ich bin bis dahin in einer beständigen. leicht zitternden Aufregung, und dann werde ich es wohl auch noch sein. Kurz, bis wir MAnn und Frau sind. Rodi [41] wird anhaltend unser Schmerzenskind sein, aber ohne diesen Ring des Polykrates [42] würde ich das Glück auch unerträglich finden. Wenn ich mir vorstelle, wie der Junge unausgesetzt mit den Augen an Richard hängt, jede seine Bewegung verfolgt - sein ganzes Gefül und seine Phantasie sind vollständig von Richard ausgefüllt und bherrscht - es ist herzzerreißend. Du kannst es gewiß mit mir fühlen. Auch wer das Kind nicht so liebt, wie ich es tue, müßte einen schrecklichen Eindruck davon haben...

An Marie Baum

9. Februar 1897

Eben kommt ein Brief von Dir und ich kann ihn nicht aufmachen. Es ist vielleicht eine Schwäche, aber ich kann jetzt nicht lesen, was aus der früheren Zeit ist. Du kannst es Dir ja denken. Ich dachte gar nicht, daß ich Dir heute schon schreiben könnte; es kommt wohl, weil ich von allem Jammer [43] jetzt so abgespannt bin, daß ich im Augenblick nicht viel empfinde. Ich möchte vor allen Dingen, daß Ihr nicht denkt, es wäre Richard irgendein Vorwurf zu machen. Der einzige, den man ihm machen könnte, wäre ja, daß er nicht vorher wußte, wie sein Gefühl der Kinder wegen sein würde. Aber es war ja unmöglich für ihn, das zu wissen, bis zu dem Augenblick, da er die Kinder als die unschuldigen Opfer wußte. Ich kann mich vollständig hineinversetzen und es war ja selbst mein erstes Gefühl, als ich Rodi sah. Weißt Du, die Kinder, namentlich Rodi, sind sehr weich, und Richard hat eine so entzückende Art, sie zu behandeln, daß es sehr begreiflich ist, wenn sie sich vorstellen, nicht ohne ihn leben zu können. Aber trotzdem ich einsehe, daß es vollkommen richtig ist, daß ich das Opfer bin, ist es doch unbegreiflich, wie ich es ertragen soll. Du weißt, wie kläglich ich es finde, so jammervoll von einem Tag in den anderen hinein zu existieren. Und doch weiß ich nicht, wie ich es anders tun soll. Ich weiß nicht, wozu ich aufstehe, wozu ich esse, wozu ich arbeite, wozu ich existiere. Ich kann jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, und wenn ich mich gehen ließe, würde es nie aufhören, eigentlich habe ich das Gefiihll, als ob das das Beste für mich wäre.
Diese letzte Woche, wo ich schon dunkel etwas ahnte und noch nicht klar wußte, was kommt, und die entsetzliche Nacht, wo ich ihm entgegenreiste, und die Reise mit ihm nach Köln, wo ich es kommen sah - ich habe manchmal wahrhaftig geglaubt, ich träumte, weil es mir zu entsetzlich schien, um wahr zu sein ...

An Marie Baum

Triest, den 19. Dezember 1898

... Seit es etwas kälter geworden ist, fühle ich mich wohler. Die Scirocco [44]-Luft, die namentlich im Herbst und im Frühling herrscht, ist unerträglich, man kann nicht dagegen an, und es wird einem da ganz klar, daß alle Tugenden, die man als Nordländer vor dem Südländer voraushat, Aktivität, Heiterkeit und dergleichen, nur Ausgeburten des Klimas sind. Schön ist mir das Meer, aber das ist auch über alle Maßen schön. Und so lustig und interessant das Leben im Hafen. Wie gerne käme ich zu Weihnachten! Aber Manno [45] müßte auch dabei sein. Seine Fehler entspringen wirklich nur daraus, daß er mit dem Herzen eines Engels auf die Welt gekommen ist und sich natürlich gar nicht darin zurechtzufinden weiß; um dann mit den praktischen Menschen rivalisieren zu können und nicht ausgelacht zu werden, forciert er sich manchmal zu kleinen Teufeleien. Gestern sagte eine Dame, er sähe gar nicht aus wie ein Italiener, sondern wie ein deutscher Professor; das hörte ich schrecklich gern.

An Marie Baum

Triest, den 4. Januar 1899

...Ich habe so viel an Euch gedacht von einer richtigen Weihnachtsstimmung, ist hier für uns keine Rede, und wir fühlten uns vereinsamt und in der Fremde. Manno hat nie Weihnachten gefeiert; wo wir schöne, wenn auch allenfalls wehmütige Erinnerungen haben, empfindet er nichts als Bitterkeit, und es ist eine Illusion, sich einzubilden, man könnte jemanden die traurige Kindheit vergessen machen. Im Gegenteil, so etwas taucht nur um so lebhafter auf, wenn die Gegenwart freundlicher ist. Wenn wir Kinder hätten, wäre das vielleicht anders, aber noch müssen wir Gott danken, daß wir keine haben. Ich bin jetzt dahin gekommen, meinen Abscheu gegen Triest gar nicht mehr zurückzustellen. Diese Menschen - mein Gott, wie würden wir manchmal darüber lachen! Aber ich glaube doch, es kann auf die Dauer einen sehr gefährlichen Einfluß auf mich haben - das Gefährliche liegt darin meine ich, daß man all den Glauben an sich selbst verliert. Denke Dir, wenn man unter lauter Menschen lebt, die das, was man Gutes hat, absolut nicht schätzen können und einzig das lieben und bewundern, was einem fehlt. Schön sind hier die in Körperfett und Kleiderpracht rauschenden Damen, Geld ist schon zur Herstellung der Toilette erste und notwendige Tugend; von Geistesgaben wird nur die geschätzt, viele Sprachen sprechen zu können. Humor hat man nicht. Du sagst nun vielleicht, das ginge mich nichts an, da ich Manno hätte, aber siehst Du, als Einsiedler leben kann man nun doch einmal nicht, oder tut man es, fühlt man sich ausgestoßen oder wie Sonderlinge...

An Marie Baum

Triest, den 14. Januar 1899

... Für mich hat der Gedanke, in Triest zu bleiben, etwas Tödliches. Von der Wirkung des Klimas machst Du Dir gar keine Vorstellung. Schon der Winter ist lähmend, wie mag erst der Sommer sein! Wer es irgend vermag, reist im Sommer fort, wir müssen natürlich hierbleiben. Manno ist, seit wir hier sind, von einer solchen Schlaffheit, daß er, wenn er um sechs nach Hause kommt, nur noch essen und schlafen mag. Und ich bin überzeugt, ich würde bald ebenso werden ... Weißt Du, wenn ich denke, daß ich hier in dem schrecklichen Triest sterben sollte denn das liegt doch wirklich nicht so fern, eine erste Geburt in meinem Alter ist immer höchst bedenklich, könnte ich mich totweinen ... Ich möchte lieber in der Schweiz trocken Brot essen, als hier alle möglichen guten Dinge genießen wovon übrigens gar keine Rede ist...

An Marie Baum

Triest, den 25. Mai 1899

... Ich glaube, ich werde doch noch einmal die Waffen strecken und zugestehen, daß man den Kampf mit der Geldmacht nicht aufnehmen kann. Was Du schreibst von der Lebensauffassung, die wir uns in Zürich zugelegt haben und mit der man nirgend hinpaßt, habe ich letzthin auch öfters gedacht. Denke Dir, daß hier mehrere Herren der Gesellschaft Manno ernstlich zugeredet haben, seinen Kontrakt zu brechen [46] (durch irgendwelche Kniffe und Schliche) und sich hier niederzulassen. Geld würde er dazu ohne Mühe bekommen. Wir quälen uns unablässig mit der Frage: dürfen wir das Gewisse hier aufgeben für etwas Ungewisses ... Manchmal denke ich, vielleicht ist es nur Egoismus von mir, daß ich nicht hierbleiben will. Aber das ist doch wohl unzweifelhaft, daß die Luft, nach der ich mich sehne, reiner ist als die hiesige. Manno hätte ja, an sich betrachtet, das Recht zu verlangen, daß ich mich an sein Volk, seine Freunde, seine Familie anpaßte, aber es ist, so glaube ich, wirklich keine Frage, daß ich damit heruntersteigen würde. Und er möchte so gern etwas Besseres... Glaube mir, ich würde selig sein, das Kind zu haben, aber ich habe noch keinen Augenblick geglaubt, daß es dazu kommt...

