Rosa Luxemburg

5. März 1871 bis 15. Januar 1919

Ein Adler kann wohl manchmal auch tiefer hinabsteigen als das Huhn, aber nie kann ein Huhn in solche Höhen steigen wie ein Adler. Rosa Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte 1903 in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechanow, Vandervelde, Kautsky u. a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst beim Verlassen des Gefängnisses Ende 1918 und Anfang 1919 ihre Fehler zum großen Teil korrigierte) - Aber trotz aller dieser Fehler war sie und bleibt sie ein Adler.
W. I. Lenin, Notizen eines Publizisten.
In: «Prawda», 16. April 1924

Im Mai des Jahres 1898 konnte man eine junge Frau von etwa siebenundzwanzig Jahren, die aber jeder für jünger gehalten hätte, in den fast menschenleeren Straßen am Berliner Tiergarten entlanggehen sehen. Sie war klein, bewegte sich mit etwas schleppendem Gang, der von einer in der Kindheit zugezogenen Versteifung des Hüftgelenks herrührte, und schaute mit schönen, leuchtenden Augen wach um sich, denn auf der Suche nach einer Unterkunft hielt sie nach den Schildern «Zimmer zu vermieten» Ausschau. Von Haus zu Haus stieg sie in die Stockwerke hinauf, zum allergrößten Teil vergebens. Die angebotenen möblierten Stuben erwiesen sich im allgemeinen für ihre Verhältnisse als zu teuer, oder sie lagen in Offiziersnachbarschaft, und die mied sie «wie die Pest». Dem Gesamteindruck nach würde man ihre Erscheinung schwerlich für die einer Berlinerin gehalten haben, und wenn sie mit den Vermieterinnen sprach und ihnen erklärte, daß sie gerade aus der Schweiz angekommen sei und dort an der Universität Zürich das nationalökonomische Studium mit dem Doktordiplom abgeschlossen habe, äußerte sich ein slawischer Akzent. In der Tasche trug sie einen Eheschein, der auswies, daß sie in Zamost im Gouvernement Lublin geboren war und am 19. April 1898 in Basel mit dem Schreinermaschinisten und preußischen Staatsangehörigen Gustav Lübeck die Ehe geschlossen hatte. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Scheinheirat; sie benötigte das Dokument, um sich unbehelligt von der Polizei in der deutschen Hauptstadt niederzulassen. Denn sie war gekommen, um, wie sie selber sagte, «ganz allein, fremd, Berlin zu erobern». Diese in der Millionenstadt unbekannte kleine Person mit dem Löwenmut und der Adlerkühnheit war die Sozialistin Rosa Luxemburg, die soeben eine neue Seite ihres Lebensbuches begann. Nicht durch ihre äußere Stellung - sie besaß keine, war berufs- und fast mittellos - aber durch die außerordentlichen Anlagen ihrer Persönlichkeit darf man sie schon in diesem Augenblick die interessanteste Frau dieser Stadt, eine Größe allerersten Ranges nennen.
Strenggenommen war sie nicht restlos unbekannt. Sie hatte einige Artikel über Probleme der polnischen sozialistischen Bewegung in der marxistischen Revue «Die Neue Zeit» publiziert, und deren Redakteure erleichterten ihr die Kontaktaufnahme mit den führenden Sozialdemokraten Berlins. Innerhalb kurzer Frist gelang es ihr, das Vertrauen August Bebels zu erwerben. Bereits im Juni wurde sie in das oberschlesische Industriegebiet geschickt, um im Auftrag der SPD unter den polnischen Arbeitern Wahlagitation zu treiben. Sie erwies sich als hervorragende Agitatorin. Mit der Leidenschaftlichkeit ihrer Rede riß sie die Zuhörer so hin, «daß der ganze Saal vor Erregung bebte und manche Frauen weinten». Ende September wurde sie zur Chefredakteurin der «Sächsischen Arbeiter-Zeitung» in Dresden ernannt. Anfang Oktober griff sie auf dem Stuttgarter Parteitag als Delegierte für das oberschlesische Neustadt und Beuthen-Tarnowitz mehrmals in die Debatte mit dem für sie bezeichnenden Bekenntnis ein, daß sie auf dem «linken Flügel» kämpfen wolle, nicht auf dem rechten, wo man mit dem Feinde kompromisselt. Ende des Jahres 1898 erschien ihre Dissertation «Die industrielle Entwicklung Polens» bei dem Leipziger Verlag Duncker und Humblot. Innerhalb weniger Monate hatte sie eine geachtete Stellung in der deutschen Sozialdemokratie errungen, der damals in der europäischen Arbeiterbewegung führenden Partei, die soeben bei der Reichstagswahl über 2 Millionen Stimmen auf sich vereinigte. Aber in der siebenundzwanzigjährigen Rosa Luxemburg steckte mehr als eine glänzende sozialistische Publizistin, erfolgreiche Agitatorin und Expertin für polnische Angelegenheiten. Sie war zugleich eine der wenigen, die Fundiertes zur Parteistrategie und Taktik zu sagen hatte. Es war die Zeit, da sich opportunistische und reformistische Tendenzen in der deutschen Arbeiterbewegung stärker bemerkbar machten. Ihr Theoretiker war der ehemalige Chefredakteur des «Sozialdemokrat» Eduard Bernstein, von dem Anfang des Jahres 1899 die Schrift «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie» erschien. Mit überragendem Sachverstand, frischem jugendlichem Ungestüm, glänzenden Formulierungen und manchmal auch boshaftem Witz griff sie die liberale Reformideologie Bernsteins in einer Artikelserie der «Leipziger Volkszeitung» an, wies ihre Irrtümer nach und verteidigte die radikale Klassenkampfposition. Die Besprechungen gab sie gesammelt in einer Broschüre mit dem Titel «Sozialreform oder Revolution» heraus. Es war ihr Eintritt in die Kriegsflotte der marxistischen Parteiliteratur. Das Thema stand im Mittelpunkt des nächsten Parteitags in Hannover. Rosa Luxemburg galt nun allgemein als «die erbittertste Feindin Bernsteins», als «unser einziger Parteiphilosoph», wie der Redakteur Schönlank gegenüber Bebel äußerte, als eine Führerin des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie. Jeder, der diese Frau in einer Versammlung erlebt hatte, bezeugt, daß sie eine hochbegabte Rednerin war, die stets frei sprach. Schon vor ihrem ersten Auftritt wußte sie, daß sie sich auf der Tribüne «wie bei sich im Schlafzimmer fühlt». Nie äußerte sie sich diplomatisierend, sondern immer scharf und klar, unerschrocken und respektlos. Die bürgerliche Presse deformierte schon bald ihr Bild zum Schreckgespenst der «revolutionären Rosa». So konnte es nicht ausbleiben, daß sie auch mit der Polizei und Justiz zusammenstieß. Im Januar 1904 wurde sie in Zwickau zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie Kaiser Wilhelm II. mit der Äußerung beleidigt haben sollte: «Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spricht, hat keine Ahnung von den Tatsachen.» Auch diese moralische Bewährungsprobe hat sie glänzend bestanden. Als sie beim Tode des sächsischen Königs Albert unter die allgemeine Amnestie fiel und ihr ein Monat von der Haft erlassen wurde, war sie empört, weil sie sich von einem König nichts schenken lassen wollte.
Schon in ihrer Schülerzeit war Rosa Luxemburg in der polnischen Arbeiterbewegung tätig gewesen. In Zürich stand sie in enger Verbindung mit hervorragenden marxistischen Emigranten wie Plechanow, Jogiches [1], Marchlewski. Auch nachdem sie sich der Parteiarbeit in der deutschen Sozialdemokratie zugewandt hatte, gehörte sie zusammen mit Leon Jogiches der Führung der polnischen Sozialdemokratischen Partei an, und ihre Wohnung in Berlin-Friedenau war ein Zentrum der polnischen revolutionären Bewegung. Als im Jahre 1905 das Feuer der Revolution in Rußland auch auf Russisch-Polen übersprang, eilte sie gegen Ende des Jahres nach Warschau, um in die Geschehnisse lenkend einzugreifen. «Die Stadt ist wie ausgestorben, Generalstreik, Soldaten auf Schritt und Tritt», meldete sie bei ihrer Ankunft nach Deutschland, und wenige Tage später: «Jetzt kann nur ein direkter allgemeiner Straßenkampf die Entscheidung bringen.» Solche Aktionen vorzubereiten, dazu diente ihre Agitation. Aber schon am 4. März 1906 wurde sie verhaftet, kam zunächst ins Polizeigefängnis des Warschauer Rathauses und wurde dann in den Pavillon X der Warschauer Festung übergeführt. Trotz härtester Bedingungen lehnte sie es ab, an den russischen Ministerpräsidenten und an den deutschen Konsul zu schreiben. «Die Herren können lange warten, bis eine Sozialdemokratin sie um Schutz und Recht bittet. Es lebe die Revolution!» Erst Ende Juni gelang es, sie gegen eine Kaution von 3 000 Rubel freizubekommen. Ihre neuen Erfahrungen legte sie in der Broschüre «Massenstreik, Partei und Gewerkschaft» nieder. Im September war sie wieder in Deutschland und sprach auf dem Mannheimer Parteitag über die internationale Bedeutung der russischen Revolution. Rosa Luxemburg war damals die einzige aus dem Kreis der einflußreichen deutschen Sozialdemokraten, die durch die Feuertaufe einer wirklichen Revolution gegangen war. In einer Massenversammlung rief sie aus, daß jene Monate in Warschau die glücklichsten ihres Lebens waren. Im Jahre 1907 wurde sie als Hauptdozentin für politische Ökonomie an die Zentrale Parteischule in Berlin berufen. Rosa Luxemburg war nicht nur eine sattelfeste marxistische Theoretikerin, sondern auch eine hervorragende Pädagogin, die sich bei ihren Arbeiterstudenten hoher Beliebtheit erfreute. Zu ihren namhaftesten Schülern gehörte Wilhelm Pieck. Diese Dozententätigkeit, die sie mit der Ausarbeitung theoretischer Werke wie «Die Akkumulation des Kapitals» (1913) verband, füllte vor allem die Jahre vor dem ersten Weltkrieg aus. Doch hinderte sie diese Wirksamkeit keineswegs, sich auch dem politischen Tageskampf, der Agitation und Propaganda zu widmen. Standen ja in dieser Ära des Wettrüstens nicht nur Kämpfe um ein besseres Wahlrecht und heftige Debatten um den politischen Massenstreik und die Rolle der Gewerkschaften auf der Tagesordnung, sondern auch die prinzipielle Stellungnahme der Arbeiterklasse zu den Fragen des Militarismus und des imperialistischen Krieges. Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart im August 1907 war sie es, die gemeinsam mit Lenin den entscheidenden Zusatzantrag einbrachte, den drohenden Weltkrieg mit revolutionären Massenaktionen zu verhindern. Diese Beschlüsse wurden auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Basel 1912 nicht nur bestätigt, sondern die Aufgaben für den Konfliktfall noch weiter konkretisiert. Was sie von dem höchsten Forum der sozialistischen Internationale verteidigte, trug sie als Agitatorin in die Herzen der Massen. In einer Volksversammlung im Bezirk Frankfurt am Main erklärte sie ihren Zuhörern: «Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffe gegen unsere französischen oder andere ausländische Brüder zu erheben, so erklären wir: Nein, das tun wir nicht.» Der Staatsanwalt erblickte in diesem Aufruf zur Verweigerung der bewaffneten Auseinandersetzung ein Attentat auf den Staat, und das Landgericht Frankfurt verurteilte sie zu einem Jahr Gefängnis. Bereits am 3. November 1913 hatte es in einem Geheimbericht des Berliner Polizeipräsidenten an die Münchner Polizeidirektion geheißen: «... hetzt in fanatischer Weise zur Propaganda der Tat auf.» Weil sie die Verhinderung des Krieges durch Aktionen der Arbeiterklasse für real möglich hielt, traf sie sein Ausbruch um so härter. Vor allem aber empörte sie die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. So viel anpaßsame Inkonsequenz und schmählichen Verrat an allen Beschlüssen und Zielen der Internationale hatte sie für undenkbar gehalten. Dennoch gehörte sie nicht zu denen, die sich durch Mißerfolge in ihrer Aktivität lähmen lassen. Noch am Abend des 4. August 1914 kamen Franz Mehring, Julian Marchlewski, Ernst Meyer, Hermann Duncker und Wilhelm Pieck in ihrer Wohnung zusammen, um über neue Maßnahmen angesichts der Kapitulation der Partei und des Zusammenbruchs der Internationale zu beraten. Da mit dem Kriegsausbruch der Belagerungszustand verhängt worden war, mußte zu konspirativer Arbeit übergegangen werden. Vor allem galt es, die sozialistischen Kriegsgegner zusammenzuschließen. Das Nein Karl Liebknechts zur zweiten Kriegskreditvorlage war die erste öffentliche Demonstration dieses kleinen Häufleins aufrechter Revolutionäre. Zu gleicher Zeit bereitete Rosa Luxemburg eine neue Zeitschrift mit dem signalhaften Titel «Die Internationale» vor. Aber noch vor Erscheinen der ersten und einzigen Nummer wurde sie am 18. Februar 1915 zwecks Antritts ihrer einjährigen Gefängnisstrafe verhaftet. Auch unter diesen erschwerten Umständen arbeitete sie weiter. Im Berliner Frauengefängnis in der Barnimstraße schrieb sie unter dem Pseudonym Junius die Schrift «Die Krise der Sozialdemokratie», eine Abrechnung mit der Burgfriedenspolitik, dem Verrat der Sozialdemokratie und eine Selbstkritik der proletarischen Bewegung. Die «Junius-Broschüre», wie sie allgemein genannt wurde, erregte gewaltiges Aufsehen und darf als die bedeutendste revolutionäre Schrift der Kriegsjahre angesehen werden. Sie enthielt im Kern das Programm der «Gruppe Internationale», die nach der Unterschrift der von ihr illegal verbreiteten «Politischen Briefe» bald auch «Spartakus Gruppe» genannt wurde.
Nach der Verbüßung der Gefängnisstrafe nahm Rosa Luxemburg am 1. Mai 1916 an der machtvollen Demonstration gegen den imperialistischen Krieg auf dem Potsdamer Platz teil, zu der die Spartakusgruppe aufgerufen hatte. Am 10. Juli wurde sie in «Sicherheitsgewahrsam» genommen. Sie kam wieder in das Berliner Frauengefängnis, dann auf die Festung im Regierungsbezirk Posen, schließlich ins Strafgefängnis Breslau. Die Haft dauerte bis zur Novemberrevolution. In diesen Jahren hinter Gittern schrieb sie zahlreiche Briefe an ihre Freunde, verfaßte Flugschriften und Artikel wie die «Spartakusbriefe», übersetzte sie die Autobiographie «Geschichte meines Zeitgenossen» des russischen Schriftstellers Korolenko und würdigte in einer ausführlichen Einlassung die gesellschaftliche Bedeutung der realistischen russischen Literatur für das deutsche Proletariat. Am 8. November 1918 wurde sie freigelassen und eilte umgehend nach Berlin, um in die revolutionären Geschehnisse einzugreifen. Dort war an diesem roten Sonnabend nach der Abdankung des Kaisers die Regierungsgewalt in die Hände rechter und zentristischer Sozialdemokraten übergegangen, die sich «Volksbeauftragte» nannten. Der «Kaisersozialist» Scheidemann hatte unter dem Druck der Straße aus einem Fenster des Reichstages die Republik ausgerufen. Nachmittags gegen 16 Uhr proklamierte Karl Liebknecht vom Balkon des Kaiserschlosses die freie sozialistische Republik Deutschland. Ihm eilte Rosa zu Hilfe. Ihre erste gemeinsame, Aktion war die Gründung der «Roten Fahne», des Zentralorgans des Spartakusbundes. Sie wurde die Seele dieses Blattes, das Entscheidendes zur Mobilisierung der Massen beitrug. Jedoch nur zu bald zeigte sich, daß zu einem erfolgreichen Kampf und zur Nutzung aller Möglichkeiten eine revolutionäre marxistische Parteiorganisation fehlte. Ende Dezember wurde deshalb eine Reichskonferenz des Spartakusbundes einberufen, die vom 30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919 im Festsaal des Preußischen Abgeordnetenhauses tagte. Auf ihr wurde die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands beschlossen. Höhepunkt dieses Parteitages bildete das Referat Rosa Luxemburgs «Unser Programm und die politische Situation».
Anfang Januar des Jahres 1919 kam es in Berlin zum bewaffneten Aufstand der revolutionären Arbeiter gegen die Regierung Ebert-Scheidemann. Er wurde mit Hilfe konterrevolutionärer Truppenverbände niedergeschlagen. Schon im November hatte Rosa in einem Brief an den Journalisten Geck den «grimmigen» Gedanken geäußert, daß sie wohl bald ins Jenseits befördert werde - «vielleicht durch eine Kugel der Gegenrevolution, die von allen Seiten lauert». Am 15. Januar wurde sie in einer Wilmersdorfer Wohnung zusammen mit Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck festgenommen und in das Eden-Hotel, das Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, geschleppt. Nachdem dort entmenschte Soldateska sie bereits zusammengeschlagen hatte, wurde sie während des Weitertransports im Auto meuchlings durch eine Kugel in den Kopf ermordet und ihr Körper an der Lichtensteinbrücke in den Landwehrkanal geworfen. Erst nach Monaten, am 31. Mai 1919, wurde die Leiche an einer Schleuse in der Nähe des Zoologischen Gartens gefunden. Der Adler der Revolution war von den Knechten Calibans feige erwürgt worden.
Rosa Luxemburg war die überragende Frauengestalt der Novemberrevolution. Mit dieser größten deutschen Volksbewegung seit den Bauernkriegen ist ihr Name unablöslich verbunden. Der Aufbruch des Proletariats jener Tage hat sich vor allem in ihr und Karl Liebknecht verkörpert, und dieses Bild ist von den Epochen, die folgten, nicht verdrängt worden. Ihre faszinierende Ausstrahlungskraft wurde damals auch von ihren Feinden rasch erkannt, und damit hing das schändliche Mordkomplott zusammen. Indem man sie und Liebknecht der Lynchjustiz der Gegenrevolution überantwortete, sollte der kommunistischen Hydra, der man nicht mehr Herr zu werden glaubte, der Kopf abgeschlagen werden. Das alles ist in den Annalen der Geschichte verzeichnet. Weniger vermelden sie von dem Zauber der Persönlichkeit Rosa Luxemburgs, von ihrem inneren Feuer, ihren musischen Talenten, ihrer ungeheuren Sensibilität, ihrem glühenden Herzen. Für sie erschöpfte sich das Leben nicht in der politischen Wirksamkeit; in ihr verkörperte sich vielmehr jene allseitige Entfaltung der Persönlichkeit, jene Universalität, die sich bei einem reich angelegten Individuum im Kampf um eine neue Gesellschaft verwirklicht. Dieser menschliche Reichtum, der die engste Verbundenheit mit der Natur auch noch hinter Zuchthausgittern vorlebte und in Dichtung, Musik, bildender Kunst immer neue Hoffnungsbilder entdeckte, spiegelt sich in ihren Briefen. Es sind Selbstzeugnisse, die nicht nur durch ihre Unmittelbarkeit hinreißen, sondern auch durch ihre geschliffene Formulierung oft in die hohe Literatur hineinragen.