An Marie Baum

Triest, den 3. Oktober 1899

... Denke Dir, ich schreibe Dir mit dem Baby im Arm, worunter die Schrift natürlich leidet. Es liegt ganz ruhig und schaut und ist so entzückend, daß es große Mühe macht, die Augen woandershin zu richten... Am Sonntag bin ich zum erstenmal ausgegangen oder vielmehr ausgefahren nach Miramare. [48] Gott, wie himmlisch war mir die Luft - obgleich es eigentlich greuliches Scirocco-Wetter ist - und das leichte Gehen; ich glaube, das werde ich noch lange genießen. Und wie anders erschien mir alles. Ich merke jetzt erst daß ich früher alles so angesehen habe wie einer, der Abschied nimmt, oder wenigstens wie einer, der den Mut nicht, hat zu hoffen, daß er noch einmal alles in Gesundheit wiedersieht. Wir dachten natürlich an Dich, und ich wollte Dir alles im
einzelnen schreiben, aber das ist unmöglich. Das Meer war so bewegt und hellgrün und der Park so herbstlich. Alles ist ganz anders wie vorher - viele Bäume braun oder rot, keine offenen Pferdebahnwagen mehr, im Giardino Publico läutet es um 9 zum Schlusse anstatt um 12, und nie mehr klingt Musik von daher. [49] So entsetzlich die Hitze auch war, ist das doch etwas melancholisch.
Da wacht das Busi [47] auf und hat getrunken, es ist nichts mehr mit dem Schreiben. Könntest Du's doch einmal sehen, ich glaube, es ist noch hundertmal schöner geworden. Mund und Kinn sind genau wie bei Manno, das habe ich so gern; es liegt ja unleugbar Willensschwäche darin ausgedrückt, aber gerade das hat doch auch wieder so etwas Süßes und Rührendes ... Wenn ich nicht alles Wünschenswerte geschrieben habe, begreife es bitte, es ist unmöglich, sich einmal so ganz zu konzentrieren. Jetzt z.B. weint das Busi, und das nimmt meine Seele zur Hälfte in Anspruch ...

An Marie Baum

Triest, den 9. Januar 1900

... Du wirst Dir jetzt auch nicht denken können, wie schrecklich es hier manchmal war in den letzten Wochen. Das viele hohe Fleber, tagelang nichts essen, das hat mich so heruntergebracht, daß es mir vorkommt, als könnte ich mich nie mehr erholen. Das ärgste ist aber natürlich, daß ich heute, als ich nun endlich nach 14 endlosen Tagen das Marietteli wiedersehen soll, sie so wiedersehe. Hat Manno Dir schon geschrieben, daß sie auch die Masern bekommen hat? Mir hatten sie nichts erzählt, und obgleich der Gedanke so nahe lag; denke Dir, es ist mir nicht der Schatten eines Zweifels gekommen, sie könnte etwas anderes haben als Husten. Ich wunderte mich immer, daß der Doktor täglich kam..., daß die Nonne, die zu meiner Pflege da war, nachts bei ihr wachte, und trotzdem ist mir nicht der geringste Argwohn gekommen. Ich glaube bestimmt, das könnte niemandem sonst passieren. Es muß mit meiner absoluten Kritiklosigkeit zusammenhängen. Es kommt mir nicht in den Sinn anzuzweifeln was man mir sagt. Nun, heute konnten sie mich nicht mehr zurückhalten, und da sagte, dann Manno vorher, daß sie die Masern gehabt hätte. Erst hat es mir gar keinen Eindruck gemacht, ich glaubte es überhaupt nicht, und als ich sie dann sah, das süße Gesicht so verändert, so entstellt, ohne daß man weiß warum - ich habe es gar nicht fassen können und kann es gewiß lange nicht überwinden...
Es hat etwas so Niederschlagendes, daß gerade dies Jahr so schlimm anfing. Die mitleidlose Giovanna [50] sagte heute: «Ja, in späteren Jahren werden Sie sagen, weißt Du noch, was das für ein böses Jahr war, als am 1. Januar die Klosterfrau ins Haus kam!» Nämlich die Schwester, die übrigens reizend ist, kam gerade am 1. zu uns, und nach hiesigem Glauben bedeutet eine Klosterfrau großes Unglück. Möchte es Dir doch gut gehen! Würfe Dir doch ein Glückswind irgend etwas Schönes in den Schoß!...

An Marie Baum

München, den 27. August 1900

Wenn ich nun auch niedergedrückt schreibe, laß Dir das ja nicht zu sehr zu Herzen gehen, es war ja nicht anders möglich, als daß jetzt schwere Zeiten für uns kämen, und wenn sie normal verlaufen, ist es kein Unglück. Aber Du weißt, mein Prinzip ist trotz allem aus jedem das Beste herauszufinden. Jedenfalls haben wir ja Busi; und oft, wenn man eben die bittersten Empfindungen hatte und hört die kleine Stimme, breitet es sich warm im Herzen aus, und man vergißt das andere... Was mich am meisten drückt, ist, daß es mit meinem Schreiben so mißlich steht. Es fehlt Zeit und Kraft, gerade jetzt, wo es so nötig wäre, daß ich etwas verdiente. Es würde auch nichts nützen, wenn ich die Nacht durch schriebe, es würde alles noch bleichsüchtiger. Was ich schreibe, wird immer nur gut oder gleich null, damit 1äßt sich So wenig anfangen...

An Marie Baum

Grünwald, den 1. Oktober 1901

... Endlich ist es soweit, endlich ist mein «Vita somnium breve» [51]- so heißt es nämlich - fertig, bis auf kleine Veränderungen, und ich atme auf. Nein, das lasse ich doch noch nicht als einen Sommer zu reifem Gesange gelten, ich habe wirklich wie ein Galeerensträfling gearbeitet. [52] Nichtsdestoweniger war es schön, das ist wahr. Die letzten vierzehn Tage sind wie ein Traum, hier ist in die Septembertage die ganze Schönheit von Frühling und Sommer, die man nicht hat, zusammengedrängt. Seit meiner Kindheit habe ich das nicht mehr genossen, so ganz und gar mit der Natur zusammen zu leben, das ist doch das einzige. Denke Dir, wenn ich schreibe regnen mir immer die raschelnden, brauncen Blätter auf die Hände. Letzten Sonntag lagen Manno und ich den ganzen Nachmittag, bis die Sonne unterging, auf einer hügligen Wiese, und Busi spielte um uns herum, ganz zufrieden, wir brauchten nur zuweilen ein Wort zu sagen, und wenn ich einmal sang: «Susi, liebe Susi, was raschelt im Stroh», war sie vollends selig. Solche Augenblicke sind eigentlich die
schönsten, wo nichts geschieht, sie haben so etwas zeitloses.
Mit Großmama geht es mir [53] sonderbar, ich denke tagsüber zehnmal: ach, das muß ich Großmama schreiben, es kann mir durchaus nicht wirklich werden, natürlich, weil sich für mich direkt ja auch nichts verändert hat. Es ist kein so heftiger Schmerz, aber ich werde ihn immer fühlen, so wie ich ihn schon seit anderthalb Jahren fühle.
Die Bimbo-Geschichte [54] habe ich vor nun bald drei Jahren in Triest geschrieben, noch ehe Busi in Aussicht war. Fertig machen werde ich sie einmal im Sommer, wenn ich mehr Muße habe ...

An Marie Baum

Grünwald, den 25. November 1901

... Ich fühle mich heute so einsam und unglücklich daß mir Dein Brief ein rechter Trost war. Ich war so voll Weihnachtsfreude, wie fast noch nie in meinem Leben. Da las ich gestern in der «N. Fr. Presse» [55] einen so schrecklichen Fall von einem zu Tode gemarterten Kinde, und ich kann und kann nicht darüber hinwegkommen. Nichts als sterben möchte ich, es ist so ein Jammer und Ekel in mir, über den keine Betrachtung Herr wird. Ich mußte gestern noch Besuche machen, bei sonst lieben Menschen, mir war aber so fürchterlich zumute, daß ich zwischendurch schnell zu Frieda Duensing [56] lief; trösten konnte sie mich auch nicht, aber sie fühlt es wenigstens genauso wie ich und sagt wie die meisten anderen: man muß nicht denken, daß die das so einpfinden, wie wir es empfinden würden usw. Frieda sagte, seit sie sich so viel mit solchen Sachen beschäftige, sei in ihrem Inneren etwas wie gelähmt oder zerbrochen, und gerade dasselbe empfinde ich. Man kann nie wieder ein ganz gesunder und froher Mensch werden, wen man einmal in den Jammer des Lebens hineingesehen hat. Selbst mein Glück an Busi ist getrübt; wenn ich das süße, runde, unschuldige Gesicht sehe, sehe ich im Geist die elenden, kleinen Gesichter daneben, die niemand liebt. Für mich ist es gewiß gut, daß ich Sorgen und viel zu tun habe; wäre das nicht, könnten mich solche Dinge zur Verzweiflung treiben. Manno lacht über mich, daß ich so empfinde, nachdem ich grade etwas gelesen habe, er hätte beständig alles das vor Augen. Wahr ist das, daraus erklären sich auch viele seiner Seltsamkeit. Davon abgesehen hatte ich viel Freude in den letzten Tagen, Wolfskehl [57] und die Schewe [58] sagten beide - ohne von einander zu wissen natürlich - die «Triumphgasse» [59] sei das Schönste, was ich geschrieben hätte, und gerade von Wolfskehl hätte ich das durchaus nicht erwartet. Auch die alte Frau Heim [60] aus Zürich schrieb ähnlich; und das sind Leute, die durchaus ehrlich sind und mir auch das Gegenteil gesagt hätten, wenn sie es fänden. Du kannst es Dir ja wohl denken, daß es mich sehr froh machte, es wäre zu niederschlagend für mich, wenn man fände, meine Sachen gingen zurück. Gerade über die «Triumphgasse» habe ich nicht so viel Urteil, weil ich wirklich mit dem Stoff gerungen habe. Früher, namentlich bis zum «Armen Heinrich» [61], fiel mir alles in den Schoß wie reife Früchte, ich sah genau, daß sie hübsch waren, und freute mich darüber. So mit dem dreißigsten Jahr tritt eine Wendung ein, dann ist es entweder aus oder entwickelt sich höher.