An Leo Jogiches

(Berlin) Dienstag abend (17.5.189)

Mein teuerstes dziodzio! Jetzt habe ich den ersten mehr oder weniger ruhigen Augenblick, wo ich allein bin und Dir ausführlicher schreiben kann, denn den ganzen Tag gestern und heute bin ich mit meinem «Cousinchen» nach einer Wohnung herumgerannt. Du hast keine Ahnung, was das heißt, in Berlin eine Wohnung zu suchen. Obwohl ich «nur» in drei Stadtteilen suche - in Charlottenburg, im Westen und im Nordwesten - in den anderen ist das Wohnen im Sommer unerträglich - aber das sind derartige Entfernungen, daß für ein paar Straßen Stunden draufgehen, um so mehr, als man Haus für Haus die Stockwerke hochrennen muß (nach dem Anschlag an der Haustür), zumeist vergeblich. Die Zimmer sind allgemein überall schrecklich teuer, selbst hier in Charlottenburg kostet das billigste Zimmer, das überhaupt für mich passen würde, 28 Mark. Von einem getrennten Schlafraum ist natürlich nicht einmal zu träumen; eine einzige Stelle, wo wir überhaupt auf ein Zimmer mit Schlafzimmer stießen - allerdings großartig möbliert - aber für 80... M.!! Einstweilen habe ich ein Zimmer zu 1 M. täglich, ich richte mich so ein, daß ich auf dem Schlafdiwan schlafe und außerdem ein Sofa habe, anders geht es absolut nicht. Übrigens muß man zugeben, daß doch auch in Zürich meine Wohnung ein weißer Rabe ist. Trotzdem sei unbesorgt, ich nehme nicht das erste beste und bin furchtbar wählerisch, und mein «Cousinchen», die von dem Zimmer in Zürich entzückt ist, sucht auch mit jenem Ideal in der Seele. Morgen werde ich endgültig entscheiden, obwohl die Wahl so schwer fällt, daß man Angst bekommen könnte, denn wenn in der einen Wohnung «[2]» - merkt man der anderen an, daß «[2]»; die Größen sind ganz unvergleichbar, so daß mir der Kopf platzt, ehe ich mich für etwas entscheide. Apropos «[2]», tatsächlich «[2]» überall. Tatsächlich sind die Offiziere der herrschende Stand hier; sie wohnen auch in möblierten Zimmern, und überall stoße ich entweder auf ein Zimmer nach einem Offizier oder auf Offiziersnachbarschaft. In Anbetracht der Gefahr, die Dir von daher drohte, und Deiner ständigen Furcht, daß Dir die Frau «[2]», meide ich natürlich eine solche Nachbarschaft wie die Pest. Aber stell Dir vor, die Zeichnungen von Thöny [3], das sind gar keine Karikaturen, sondern einfach Fotografien nach der Natur - davon läuft hier eine Million auf den Straßen herum. - An Menschen habe ich nur flüchtig die Mutter der Schmuilowa [4] gesehen, ihren Schwiegersohn - den Subredakteur der «Neue Welt» (Kühl) [5] und Schmuilow. [6] Der letztere hat es noch nicht geschafft, mich mit Gradnauer [7] bekannt zu machen, womit ich übrigens sehr zufrieden bin. Ich erfuhr von ihm lediglich, daß Parvus [8] gegenwärtig in der Partei als persona comica [9] angesehen wird und daß sich alle von ihm abgewandt haben (Gradnauer,) die Zetkin [10], Auer [11] usw.), es heißt, er hätte alles verloren, was er bisher gewonnen hat. Das heißt, daß wir beide eine sehr gute Nase haben, aber im Endergebnis ist das sehr traurig. Von Juleczek ***81.10.12** Marchlewski haben die Leute angeblich die Meinung, daß er unbedeutend ist und daß er «fad», d. h. kraftlos und öde schreibt, so sagte es zumindest Schmu [ilowl und Gradnauer. Von Adolf [13] Warski weiß ich, daß Juleczek sich schon seit langem um einen Ausländerpaß in München bemüht hat, um nach Schlesien zur Agitation zu fahren, aber daraus ist nichts geworden. Bebel und Auer sind hier. Ich schreibe noch nicht an B[ebel] [14], denn wenn ich ihn treffe, möchte ich ein Zimmer haben und selbst ein wenig menschlich aussehen. Im übrigen mache ich hier - zumindest auf meine Wirtin einen sehr imposanten Eindruck, und was das erstaunlichste ist, alle halten mich für außergewöhnlich jung und bewundern mich, daß ich schon fertig bin. Das zu Deiner Beruhigung. Die Jadzios [15] [Warskis] fanden mich in dem schwarzen Kleid und dem neuen Hut «bezaubernd». Das alles bezieht sich auf mein äußeres Aussehen. Mein inneres Aussehen ist etwas weniger bezaubernd, obgleich ebenfalls schwarz, woran die bedrückende Größe Berlins schuld ist. Ich fühle mich, als wäre ich ganz allein und fremd hierhergekommen, um Berlin «zu erobern», und wenn ich es ins Auge fasse, wird mir bange angesichts seiner kalten und mir gegenüber gleichgültigen Macht. Gleichzeitig tröste ich mich aber damit, daß mich von ganz Berlin angeht [16].
Ich habe der Frau noch einen Bogen Papier abgeluchst, denn ich kann von Dir nicht Abschied nehmen, ich könnte noch die ganze Nacht schreiben, aber ich fürchte, daß Du mir wieder eine Abreibung, geben wirst, weil ich zuviel Papier in den Briefumschlag getan habe. Ich kehre zur Sache zurück. Ich sagte, daß ich überall blaue Flecken auf meiner Seele spüre, ich erkläre es Dir gleich, wie ich das fühle. Gestern abend im Bett bereits, in der fremden Wohnung, mitten in der fremden Stadt fühlte ich mich ein bißchen verzagt und dachte so im tiefsten Seelenwinkel: Wäre es nicht glücklicher, statt eines solchen abenteuerlichen Lebens irgendwo in der Schweiz mit Dir zu zweit still und herzlich zu leben und die Jugend zu genießen und sich aneinander zu erfreuen. Aber als ich mich in Gedanken nach rückwärts umsah für einen Augenblick, um zu sehen, was ich hinter mir zurückgelassen hatte, da erblickte ich - einen leeren Platz, und. schlagartig wurde mir klar, daß das alles eine Täuschung war. Wir lebten doch weder zusammen, noch hatten wir aneinander Freude, und da gab es auch nichts Glückliches (das alles meine ich über unser persönliches Verhältnis, wobei ich von den sachlichen Scherereien abstrahiere, denn diese können doch nicht ein Leben in herzlichem Einvernehmen verhindern). Im Gegenteil, hinter mich zurückblickend auf das letzte halbe Jahr und sogar noch weiter zurück, empfand ich so ein einziges verwirrendes Gefühl der Disharmonie, etwas mir Unbegreifliches, Quälendes, Düsteres, ich bekam Stiche in den Schläfen, und da eigentlich hatte ich genau das physische Empfinden von blauen Flecken an der Seele, so daß ich mich weder nach rechts noch links hinlegen konnte. Das Quälendste dabei ist das Gefühl des Unbegreiflichen, als wäre da ein dumpfes Geräusch im Kopf, bei dem ich nicht weiß: wozu, weshalb, warum war das alles, was war...
Und stell Dir vor, daß gerade diese blauen Flecken an der Seele mir augenblicklich Mut zu dem neuen Leben verliehen. Mir wurde klar, daß ich nichts Gutes aufgegeben hatte, daß es keinen Deut besser wäre, selbst wenn wir zusammen leben würden, daß ich ebenfalls ständig umgeben wäre von einer Atmosphäre, die zu begreifen ich vergeblich und unter Qualen mich bemühen würde, und von ständiger Disharmonie. Das, wonach ich mich für einen Augenblick sehnte, war allein meine eigene Fantasie, und ich fühlte mich so recht wie jener Kater erinnerst Du Dich? in Weggis [17] , den der Hund zwischen Berg und See gestellt hatte. Stell Dir den Hund vor - als das Leben, das mich treibt, den Berg - als Dein «steinernes Herz», treu und beständig wie ein Fels, aber ebenso hart und unzugänglich wie dieser, schließlich den See als die Woge des Lebens, in das ich mich jetzt in Berlin stürze. Die Wahl zwischen zwei Tracht Prügeln fällt wenigstens nicht schwer, und man muß nur dafür sorgen, daß ich nicht mit der Zeit auf den Berliner Wogen dahintreibe, wie der Kater... Weil [18] ca me touche toujours quand je parle de moi-même, so habe ich Lust, bei dieser Gelegenheit zu heulen, aber das geschulte Ohr hört im gleichen Augenblick Deine ungeduldige Stimme:[19], [20] und folgsam lege ich das Taschentuch weg, um morgen Dem Teufel sein Teil, dem Popen sein Teil, nicht wahr? Trotz allem, was Du mir vor der Abreise gesagt hast, singe ich das alte Liedchen vom Anspruch auf persönliche Annehmlichkeiten. Es ist eine Tatsache, ich habe verdammt Lust, glücklich zu sein, und wäre bereit, Tag für Tag um mein Portiönchen Glück mit dem Starrsinn eines Tauben zu handeln. Aber das sind nur noch Reste; diese Lust wird immer schwächer in mir angesichts der, wie die Sonne klaren, eher wie die Nacht dunklen, Unmöglichkeit, glücklich zu sein. Kein Glück ohne Freude, aber vielleicht ist das Leben, d. h. unser Verhältnis (für mich ist das doch identisch, vous savez: les femmes... ) [21] ein freudeloses, düsteres Ding. Ich beginne eigentlich zu begreifen, das Leben kann [22] und daß da nicht zu raten ist. Ich beginne mich eigentlich an den Gedanken zu gewöhnen, daß meine einzige Aufgabe darin besteht derzeit an die Wahlen [23] zu denken, und dann daran, was nach den Wahlen sein wird. Da wir allerdings beide zusammen bereits 60 Jahre alt sind, so habe ich dabei ein Gefühl ähnlich dem, das gewiß 40jährige Frauen erfahren, wenn die physischen Symptome des Geschlechtslebens wegbleiben.
Natürlich wirst Du nach dem Durchlesen dieser ganzen obigen Oratio [24] denken: Welch ein ekelhafter Egoismus, allein an sein «Glück» zu denken angesichts Deiner Verluste, die hundertmal größer sind als der Verlust der Umarmungen des Geliebten. Wirst Du denken ... und Dich irren. Ich vergesse nicht nur für keinen Augenblick Deine innere Buchhaltung, die jetzt lauter «Debet» ausweist, ich laufe nicht nur ständig mit dem Gefühl herum, sondern habe eigentlich unter den oben genannten Vorwürfen auch noch den Vorwurf, daß Du mir nicht teilzunehmen gestattest an Deiner Buchhaltung und als einziges gestattest - zu schweigen. Wie ich bereits sagte, Du bist der Rigi [25], aber ich bin nicht wie die Jungfrau, die es fertigbringt, vom anderen Himmelsende mit ihrem schneebedeckten Gipfel majestätisch herniederzublicken, ich bin eigentlich ein gewöhnlicher Kater, der es mag, gestreichelt zu werden und andere zu streicheln, der schnurrt, wenn es ihm gut geht, und miaut, wenn es ihm schlecht geht, und sonst nichts auszudrücken vermag. Und da Du mir nicht erlaubst zu miauen, so kann ich nur von mir und meinen uninteressanten Angelegenheiten schreiben. Wenn Du mir jedoch dennoch Egoismus vorwerfen willst, dann wirst fehlschlagen. Ich möchte, zum Teufel, schon zum Ende kommen mit dieser Wohnung, um mich an die Arbeit zu setzen und Dir die [26] schicken zu können. Ich wäre stolz darauf, wenn ich Dich schon mit irgend etwas aufmuntern könnte. Indessen habe ich leider noch nichts zur Sache, worüber ich schreiben könnte, und deshalb ist es ein so müder Brief geworden.
Hast Du eine Vorstellung, wie ich Dich liebe?
Mein Zug hat vor Berlin um 12 Uhr nachts einen Menschen überfahren. Wir standen deshalb an die Viertelstunde, und aus dem Schlaf aufgewacht, hörte ich sofort Menschengeschrei. Es war ein Bauer, der Ochsen im Dunkeln über den Bahndamm trieb. Auf meine Frage, ob er lebt, wurde mir geantwortet: «lebt noch a bissele». Das ist kein gutes Omen. Ich schließe schon, mein Einziger. Wenn Du kannst, schreib von Dir möglichst viel. Von allem, was Du mir bisher geschrieben hast, hat mich am meisten das Versprechen gefreut, daß Du besser auf Dich sehen wirst. Schreib mir darüber a u s fü h r l i c h; trinkst Du Kakao um vier, nimmst Du täglich Milch zu Dir?? Bitte, über alles zu schreiben.
Mein Teurer, reg Dich nicht auf, daß das Papier dick ist und der Brief schwer sein wird, ich habe noch kein eigenes hier. Bleib gesund, schreibe an die Adresse Kantstr, 55, allerdings ohne meinen Zunamen, nur den Vornamen und [27] denn sie stehen hier sehr unter Beobachtung. Deine
Weißt Du schon etwas über Anna Gordon? [28] Ich habe zur Zeit ein Zimmer für 1 M. täglich. Was ist mit der Schneiderin? Ich habe ständig Gewissensbisse, daß ich das mit dem Kleid überhaupt gemacht habe, woraus für Dich nur derartige Kosten entstanden sind und für die Schneiderin solche Unannehmlichkeiten, sie tut mir schrecklich leid. Jadzia [Warska] hat den Hut als vollendet anerkannt. Heute schreibe ich wegen des Darlehens nach Hause.
Warst Du bei Herkner [29], hast Du schon begonnen, die Vorlesungen zu besuchen? Du hast keine Ahnung, wie sehr ich möchte, daß Du mit all dem fertig wirst, das Kreuz tut mir direkt weh, wenn ich an Deine Universität denke. Stell Dir vor, daß Frau Augsburg 40 Jahre alt ist. Sie wohnt jetzt in München, sie hat die Schmuilowa kennengelernt; das ist, wie es scheint, eine Person mit einer bewegten Vergangenheit, und überhaupt scheint diese Literaten-Künstler-Bohème dort in München ein gehöriger Haufen von Unrat zu sein. Helene Dönninges [30] samt Mann ist ebenfalls dort, jener Schewitsch [31] ist beim «Simplicissimus». Schm [uilow] war erstaunt, daß meine Arbeit bei D [uncker] [32] und H [umblot] erscheinen wird, er hat behauptet, daß sie bestimmt jemand haben, der die aktuelle Literatur kennt und daher von mir gehört hat; es sei ein Verlag, hinter dem alle her sind, die beabsichtigen, auf diesem Gebiet «Karriere zu machen». Daszynski [33] ist die Frau mit einem anderen durchgebrannt. Das war anscheinend auch vorher schon eine leichte Person, er seinerseits hatte sie wohl deshalb geheiratet, wie es scheint, weil die Resultate offensichtlich wurden. Es heißt, er wäre in Galizien in der Partei nicht sehr beliebt, weil er flott lebt, verdorben ist und leben möchte wie ein Herr.