An Marie Baum

Grünwald, den 16. Oktober 1905

Dir muß ich es sagen, ich habe Richard wiedergesehen, in einem Augenblick sind neun Jahre wie ausgelöscht ... Wie soll ich Dir mit Worten diesen Augenblick beschreiben? Jetzt weiß ich es und kann es sagen, daß ich diese ganzen Jahre nur künstlich gelebt habe, nicht spontan, nie, nie ohne Willensanstrengung, wenn es mir auch nicht immer bewußt war; und daher kam es gewiß, daß meine Nerven nicht mehr standhielten. Auf einmal bin ich wieder lebendig, wieder jung, es braust in meinem Körper, die Tränen fließen ständig aus meinen Augen, wie aufgetaute Ströme ist es. Gott weiß, was für geheimnisvolle Ströme meine Rettung herbeiführten, denn ich habe ja nichts dazu getan. Ich freue mich jetzt, daß ich mir immer bezeugen könnte, wie ich mich gegen den Gedanken der Scheidung von Manno sträubte, wie ich kämpfte, denn das beweist doch, daß ich es ehrlich gemeint und mit allen Kräften durchgeführt habe, was ich mir damals auferlegte ... Während dieser Tage war es, als ob der Stein, den ich auf meine Vergangenheit gelegt hatte, sich gewaltsam löste ... Gestern abend ist er wieder fort nach den zwei Tagen ist es, als ob wir nie getrennt, gewesen wären...

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 28. Oktober 1906

Verehrter Herr Doktor, Ich hatte heute morgen eine eigentümliche Empfindung, als ich auf dem Kaffeetisch das rote Kuvert liegen sah, das für mich so oft so viel Güte und Verständnis eingeschlossen hat. Ob es wirklich aus Bern ist, dachte ich? Und wirklich! Und wirklich hat es mir wieder so viel Trost und Mut gegeben wie oft früher. Denken Sie sich, daß ich drei Jahre lang an diesem und dem zweiten Bande meines «Garibaldi» [62] gearbeitet habe, gearbeitet wie noch nie, mit so viel Hingabe und meinem ganzen Herzen, und daß sich nicht eine Zeitschrift in Deutschland, Österreich und der Schweiz findet, es zu bringen. Der erste Band ist in Bruchstücken von den «Süddeutschen Monatsheften» veröffentlicht, den zweiten muß ich nun gleich als Buch erscheinen lassen. Sie sagen alle, das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums würde nicht dadurch befriedigt, und es wäre kein Roman. Das sollte es ja freilich auch nicht sein. Aber ich bin dadurch doch so entmutigt, daß ich zuweilen anfing, an mir selbst zu zweifeln. Aber sehen Sie, nach dem, was Sie mir geschrieben haben, wird mir das Herz ordentlich wieder frei, und ich denke: zum Teufel das Geld, es ist ja alles eins, wenn nur das wirklich entstanden ist, was ich wollte. Es werden es vielleicht wenige empfinden, mir soll es nun aber genug sein, daß es gerade in Ihnen so widergeklungen ist, wie ich es mir wünsche. Und dann freute mich so sehr, daß Sie sagen, man sähe, daß es auf den Stoff ankomme. Das war ja immer meine Idee dabei, denn ich halte nichts für falscher als die Behauptung der Modernen, es komme nur auf das Wie an. Es ist doch einfach ein falscher Schluß, weil das Kunstwerk nicht durch den Stoff wirken soll, wäre der Stoff gleichgültig. Aber schwer ist es, wenn der Stoff so herrlich ist wie hier, neben ihm noch zur Geltung zu kommen, und wirklich gearbeitet, mühevoll gearbeitet, habe ich hier zum ersten Mal an einem Buch. Nun muß ich Ihnen erzählen, wie es mit dieser albernen «Berner Rundschau» gekommen ist. Sie baten mich um einen Beitrag, ich schrieb wie immer in solchen Fällen, ich hätte momentan nichts, wenn ich in späterer Zeit einmal etwas hätte, würde ich es schicken, Nachher sah ich zufällig, als mir so ein Heft in die Hand kam, daß mein Name unter den Mitarbeitern stand. Im ersten Augenblick ärgerte ich mich so darüber, daß ich hinschreiben wollte und es mir verbitten, ich bin aber viel zu indolent in solchen Sachen und unterließ es. Nach dem, was Sie mir schreiben, ist es doch nicht angezeigt, es zu tun. Ich habe ja nie daran gedacht, da etwas hinzuschicken. Mit Ihrer alten Verehrerin, Frau Heim, sprach ich neulich über Ihre geliebte Tierdichtung. Sie sagte, sie wäre immer ganz erstaunt über eine so fortwährend sich steigernde Entwicklung wie die Ihrige. Ich glaube auch, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, daß das etwas Seltenes ist.
Ja, ich bin nun hier in Zürich, fast wie in alten Zeiten nur mit dem Unterschied, daß ich mein kleines Busi bei mir habe, und das ist doch ein großer. Es ist momentan alles recht schwer für mich [63] Busi hängt an ihrem Papa mit leidenschaftlicher Liebe (und das wünsche ich auch), hat Heimweh nach ihm und nach München, und doch muß ich sie hier halten, weil sie wenigstens zunächst, bis er vielleicht einmal wieder verheiratet ist, nicht so gut bei ihm versorgt wäre, wie ich es wünschen muß. Ich möchte und muß Ihnen auch durchaus einmal erzählen, wie alles gekommen ist; aber ich glaube nicht, daß es brieflich möglich ist. Nur soviel will ich Ihnen sagen, daß ich innerlich mit Manno (mit dem Dr. Ceconi) nicht ein bißchen auseinandergekommen bin. Ich habe ihn grade so lieb wie immer - das schlimme war, daß ich ihn immer wie einen Bruder oder Freund oder wie ein Kind liebte, aber nicht wie einen Mann. Zugleich ist das aber auch das gute. Es wäre mir schrecklich, wenn ich den Vater meines Kindes nicht lieb haben könnte; überhaupt jemand, der mir einmal so nahegestanden hat. Die Leute können das aber gar nicht begreifen und leiden, sie wollen durchaus, daß wir uns hassen sollen.
Lieber und verehrter Herr Doktor, nein, Sie können sich nicht denken, wie wohl Sie mir getan haben! Sehen Sie, ich schrieb Ihnen damals und meinte es ganz auftichtig, es wäre mir lieb, daß Sie mein Buch von den Königen [64] tadelten, ich wüßte daraus um so sicherer, daß das auch gut wäre, was Sie lobten. Grade weil ich keinen materiellen Erfolg mit dem «Garibaldi» haben werde, habe ich so dringend das Bedürfnis zu wissen, ob er auch gut wäre und ich mich gewissermaßen für gerechtfertigt halten könnte, daß ich ihn gemacht habe, anstatt Geld zu verdienen. Vielleicht können Sie sich gar nicht vorstellen, wieviel Ihr Beifall mir wert ist. Wirklich viel mehr, als mir der größte materielle Erfolg gewesen wäre. Bitte mich Ihrer lieben Frau zu empfehlen. Ihre immer dankbar ergebene Ricarda Ceconi-Huch