An Luise und Karl Kautsky

Friedenau, den 13. Juli 1900 [34] [35] [36]

Meine Lieben! Schönen Dank für die reizende Postkarte [37]. Bei diesem Prachtwetter habt Ihr also einen wunderbaren Aufenthalt, et tout va pour le mieux dans ce meilleur des mondes [38]. Anbei die Antwort Mehrings [39], die ich heute erhielt und aus der Sie die Telemachide [40] meines Artikels erfahren werden. Ich befand mich da in drolliger Lage: von M [ehring keine Antwort, den Artikel konnte ich also jedenfalls an Cunow [41] nicht schicken; ich konnte ihn aber auch nicht benachrichtigen, daß er auf mich für diese Nummer der «Neuen Zeit» nicht rechnet, weil ich C[unow]s Adresse nicht weiß (ich habe sie mir nicht notiert), ich konnte aber auch bei Ihnen, lieber Karl, nicht anfragen, weil ich Ihre Adresse gleichfalls nicht wußte, bis die Karte kam. Ich habe ja einen scheußlichen Kopf «Katzenkopf» sagen wir Polen in bezug auf Namen, Adressen und dgl. Details des «Objekts», und ich war z. B. sicher, daß ich Sie nach Saßnitz begleitet hatte... Nun ist die Sache aufgeklärt und in Ordnung. M [ehring] stimmt also in bezug auf die Opportunität des Artikels Ihnen bei, und das bestätigt mich in der Absicht, die ich schon nach dem Gespräch mit Ihnen hatte: den Artikel der nagenden Kritik der - Motten, sagen wir aus Rücksicht auf die Jahreszeit zu überlassen. Ich wollte nur die Meinung M [ehrings wissen; übrigens gebe ich meinen taktischen Fehler zu nur in bezug auf den politischen Augenblick und nicht betreffs des parlamentarischen Kretinismus [42] in der Partei selbst, den Sie bestritten. Bei strahlender Junisonne im grünen, duftenden, schattigen Tempel der Natur (i.e. Wald auf der Postkarte), bei friedlichem Rauschen der ewigen Thalatta [43] von «parlamentarischem Kretinismus» lesen oder denken oder diskutieren müssen?... Ich verschone Sie damit.
Also reden wir von Thalatta. Apropos, denken Sie dort, während es an Ihren Füßen ewig rauscht, an jene hübsche Sage vom griechischen blinden Sänger, der mit seiner Lyra am Ufer der See spielte und ihr Rauschen für das Gemurmel des Volkes hielt und, wie er nach dem beendeten schönsten Liede keinen Beifall der Menge hörte, über ihren Undank bitter klagte und im bitteren Unmut die Lyra weit von sich warf, damit sie zerschellt, sie aber von der Meereswoge aufgefangen und von ihr in liebevollem Schaukeln immer weiter getragen wurde? Denken Sie daran? Und haben Sie dort Illusionen, als röche die ganze See nach frisch gebackenem Kuchen, eine gebackene Fata Morgana [45], wie jener Fischer auf Helgoland sie spürte, bei dem unser Liebling [44] wohnte? Mich dünkt, es muß bei der See das überwältigendste Gefühl, das der eigenen Nichtigkeit sein, nämlich bei dem Ewigen, Unwandelbaren, erhaben Gleichgültigen des Meeres. Ich hatte dieses Gefühl beim Anblick des Rheinfalls in der Schweiz, und sein unaufhörliches Getöse, das nicht eine Sekunde stillsteht, Tag und Nacht währt, Jahrhunderte überdauert, erfüllte mich mit grausigem, vernichtendem Gefühl. Ich kam ganz niedergeschmettert nach Hause, und jedesmal, auch jetzt, wenn ich vorbeifahre und aus dem Waggonfenster des Zuges das furchtbare Schauspiel, den spritzenden Gischt, die weiße kochende Wasserhole sehe und das betäubende Getöse höre, schnürt sich mir das Herz zusammen, und in mir sagt etwas: Dort ist der Feind. Sie staunen? Freilich ist es der Feind der menschlichen Eitelkeit, die sich sonst als etwas dünkt und so plötzlich in Nichts zusammenbricht. Ähnlich wirkt übrigens eine Weltauffassung, bei der es von allen Begebenheiten heißt wie bei Ben Akiba [46]: «Es war immer so», «Es wird schon von selbst gehen» und dgl. und der Mensch mit seinem Wollen, Können, Wissen so überflüssig erscheint... Deshalb hasse ich eine solche Philosophie, mon cher Charlemagne [47], und bleibe dabei, daß man sich lieber in den Rheinfall stürzen und in ihm wie eine Nußschale untergehen muß, als ihn mit weisem Kopfnicken weiter rauschen zu lassen, wie er zu unserer Urväter Zeiten gerauscht und nach uns rauschen wird. Liebe Lulu, Ihre Reseda und Nelken blühen noch und duften «so herrlich wie am ersten Tag».
Ich grüße Euch alle herzlichst nebst Kindern und dem Gänsmädle [48]. Eure Rosa
Im neuesten Heft der «Sozialistischen Monatshefte» sind drei Artikel über die Gewerkschaftsfrage: Legien [49], Bernstein [50] und Wetzker [51]. Haben Sies oder soll ich schicken? M [ehring]s Brief erbitte ich zurück.

An Luise Kautsky

Hessenwinkel, Ende ]uli 1904

Carissima Luigina [52]! Vor allem wollen wir uns zu Königsberg [53] gratulieren. Es ist ein wahres Freuden- und Siegesfest, wenigstens empfinde ich so hier, hoffentlich auch Ihr dort, trotz der Hitze und der Naturschönheit. Donnerwetter, so ein Blutgericht über Rußland und Preußen ist doch noch schöner als alle zackigen Berge und lachenden Täler! Ich genieße hier übrigens nur diesen letzteren bescheideneren Teil der Naturschönheiten dafür aber in unbeschränktem Maße - à discrétion [54]. «Des seligen Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation große Sandbüchse», wie die gute Mark ehemals genannt wurde, hat mich auf die tief philosophische Frage geführt: Wie kommt es eigentlich, daß, wo Berg ist, unbedingt auch ein Tal irgendwo steckt, so daß man immer beides genießt, wo aber nur Tal ist, wie z. B. hier in Hessenwinkel, da ist «ebent» nur Tal und basta. Können Sie mir dieses geologische Rätsel lösen? (Aber bitte, nennen Sie es nicht etwa mit einer boshaften Anspielung auf die Genialität der Frage ein «psychologisches» und nicht ein geologisches Rätsel!) Übrigens im Ernst ist es hier wundervoll: Wald stundenlang, Seen - wo man hinspuckt (Pardon,es war nicht so gemeint) und idyllische Ruhe. Die Vorzüge dieser Umgebung sind mir auch schon allmählich in die Seele gedrungen. Im Anfang nämlich war ich noch so geistig abgespannt, daß zwischen meinen Sinnen und dem blühenden «Objekt» immer wie ein unsichtbares Papier vom Himmel bis zur Erde herabhing und ich die Schönheiten, die mir vor dem Auge und dem Ohr schwebten, nicht empfand, sondern mit dem Gleichmut des Baedekers notierte. Ich mache jeden Tag stundenlange Streifzüge (stehe auf um - 6! Karl, fallen Sie nicht vom Stuhl) und genieße dabei die treue Gesellschaft eines à la Löwe geschorenen Vierfüßlers, genannt «Lump» (les beaux esprits se rencontrent) [55], der mich jeden Morgen mit lautem Freudengebell begrüßt, wenn «wir» spazierengehen. Alle konstatieren und bewundern dabei, daß seine Intelligenz seit dem regen geistigen Verkehr mit mir zusehends wächst, und dabei bediene ich mich nicht einmal als Erziehungsmittel der Leitartikel des «Vorwärts» wie bei meinem hochseligen Mimi [56]. Denken Sie sich mich überhaupt hier in einer Art Paradies vor der Vertreibung Adams with family [57]: Ich begegne auf Schritt und Tritt allerlei Tieren, die ich sonst nur im Zoo durch ein Gitter sah. Von Hasen geschwiegen, laufen mir täglich Rehe (nicht verehelichte Liebknecht) [58], Eichhörnchen und dergleichen in den Weg! Ich erwarte nächstens noch einige Leoparden, Nashörner und Auerochsen.
Apropos, neulich traf ich natürlich bei einem harmlosen Spaziergang - wo ich, in die blauen Geheimnisse des Himmels und in die grünen des Waldes vertieft, meilenweit entfernt von jedem Schatten eines Klassenbewußtseins wandelte - einen wahrhaftigen Genossen, einen leibhaftigen Genossen aus Berlin O. Zum Unglück war er auch noch mein engerer Genosse im Glauben der Vorväter [59], und so freute er sich natürlich sehr über die Begegnung, erzählte mir eine Masse klassenbewußter Neuigkeiten und versprach, mich unbedingt nächstens mit noch einigen Genossen zu besuchen. (Unsere Vorväter pflegten in solchen Fällen kurzweg «masltoff» [60] zu sagen.) Aber mit einem frischen Berliner Witz hat er mich doch am Schluß für die genossenen und in Aussicht gestellten Freuden etwas entschädigt. In Berlin ist das «Montagsblatt» nämlich umgetauft und heißt seit Ferienbeginn «Öde am Montag». Fein, nicht?
Nun geben Sie mir dafür als Bringerlohn schnell einen Kuß und einstweilen adieu - «Lump» ruft mich, und die «Lumpin» ist immer willig - spazierenzugehen.
Apropos Luigina, wie wird es mit unserer gemeinsamen Fahrt werden [61]? Das Büro «sitzt» vor dem Kongreß am 13. früh zusammen. Ich muß folglich am 12. schon dort sein und am 11. von Berlin fortfahren. Können Sie das schaffen? Noch einen Kuß. - Pardon, noch etwas: Soeben schreibt mir Klara Zetkin, daß ihre Breslauer Sache [62] unterdrückt ist! Erster Erfolg des Königsberger Reinfalls, der aber der Klara sehr wider den Strich geht, sie hatte sich so sehr auf die gemeinsame Anklage mit den Genossen Schiller und Fichte [63] gefreut! Die letzteren werden wohl auch im Himmel übler Laune sein, weil ihnen eine «göttliche» Komödie entgangen ist. Und nun im Ernst einen Kuß! Ihre R. Karl kann auch einen kriegen, wenn er will. Buben auch.