An Joseph Viktor Widmann

Zürich, den 1. November 1906

Sehr verehrter Herr Doktor, Ich muß Ihnen durchaus auf Ihre Bemerkungen über meine Ehescheidung antworten. Sie haben das von München ausgehende Gerede geglaubt - nein, böse kann ich Ihnen nicht darüber sein, daß Sie mir Ihre Meinung aufrichtig sagen, erkenne ich sogar wie immer dankbar an; aber daß es tatsächlich anders ist, als Sie meinen, muß ich Ihnen sagen. Leider kann ich Ihnen nicht alles brieflich auseinandersetzen, ich müßte Seiten und Seiten vollschreiben, und das will ich Ihnen gar nicht zumuten, auch wenn ich die Zeit dazu hätte. Nur das: daß der Wunsch des Dr. Ceconi, eine andere zu heiraten (mit der er einverstanden war), die Ursache war, weshalb ich mich zur Scheidung entschloß. Alle, die die Verhältnisse genau kannten, waren darüber einig, daß ich es tun müßte. Ich war damals darüber sehr, sehr unglücklich, sowohl meinetwegen wie meines Kindes wegen, denn ich habe nie etwas anderes gedacht, als daß wir für immer zusammen bleiben würden, wie wir ja auch tatsächlich uns lieb hatten und glücklich waren, wenn auch nicht ganz und vollkommen glücklich. Es fehlte etwas sehr Wesentliches, daß ich nämlich nie Manno so geliebt habe wie eine Frau einen Mann; deshalb war es auch sehr zu entschuldigen, daß er die Neigung hatte, sich in andere zu verlieben, es war gewissermaßen eine Notwendigkeit. Daß er trotzdem so sehr an mir hing, stellte ihn in einen Konflikt, der auf die Dauer unhaltbar war; mir wenigstens scheint es, daß es in einem solchen Falle besser ist, sich zu trennen, wenn es auch weiß Gott nicht leicht ist. Busi hat bis jetzt nicht sehr darunter gelitten (sie weiß es noch gar nicht) und wird es hoffentlich auch in Zukunft nicht. Was die andere Ehe betrifft (Sie meinen jedenfalls die meines Schwagers), so wird sie auf Verlangen meiner Schwester gelöst. Es hat etwas Fabelhaftes, daß sowohl er wie ich, ganz ohne unser Zutun frei geworden sind resp. werden (er ist es noch nicht), und ich kann es fast niemandem verdenken, wenn er daran zweifelt. Aber wäre es möglich, daß, wenn wir richtig noch zusammen kommen, nachdem wir uns 23 Jahre geliebt - und so viel gelitten haben - ein Mensch es uns nicht gönnte? Der einzige Vorwurf, den ich mir etwa machen könnte, wäre, daß ich Manno geheiratet habe; aber ich Meinte es so ehrlich und habe ihn so treu lieb gehabt - was der beste Beweis ist, daß ich ihn noch immer lieb habe und er mich. Daß ich nur eine Art schwesterlicher Liebe zu ihm hatte (oder wie man es nennen will), konnte ich nicht wissen, bevor wir verheiratet waren. Ich wußte, daß ich niemals jemand und auch ihn nicht so lieben könnte, wie ich eben nur den einzigen geliebt habe. Ich bildete mir aber ein, daß das, was ich für Manno fühlte, genügen würde, um ihn glücklich zu machen. Natürlich wußte Manno alles; ich sagte ihm immer, daß er sich vorstellen müsse, ich hätte einen sehr geliebt, der gestorben wäre. Er war tatsächlich tot für mich, und daß er wieder für mich auferstanden ist, geschah ganz, ganz ohne mein Zutun oder seines. Ohne Schuld bin ich natürlich an dem allen nicht viel, aber die Schuld liegt viel viel weiter zurück. Mehr kann ich so brieflich nicht sagen - ich darf wohl darauf rechnen, daß Sie nicht darüber sprechen. Das wollte ich noch sagen, daß das Verhältnis von Manno und einer andern, das die Ursache unserer Scheidung war, sich gleich nachher löste. Dann wollte er gern wieder einlenken, es war aber zu spät. Wenn er jetzt wieder heiratet, ist es eine andere. Ja, sehen Sie, das hat mich auch oft gekränkt, daß ich, die ich das leichtfertige Schließen und Lösen von Ehen immer so gehaßt habe, nun selbst so erscheine! Dem kann ich nicht, entgehen. Den zweiten Band meines «Garibaldi» als Feuilleton erscheinen zu lassen, die Idee habe ich längst aufgegeben. Er eignet sich wohl wirklich nicht dazu, man muß nichts erzwingen wollen. Ich habe ein bißchen sehr flüchtig geschrieben - entschuldigen Sie - es ist mir so kränkend, daß Sie eine derartig irrige Meinung über mich haben, möchte sie so schnell wie möglich berichtigen.
Ihre wie immer ganz ergebene Ricarda Ceconi-Huch

An Joseph Viktor Widmann

Braunschweig, den 21. Januar 1908

Verehrter lieber Herr Doktor. Es freute mich, aus Ihrer Besprechung zu sehen, daß Ihrem Urteil nach mein zweiter «Garibaldi» nicht schlechter ist als der erste. Davor war mir etwas bange; im allgemeinen haben aber alle, die den ersten Band liebten, den ebenso gern gemocht.
Auh sonst haben Sie mir einmal ein paar herzliche Worte geschrieben und mich sehr erfreut; ich finde nichts schmerzlicher im Leben als Menschen zu verlieren es ist mir ein Bedürfnis, die freundschaftlichen Beziehungen die einmal angeknüpft waren, ebenso zu erhalten. Ich weiß ja auch, daß Sie es immer gut mit mir meinten, und bin mir sehr bewußt, daß es in den letzten Jahren Fernerstehende schwer sein mußte, meine Handlungsweise zu verstehen. Möglicherweise ist der Schnitt nicht, wie Sie damals befürchteten durch das Herz meines Kindes gegangen, eher durch meines. Meine Busi ist in München bei ihrem Papa und ihrer zweiten Mutter vollkommen glücklich in dem Bewußtsein, von Zeit zu Zeit mit mir zusammen zu sein und mich jederzeit haben können, wenn sie wollte vermißt sie nichts. Die Stiefmutter ist eine reizende Frau, die einen sehr guten Einfluß auf Busi hat, während mir die allzu große Zärtlichkeit und Ängstlichkeit oft hinderlich war. Mir wird es nicht so leicht; aber ich weiß ja schon, daß man alles und alles im Leben teuer bezahlen muß, und dann tröstet mich auch, daß es sich mit den Jahren vielleicht besser einrichten läßt. Wenn ich gesund bin, wird es mir auch meiner Natur nach leicht, den Augenblick zu genießen; aber leider habe ich seit drei Jahren ein Magenleiden, das, wie es scheint, zum Teil auf allgemeiner Nervenschwäche beruht und mich oft kraftlos macht, besonders im Winter.
Ich bin nun wieder im Lande der Gravensteiner; Sie erinnern sich gewiß nicht mehr, wie mich vor Jahren, als ich das erste Mal bei Ihnen war, die Gravensteiner Äpfel entzückten. Materiell hat Braunschweig überhaupt manche Vorzüge, übrigens aber kann ich mich nicht wieder an den Norden gewöhnen und möchte, ich brauchte mein Leben nicht hier zu beschließen. Mein Mann ist auch sehr ungern hier - es ist nur das leidige Geldverdienenmüssen, was uns hier hält.
Ihre Tochter Johanna hat mir vorigen Sommer einen so lieben, feinen, verständnisvollen Brief geschrieben. Ich möchte, ich könnte ihr auch einmal eine Freude machen, wüßte ich nur wie. Hoffentlich geht es ihr und Ihnen und Ihrer lieben Frau, der ich mich zu empfehlen bitte, gut. Seien Sie versichert, daß ich immer mit unveränderter Dankbarkeit Sympathie usw. usw. bleibe Ihre Sie verehrende Ricarda Huch

An Marie Baum

Braunschweig, den 25. Mai 1908

Daß der Mensch beständig kämpfen und auch leiden muß, ist nicht als ein Unglück zu betrachten... Wenn überhaupt irgendeine Entwicklung vor sich gehen soll, dann muß wieder Schweres und wieder neues Kämpfen kommen. Schrecklich ist nur, wenn niemals etwas erreicht wird, wenn alles immer nur versickert und hinschleicht, wie es bei ganz kraftlosen Naturen der Fall ist. Eine gewisse Tragik liegt in jedem Menschenleben - das ist aber notwendig mit dem Dasein verknüpft, als daß man es überhaupt nur anders denken könnte. Ich finde momentan das schwerste und tragischste den Verfall alles Seienden; das heißt, ich habe es immer empfunden, aber ich erlebe es jetzt intensiver als sonst... Mit dem Gedanken des Zu-Ende-Gehens kann ich mich nicht abfinden; mein einziges Schutzmittel ist eigentlich, nicht daran zu denken, aber das ist nicht das richtige. Man sollte sich damit versöhnen können, es begreifen, ich weiß nicht, ob ich das je können werde. Vielleicht quält mich das so intensiv, gerade weil mein Leben so reich war - ich sage schon «war», und das ist auch eine Art Ausgleich. Ich kann der Tatsache des Endes nicht offen ins Auge sehen, und das empfinde ich als einen Mangel, als eine wunde Stelle in meinem Leben. Es ist aber natürlich durchaus nichts, weswegen Du mich bedauern mußt, es ist ja die allgemeine Menschentragik. Und ich weiß, wieviel ich dadurch vor vielen voraus habe, daß ich durch Produktion mich wenigstens zu einem hohen Grade befreien kann. Man kann das natürlich durch jede Art von Produktion, aber manche Menschen sind gar nicht prodtiktiv; und dann ist auf dem Gebiet der Kunst, die zeitweilige Erhöhung über das Leben doch wohl am leichtesten möglich. Allerdings kann man das ja auch im Genießen von Kunst haben...

An Marie Baum

Braunschweig, den 1. Januar 1909

Daß ich nicht schreibe, kommt daher, daß ich jeden Augenblick zum Arbeiten benutze. Ich habe eine Wut zu arbeiten, betrachte alles nur von dem Gesichtspunkt aus, ob es mich darin stört. Hätte ich ebensoviel Kraft wie Lust zum Arbeiten, wäre es anders, aber Du weißt ja, daß ich im Winter eigentlich nicht produktiv bin; also bringe ich nichts fertig und brauche unerdenklich viel Zeit, ohne je das Gefühl zu haben, daß ich mir auch genügt hätte...
Ich habe das Gefühl, daß ich Dir auch etwas von mir erzählen soll. Es kommt mir immer mehr zum Bewußtsein, daß ich etwas getan habe, was zu schwer für mich ist[65]. Ich übersah so ungefähr die Folgen, aber ich traute mir ohne weiteres zu, daß es ginge... Du mußt nicht denken, daß ich unter dieser Einsicht erliege, ich fasse immer wieder Mut, und gerade die Einsicht, daß nichts ist, was ich nicht selbst verschuldet hätte oder was nicht die Folge irgendwelchen Handlungen von mir ist, hat jedesmal, wo ich sie mir vorhalte, etwas sehr Belebendes für mich ...
Ich finde, materialistisch ist doch überhaupt die herrschende Weltanschauung. Vielleicht liegt es nur daran, daß für die Massengesellschaft des Industriestaates eine neue Kultur sich erst bilden muß und daß das schwer ist. Früher war die Kultur nur für einen kleinen besitzenden Kreis da, und die große Masse gehörte eigentlich nicht mit dazu. Mit dem Aufkommen demokratischer Prinzipien wird das anders. Wenn wir jetzt Kultur hätten, so würde das eigentlich viel mehr bedeuten als Kultur bei den Griechen oder Louis XIV. Leider kann man sich den Weg dazu noch nicht recht denken ...