An Leo Jogiches

Gefängnis in Zwickau Freitag 9. September 1904

Liebste Leonie [64]! Ich muß Dir einige dringende Bitten schreiben. Nämlich ist es Zeit, daß Du mir eine wärmere Bluse besorgst; die Zephir-Bluse, die ich trage, ist schon ganz schmutzig, und die graue Voile-Bluse ist mir zu schade, sie wird mir hier sehr bald kaputtgehen, merkwürdigerweise tragen sich die Kleider hier noch schneller ab wie zu Hause, obwohl man nichts macht und sich nicht rührt. Einen Rock (der blaue hat auch schon ausgedient, und der schwarze mit der königlichen Schleppe eignet sich für die Zelle sehr schlecht) hat mir Lili [65] [Luxemburg] versprochen. Józio [66] [Luxemburg], der mich hier besucht hat, wollt ihr das noch wiederholen, und ich erwarte ihn auch jeden Tag. Den Hut werde ich nicht brauchen bis zum Verlassen des Gefängnisses (26. XI.11 Uhr!), denn ich spaziere nur im Hof und ohne Hut. Bluse kaufe mir Nr. 44, je einfacher, je besser, aus Wolle und eine unaufällige Farbe. Munio [Luxemburg] hat aus Warschau bei der Direktion beantragt, daß er 100 M für meine Selbstbeköstigung hinterlegt, aber ich habe es abgelehnt, weil doch Dietz [67] das Nötige besorgt. Schade, daß ich gerade als Józio hier war, Migräne hatte und nicht besonders aussah, sonst fühle ich mich sehr gut. Die zweite dringende Bitte ist, daß Du die andere Hälfte des Briefes sofort Karl [Kautsky] übergibst. Er benachrichtigte mich von dem ablehnenden Beschluß der Preßkommission, bat aber dabei, ich soll davon Abstand nehmen, meinen Artikel [68] anderswo zu drucken, weil sich «die Lage» seit einer Woche «total verändert» hätte, jetzt ginge es nicht an, neuen polemischen Stoff in die Öffentlichkeit zu werfen etc. etc. Die alte Geschichte. Meine Stimmung kannst Du Dir leicht vorstellen. Nicht, als ob mir an diesem Artikel gerade so sehr gelegen hätte, aber dieses ewige Umfallen! Karl ist offenbar nahe daran, seine «Strumpfbänder» zu verlieren, vor lauter Attacken. Du wirst auch meinen Brief an ihn verstehen. Die Briefe von Troelstra [69] hat mir Luise [Kautsky] geschickt, nicht aber die von Dir avisierte Karte van Kols [70], auch erwähnt sie sie mit keinem Wort, und ich möchte diese Karte doch kriegen. Schicke mir selbst alles, was für mich kommt, und schreibe auch öfter, ohne von mir Briefe zu erwarten. Ich komme nicht so bald wieder dazu.
Du willst von mir alles wissen. Also: Ich stehe auf um 6, bekomme um 7 Kaffee um 8-9 Spaziergang, um 12 Mittagessen, 1-2 Spaziergang, 3 Kaffee, um 6 Abendbrot, 7-9 Lampe, 9 Schlafen. Ich bekomme das «Berliner Tageblatt [71]». Lese viel, denke auch ziemlich viel. Was macht Adolf [Warski], er soll mir auch schreiben. Hoffentlich habt Ihr für die Kreuzberger [72] das Papier besorgt, das ich versprochen hatte. Mag Adolf der Klara meine Adresse schicken, ich will von ihr Nachrichten haben. Viele Grüße Deine Rosa
Vielleicht ist besser, daß Adolf nach Bremen [73] nicht als offizieller Gast geht, sondern einfach so, damit es nicht zu aufdringlich ist? Habt Ihr Nachrichten von Martin?
Du hast mir bei der Abfahrt versprochen, ein Buch jeden Tag zu lesen. Tust Du das? Du mußt, ich bitte Dich darum, ich fühle jetzt wieder den Wert einer täglichen ernsten Lektüre. Das ist eine Rettung für Geist und Nerven. Aber weißt Du, Marx ärgert mich schließlich, ich kann ihn immer noch nicht überwinden, d. h. ich tauche immer unter und kann kaum Luft schnappen. Was macht Parvus Grüße ihn von mir. Schreibe ihm, bitte laß ihn nicht allein. Bitte, schicke mir gleich das deutsche Exemplar des «Kommunistischen Manifests» und auch die «Göttliche Komödie» auf Deutsch (wir haben das in Reclamausgabe). Strümpfe kannst Du mir auch schicken (kleinste Damennummer), lasse sie aber erst waschen, denn neue machen die Füße schwarz. Etwa 3 Paar. Ich habe im 3. Band ein kleines Ringel silberweiße Haare gefunden und weiß jetzt nicht, ob es von Deiner Mutter oder von meiner ist, aber ich freue mich sehr daran. Hoffentlich stehst Du auf nach wie vor früh und gehst auch früh schlafen? Ich freue mich immer, wenn ich daran denke, wie gut Du aussahst zuletzt. Ich schreibe das vor allem dem Frühaufstehen zu. Aber warum mußte Luise so lange läuten?

An Leo Jogiches

Gefängnis in Zwickau, Freitag, den 23. September 1904 (13-4-9)

Liebste Leonie! Enträtsele mir vor allem die obige kabbalistische Formel. Sodann vielen Dank für die Sendung. Die Bluse ist ausgezeichnet, ich habe sie mir abgepaßt und trage sie immer. Die Mütze ist «auch eine schöne Stelle». Nun aber schreib nicht so lang und breit über solche Dinge wie eine pedantische alte Jungfer, mein Blondköpfchen, sonst werde ich wirklich ungeduldig. Wenn endlich ein Brief von draußen kommt, will ich anderes hören als eine Odyssee des Bluseneinkaufs. Das «Manifest» wurde mir nicht gewährt, ebenso bekam ich die Ausschnitte in Luise [Kautsky] ihrem Briefe (Karls [Kautsky] Artikel) nicht, sage es ihr, es hat keinen Zweck, mir Ausschnitte zu schicken. Freilich den «Kladderadatsch» [74] konntest Du wohl riskieren. Ich glaube, ich hätte ihn gekriegt. So ist der «Ulk» mein einziger Sorgenbrecher, der letzte war auch wirklich famos. Daß Du so einsam lebst ist Wahnsinn und Abnormität, ich bin sehr unwillig darüber. Besonders in meiner jetzigen Stimmung ist mir jede solche «Askese» verhaßt. Ich fange hier im Mosse-Blatt [75], im Feuilleton, in Theaterkritiken etc. jeden Schein des Lebens, jeden Lichtschimmer, jeden Ton gierig auf und verspreche mir, draußen in vollen Zügen zu leben, und Du sitzt dort in der Fülle und nährst Dich wie der heilige Antonius in der Wüste von wildem Honig und Heuschrecken! Du wirst mir ja auf diese Weise vollends verwildern, mein Mädchen, es wird dann, wenn ich wieder heraus bin, einen heftigen Konflikt zwischen Deinem hohlwangigen Nazarenentum und meinem vollblutigen Hellenentum geben. «Nimm Dich in acht, Büseli!» - wie Frau Löwe [76] zu der kleinen Katze immer sagte, weißt noch? Dabei möchte ich noch den Ausklopfer so drohend schwingen können, wie sie es zu tun pflegte. Meine Zelle soll ich Dir auch noch beschreiben! Du beanspruchst viel, my darling. Wo nehme ich Pinsel und Farben, um diesen Reichtum zu schildern! Übrigens fand ich neulich an der Wand ein hektographiertes Inventar meiner Zelle, aus dem ich zu meinem Erstaunen ersah, daß in derselben etwelche 20 Gegenstände sich vorfinden. Und ich war sicher, daß die Zelle überhaupt ganz leer ist! Die Moral von der Geschichte: sobald der Mensch sich im Leben einmal recht arm vorkommt, soll er sich nur hinsetzen und ein «Inventar» seiner irdischen Güter aufnehmen, alsdann wird er erst entdecken, wie reich er ist. Auch Du könntest öfter mal ein Inventar Deiner Reichtümer vornehmen, und wenn Du dabei bloß meine Wenigkeit nicht vergißt, wie Du leider so oft zu tun pflegst, dann wirst Du Dir wie ein Krösus vorkommen. Migräne habe ich seitdem nicht wieder gehabt, auch Neuralgie läßt sich nur ganz diskret spüren, bloß mit dem verehrten Magen bin ich ständig auf gespanntem Fuß (eine Redeblüte, des niederösterreichischen Landtags würdig). Er will mir offenbar die abgeschmackte Weisheit des Menenius [77] Agrippa vordemonstrieren, ich aber strafe ihn mit vollkommener Mißachtung.
Für Adolfs [Warski] Verlag [78] hier arbeiten, geht aus verschiedenen Gründen nicht, auch aus dem Grunde, daß ich mich leider nicht zersplittern kann. Die Nationalökonomie verschlingt mich jetzt ganz, ich glaube, sie ist es auch wert. Grüße Luise und teile mit ihr redlich alles, was Du hast.
Lili [Luxemburg] hat mir keinen Rock geschickt, sondern einen warmen, mit Respekt zu sagen, Unterrock. Der leistet mir auch gute Dienste, kann aber einen Rock nicht ersetzen, und der himmelblaue sieht schon so trüb aus wie ein regnerischer Novemberhimmel. Falls Du einmal später überflüssige Nickel hast, kannst Du mir einen... «kofen», wie der urkomische Bendix [79] sagt. Als Maß wäre am besten der alte graue, den wir zusammen voriges Jahr im Magazin bestellt hatten. Noch etwas Wichtiges: Hast Du den Brief abgeholt, den Körsten [80] (Gewerkschaftshaus) für mich erhalten hat?! Tue es sofort! Viele Küsse. Deine Rosa
Schicke doch Parvus Grüße von mir. Er soll mir schreiben! Wenn Du die Anna wieder nehmen willst, was mich sehr freuen würde, so sag es ohne alle Umstände der Portierfrau! Liebste, traktiere mich bloß nicht aus Anlaß der Magengeschichte mit 10 Fragen und 20 Ratschlägen im nächsten Briefe. Ich weiß sie alle auswendig, und die Sache wird sich nicht ändern, bis ich den «Fleischtöpfen Ägyptens» Valet gesagt habe. Ich melde Dir bloß diese welterschütternde Begebenheit, damit Du mehr Vertrauen zu meinen «Kuropatkinschen Berichten [81]» schöpfst und nicht alles «zu schön» findest. Mich freut es sehr, daß Du auch an Deine Garderobe denkst, aber bitte, ja keinen dicken und haarigen Stoff, das ist kleinstädtisch, nimm einen dünnen, weichen englischen Stoff, ganz dunkelgrau, vielleicht mit schmalen weißen Streifchen, Mantel aber schwarz und breit, schön geschnitten, so wie ich gern habe!

An Luise Kautsky

Gefängnis in Zwickau, September 1904

Liebste! Vielen Dank für Karls Foto mit der reizenden Widmung! Das Bild ist prächtig, das erste wirklich gute Bild von ihm, das ich sehe. Augen, Gesichtsausdruck - alles vortrefflich. (Nur die Krawatte, die Krawatte mit den wimmelnden weißen Bohnen, die den Blick förmlich faszinieren! - so eine Krawatte ist ein Scheidungsgrund. Ja, ja die Weiber bei dem erhabensten Geist bemerken sie vor allem die Krawatte... ) Das Bild macht mir viel Freude. Gestern kam der Brief von Großmama, sie schreibt lieb, um mich aufzuheitern, kann aber schlecht die eigene Depression verstecken. Grüße sie herzlich von mir, hoffentlich ist sie wieder guter Dinge, hier wenigstens herrscht das lieblichste Wetter. Es scheint aber, daß, sobald ich weg bin, die Welt aus den Fugen geht. Ist das wahr, was ich im Tagblatt lese? Franziskus [Mehring] hat demissioniert?! Aber das wäre ja ein Debakel - ein Triumph für den ganzen fünften Stand! Konnte man ihn denn von diesem Schritt nicht abhalten? Es hat mich direkt erschüttert und niedergedrückt. Und dabei schreibst Du mir nichts Näheres darüber, Du Abscheuliche!
Jetzt ist Abend, und ein weiches Lüftchen weht von oben durch meine Fensterluke in die Zelle, bewegt leicht meinen grünen Lampenschirm und blättert leise in dem aufgeschlagenen Schiller. Draußen am Gefängnis vorbei wird ein Pferd langsam nach Hause geführt, und seine Hufe schlagen ruhig und rhythmisch in der nächtlichen Stille auf das Pflaster. Aus der Ferne kommen kaum vernehmbar die launischen Töne einer Mundharmonika, auf der irgendein Schusterjunge vorbeischlendernd einen Walzer «pustet». Mir summt im Kopfe eine Strophe, die ich irgendwo neulich gelesen habe: «Eingebettet zwischen Wipfeln - liegt dein kleiner stiller Garten - wo die Rosen und die Nelken lang schon auf dein Liebchen warten - eingebettet zwischen Wipfeln - liegt dein kleiner Garten» ... Ich verstehe gar nicht den Sinn dieser Worte, weiß auch nicht, ob sie überhaupt einen Sinn haben, aber sie wiegen mich, zusammen mit dem Lufthauch, der mir wie liebkosend über das Haar streicht, in eine seltsame Stimmung. Dieses Lüftchen, das verräterische, es lockt mich schon wieder in die Ferne ich weiß selbst nicht, wohin. Das Leben spielt mit mir ewiges Haschen. Mir scheint es immer, daß es nicht in mir, nicht dort ist, wo ich bin, sondern irgendwo weit. Damals zu Hause schlich ich mich in der frühesten Morgenstunde ans Fenster - es war ja streng verboten, vor dem Vater aufzustehen - öffnete es leise und spähte hinaus in den großen Hof. Da war freilich nicht viel zu sehen. Alles schlief noch, eine Katze strich auf weichen Sohlen über den Hof, ein paar Spatzen balgten sich mit fremdem Gezwitscher, und der lange Antoni in seinem kurzen Schafpelz, den er Sommer und Winter trug, stand an der Pumpe, beide Hände und Kinn auf den Stiel seines Besens gestützt, tiefes Nachdenken im verschlafenen ungewaschenen Gesicht. Dieser Antoni war nämlich ein Mensch von höheren Neigungen. Jeden Abend nach Torschluß saß er im Hausflur auf seiner Schlafbank und buchstabierte laut im Zwielicht der Laterne die offiziellen «Polizeinachrichten», daß es sich im ganzen Hause wie eine dumpfe Litanei anhörte. Und dabei leitete ihn nur das reine Interesse für Literatur, denn er verstand kein Wort und liebte nur die Buchstaben an und für sich. Trotzdem war er nicht leicht zu befriedigen. Und als ich ihm einmal auf seine Bitte um Lektüre Lubbocks [82] «Anfänge der Zivilisation» gab, die ich gerade als mein erstes «ernstes» Buch mit heißer Mühe durchgenommen hatte, da retournierte er es mir nach zwei Tagen mit der Erklärung, das Buch sei «nichts wert». Ich meinerseits bin erst mehrere Jahre später dahintergekommen, wie recht Antoni hatte. Also Antoni stand immer erst einige Zeit in tiefes Grübeln versunken, aus dem er unvermittelt zu einem erschütternden, krachenden, weithallenden Gähnen ausholte, und dieses befreiende Gähnen bedeutete jedesmal: Nun gehts an die Arbeit. Ich höre jetzt noch den schlürfenden, klatschenden Ton, womit Antoni seinen nassen, schiefgedrückten Besen über die Pflastersteine führte und dabei immer ästhetisch am Rande sorgfältig zierliche, ebenmäßige Bogen beschrieb, die sich wie eine Brüsseler Spitzenborte ausnehmen mochten. Sein Hofkehren, das war ein Dichten. Und das war auch der schönste Augenblick, bevor noch das öde, lärmende, klopfende, hämmernde Leben der großen Mietskaserne erwachte. Es lag eine weihevolle Stille der Morgenstunde über der Trivialität des Pflasters, oben in den Fensterscheiben glitzerte das Frühgold der jungen Sonne, und ganz oben schwammen rosig angehauchte duftige Wölklein, bevor sie im grauen Großstadthimmel zerflossen. Damals glaubte ich fest, daß das «Leben», das «richtige» Leben, irgendwo weit ist, dort über die Dächer hinweg. Seitdem reise ich ihm nach. Aber es versteckt sich immer hinter irgendwelchen Dächern. Am Ende war alles ein frevelhaftes Spiel mit mir, und das wirkliche Leben ist gerade dort im Hofe geblieben, wo wir mit Antoni die «Anfänge der Zivilisation» zum ersten Male lasen? Ich umarme Euch herzlich Rosetta
Die Baseler «Kumedi» [83] hat mir Spaß gemacht. Wullschläger, [84] der von Rom den Segen kriegt, und daneben son excellence Millerand, [85] der auf Berlin Lobgesänge vorträgt ... Wie heißt es doch in dem alten Klosterlied: Et pro rege et pro papa bibunt vinum sine aqua. Holdrio! Es wird immer schöner auf der Welt.