An Marie Baum

Kissingen, den 23. Juli 1909

Ich habe Euch abtelegrafiert, weil Richard unter solchen Depressionen leidet, daß er niemanden sehen kann. Das schlimmste ist, daß er Busi auch nicht sehen kann, ich habe sie schon am Sonntag wieder nach München gebracht ... Ich kann Dir jetzt nicht so ausführlich davon schreiben, mir fehlt manchmal aller Mut, das Leben noch fortzusetzen, da ich kaum anderes als ein schreckliches Ende sehen kann ... Nächstes Jahr kommt Busi jedenfalls, und dann wird es sich zeigen, ob noch eine Rettung möglich ist oder nicht. Busi war so süß, wie ich Dir gar nicht sagen kann, ihre Warmherzigkeit und Unschuld haben etwas unwiderstehlich Ergreifendes für jeden Menschen. Ich sehe das kleine, liebe Gesicht immer vor mir, so daß ich oft nicht weiß, wie ich die Sehnsucht ertragen soll...

An Joseph Viktor Widmann

Braunschweig, den 10. Dezember 1909

Sehr verehrter lieber Herr Doktor, Ich könnte glauben, daß mit zunehmendem Alter die magischen Kräfte des Menschen wachsen, denn früher spürte nie nie etwas von Sympathie und dgl., jetzt ging es mir aber mit Ihnen entschieden so. Natürlich dachte ich, daß Ihnen zufällig mein «Letzter Sommer» [66] in die Hände kommen könnte, und ob Sie es dann wohl für eine Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit von mir halten würden, daß ich ihn Ihnen nicht geschickt habe, oder ob Sie sich wohl dächten, daß es nur schuldige Bescheidenheit sei, die Ihnen mit solchen Dummheiten nicht lästig fallen wollte. Siehe da, am folgenden Morgen kam die Nummer des Sonntagsblattes mit Ihrer so lange nicht gesehenen Handschrift und einer Besprechung dieses kleinen Unfugs, den ich immer den Schmarren nenne. Das Buch ist eigentlich im Spaß entstanden; ich hatte einmal gesagt, ich wollte versuchen, ob ich auch Büchen zum Geldverdienen und namentlich im Genre der Detektiv-Romane schreiben könnte. Es wurde mir bestritten, und da schmierte ich diese Geschichte ganz schnell in 14 Tagen zusammen. Die Schnelligkeit ist ihr gewiß zugute gekommen, denn etwas muß doch daran sein, da nicht nur die geneigten Leser, sondern auch Sie etwas daran zu loben finden. Eigentlich ist es ja deprimierend, daß mir etwas dann gerät, wenn ich es gar nicht ernst meine; aber grämen tue ich mich nicht deswegen, sondern sacke das Lob ein, das mir so unerwartet vom Himmel fällt. Ihre Handschrift sagte mir wenigstens das, daß Sie leben und im allgemeinen gesund sind. Einmal hörte ich von Ihnen durch ein schönes Gedicht, das auch Ihre unzerstörte Jugendlichkeit bewies; und wenn man sie sich einmal so lange erhalten hat, bleibt sie auch immer. Ich habe leider immer mit meinem Magen zu kämpfen, der mich nicht ordentlich ernährt, und muß sehr aufpassen, daß ich nicht allmählich ganz wegschwinde; mit etwas Mühe und Aufmerksamkeit geht es aber. Lange habe ich sehr darunter gelitten, daß ich mein Kind nicht immer bei mir hatte. Jetzt habe ich es und bin einstweilen glücklich mit den Vorbehalten, die unvermeidlich sind. Ihnen und den Ihrigen wünsche ich lauter Gutes und Liebes! Bewahren Sie mir ein freundliches Gedenken. Die immer bleibt Ihre dankbar ergebene Ricarda Huch

An Marie Baum

München den 29. Mai 1911

...Ich war von allem so entrüstet, daß ich mit Entschiedenheit sagte, ich würde jetzt nur noch auf meinem Recht bestehen. Am anderen Tage las ich zu irgendeinem Zweck in Richards Briefen aus der Zeit vor unserer Heirat. Wie mir da unsere Liebe, unsere Hoffnung, unser Glück, unsere Gemeinsamkeit so lebendig entgegentrat, fühlte ich, daß ich das Opfer bringen müßte, um mir wenigstens die Vergangenheit zu retten. Ich habe so viel geweint, bis ich fast keine Augen mehr hatte, aber es war seit langer Zeit die erste Stunde, wo ich mich, wenn auch namenlos unglücklich, doch mit mir selber einig fühlte. Haß, Rachsucht und so etwas sind bei mir momentan furchtbar stark, ordentlich gefährlich, aber es geht dann vorüber, ohne daß es dem Positiven Schaden getan hat. Das, was einem einmal viel gewesen ist, wird ein Teil von einem selbst, und man kann es nicht ausreißen, ohne sich selbst zu zerstören. Das heißt, andere Menschen können anders sein, sie gefallen mir eigentlich viel besser. Ich liege jetzt zu Bett und will noch eine Weile nur zum Essen aufstehen, ich bin bald nichts, äußerst erschöpft, abgemagert, elend. Erst will ich versuchen, mich körperlich zu erholen. An arbeiten kann ich noch nicht denken, es muß ja aber einmal wiederkommen.

An Marie Baum

München, den 27. Juni 1911

... Du kannst mir vielleicht in einer wichtigen Sache Auskunft geben. Ich bin im Ehrenvorstande der neuen Frauenhochschule in Leipzig. Als ich mit Busi in Maderno war, bekam ich von der alten Frau Goldschmidt [67] einen Brief, in dem sie sich in rührender Weise bedankte, daß ich mich dazu bereit erklärt hatte. Ich war damals und nachher immer in diesen entsetzlichen Aufregungen, von denen Du ja weißt, und verschob die Antwort. Vor etwa acht Tagen dachte ich, daß ich nun endlich einmal schreiben müßte, und da fiel mir plötzlich ein, daß es vielleicht eine Rettung für mich wäre, wenn ich an der Hochschule eine Stellung bekäme. Du bist wahrscheinlich zuerst ganz fassungslos über diese Idee, besonders da Du ja weißt, wie schrecklich es mir ist, Vorträge zu halten. Nun stelle Dir aber meine Lage vor - da hat es entschieden manches für sich. Sich aufs Geratewohl irgendwo niederzulassen, ist sehr schwer. Eine bestimmte Tätigkeit bringt mich von vornherein in einen bestimmten Kreis von Menschen. Ich muß, um den Ansprüchen zu genügen, meine Kraft zusammennehmen, kann mich also nicht mehr den vergiftenden Gedanken und Vorstellungen hingeben, denen sonst so schwer zu widerstehen ist. Was mich so besonders quält, ist immer Busis Existenz in der trüben Atmosphäre einer verlassenen Frau. Sowie ich einen Beruf habe, ist das anders, es ist Bewegung und Leben da, die Selbstüberwindung und Beherrschung, die ich brauche, um vergnügt zu sein usw., wird mir viel leichter gemacht durch den äußeren Zwang. Dann vor allen Dingen hätte ich gern irgendeine bestimmte Einnahme. Du hast keine Vorstellung, wie erschöpfend für die Nerven es ist, von der Hand in den Mund zu leben. Ich kann sagen, daß kaum eine Stunde vergeht, wo ich mich nicht im Unterbewußtsein mit der Frage beschäftige, ob ich wohl Geld einnehmen werde, wieviel ich wohl dafür bekommen werde usw. Nach meinen bisherigen Erfahrungen ist es so gut wie unmöglich für mich, von meinen Büchern zu leben, und dabei brauche ich immer mehr Geld für meinen Körper. Dies wären also die Erwägungen, die mich leiteten. Ich bekam unmittelbar eine Antwort von Frau Goldschmidt, voll Entzücken, ganz beseligt von der Aussicht; es wäre zwar schon alles besetzt (was ich mir ja hätte denken können), aber für mich könnte immer noch das eine oder andere Kolleg eingeschoben werden. Ich möchte aber jetzt meine materiellen Ansprüche schreiben, weil davon abhinge, ob es sich machen ließe. Nach reiflicher Überlegung schrieb ich, ich müßte auf eine Einnahme von 2 000 Mark jährlich mindestens sicher rechnen können. Eben bekomme ich nun schon eine Antwort, sie machen mir folgenden Vorschlag: Ich bekomme für dies Wintersemester 1 000 Mark und habe dafür die Verpflichtung, ein Kolleg von ein oder zwei Stunden zu lesen. Dann könnten wir uns gegenseitig genau kennenlernen, das heißt die Hochschule und ich. Nun liegt die Sache so: Das ist, an sich ganz vernünftig und richtig. Aber ich habe das dringende und, ich glaube, richtige Bedürfnis, mit dem Herumreisen und Pensionsleben aufzuhören. Ich will überhaupt durchaus jetzt Busi zu mir nehmen. Ich glaube also, daß ein Versuch für mich sehr viel gegen sich hat. Ich dachte also, ihr zu antworten, ob sie mir wenigstens sagen könnte, sie glaube, daß etwas Festes unter den genannten Bedingungen daraus werden könnte. Nun wollte ich vorher Dich fragen, ob Du vielleicht von der ganzen Sache unterrichtet bist, so daß Du selbst eine Meinung davon hast. Es wäre ja möglich, daß ein Gelingen der Schule überhaupt unwahrscheinlich ist, daß sie unpraktisch organisiert ist oder so. Kurz, schreibe mir bitte sofort, ob etwa wesentliche Gründe vorhanden sind, daß Du mir abrätst.
Marianne [68] war beglückt über die Sache. Ich mußte wirklich über sie lachen, sie spricht so, als ob ich beinahe beneidenswert wäre, daß ich nach Leipzig gehen kann, und wollte mir zureden, es auch ohne finanzielle Sicherheit zu tun. Ich habe es ja auch deshalb eingeleitet, weil ich dachte, eine berufliche Stellung wäre unter den Umständen gut für mich. Ich würde ziemlich sicher in Leipzig schnell einen Kreis mit gemeinsamen Interessen finden - natürlich würde ich überall Bekannte finden können, hier aber ergäbe es sich von selbst, würde mir durch die Verhältnisse, gewissermaßen aufgezwungen, und dies wäre eben das Nützliche für mich. Ich glaube, ich könnte ein belebtes, fröhliches Haus haben - an jungen Mädchen würde es ja nicht fehlen - das möchte ich eben für Busi so gerne. Ach, daß man immer alles schreiben muß! Hätte ich doch daran gedacht, als ich Dich treffen konnte, aber damals ahnte ich noch nichts davon - es war ein ganz plötzlicher Einfall. Bitte schreibe mir sofort, ich möchte die Sache schnell erledlgen, und Frau Goldschmidt antworten... [69]

An Marie Baum

München, den 23. Juli 1912

Ich sitze auf meinem Balkon - allein - das stört mich an Wochentagen nicht, aber am Sonntag kommt es einem unbillig vor, und darum lade ich Dich nun auf diese Weise ein. Weißt Du, wenn man es äußerlich hübsch hat, empfindet man es oft doppelt, daß das Hauptsächliche fehlt, und so schwankt man immer dazwischen, sich durch Äußeres trösten zu wollen und dies noch extra zu verabscheuen. Wenn ich mir denke, Du wärest in Persori hier, würden wir gewiß darüber weg lachen, denn eigentlich ist es komisch, daß man sich überhaupt so plagt. Ich habe eine Methode die sich im ganzen bewährt ich denke nämlich immer: wenn du nur jetzt tot wärest; und dann finde ich mich beglückt und ausgezeichnet, daß ich noch da bin. Eigentlich wollte ich von Dir erfahren, ob und wann Du kommst. ... Du weißt, daß ich auf Deine Reisebegleitschaft warte; hast Du gar keine Lust, können wir auch auf meinem Balkon sitzen ... Ich war natürlich nach Zürich eingeladen, auch zu Hoppe-Mosers [70] auf ihr Gütchen in Böhmen. Das letztere hätte mich in mancher Hinsicht angezogen, schon weil ich ja gern nach Prag möchte, aber einstweilen habe ich mit meinem Buch eine gewisse Aufgabe gestellt, die muß erst fertig sein, vorher unternehme ich gar nichts. Und nachher gehe ich gewiß auch nicht nach Böhmen und auch sonst nirgendwohin, außer der kleinen historischen Reise mit Dir, besonders weil Kati [71] alle Augenblicke krank ist. Ach, es ist zum Verzweifeln! Heute war ich in einer Stimmung, mich bitter zu beklagen, daß ich auch in nichts, gar nichts Glück habe! Die Kati ist mir mit der Zeit so ans Herz gewachsen; aber für meine Verhältnisse ist es doch beinahe unmöglich, ein Mädchen zu behalten, dem immer wieder etwas fehlt. Jetzt hat sie sich verhoben... und muß nun vielleicht lange liegen ... Auch an meiner Arbeit [72] habe ich keine Freude sondern zum ersten Mal in meinem Leben fürchte ich manchmal, daß die Anstrengung über meine Kräfte geht. Das würde nicht der Fall sein, wenn ich sie con amore machen könnte; aber da ich voraussichtlich nichts und jedenfalls viel, viel weniger damit verdiene, als ich müßte (wenn ich für ein Jahr angestrengter, fortwährender Arbeit 1 000 Mark verdiene, so ist das doch ein Blödsinn, den ich mir nicht leisten kann), so eile ich mich natürlich rasend, um es aus der Welt zu schaffen, und das ist eben der Haken. Ich fand es so lieb von Dir, daß Du neulich schriebst, Du freutest Dich auf das Buch. Ob es wohl irgendein Mensch nachher liest? Ich habe momentan kein Urteil darüber, weißt Du; wenn man sich so intensiv mit einer Sache beschäftigt, verliert man den Maßstab dafür, wie interessant es im allgemeinen ist. Ich habe jedenfalls in dieser Zeit viel gelernt und übrigens beinahe einen Ekel gegen alle meine früheren Bücher bekommen. Sollte das übertrieben sein, so hat es gewiß auch seine gute Seite. Man täte gewiß gut, alles auch einmal von einer ganz andern Seite zu betrachten. Nur bin ich zu alt, als daß noch Nennenswertes dabei herauskommen könnte. Dies ist fatal. Das Alter stört mich beständig; immer wenn ich irgendwelche Aussicht oder Hoffnungen - in bezug auf mögliche Leistungen - fassen möchte, fällt mir ein, daß es ja doch schon abwärts mit mir geht.
Ich habe das Gefühl, Dir lange nicht so gemütlich geschrieben zu haben, hoffentlich merkst Du das auch beim Lesen. Ich bin gar nicht in Eile. Schließe aber bitte nicht daraus, daß ich nur von unlustvollen Tatsachen berichten könnte, ich wäre deprimiert oder so was. Ich bin eigentlich ziemlich guter Dinge, wenn ich auch vermeide, mich zum Beispiel abends auf meinen Balkon zu setzen. Denn wenn ich unbeschäftigt draußen säße, würde ich melancholisch. Ich rechne also auf Dich diesen Sommer oder Herbst ...

An Anton Kippenberg [73]

München, den 3. Januar 1913

Sie haben mir mit Ihrem reichhaltigen Bücherpaket eine große Weihnachtsfreude bereitet. Es bleibt doch, wie es scheint, in jedem Alter der schönste Augenblick des Festes, wenn man sich mit den neuen Büchern unter den Weihnachtsbaum setzt. Über das Blättern und Bilderbesehen bin ich zwar nicht hinausgekommen, das Eigentliche behalte ich mir für die Zeit vor, wenn ich einmal mit dem «Krieg» [74] fertig sein werde. Aber es führt gleich zu Ihrer diesbezüglichen Frage: Vor dem Sommer wird es nicht möglich sein können; kommt aber nichts dazwischen, was mich am stetigen Weiterarbeiten hindert, so hoffe ich, den Juli als Termin einhalten zu können. Daß Sie das Bild aus «Vita somnium breve» entfernen wollen, finde ich sehr gut. Gegen eine Änderung des Titels hätte ich auch nichts einzuwenden, wenn mich nicht der Gedanke beunruhigte, daß es, ohne irgendeinen Vermerk oder Hinweis, wie eine Irreführung des Publikums aussähe, indem es glauben müsse, es handle sich um ein neues Buch, daß ich mir aber von diesem Vermerk oder Hinweis kein rechtes Bild machen kann. Ließe sich diese Schwierigkeit heben, so scheint mir, daß Michael Unger ein naheliegender, klarer Titel wäre. Etwas anderes ist mir noch nicht eingefallen; vielleicht Ihnen? Was die Widmannschen Rezensionen [75] betrifft, so tut der Gedanke gewiß sehr gut, und ich kann nichts dagegen einwenden. Propaganda ist ja nun einmal ein notwendiges Übel, und die Vornehmtuerei, es durchaus entbehren zu wollen, würde sicher nicht ungestraft bleiben. Mit allem übrigen erkläre ich mich, einverstanden, und es bleibt mir nur übrig, Ihnen für Ihre meinen Büchenn gewidmete Sorgfalt herzlich zu danken. Wollen Sie bitte auch Herrn Dr. Buchwald [76] für seine Anteilnahme meinen Dank sagen. Die Korrekturen habe ich erst heute besorgen können, so war ich durch das Nichtstun der Ferien beschlagnahmt ...

An Marie Baum

München, den 11. Juni 1914

... Als ich Montag um 4 Uhr hier ankam [77], den Himmel von Pappe sah, eisige Kälte, widerliche Häuser, wurde mir das Herz schwer. Vor der verschlossenen Tür zu Hause lehnte ein großer Busch Lilien von Lisa Hohorst, [78] und auf meinem Tisch im Vorzimmer lag ein Haufen Briefe, aber es machte mir alles keinen Eindruck ... Ich packte aus, besorgte mir das Notwendige - denn Kati war noch nicht da - und wollte gerade zu Bett gehen, als Lisbeth Huch kam, mit der ich dann noch bis zum späten Abend zusammensaß. [79]
Ich fand auch die Nachricht vor, daß ich eine Bauernfeldprämie [80] von 2 000 Mark bekommen habe, aber eigentlich ärgerte ich mich ein bißchen, daß ich es nicht vorher erfuhr, sonst hätten wir noch eine schöne Wagenfahrt machen können. Eben kam Frau Rilke [81], und Marianne [82] war auch da. Ach, Liebe, das himmlische Meran, die schönen, sanften Tage! Das gehörte auch mit zu dem Schönen, daß man so allein und so geborgen vor allem war. «Selig, wer sich vor der Welt...» [83] Ich finde eigentlich alle Menschen so belästigend, und ich fürchte, ich bringe die Überwindung, mit den Menschen in lebhafter Berührung zu bleiben, immer weniger auf... Tausend, tausend Grüße!