An Luise und Karl Kautsky

Illowo (Ostpr.), den 29. 12. 1905, Freitag, 12 Uhr mittags

Meine Liebsten! Hier sitze ich, forme zwar keine Menschen, aber esse Schnitzel mit Kartoffeln. Die ganze Nacht habe ich zwischen Alexandrowo und Thorn durchgebummelt, bin müde wie ein Hund. Hier warte ich auf den Zug nach Mlawa. Was weiter - ist noch unklar. Auf Pferdewagen bis Sonntag keine Hoffnung wegen Schabbes. [86] Dafür soll ein Zug nach Warschau heute noch abgehen - unter militärischer Bedeckung! Die Tragikomik der Situation im letzteren Falle könnt Ihr Euch selbst ausmalen. Der ganze Zug soll von Militär besetzt sein, und dazwischen - wahrscheinlich noch als einziger Fahrgast - ich ... Der Witz der Geschichte kann aber leicht ernst werden, falls [es] unterwegs zum Renkontre mit streikenden Eisenbahnbeamten kommt. Hoffentlich werde ich nicht in W. mit Brownings empfangen! Viele Küsse! R.
Grüßt Paule [87] und erklärt ihm, weshalb ich mich von ihm nicht verabschieden konnte. In Alexandrowo lief alles ganz glatt ab.

An Luise und Karl Kautsky

[Warschau] den 5. Februar 1906

Meine Allerliebsten! Lange habe ich nicht von mir hören lassen, und Ihr grollt wahrscheinlich mit Recht. Ich habe aber zu meiner Rechtfertigung den unaufhörlichen Trubel und die «Unsicherheit der Existenz», unter der man hier jetzt beständig leidet. Ich kann die Details nicht gut hier beschreiben, die Hauptsache ist: ungeheure Schwierigkeiten mit den Druckereien, tägliche Verhaftungen und die Bedrohung der Festgenommenen mit Erschießung. Zwei unserer Genossen schwebten tagelang unter diesem Damoklesschwert, es scheint jedoch, daß es dabei sein Bewenden haben wird. Trotz alledem geht die Arbeit munter fort, große Fabrikversammlungen finden statt, Flugschriften werden fast jeden Tag geschrieben und gedruckt, und die Zeitung wird mit Ach und Weh doch fast täglich herausgegeben. Soeben hat eine kleine Konferenz in Finnland stattgefunden, an der alle Parteien teilgenommen haben. Es war eine Neuauflage der «Block»-Idee und hat sich natürlich zerschlagen. Dabei hat man aber wenigstens Gelegenheit gehabt, die Dinge in Petersburg näher ins Auge zu fassen. Leider sieht das Bild wie ein wahrer Hohn auf die jüngste Korrespondenz aus Petersburg in der «Leipziger Volkszeitung» aus! Ein unbeschreibliches Chaos in der Organisation, Fraktionskrach trotz aller Einigung und allgemeine Depression. Mag dies unter uns bleiben. Übrigens nehmt das nicht zu tragisch. Sobald wieder eine frische Welle der Ereignisse kommt, werden auch die Leute dort munterer und kräftiger auftreten. Ein Unglück ist es nur, daß sie immer noch so schwankend und aus eigenem so wenig standhaft sind. Das Familienfest [88] findet etwas später statt, als dies beabsichtigt war; jedenfalls besten Dank für die Grüße von den Alten, die ich seinerzeit ausrichten werde.
Was jetzt in Petersburg wie bei uns den wunden Punkt der Bewegung macht, ist die kolossale Arbeitslosigkeit, die ein unbeschreiblich Elend verbreitet ... Ich wollte eigentlich nur einige Zeilen Einleitung über die Sachlage geben, um zu dem zu kommen, was mich in diesem Augenblick am meisten interessiert, ich sehe aber, daß mich die «Ereignisse» auch in diesem Briefe wieder zu verschlingen drohen; ich mache also einen kühnen Ruck und tauche endlich auf als «Mensch» mit der Frage: Wie geht es Dir, liebste Lulu?! Mir schrieb zwar Carolus [89] in dankenswerter Weise einigemal beruhigend, doch nagte an mir beständig die Unruhe mitten in dem Trubel, wenn ich auch nicht zum Schreiben kam. Was Dir fehlte so plötzlich, weiß ich bis heute nicht! Es muß doch etwas Abscheuliches gewesen sein, was eine so lange Nachwirkung hat. Gehst Du schon aus? Bist Du geschwächt? Schau, die ganzen Jahre, wo ich dabei war, warst Du immer frisch und munter; kaum ziehe ich in die Welt hinaus schnell wirst Du ernstlich krank! Wievielmal dachte ich mir hier bei der Arbeit: Wäre ich dort, so möchte ich täglich bei Dir einige Stunden sitzen und mit solcher Liebe Deine Wärterin sein! Nun hoffentlich bedarfst Du keiner Wartung mehr. Wenn es Dir möglich ist, schreibe mir doch einige Zeilen zum Zeichen; es wird mir eine große Freude sein! Euch anderen geht es, wie ich hoffe, gut. Daß die jungen mir bis jetzt nicht schreiben, kränkt mich nicht wenig. Den «Vorwärts» erhalten wir gar nicht, die «Leipziger Volkszeitung» sehr unregelmäßig. Was mich anbetrifft, so wird sich in den nächsten Tagen entscheiden, ob ich für kurze Zeit von hier nach Petersburg reise oder aber erst noch für zwei Monate ad penates [90] - zu Euch. Das einzige freilich, was mich persönlich zieht, seid Ihr, denn sonst ist mir jetzt, um die Wahrheit zu sagen, der Gedanke an die Tretmühle und die Auseinandersetzungen mit Peus und Rexhäuser ein Greuel! Um den Faden aufzunehmen: Die Arbeitslosigkeit, voilà la plaie [91] de la révolution und kein Mittel, ihr zu steuern! Dabei entwickelt sich aber ein stiller Heroismus und ein Klassengefühl der Massen, die ich den lieben Deutschen gerne zeigen möchte. Die Arbeiter treffen allenthalben von selbst solche Arrangements, daß z. B. die Beschäftigten ständig einen Tageslohn in der Woche für die Arbeitslosen abgeben. Oder, wo die Beschäftigung auf vier Tage pro Woche reduziert wird, da richten sie sich so ein, daß niemand entlassen wird, sondern alle einige Stunden weniger pro Tag arbeiten. Dies alles wird so schlicht, glatt und selbstverständlich gemacht, daß der Partei davon nur beiläufig eine Mitteilung gemacht wird. In der Tat ist das Gefühl der Solidarität und auch der Brüderlichkeit mit den russischen Arbeitern so stark entwickelt, daß man unwillkürlich erstaunt, obwohl man selbst daran gearbeitet hat. Sodann ein interessantes Ergebnis der Revolution: «In allen Fabriken haben sich <von selbst> Ausschüsse, gewählt von den Arbeitern, gebildet, die über alle Arbeitsbedingungen, über Aufnahme und Entlassung von Arbeitern etc. entscheiden. Der Unternehmer hat tatsächlich aufgehört, «Herr im Hause zu sein». Ein kurioses Pröbchen: Neulich will eine Fabriksleitung einige Arbeiter wegen starker Verspätung bestrafen, der Ausschuß verhindert das; darauf wendet sich der Fabrikant an das Komitee der Sozialdemokratie mit einer Beschwerde über den Ausschuß, der «nicht nach sozialdemokratischen Grundsätzen handle», denn die Sozialdemokratie sei für fleißige und ehrliche Pflichterfüllung! Und so auf Schritt und Tritt! Freilich wird das alles nach der Revolution und der Wiederkehr der «normalen Verhältnisse» wahrscheinlich sehr anders werden. Aber spurlos werden diese Zustände nicht vorübergehen. Einstweilen ist das von der Revolution vollbrachte Werk der Vertiefung des Klassengegensatzes, der Verschärfung und Klärung der Verhältnisse, ein enormes. Und dies alles sieht man im Auslande nicht! Man denkt, der Kampf habe aufgehört, weil er in die Tiefe gegangen ist. Und gleichzeitig schreitet die Organisation unermüdlich fort. Trotz Kriegszustand werden Gewerkschaften von der Sozialdemokratie fleißig ausgebaut - in aller Form: mit gedruckten Mitgliedsbüchlein, Marken, Statuten, regelmäßigen Versammlungen etc. Man führt die Arbeit ganz wie wenn die politische Freiheit bereits da wäre. Und die Polizei ist natürlich machtlos gegen diese Massenbewegung. In Lodz z. B. haben wir bereits in der sozialdemokratischen Gewerkschaft der Textilarbeiter 6 000 eingeschriebene Mitglieder! Hier in Warschau: 700 Maurer, 600 Bäcker usw. In Petersburg soll die Arbeit umgekehrt wieder ganz «unterirdisch» geworden sein, weshalb sie auch stoppt. Auch sind sie dort absolut nicht imstande, ein Blatt oder selbst Flugblätter herauszugeben. Ich möchte schon dort sein, um das alles zu ergründen. Leider muß ich schon schließen, und noch eine Bitte: Liebster Carolus, schicke uns gleich vom Hauptkonto 1 600,- M als Scheck auf den Namen: Otto Engelmann [92], dies im eingeschriebenen Brief an meine übliche Adresse. Es eilt! Mit jenem Brief aus Wilna ist alles in Ordnung. Tausend Küsse und Grüße an Euch alle, namentlich an Dich, liebste Lulu. Schreibe mir recht bald!!! Eure

An Luise und Karl Kautsky

Warschau, Anfang März 1906

Meine Allerliebsten! Am Sonntag, dem 4. abends, hat mich das Schicksal ereilt: Ich bin verhaftet worden. Ich hatte bereits meinen Paß zur Rückreise visiert und war auf dem Sprung zu fahren. Nun, es muß auch so gehen. Hoffentlich werdet Ihr Euch nicht zu sehr die Sache zu Herzen nehmen. Es lebe die Re ... ! mit allem, was sie bringt. Gewissermaßen ist es mir sogar lieber, hier zu sitzen, als ... mit Peus zu diskutieren. Man fand mich in ziemlich unbequemer Lage. Aber Schwamm darüber. Hier sitze ich im Rathaus, wo «Politische«», Gemeine -und Geisteskranke zusammengepfercht sind. Meine Zelle, die ein Kleinod in dieser Garnitur ist (eine gewöhnliche Einzelzelle für eine Person in normalen Zeiten), enthält vierzehn Gäste, zum Glück lauter Politische. Tür an Tür mit uns noch zwei große Doppelzellen. In jeder ca. dreißig Personen, alle durcheinander. Dies sind schon, wie man mir erzählt, paradiesische Zustände, früher saßen sechzig zusammen in einer Zelle und schliefen schichtweise je paar Stunden in der Nacht, während die anderen «spazierten». jetzt schlafen wir alle wie die Könige auf Bretterlagern, querüber, nebeneinander wie Heringe, und es geht ganz gut - insofern nicht eine Extramusik hinzukommt, wie gestern z. B., wo wir eine neue Kollegin, eine tobsüchtige Jüdin, bekommen hatten, die uns 24 Stunden lang mit ihrem Geschrei und ihrem Laufen in allen Zellen in Atem hielt und eine Reihe Politische zum Weinkrampf brachte. Heute sind wir sie endlich los und haben nur drei ruhige «Myschuggene [93]» bei uns. Spaziergänge -im Hof kennt man hier überhaupt nicht, dafür sind die Zellen tagsüber offen, und man darf den ganzen Tag im Korridor spazieren, um sich unter den Prostituierten zu tummeln, ihre schönen Liedchen und Sprüche zu hören und die Düfte aus dem gleichfalls breit offenen 00 zu genießen. Dies alles jedoch nur zur Charakteristik der Verhältnisse, nicht meiner Stimmung, die wie immer vorzüglich ist. Vorläufig bin ich verschleiert, doch wird's wohl nicht lange halten, man glaubt mir nicht. Die Sache im ganzen ist ernst, doch leben wir ja in bewegten Zeiten, wo «alles, was besteht [94], wert ist, zugrunde zu gehen», daher glaube ich überhaupt an keine langfristigen Wechsel und Obligationen. Also seid guten Mutes und pfeift auf alles. Im ganzen ging die Sache bei uns bei meinen Lebzeiten vorzüglich. Ich bin stolz darauf; es war die einzige Oase in ganz Rußland, wo, trotz Sturm und Drang, die Arbeit und der Kampf so schneidig und lustig weiterging und Fortschritte machte wie zur Zeit der allerfreiesten «Konstitution». Unter anderem die Obstruktion, die für weitere Zeiten vorbildlich sein wird in ganz Rußland, ist unser Werk. Gesundheitlich geht es mir ganz gut. Bald wird man mich wohl in ein anderes Gefängnis überführen, da die Sache ernst ist. Ich gebe Euch dann bald Nachricht. Wie geht es Euch, meine Liebsten? Was macht Ihr und die Buben und die Granny [95] und Hans [96]? Grüßt Freund Franziskus [Mehring] herzlich von mir. Hoffentlich geht die Sache im «Vorwärts» wieder gut dank dem festen Block [97]. Jetzt Bitten an Dich, Luiserl: 1. Bezahl meine Miete, ich werde Dir alles pünktlich mit vielem Dank zurückerstatten. 2. Schicke gleich per Mandat 2 000 österreichische Kronen an Herrn Alexander Ripper in der Druckerei von Theodorczuk, Krakau, Ulica Zielona Nr. 7, stelle als Absender Herrn Adam Pendzichowski. Alle weiteren etwaigen Forderungen von dieser Seite lasse unberücksichtigt. 3. Gleichfalls per Mandat an Janiszewsky, Druckerei Berlin, Elisabethufer 29, Absender Adam, 500,- M. 4. Weiter gib gar kein Geld heraus ohne meine Forderung, höchstens aus dem Separat, niemals aus dem Haupt. Eventuell nur auf Forderung von Karski [98], sonst nicht. Auch nicht vom Konto bei Hans. 5. Fordere unseren Teil von den Alten und von Huysmans [99] und hinterlege auf das Hauptkonto. 6. Karl, Lieber, Du mußt für die Zeit übernehmen die Vertretung der Sozialdemokratie Polens und Litauens im Büro, teile es dorthin formell mit, eventuelle Reisen zur Sitzung werden Dir erstattet. 7. Meine Verhaftung darf nicht publiziert werden, bis zur endgültigen Entschleierung. Dann aber - ich lasse Dich wissen, macht Lärm, damit die Leutchen hier etwas Schreck kriegen. Ich muß schließen. Tausend Küsse und Grüße. Schreibt mir an meine Adresse direkt: Frau Anna Matschke [100], Gefängnis im Rathaus Warschau. Ich bin ja Mitarbeiterin der «Neuen Zeit». Aber natürlich, schreibt anständig. Nochmals Grüße. Man schließt die Zelle, ich umarme Euch herzlichst Eure Ann.