An Marie Baum

München, den 9. August 1914

Ich dachte mir wohl, daß Ihr dort den Krieg noch ganz anders spüren würdet als wir hier. Hier kann man fast sagen, daß man mehr das Erhebende von einem allgemeinen Gefühlsaufschwung merkt. Not ist ja hier gar nicht, die meisten Fabriken und Firmen zahlen den Zurückbleibenden weiter, es ist einstweilen alles gut organisiert und eine enorme Hilfsaktion. Ich persönlich stehe allem fern, und ich bin ja nun einmal für das Komische empfänglich, ich kann nichts dafür, ich muß über manches lachen - zum Beispiel, daß jetzt schon jeder ein Schurke, ist, außer den Deutschen und der zu ihnen hält, und daß alle Gott anrufen und überzeugt sind, er würde die verfluchten Feinde vertilgen usw. Das Hetzen der Spione berührt mich auch so schrecklich, besonders hier, wo fast nur ganz harmlose Leute darunter zu leiden hatten. Schon jetzt leben die häßlichsten populären Instinkte auf - unter der Maske patriotischer Begeisterung, d. h. Maske ist nicht das richtige Wort, denn sie glauben es wohl selbst. Ich rege mich einstweilen noch nicht sehr auf, weil ich mir denke, es kann und wird nicht sehr lange dauern, und weil ich von der Überlegenheit der deutschen Kraft und Kultur wirklich überzeugt bin. Ich glaube, es fehlt mir an Phantasie, mir das Zukünftige und Etwamögliche so lebendig auszumalen, sonst weiß ich nicht, warum alles in einer so bodenlosen Aufregung ist und ich nicht. Marianne ist so erregt, daß ich manchmal Mühe habe, ohne Zusammenstoß mich durchzuschlängeln. Es gibt so viele Sachen, die mich mehr aufregen. Zum Beispiel diesen Sommer erzählte mir mein Doktor einmal, es vergingen keine acht Tage, daß nicht ein Mädchen oder eine Frau zu ihm käme und ihn himmelhoch anflehte, sie von einer Schwangerschaft zu befreien, und es täte ihm im Herzen weh, weil er sähe, daß ihre ganze Existenz davon abhinge, und er dürfe es doch nicht tun. Es wäre einmal vorgekommen, daß eine Frau schon vier blödsinnige Kinder geboren hätte und wieder schwanger geworden war, und viele Ärzte hätten sich dafür eingesetzt, aber man hätte nichts erreicht, die Frau hätte das Kind austragen müssen. Die Leiden der Frauen sind permanent, und es kümmert sich kein Mensch darum, d. h. Du natürlich schon, aber im allgemeinen. Nun also, diese dauernden Leiden nehme ich mir viel mehr zu Herzen, und übrigens, wenn es dann wirklich schlimm kommt, dann muß man es eben tragen. [84] Ein bißchen fängt die Haltung Italiens mich zu beunruhigen an - ich meine für mich persönlich - das könnte in bezug auf Manno bedenkliche Konsequenzen haben. Von meiner Schwester [85] habe ich nichts gehört... Rodi [86] hat nicht gedient, aber im Landsturm wird er ja sicher mitmüssen, wenn er nicht freiwillig gegangen ist. Wenn ich ein Mann wäre, ginge ich gerne mit, aktiv sein ist immer schön. Das bist Du ja auch [87], wenn auch in der weniger wohltuenden Form; aber ich fürchte, wenn das lange dauert, werde ich mir noch recht überflüssig vorkommen. Für Krankenpflege und dergleichen ist ein solcher Andrang, daß man einstweilen alle zurückschicken muß ...

An Marie Baum

München den 13. September 1914

... Ich finde, es zeigt ei jetzt doch die schöne Seite Deines Geschickes, Du füllst so prachtvoll einen Platz aus, während ich ganz beiseite stehe; nicht nur, weil sich das von selbst so fügt, sondern auch, weil das mir entspricht. Ich tue etwas, wenn einmal einzelnes an mich herantritt, und das ist in solchen Fällen wenig. Ich könnte z.B. wirklich auch Menschen in meine Wohnung aufnehmen..., aber bis jetzt habe ich mich nicht dazu entschließen können und statt dessen lieber Geld gegeben. Diesen Sommer habe ich mich so ins Einsamsein versenkt, daß es mir vor dem vielen graut, vor Getriebe und Bewegung. Ja, in den Krieg ginge ich wahrhaftig gern. Wenn ich in den Krieg gehen und da in der Schlacht fallen könnte, so würde ich mein Leben schön und passend vollendet finden. Ich glaube doch, es ist mein wesentliches Unglück, daß ich kein Mann bin.
Mit dem Kriege scheint es mir immer bedenklicher zu werden. Eine segensreiche Folge kann ich mir gar nicht vorstellen. Die Deutschen sind größer in der Not als im Glück; und ich bin überzeugt, die Versöhnung mit den Sozialisten wird nicht anhalten, es wird große Bitterkeiten und schwere Konflikte geben, Überwiegen des Ansehens des Militärs usw. Andererseits ist die deutsche Kultur gewiß die reifste jetzt, und man kann doch nur ihr das Übergewicht wünschen. [88] Aber es zieht sich jetzt alles so hin, man hat zumindest jedenfalls die Feinde unterschätzt, und ob die Begeisterung anhält, wern es sehr lange dauert? Neilich sagte ich, wenn ich ein Mann wäre, würde ich die Artillerie als Waffe wählen. Da wurde mir geantwortet, daß fast alle Freiwilligen es ebenso machten, und zwar aus dem selben Grunde, um den Nahkampf zu vermeiden, wovor es ihnen grauste. Da sieht man doch, daß für kultivierte Menschen der Krieg nicht paßt. Ich hörte auch schon von mehreren, daß sie sagen oder schreiben, sie würden die entsetzlichen Eindrücke nie verwinden. Dies ist für die bayrischen Bauern, die jetzt nach Herzenslust raufen und stechen dürfen und dann Helden und bayrische Löwen genannt werden...

An Marie Baum

München den 1. Oktober 1914

... Den Artikel in der «Frankfurter» [89] schrieb ich im Ärger über die Leute, die über Sachen urteilen, die sie nicht verstehen, übrigens denke ich ungern an ihn ... Die schönen alten Städte schmerzen mich natürlich sehr, und Leute, wie Du und ich sind sicher die einzigen, die sich wirklich darum kümmern. Nur weißt Du ja, daß mir das Leben doch noch wichtiger ist als die Kunst. Ich finde eigentlich alles unerfreulich, was der Krieg bis jetzt gezeitigt hat, d.h. zu Hause. Alles ist so kleinlich, so großmäulig und vieles wirklich so barbarisch. Wenn man wie Du tätig ist, empfindet man mehr das Schöne, was ja auch da ist; die Frauen und die unteren Stände sind eben das Lebenskräftige und Zukünftige ... Wenn Du von mir speziell absiehst, bist Du gewiß auch der Meinung, daß 50 Jahre ein schöner Zeitpunkt wäre zum Sterben. Noch ist man jung oder fühlt sich so, man hat noch nichts vom Niedergang gespürt, wie wundervoll, dann so plötzlich durch eine Kugel ins Herz hingerafft zu werden. So fiel der Sohn meiner Freundin Etta Wernicke in Braunschweig, ich glaube 27 Jahre alt. Vermutlich hat das auch einen Sinn, den man nicht kennt... Mußt Du nicht selbst sagen, daß es gar nicht für mich paßt, etwa gebrechlich, hinfällig usw. zu werden? Ich würde mich dann selber hassen und wäre einfach nicht mehr ich ...

An Marie Baum

München, den 1. November 1914

Auf das, was Du von der Bourgeoisie sagst, habe ich folgendes zu erwidern. Ich sagte ja nicht, daß das Bürgertum nicht einmal etwas Feines war; die Blüte ist eben, solange Kraft und Kultur zusammen da sind, nachher bleibt die Kultur, und die Kraft schwindet. Bei Frauen ist es, der besonderen Verhältnisse wegen, anders. Übrigens ist diese Kultur doch gar nicht so allgemein; und schließlich gebe ich zu, daß München besonders ungünstig ist. Es gibt hier so schrecklich viel Menschen, die im Grunde nichts tun, als den Tag totschlagen. Es mag wohl sein, daß mein Urteil durch diesen Aufenthalt etwas schief geworden ist. Auch Braunschweig war ungünstig durch die Verhältnisse, es hatte etwas Faules, Stagnierendes. In der Schweiz würde ich natürlich anders urteilen und in anderen deutschen Städten vielleicht auch - wenn ich im ganzen auch meinen Standpunkt beibehalte, daß der Bourgeoisie eine Regeneration not täte, Kampf, Ideal ... Von dem Schauspieler Jacobi, der gefallen ist, erzählte Lisa Hohorst, daß er, durch sehr viel Blutverlust geschwächt, in der Meinung, er würde nach München transportiert, ganz heiter einschlief und nicht mehr aufwachte. Du kannst doch nicht leugnen, es ist schön, so zu sterben. Ich hörte mit Heys zusammen das Requiem von Mozart, eine überirdische Musik ... Denke nur nicht, ich versinke in Schwermut, das tue ich natürlich nur vorübergehend. Ich gehe doch immer dagegen an und habe doch Busis erquickenden Humor und stellenweise Ausgelassenheit in der Nähe. Und Dank tausendmal. «Habt Dank, Ihr habt mich sehr erquickt» - hörte ich neulich den Florestan im «Fidelio» so himmlisch singen ...

An Marie Baum

München den 29. Januar 1915

... Gestern abend hatte ich Besuch von der netten, klugen Frau Knoop [90] und Herrn von Gebsattel [91] ... Es wurde sehr tiefsinnig darüber geredet, warum ich nicht patriotisch wäre, d. h. in dem Sinne, daß ich bei Ausbruch des Krieges nicht aufgeregt war und mich nicht, mit dem Ganzen des Volks mich eins fühlend, bedroht gefühlt und dagegen reagiert hätte. Tatsächlich berührt mich das immer peinlich, wenn gesagt und geschrieben wird, es geht um unsere Existenz oder wir kämpfen um unsere Existenz; denn es ist ja höchstens eine Machtfrage. Nun also, ich sagte, es wäre bloß Mangel an Phantasie, weil mir nichts wirklich wird, was mir nicht sinnfällig wird; aber das wollten sie nicht glauben, sondern Gebsattel sagte, es wäre mein Aktivitätsprinzip, weil ich nur erlebte, wo ich aktiv sein könnte. Das hat etwas für sich, und ich kann mir gut vorstellen, wie anders Du den Krieg erlebst, weil Du mit darin handelst. Heute ist der neben uns lebende Gärtner auf Urlaub gekommen, um seine Gartenarbeit zu machen - ich will ihn nachher besuchen und mir von ihm erzählen lassen ... er hätte gesagt, es wäre über alle Beschreibung entsetzlich draußen, aber er dürfte nicht davon sprechen. Von der Marie sind alle Brüder, Freunde und Bekannte im Felde, ihr geht der Krieg ordentlich ans Leben ...

An Marie Baum

München, den 18. Mai 1916

... Dein Brief brachte mir die Erquickungstropfen, die man doch von Zeit zu Zeit braucht. Es gibt ein Herz, das mit einem schlägt; wenn man das nicht weiß, ist es schwer zu leben. Ich bin im Grunde überzeugt, daß Du der einzige Mensch bist, der meinen «Luther» [92] so aufnehmen wird, wie ich mir, während ich ihn schrieb, einbildete, daß sehr viele Menschen ihn aufnehmen würden; der einzige vielleicht, der nachher etwas Praktisches daran knüpfen wird, worauf es mir eigentlich ankommt. Ich fühle, wie sonderbar es ist, daß ich diese Briefe gerade an X. [93] richtete und daß es viel verständlicher gewesen wäre, wenn ich sie Dir zugeeignet hätte. Das hängt, glaube ich, damit zusammen, daß ich in X. einen Teil meines eigenen Ich spüre, das Ich, das ich Gott sei Dank in meinem Leben einigermaßen überwinden konnte. Du hast mich nicht so nötig, überhaupt nicht nötig, um in der Hauptsache den rechten Weg zu finden. Frauen sollen nun überhaupt einmal auf Männer wirken, sie sind bestimmt, die Männer mit Gott zu verbinden ... Was Manno betrifft, so kennst Du ihn nicht, wie ich ihn kenne. An Manno habe ich die helfende Liebe, wie Du es nennst, erlebt; ich kann ihm das nie vergessen, ich danke ihm das Beste, was ich habe. Es ist an ihm das wunderbare, daß die Liebe so frei von jeder Moral, überhaupt von jedem Gedanken ist, und gerade darum spürt man den göttlichen Hauch so besonders stark. Manno kann zum Beispiel - ich habe das mit angeschen - von dem heißesten Rachedurst gegen jemanden erfüllt sein; im Augenblick, wo derselbe Mensch hilfsbedürftig ist, reißt Manno sich selbst in Stücke, um demselben Menschen zu helfen. Er lebt eigentlich nur in diesen Augenblicken. Es strömt dann eine göttliche Kraft von ihm aus, in der alles auflebt. Ich hatte immer das Gefühl, ich könnte nicht sterben, solange Manno bei mir wäre ... Ich war wirklich wieder sehr elend. Denke Dir, eines Morgens schrieb ich Dir, Du möchtest zu mir kommen, weil ich bestimmt glaubte, ich müßte sterben. Nachher erschrak ich aber vor mir selbst, zerriß den Brief und bat Marianne, zu mir zu kommen, denn ich fühlte, daß ich durchaus einen Menschen brauchte, der mir zusprach. Marianne tat das auch auf eine so reizende Art, daß ich ganz glücklich war, es getan zu haben; man muß viel mehr Ansprüche an die Menschen machen und sie zwingen, aus sich herauszugehen ...
Adieu, mache Dir ja keine Gedanken um meine Gesundheit. Ich denke doch, es geht wieder vorwärts, und außerdem glaube ich bestimmt, es geschieht nur das, was gut ist ...

An Helene von Salis [94]

München, den 17. [95] September 1918

... Ein Brief von Dir ist ein großes Vergnügen, Du erzählst so goldig, und noch viel goldiger ist die Illustrierung durch die Bildchen. Ich kann mir Deinen Vater in dem kavaliermäßigen Auto prachtvoll vorstellen, es paßt ausgezeichnet für ihn ... Wir haben inzwischen hier viel erlebt, die großen Erschütterungen häuften sich so, daß man sie eigentlich kaum mehr spürte. Der Zusammenbruch so alter Mächte hat etwas Tragisches, und es kränkte mich anfangs, daß das Tragische im allgemeinen so wenig empfunden wurde. Schließlich muß man aber einsehen, daß sie wohl nicht, hätten stürzen können, wenn sie nicht schon innerlich ganz morsch gewesen wären und nicht mehr lebendig im Herzeii des Volkes gewurzelt hätten; infolgedessen läßt der Sturz im allgemeinen kalt. Ich war schon vor dem Kriege davon überzeugt, daß unsere Kultur auf einem toten Putikt angelangt war und daß eine Erneuerung kommen müßte. Wie so etwas kommt, das weiß man ja aber nicht, und man kann es auch nicht herbeiwünschen, obwohl man es für notwendig hält. Vielleicht kommt nach dem entsetzlich Bitteren, was man hat schlucken müssen, ein neues Leben. Es ist erfreulich zu sehen, mit welcher Intensität sich alles der Bewegung anschließt, das gibt Hoffnung, daß etwas Rechtes daraus wird. Daß auch das Universitätswesen einer Erneuerung bedarf, davon haben wir ja öfters gesprochen, und man sieht es hier vollkommen ein; damit ist natürlich das Neue noch nicht da; wenn man nur daran glaubt, wird es schon kommen. Schade, daß Du nicht hier bist, Lenerl, und das alles miterlebt hast, es war auch manches zum Lachen. Ist wohl Dein Bruder schon wieder bei Euch? Wir sind immer noch sehr hauswirtschaftlich, ich habe das Gefühl, daß es mir sehr gut bekommt, habe auch früher mit Deinem Vater davon gesprochen, daß mehr Tätigkeit im Hause mir wahrscheinlich gut täte. Nur brennt manchmal etwas an, weil ich natürlich nicht immer in der Küche sein kann und, wenn ich Besuch habe, manchmal vergesse, daß irgendein Gemüse auf dem Feuer steht. Abends, wenn wir zu Hause sind, lese ich vor, während Elsbeth [96] stickt und Busi Patiencen legt. Das ist sehr gemütlich ...

An Marie Baum

München,den 14. Februar 1919

... Ich danke Dir, daß Du uns an Deinen Erlebnissen und Eindrücken teilnehmen läßt. Auch aus den Zeitungen geht hervor, daß wirklich viel Tüchtigkeit da ist, daß aber der Schwung, das überragend Große fehlt. Da sich das aber nicht erzwingen läßt, finde ich es sehr schön, daß man bestrebt ist, ehrlich und arbeitsam zu sein; und ich sonne mich im ganzen in dem schönen Gefühl, daß kaum ein anderes Volk in solcher Lage sich so mannhaft und maßvoll halten würde. Weißt Du, was mir hier immer auffällt? Wieviel Sympathie unter den lntellektuellen - ich meine jetzt nicht nur die im schlechten Sinne - für den Bolschewismus herrscht, d. h. für die Ideen, die dem Bolschewismus zugrunde liegen, nicht für das russische Verfahren. Und das glaube ich ja auch, daß die Veränderungen radikaler sein müssen und auch sein werden, als es jetzt scheint. Vielleicht wissen das aber die maßgebenden Persönlichkeiten auch. Ich glaube, vieles gestaltet sich noch sehr anders, als die Reichsverfassung jetzt vorsieht. Die Meinung, daß Deutschland berufen ist, das wirklich durchzuführen, was der russische Bolschewismus möchte, aber nicht kann, scheint mir richtig. Deutschland wird wieder die Aufgabe haben, die Mitte zwischen Ost und West zu sein...