An Luise und Karl Kautsky

Warschau den 7. April 1906

Meine Geliebten! Ich schrieb Euch lange nicht mehr. Erstens, weil man mir von Tag zu Tag Hoffnung machte, ich würde Euch gleich telegraphieren können: «Auf Wiedersehn!» und zweitens, weil ich sehr fleißig war und gestern die dritte Broschüre fertiggemacht habe, seit ich hier weile (zwei werden bereits gedruckt, die dritte wird in drei Tagen «geschwärzt») . Im früheren Quartier [101] war es undenkbar zu arbeiten, also galt es, das Versäumte hier nachzuholen. Auch habe ich hier eigentlich zu meinem Privatgebrauch bloß einige Abendstunden von 9 Uhr etwa bis 2 nachts; denn bei Tag, seit 4 Uhr morgens, ist hier im ganzen Hause und auf dem Hof ein Höllenspektakel: Die «gemeinen» Kolleginnen zanken sich ewig und kreischen, und die «myschuggenen» kriegen Wutanfälle, die natürlich bei dem schönen Geschlecht hauptsächlich in einer erstaunlichen Tätigkeit der Zunge Luft finden. NB: Ich habe mich hier, wie bereits im Rathaus, als eine äußerst wirksame Dompteuse des folles erwiesen und muß täglich auf dem Plan erscheinen, um eine rabiate Rednerin, die alle Welt zur Verzweiflung bringt, mit einigen leisen Worten zur Ruhe zu bringen (offenbar ist das eine hommage involontaire vor einem noch stärkeren Maulwerk). So kann ich mich bloß sammeln und arbeiten spät abends, und da versäumte ich auch zum Teil das Briefschreiben. Eure Nachrichten machen mir jedesmal eine große und dauernde Freude, ich lese nämlich jeden Brief mehrere Male durch bis ein frischer eintrifft. Auch Henriettes [102] [Roland-Holst] liebe Zeilen haben mich sehr erfreut. Ich würde ihr besonders schreiben, wenn ja, wenn man mir heute nicht wieder einmal «Zum letzten Mal» Blumen gebracht hätte (ich kriege hier wirklich fast täglich frische Blumen) ... Also warten wir, was morgen kommt. Ich bin ziemlich skeptisch und arbeite, wie wenn mich das alles nichts anginge. Heute hat man mir Deinen Brief gebracht, liebste Lulu. Du berührst dort die Frage meiner Wohnung. Ich möchte Dich bitten, weiter die Miete für mich auszulegen, ich freue mich so auf die Hoffnung, wieder in meinem «roten» und «grünen» Zimmer zu sein, und das Fortziehen hat ja jedenfalls bis Spätherbst, die Kündigung bis 1. VII. Zeit. Bis dahin bin ich zehnmal seeklar und kann mich entscheiden. Mit meinen weiteren Reiseplänen von hier aus steht es folgendermaßen: Ich muß dringend in allernächster Zeit (eigentlich bereits zu Ostern) nicht ein milderes, sondern ein viel rauheres Klima aufsuchen, wohin ich auch wohl auf einem kleinen Umweg über die schwarzweißen Pfähle ziehen werde. Doch wird dort meines Bleibens nicht allzulange sein - ca. drei Wochen. Und dann - wohin? Ich denke natürlich nicht daran, dem Weimarer Onkel [103] aus dem Wege zu gehen, was er immer im Schilde führen mag wenn er mir bloß, wie das zu gehen pflegt, etwas Ruhe läßt und das dicke Ende auf die lange Bank schiebt. (Ein plastisches Bild!) Denn so ganz unvermittelt in seine gastfreien Arme fallen - dazu habe ich jetzt wahrhaftig keine Zeit und viel Besseres zu tun. Also sucht zu erfahren, meine Liebsten, durch kundige Thebaner, nicht was ich im Endresultat zu erwarten habe, denn das ist mir Hyperpomade, sondern ob ich nicht sofort, wie meine Nasenspitze in die königlich-preußische Freiheit hineinriecht (denn bei mir ragt die Nase immer vor allem übrigen hinein), nicht an selbiger Nase gefaßt und eingesackt werde zur Strafe für die Eskapade. Das einzig interessiert mich. - Ich werde Euch aus meinen «Reiseeindrücken» massenhaft zu erzählen haben, wenn wir wieder einmal beisammen sind, und wir werden uns den Buckel vollachen, besonders die Buben. Ich finde alles sehr lustig. Besonders freue ich mich diebisch über die «Unanständigkeiten», die ich täglich hinausbefördere, und wie ich sie nach ein bis zwei Tagen wieder «schwarz auf weiß» zurückbekomme. - Das einzig Melancholische sind die Nachrichten vom Nordpol [104]. Authentische Nachrichten - die leider ein großes Tohuwabohu melden und den Mangel jeglicher Entschlossenheit und Schneidigkeit. «Dahin, dahin möcht ich sobald als möglich ziehn» ... Kreuzhageldonnerwetter, ich glaube, ich würde die Leute alle ganz blau und braun wachrütteln! Hoffentlich kommt es dazu. - O ich Esel, O ich Rhinozeros, O ich Bernstein! Das Wichtigste vergesse ich bis zum Schluß: Deine Ethik [105] lese ich natürlich bereits zum zweitenmal; ich verlangte und kriegte sie hier sofort, wie ich begraben wurde. Ich freue mich bei jeder Zeile und gratuliere Dir! Ein Exemplar mit Widmung halte für mich parat! Ich umarme und küsse Euch alle herzlich, Granny, Karolus, Lulu und alle Buben mit Hans an der Spitze (falls Ihr findet, daß seine Moral auch noch diesen Stoß verträgt). Ferner «diesen Kuß der ganzen Welt», die nach mir frägt. Herzlich Eure R.
Schreibt bald.
Einen besonderen herzlichen Gruß an Freund Franziskus [Mehring] und seine Frau. Wie geht's der «Leipziger Volkszeitung»? Ich höre hier nichts darüber. Daß August [Bebel] die Leute ohnmächtig reden kann, habe ich längst gesagt, nun haben wir's. Mir schwant jedoch, daß dieser Ohnmachtsfall den Paladin - vom politischen Fall retten und auf die Beine stellen sollte, die wacklig waren. Wißt Ihr auch, wessen Name am häufigsten im Rathaus in der «politischen» Nr. 3 genannt wurde? «Kautsky». Es waren nämlich mehrere übersetzte Broschüren dieses Herrn im Umlauf, und da fünfzehn wissensdurstige Seelen danach lechzten um die Wette, so verging keine Viertelstunde, daß man nicht in jeder Ecke hörte: «Wissen Sie nicht, wo Kautsky liegt?» Da das kein Ende nehmen wollte, hatte ich mehrmals Lust auszurufen: Werdet ihr wohl mit eurem saudummen Kautsky aufhören?! Ich schwieg jedoch. Nur einmal, als diese Frage auch noch fünf Minuten nach zehn Uhr abends erscholl, da konnte ich nicht mehr an mich halten und rief: «O ihr jungen Törinnen, ich weiß, wo Kautsky liegt: Er liegt im Bett und schnarcht, daß die Wände zittern!» Was meine Finanzen betrifft, so behaltet sie in Eurer persönlichen Obhut, und es bleibt bei der Parole: «Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!»

An Emanuel und Mathilde Wurm

Warschau den 18. Juli 1906 [106] [107]

Lieber Emmo und liebe Tilde! Herzlichen Dank für Eure ausführliche Nachricht! Endlich weiß ich, was in der Welt vorgeht. Die früheren Briefe von Euch wie von K[autsky]s sind verlorengegangen, und es stellt sich heraus, daß meine eigene Adresse die beste ist. Unter anderem erfuhr ich zum ersten Mal erst aus Euerem Schreiben von dem Geschick Luisens [108] [Kautsky], und Ihr könnt Euch denken, wie ich erschrak, wenn auch post festum [109]! Was mich anbetrifft, so bin ich auf dem Sprung, die gastlichen Gefilde zu verlassen, und sobald ich au bon port [110] bin, gebe ich Euch Nachricht und Adresse. Ich brenne vor Arbeits- resp. Schreiblust und werde u. a. auch in die Debatte über den Generalstreik mit Wonne eingreifen. Nur einige Tage Geduld, bis ich ein sicheres Dach über dem Haupte und bessere Arbeitsbedingungen habe, denn hier nimmt die Lauferei zur Gendarmerie, Staatsanwaltschaft und dergl. angenehmen Institutionen gar kein Ende.
Das jüngste «Krächle» in der Partei machte mich lachen und - verzeiht - recht teuflisch lachen! O über die welterschütternden Ereignissen zwischen Lindenstr. [111] und Engelufer, die einen Sturm entfesseln! Wie nimmt sich doch dergleichen «Sturm» aus - von hier aus gesehen! ... Hier ist die Zeit, in der wir leben, herrlich, d. h. ich nenne herrlich eine Zeit, die massenhaft Probleme und gewaltige Probleme aufwirft, die Gedanken anspornt, «Kritik, Ironie [112] und tiefere Bedeutung» anregt, Leidenschaften aufpeitscht und vor allem - eine fruchtbare, schwangere Zeit ist, die stündlich gebiert und aus jeder Geburt noch «schwangerer» hervorgeht, dabei nicht tote Mäuse gebiert oder gar krepierte Mücken, wie in Berlin, sondern lauter Riesendinge allwie: Riesenverbrechen (vide Regierung), Riesenblamagen (vide Duma), Riesendummheiten (vide Plechanow [113] & Co.) etc. Ich zittere vor Lust im voraus, ein hübsch gezeichnetes Bild all dieser Riesenhaftigkeiten zu entwerfen - selbstverständlich vor allem in der «Neuen Zeit». Reserviert mir also einen entsprechenden Riesenraum. Von Ihrem liebenswürdigen Anerbieten, mich mit Zeitungen, die «Neue Zeit» etc. zu versehen, werde ich den ausgiebigsten Gebrauch machen, doch erst, wenn ich das neue Domizil bezogen habe. Hierher etwas zu schicken ist zwecklos. Über Ihre gründliche Besserung, lieber Emmo, freue ich mich herzlich, halten Sie sich nur tapfer weiter und überarbeiten Sie sich nicht, vor allem lassen Sie sich von nichts deprimieren. Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark! Mit vielen herzlichen Grüßen für Euch beide, auch für Arthur [114] [Stadthagen], bleibe ich Eure Rosa

An Luise Kautsky

Genua, den 14. Mai 1909

Liebste Lulu! Nun bin ich seit einigen Tagen in der Genova [115] superba, wie sie sich selbst nennt, während die Toskaner von ihr anderer Meinung sind und sagen, daß hier mare senza pesce [116], montagne senza alberi, uomini senza fede [117] e donne senza vergogna seien. Ich neige zu der Auffassung der Toskaner, nur mit dem Unterschied, daß auch die uomini senza vergogna sind, wenigstens in den Kaufläden, wo sie mich stets anschwindeln im Preis und mir auch noch im Rest jedesmal ein paar ungültige Münzen einschmuggeln. Sonst ist es ein liebes Städtchen, herrlich gelegen, amphitheatralisch auf einer schmalen Küste um eine große Bucht herum, von hinten geschützt durch schöne Hügel, die, jeder von einem Fort gekrönt, sich scharf vom natürlich italienischen Himmel abheben. Im Hafen unten ist ein üblicher Hafenwirrwarr von Schiffen, Barken, Elevatoren, Schmutz, Rauch, Enge und Geschäftigkeit. Die Straßen eng, himmelkratzende und ihrerseits meist abgekratzte Häuser, zwei oder vier Fenster breit, von oben bis unten behängt mit bunter Wäsche, so daß bei jedem Zephyrhauch überall Hemden, Gatjen, löcherige Strümpfe und dergleichen Frühlingsgegenstände flattern und klatschen. Um zu den höher gelegenen Straßen zu gelangen, gibt es von den unteren herauf alle paar Schritte reizende vicoli oder scalite, d. h. Gäßchen, die ganz dunkel, üppig stinkend und gerade so breit sind, daß der Durchgang überall durch einen leicht vom Publikum abgewendeten und sich leicht wiegenden cittadino [119] versperrt ist, der seine Andacht verrichtet und für ständige Befeuchtung der Gäßchen sorgt, damit die Luft nicht zu trocken ist. In den etwas breiteren Sträßchen aber muß man karambolieren zwischen zweiräderigen Karren - andere habe ich hier nicht gesehen die mit zwei Mauleseln und einem Pferd in die Länge (das heißt eins vors andere) bespannt sind und mit Vorliebe links, nicht rechts fahren, so daß ein gut disziplinierter reichsdeutscher Kulturmensch des öfteren plötzlich hinter oder über seinem Kopf den liebevollen Hauch einer Schnauze oder das Ende einer knallenden Peitsche zu spüren bekommt; denn so was wie Trennung des Bürgersteigs vom Fahrdamm ist hier als undemokratisch verpönt, und jeglicher Kreatur ist überlassen, sich durchs Leben und durch die Gasse mit Ellbogen zu schlagen. Drei Lieblingsbeschäftigungen habe ich bei den Genuesern bemerkt: das Herumstehen mit den Händen in den Hosentaschen und einer Pfeife im Mund, um irgendeinem beschäftigten Mitmenschen, z. B. den Hafenarbeitern oder auch Erdarbeitern, mit ruhiger Sympathie stundenlang zuzuschauen, ferner das Ausspucken alle Viertelstunden lang, aber nicht so einfach und formlos wie bei uns, sondern kunstvoll, im langen dünnen Strahl aus dem Mundwinkel, ohne den Kopf zu bewegen und mit einem kleinen Zischlaut, endlich sich rasieren zu lassen, und zwar nicht morgens, sondern abends. Um 7 bis 10 oder 11 Uhr abends kann oder vielmehr muß man in allen Straßen rechts und links in den offenen Läden der parrucchieri [120] - jeder dritte Genuese ist ein parrucchieri, die zwei anderen Schwindler von unbestimmter Beschäftigung) in weiße Mäntel gehüllte sitzende Gestalten bewundern, die mit philosophisch erhobener Nase die schmutzige Decke zu betrachten scheinen, während ein flinker, schwarzäugiger Jüngling ihnen mit nicht ganz weißen Fingern um die Visage herumtanzt. Von übrigen Merkwürdigkeiten ist zu bemerken, daß dank des Staatsmonopols das Salz ein Luxusgegenstand ist, infolgedessen das Brot ganz ungesalzen, auch ohne Hefe ist und im Geschmack ungefähr der Mischung gleicht, mit der man bei uns im Norden zum Winter die Fenster zu verkitten pflegt. Auch der Zucker kostet - aus einem mir nicht näher bekannten Grund - 85 Centesimo das Pfund, und «das Pfund» faßt in Italien, wie ich erst nach längeren betrübenden Erfahrungen herausgebracht habe - nur 350 Gramm; infolgedessen vergißt der cameriere [121] im Café regelmäßig beim Servieren des Tees die Zuckerdose, und bis man Gelegenheit hat, ihn auf diese Kleinigkeit aufmerksam zu machen, wird der Tee kalt. Schließlich gehen und kommen die Züge mit einer normalen Verspätung von ein bis zwei Stunden, und wenn ein naiver Indogermane aus dem Norden Europas in Schweiß gebadet im letzten Moment (nach dem Orario [122]) ins Coupé springt, so hat er dann reichlich Zeit, sich abzukühlen und zu beruhigen; nach Verlauf einer halben Stunde nämlich ruft der Schaffner erst mit sonorer Stimme «partenza [123]!», um darauf zusammen mit dem Lokomotivführer im Buffet zu verschwinden; nach einer weiteren halben Stunde erscheinen beide sichtlich erfrischt und in guter Stimmung auf dem Perron, und der Zug setzt sich dann allmählich wirklich in Bewegung. (Dies erlebte ich gestern, als ich einen Ausflug an die Riviera Levante [124] machte und infolge der Verspätungen um 21 Uhr nachts nach Hause kam.) Über alledem lacht natürlich ein ewig blauer Himmel, und ich weiß jetzt schon, weshalb er lacht. Übrigens lacht er nur, insofern es nicht regnet.
Ecco una breve macchietta [125] meiner Eindrücke. Was mich selbst betrifft, so habe ich in Zürich günstigen Bescheid gekriegt: Ich darf alle Bücher hierher beziehen, doch durch die Vermittlung einer, hiesigen staatlichen oder städtischen Bibliothek. Das bindet mich wieder etwas an Genua. Aber trotzdem ich hier ein hübsches Zimmer in guter Lage (hoch über der Stadt) gefunden habe, so glaube ich, daß ich das Leben hier sehr bald satt kriege und vielleicht irgendwo ans Meer gehe. Dies läßt sich jedoch leider nicht so leicht machen, wie man sich vorstellt; ich erfuhr es gleich gestern bei meiner ersten Umschau. Es gibt entweder richtige Kurorte wie Nervi [126], die mir ein Greuel sind, oder aber schmutzige heiße Städtchen, wo obendrein höchstens ganze Appartements zu finden sind - ohne Bedienung und ohne Pension. Außerdem ist kein richtiger Strand da, weil die Küste sehr felsig und steil ist. Trotzdem wird sich wohl schon etwas finden. Im ganzen gefällt mir das Leben und die Natur hier sehr, das Meer aber ist die Hauptsache, und dieses ist herrlich. Ich sehe es aus meinem Zimmer den ganzen Tag und kann mich nicht satt sehen. Nun, wie geht es Dir, wie Euch allen? Sicher gehst Du zu den Vorlesungen Klaras [127] [Zetkin], schreibe mir auch darüber alles Nähere. Da ich nicht weiß, wo Klara logiert, lege ich einen Brief für sie bei. Ubrigens habe ich hier bei meiner Arbeit eine Idee für Dich, Thema zu einer selbständigen Arbeit - eine kleine Studie, die für die «Gleichheit» [128] oder die «Neue Zeit» gut wäre, bei der Du Deine Kenntnisse der englischen Sprache verwenden kannst und die sicher auch Deine bescheidene Selbsteinschätzung nicht übersteigen wird. Mich ärgert überhaupt, daß Du Dir eine öde Übersetzung nach der anderen aufladen läßt. Was hast Du davon? Was lernst Du bei dieser mechanischen Viechsarbeit? Wirklich schade um Deine Zeit und Kräfte. Wir sprechen oder schreiben über meinen Vorschlag, sobald Du mit jenem Mist fertig und wieder zur Arbeit disponiert bist. Noch ein paar Bitten für meine Arbeit: die Gertrud [129] [Zlottko] hat Dir wohl meine Schlüssel gelassen, nun sei so lieb und schicke mir aus meiner Bibliothek (linke Seite des großen Regals): 1. Büchers «Entstehung der Volkswirtschaft», 2. Ingrams «Geschichte der Volkswirtschaftslehre», 3. Webbs «Geschichte der Trade Unions». Außerdem sei so lieb und schreibe für mich folgendes aus: 1. aus Roscher (laß Dir von Karl seine Nationalökonomie geben) seine Definition: Was ist die Nationalökonomie (oder die Volkswirtschaftslehre); wahrscheinlich ist das im Anfang seines Kursus. Nur ein paar Sätze brauche ich, aber wörtlich zitiert und genauen Titel des Buches. 2. Aus dem Handwörterbuch der Staatwissenschaften Artikel Schmollers über die Volkswirtschaftslehre. Du mußt den Passus herausfinden, wo der Trottel sagt, daß die Nationalökonomie entstanden sei infolge der finanz- und bürokratischen Bedürfnisse des modernen Staats im 18.Jahrhundert. Nur diesen Passus brauche ich. Ich weiß, daß Du mir gern helfen wirst, und das wird mir wirklich gute Hilfe sein, denn hier ist eine Saubibliothek, in der solche Werke nicht zu haben sind. Und noch eine Bitte: Könntest Du mir nicht abschreiben eine Tabelle der Ausfuhr und der Einfuhr Deutschlands aus irgendeinem der letzten Jahre, aber mit Einzelposten, so daß man sieht, welche Art Waren wohin gehen und welche woher kommen. (Nur Warenart, Land und Wertsumme oder Gewichtsmenge.) Dies jedoch, falls es Dir Schwierigkeiten bereiten sollte, laß zum Teufel. Ich werde schon so auskommen.
Schreibe mir nun, wie es Euch allen geht. Was machen die Buben? Pardon, die ex-Muli [130] (wie heißen sie denn jetzt asini [131]) und der kleene Schnips? Was macht Karolus magnus [132]? Schreibe mir poste restante [133] (si ferma in posta [134]), aber eingeschrieben, sonst ist [es] unsicher. Namentlich aber die Bücher eingeschrieben. Ich küsse Euch alle herzlich. Eure R.
Was macht Granny, wo ist sie? Ich lasse sie bestens grüßen.

An Luise Kautsky

Levanto, den 13. Juni 1909 [135]

Liebste Lulu! Heute habe ich Deine beiden Karten erhalten: vom 9. und 11. zusammen! Du weißt inzwischen schon, daß das Paket angekommen ist, bist also beruhigt. Ich selbst schrieb lange nicht, weil ich inzwischen schuften mußte und jeden Tag auch einen oder einige geschäftliche Briefe zu schreiben hatte, so blieb mir keine richtige Muße, um Euch so zu schreiben, wie ich wollte. Auch machte mich das Warten auf die Bücher ungeduldig und «knurrig», wie Franz [136] [Mehring] sagen würde, und Du weißt, daß ich mich nicht gern zeige, wenn bei mir schlechtes Wetter ist. Heute ist wieder Sonnenschein - in mir und um mich. Tatsächlich hatten wir hier eine ganze Woche lang Regenwetter, Gewitter, kühle Winde und stürmische See. Heute plötzlich azurblauer Himmel strahlende Sonne und tiefblaue See mit weißen Schaumkämmen, die im Sonnenlicht funkeln wie Schnee. Im ganzen ist es viel kühler hier, als ich dachte und als man sich gewöhnlich vorstellt. Ein Freund schreibt mir aus der Schweiz: Ich verstehe nicht, wie Sie jetzt an der Riviera aushalten können! Ich mußte lachen, denn nach den Nachrichten von Bekannten zu urteilen, ist es jetzt in der Schweiz viel heißer als hier. Levanto ist ein winziges Nest, zwei Stunden weit von Genua, und da ich nicht wußte anfangs, ob ich hier auch bleiben kann - die Verhältnisse waren mir ja gänzlich fremd so gab ich Euch auch nicht gleich die Adresse an, auch der Friedenauer Post nicht, da Levanto in der weiten Welt unbekannt ist - Gott sei Dank - und die Briefe womöglich irgendwohin nach dem Orient wandern würden. Nun bin ich aber doch hier geblieben und erhalte auch meine Postsachen, wenngleich mit der saumäßigsten Unpünktlichkeit.
Jetzt zu Deinen, Euren und meinen Plänen. Ich gehe fast sicher im Juli nach der Schweiz, und so wird es sich doch hoffentlich machen lassen, daß wir uns treffen. Selbstverständlich werde ich Euch sofort benachrichtigen, wohin ich wandere, wenn ich es erst selbst weiß. Augenblicklich kann ich mich noch nicht entschließen, doch dürfte es schließlich mein geliebter Vierwaldstätter See werden; ich fürchte bloß aus alter Erfahrung, daß ich dort viel mehr braten werde als hier in Italien. Wohin gedenkt Ihr denn mit Karl die drei Wochen in der Schweiz zu verbringen? Schreibe mir darüber gleich, falls Ihr schon was Festes im Auge habt, das wird mir auch vielleicht meine Kombination erleichtern. Dann schreibe mir genau, wann Karl mit Bendel [137] in Genua eintreffen oder gehen sie direkt von Marseille nach der Schweiz? Auch mit welchem Schiff sie sich verfrachten. (Ist das wirklich ein Frachtschiff? Dann dürfte ja die Reise unendlich dauern!) Wenn wir uns erst alle in der Schweiz treffen, das gibt dann ein Gaudi und ein Schwatzen!! Mein hiesiges Nest liegt reizend an einer kleinen Bucht, aber zum Glück ohne Hafen, so daß keine Fischerbarken und Segelboote den Ausblick versauen wie in Sestri Levante (wo Gerhart Hauptmann sta lavorando [138] nella tranquillita lucida et fragrante, wie ich aus dem «Secolo [139]» erfahren habe). Auch liegt es nicht an der großen Touristenstraße wie die Ponente [140] und die Levante bis Sestri, wo die Automobile vorbeisausen und vorbeiduften. Eingefaßt ist das Städtle von weichen Appeninhügeln, die, mit Oliven und Pinien bedeckt, ein Grün in allen Schattierungen darbieten. Ganz still ist es hier, nur tragisches Knarren einer Mauleselstimme läßt sich von Zeit zu Zeit hören und eifriges Rufen der Maultiertreiber.
Sonst stehen ein paar verschlafene Gestalten am Eingang von ein paar Läden in der «Hauptstraße», und Kinder spielen im Sande, oder weißrote Katzen streifen über die Straße von einem Gartenzaun zum anderen. Den Mittelpunkt bildet eine viereckige Piazza Municipale [141], um die das mit Galerien ausgestattete Hauptgebäude geht. Darin ist alles, was Autorität, Rang und Staat darstellt: die Post, die Garnison (wohl sechs Soldaten mit zwei Offizieren), der Podestà, das Zollamt und natürlich daneben eine marmorne «Gedenktafel» mit zwei etwas hervorstehenden Seitenleisten. An dieser «Tafel» steht immer mit dem Rücken zum Platz irgendein Passant, während sonst nur die Sonne den leeren Platz überflutet, in dessen Mitte das Standbild Cavours [142] «den größten Statisten des XIX. Jahrhunderts» darstellt, wie die Aufschrift witzig erklärt. (Al più grande statisto.) Sonst sieht man nur an einem schmalen Bächlein unter drei großen Zedern die Lavandaien [143] immer knien und waschen, während die Männer am liebsten miteinander schwatzen. Vor meinem Albergo [144] z. B. stellen oder setzen sich auf eine hervorstehende Hauskante irgendwelche zwei-drei Bürger und schwatzen stundenlang mit Behagen, während ich innerlich koche, da mich dieses unermüdliche Plätschern der Stimmen draußen ganz aus den Gedanken bringt und ich die Arbeit hinschmeißen und am liebten selbst in der Sonne hocken möchte. Abends bei Kühle geht alles, was lebt, in der «Hauptstraße» auf und nieder spazieren, unzählige schwarze Kinder treiben sich spielend herum, und der «Eismann» an seinem kleinen Karren macht glänzende Geschäfte. Ich kaufe ihm auch jeden Abend für 10 Centesimo Eis in einer kleinen Waffeltüte ab, wenn es mir gelingt, durch die ihn umlagernden Kinder durchzudringen. Geistig ragen sichtlich über der Gesellschaft zwei Personen hervor: der Postbeamte, ein dicker, runder, schwarzblühender Jüngling, der in seinen weißen Schuhen und keck aufgesetztem Garibaldihut in außerdienstlichen Stunden das Haupt und Idol der hiesigen jeunesse dorèe [145] ist; abends, umstanden von Freunden, - spricht er Witze, die ich nicht verstehe, und verbreitet um sich Frohsinn und - wie ich fürchte etwas Freigeist und Zynismus. Ganz anders ist der Apotheker, der zwar auch noch im besten Alter, aber blaß, finster, in seinem Laden immer ein paar ernstere Herren und auch den Herrn Abbate [146] hat, die in Hüten sitzen und Politik treiben. Das tun sie übrigens auch, wenn der Apotheker abwesend ist, indem sie sich auch ohne ihn gut unterhalten und in seinem Laden Zeitungen lesen. Schon zweimal habe ich bei ihm Zahnpulver gekauft, und jedesmal mußte er von einem der politisierenden Herren der klerikalen Partei geholt werden. Jeden Sonntag gibt es eine Prozession, an der Kinder, Weiber und schwarz gehüllte alte Männer teilnehmen; die Prozession schleppt sich aber faul dahin, das Singen reißt alle Augenblicke ab, und die Zuschauer lachen; «Signor Gesù» [147], den man auf langem Holz schleppt, macht ein verkniffenes Gesicht, weil ihn die strahlende Sonne blendet und in die Nase kitzelt. Die Sache ist aber nicht immer so harmlos, wie sie aussieht. Wißt Ihr, woher der Sturm und Regen in voriger Woche kam? Heute las ich's im «Secolo»: In Porto Maurizio an der Ponente hatte man eine feierliche Prozession per scongiurare la siccità [148] veranstaltet. Und da soll man nicht an die göttliche Misericordias [149] glauben? Die Apotheke triumphierte natürlich und schaute kaltlächelnd zu der Postpartei hinüber. Zugleich aber prangen jetzt noch an allen Ecken Riesenplakate der Sozialdemokratie zum 1. Mai. Niemand regt sich darüber auf - vielleicht regte sich auch am 1. Mai darüber niemand auf, das weiß ich nicht. Ach! Die Welt ist nicht vollkommen. Alles wäre so schön, aber - aber... Erstens: die Frösche. Sobald die Sonne sinkt, beginnen von allen Seiten die Froschkonzerte, wie ich sie in keinem Lande sonst gehört habe. Schon in Genua habe ich diese Überraschung, die ich an der Riviera am wenigsten suchte, erlebt. Frösche - meinetwegen. Aber solche Frösche, so ein breites, schnarrendes, selbstzufriedenes, aufgeblasenes Gequake, wie wenn der Frosch die erste und absolut wichtigste Person wäre!... Zweitens - die Glocken. Ich schätze und liebe die Kirchenglocken. Aber jede Viertelstunde Bimmeln, und zwar ein leichtsinniges, albernes, kindisches Bimbimbim-bimbambam - das kann einen ganz närrisch machen. Jeden Sonntag erst, und gar zum Fronleichnam, wälzten sich diese dummen Glocken vor Freude wie ein Ferkel und konnten sich gar nicht genug tun. Und drittens - drittens, Karl, wenn Du nach
Italien gehst, vergiß nicht eine Schachtel Insektenpulver mitzunehmen. Sonst ist es herrlich. Karolus, noch etwas Geschäftliches zum Schluß. Anbei ist der Titel eines neuen Buches [150] von Lenin (Iljin ist sein Pseudonym), ihm liegt daran, daß das Buch in den eingelaufenen Schriften verzeichnet wird. Was die Besprechung betrifft, so bestelle sie noch bei niemand, ich werde Dir vielleicht jemanden empfehlen können, sonst könntest Du ungewollt den Verfasser kränken. Aber in die «eingelaufenen» und auch in (die Literatur des Sozialismus nimm das Buch gleich auf. Und nun küsse ich Euch alle miteinand und Dich, Lulu, im besonderen Eure R.

An Hans Diefenbach

Berlin den 1. November 1914 [151]

Mein liebes Hannesle, heute soll's werden! Seit Wochen schreibe ich Ihnen «im Geiste» die ausführlichsten Briefe und komme nicht dazu, sie zu Papier zu bringen. Das lastete mir schon wie ein Stein auf dem Herzen. Aber ich habe so wenig Ruhe und Einsamkeit, trotzdem alles darniederliegt Nun, jetzt soll's besser werden, ich habe wieder einmal vor, «ein neues Leben» zu beginnen, früh schlafen zu gehen, alle Besuche zur Tür hinauszuschmeißen und - zu arbeiten, aber feste! Und der erste Schritt des «neuen Lebens» ist der Brief an Sie. Ihre beiden letzten ausführlichen Briefe via Hans Kautsky haben mir furchtbar viel Freude gemacht. So kann ich mir wenigstens vorstellen, wie Sie leben und was Sie treiben ... Zuerst ein kleiner Bericht von mir, da Sie's wollen. Also meine verzweifelte anfängliche Stimmung ist auch schon anders. Nicht, als ob ich die Lage rosiger beurteilte oder Grund zur Heiterkeit hätte durchaus nicht. Aber die Heftigkeit des ersten Schlages, den man empfangen, ist abgestumpft, nachdem die Schläge zum täglichen Brot geworden sind. Daß die Partei und die Internationale kaputt sind, gründlich kaputt, unterliegt keinem Zweifel, aber gerade die wachsenden Dimensionen dieses Unglücks machen es zu einem weltgeschichtlichen Drama, demgegenüber wieder die objektive historische Beurteilung Platz greift und das persönliche Sichhaareausraufen deplaciert wird. Natürlich bleibt die manchmal kaum erträgliche Pein jeden Augenblick bei immer neuen Schurkereien und Erbärmlichkeiten der ehemaligen «Freunde», bei der unerhörten Degradation der Presse. Aber demgegenüber bleibt mir immer mehr die innere Überzeugung, daß - wenn es halt nicht anders gehen kann - ich mir noch allerlei schönen Trost für meine bescheidenen persönlichen Bedürfnisse finde: ein gutes Buch, einen Spaziergang im Südender Felde bei schönem Herbstwetter, wie damals mit Hannesle über die Stoppeln, und endlich - die Musik! Ach Musik! Wie schmerzlich entbehre ich sie, und wie sehne ich mich nach ihr! Bis jetzt konnte ich mir keine verschaffen. Erst gab es wochenlang nichts. Dann begannen aus jedem Anlaß politische Demonstrationen in der Oper, im Konzertsaal. Endlich jetzt könnte man's wagen, aber Hannesle ist nicht da, um Billette zu besorgen, und auch so ganz ohne Gesellschaft tröstet einen die Musik nicht. Schließlich hoffe ich noch auf Hans. Er war vor einer Woche bei mir, um mir Ihren Brief zu bringen. Er ist frisch, rotbäckig, verjüngt. Rom hat ihm ausgezeichnet getan. Auch sonst hat er mir einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, und ich versprach, gleich zu ihm zu kommen - komm aber nicht dazu. Vielleicht gehe ich morgen hin. Er versprach mir, täglich zwei Stunden zu spielen, wenn ich nur komme. Von seinen Kindern hat er Ihnen wohl berichtet: Gretl glückliche Braut eines Slowaken von rührender Schüchternheit, Fritz ein schneidiger Leutnant, Robert - perfekter Maler; nur Hansl bleibt ein fils perdu [154] und mokiert sich über den Papschi in den Briefen an Robertl, und der arme Papschi muß just diese Briefe finden und lesen. Luise [Kautsky] ist, wie H [ans] erzählt, so parterre, daß ich besser tue, nicht hinzugehen, schon ein Telephongespräch ist ihr zuviel. Nächste Woche fahren sie H [ans] und Luise wieder nach dem Süden, ich beneide sie. Karli hat Karriere gemacht in Frankfurt/M., Bendel ist seit dem Typhus dick wie ein Schweinchen, Felix wie immer. Alles in allem gedeiht die Gens K. [155] und findet ihren Weg durch die Fährnisse des Lebens. Vorige Woche war Donna Clara [156] bei mir sechs Tage, sie ist körperlich furchtbar herunter. Kostja [157] ist noch zu Hause und arbeitet in der Redaktion. Von Maxim [158] wieder kein Lebenszeichen seit einem Monat. Ja, von Medi [Marta Urban] erhielt ich neulich wieder ein liebes Lebenszeichen. Sie war ja krank; jetzt ist sie wieder zu Hause und an der Arbeit. Brandels Vater [159] war endlich wieder hier vorige Woche, zusammen mit der Klara. Der Arme hat sich ziemlich verändert, eine Gesichtshälfte ist starr. Er zeigte mir einen Brief von Brandel, der sehr interessant war und den Burschen im besten Lichte zeigt. Er ist nicht weit von Ihnen. Schreiben Sie ihm: Vizefeldwebel B. G. XVIII. Armeekorps, 25. Division, aktives Regiment Nr. 116, 6. Kompanie. Er wird sich sicher freuen, von Ihnen zu hören. Kurt Rosenfeld schreibt mir sehr oft, er ist im Osten, war neulich in Wilkowyszky, wo er - als Bataillonsschreiber - Preistaxen für koscheres und nichtkoscheres Fleisch festsetzte, Haussuchungen vornahm und dergleichen juristische Funktionen ausübte. Dann kam er in eine heiße Schlacht, machte Furchtbares durch, und jetzt ist er, glaub ich, wieder auf deutschem Boden. Er ist geistig sehr frisch und mobil geblieben und steht natürlich treu zur Fahne. Sie wollen wissen, was ich treibe, und namentlich, was ich schreibe. Also vor allem will ich jetzt meine Nationalökonomie [160] fertig machen, was sich schon aus persönlich-ökonomischen Gründen sehr empfiehlt. Das ist eine Arbeit für mehrere Monate. Die Parteischule ist ja im Kriegsjahr geschlossen, so hätte ich Zeit, wenn ich nicht von Morgen bis Abend Besuche, Besprechungen und Sitzungen hätte. Aber das soll - wie gesagt -jetzt abgeschafft werden. Außerdem will ich natürlich eine Studie über den Krieg schreiben, was - wie Sie sich denken können - eine dringende Notwendigkeit bald wird. Freilich herrscht einstweilen der «Burgfrieden». Aber im stillen leben wir mit den Südekums [161] etc. wie Hunde und Katzen, und die Stimmung wird überhaupt immer lebendiger. Mich reizt das Problem rein theoretisch und schriftstellerisch sehr. «Nur Zeit, mein Weib, nur Zeit! [162]», wie Dehmel - der «Freiwillige [164]» - einst sang. Die Kundgebungen aller deutschen Poeten, Künstler und Gelehrten werden übrigens einst ein document humain [165] ersten Ranges bilden.
Bald muß ich wohl meinen privaten «Burgfrieden» beziehen - in der festen Burg an der Turmstr. [166] Daß mich dies unter solchen Umständen sonderlich freut, kann ich nicht behaupten. Vor einem halben Jahr freute ich mich darauf wie auf ein Fest, heute fällt mir diese Ehre an die Brust wie Ihnen das eiserne Kreuz. Nun ich tröste mich, daß ich zum Schluß des Krieges denn doch schon wieder Luft atme, wir ziehen wohl beide gleichzeitig in die Hauptstadt. Sie mit Eichenlaub um die Stirn als Sieger, ich - als Ihre weiße Ehrenjungfrau. Der Bundesrat rechnet nämlich in seiner gestrigen Kundgebung über die Höchstpreise mit einer Kriegsdauer bis über die Ernte 1915 hinaus, die englische und die russische Presse ebenso. Prosit Mahlzeit! Man fragt allgemein, wie halten das die Erntevorräte aus? Ich frage: Wie halten das die Nerven der Soldaten und der Offiziere aus? Gott geb Ihnen weiter das ruhige Leben in der gastlichen Hütte Ihrer Bäuerin, bei der Sie so rührend den abwesenden Gatten zu vertreten suchen. Ich sehe aus Ihrem letzten Briefe übrigens, daß Sie ein paar fühlende Seelen unter Larven denn doch entdeckt haben, und freue mich sehr darüber. Schreiben Sie mir weiter so oft wie möglich, es ist immer ein Fest in meinem Hause, wenn ein Brief von Ihnen kommt. Sogar die Mimi beriecht ihn liebevoll (sie nennt das «lesen»). Gertrud [Zlottko] ist seit dem 15. fort, ich gebe mir aber Rat allein. Seien Sie ruhig um mich, Hannesle, ich werde mich schon durchschlagen. Aber wenn Sie als ein bereicherter Conquistadore einen 100-Markschein monatlich hinwerfen wollen, sagen Sie, könnten Sie das nicht opfern für einen jungen Kerl, der studieren will, höchst begabt ist und keine Mittel hat? Wenn er so wenigstens das Kriegsjahr ausnützen könnte, vielleicht schafft er sich später selbst eine Basis. - Gertrud hat Ihnen übrigens geschrieben und beklagt Ihr Schweigen. Nun herzliche Grüße von mir und Mimi. Schreiben Sie bald, ob Sie den Brief erhalten haben. Ihre R.
Sie können ruhig an mich adressieren oder, wenn Sie wollen, an Felix [167], der mir galant sofort übergeben wird (ich meine, wenn Hans wieder fort ist)

An Marta Rosenbaum

Berlin, Barnimstr. 10, den 12. März 1915 [168]

Liebe Genossin Rosenbaum [169]! Endlich habe ich «Gelegenheit», Ihnen ein paar Worte zu schreiben, die Sie aber in Ihrem künftigen Brief an mich nicht zu erwähnen brauchen. Vielen und herzlichen Dank für Ihren Gruß zum 5. und für die Blumen, die jetzt noch auf meinem Tischchen stehen. Wirklich, sie haben sich wunderbar gehalten, und ich habe sie auch gepflegt wie meinen Augapfel, jedes einzelne Schneeglöckchen und jede Narzisse jeden Tag in Augenschein genommen. Eigentlich war das alles «Contrebande», aber sie wurden mir doch zugestellt. Ich bekam nämlich am 5. unerwartet und wie auf Verabredung eine solche Menge Briefe und auch Blumen, daß sie den starren Damm der «Regel» von selbst durchbrachen. Über meine plötzliche «Ausschaltung» wie mitten im Telephongespräch war ich zuerst ziemlich bestürzt, obwohl ich doch lachen mußte. Manche Pläne sind mir auf die Weise zerstört worden, doch ich hoffe nicht alle. Ich habe endlich nach zwei Wochen meine Bücher und die Erlaubnis gekriegt zu arbeiten, Sie können sich denken, daß ich's mir nicht zweimal sagen ließ. Meine Gesundheit wird sich schon an die hiesige, etwas eigentümliche Diät gewöhnen müssen, die Hauptsache ist: Sie stört mich nicht bei der Arbeit. Denken Sie, ich stehe jeden Tag Punkt 5.40 auf! Allerdings muß ich schon um 9 Uhr ins «Bett», wenn man das Instrument so nennen darf, das ich mir jeden Morgen rauf- und jeden Abend runterklappe und das bei Tag sich so akkurat an die Wand schmiegt wie ein Brett. Wie ich, aus den Zeitungen ersehen kann, die meine einzige Verbindung mit der Weltgeschichte sind, geht es munter vorwärts. Sie sind wahrscheinlich von Haase [170] begeistert, da Sie doch ein großes Faible für ihn haben; aber abgesehen davon, daß alle seine Klagen und Kritiken zu seiner Abstimmung [171] wie Faust aufs Auge passen, hätte er nie diese Töne gefunden, wenn nicht der kräftige Rippenstoß aus dem Landtag von Karl [Liebknecht] gekommen wäre, der gezeigt hat, daß es auch so geht, und die Leute wieder ein bißchen an alte Töne erinnert hat. Im ganzen bin ich sehr guter und zuversichtlicher Stimmung, die Geschichte arbeitet uns wirklich in die Hände. Anbei ein Gruß an Kurt [172]. Leben Sie recht wohl, haben Sie Dank für alles und schreiben Sie mir hie und da eine Zeile. Ich darf ja nur «einen Brief im Monat» schreiben! Herzlich Ihre R. L.
PS. Bitte, unterhalten Sie sich am Telephon über mich und diesen Brief vorsichtig.

An Mathilde Jacob

Berlin, Barnimstraße, Weibergefängnis, Freitag, den 9. April 1915 [173]

Mein liebes Fräulein Jacob! Hoffentlich kriegen Sie diese Zeilen noch zum Sonntagsgruß, was mein Wunsch ist. Vielen herzlichen Dank für Ihre Briefe, die ich mehrmals lese und die mir viel Heiterkeit bringen. Heute kam der zweite (aus Jena, wo mir Ihr Hotel unbekannt ist) mit den schönen Einlagen. Mimis Bild hat mich schrecklich gefreut, ich muß immer lachen, wenn ich es anschaue; diese Szenen ihrer Wildheit, wenn jemand einen «Annäherungsversuch» unternimmt, habe ich so oft erlebt, daß ich sie fast knurren höre bei dem Anblick des Bildchens. Es ist vorzüglich gelungen; und auch für den jungen Arzt, der so viel Interesse meiner Mimi erweist, habe ich von vornherein die lebhafteste Sympathie. Für die Blumen einen ganz besonderen Dank. Sie wissen gar nicht, welche Wohltat Sie mir damit erweisen. Ich kann nämlich wieder botanisieren, was meine Leidenschaft und beste Erholung nach der Arbeit ist. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen meine Botanisierhefte schon gezeigt habe, in denen ich vom Mai 1913 ab etwa 250 Pflanzen eingetragen habe - alle prächtig erhalten. Ich habe sie alle hier, ebenso wie meine verschiedenen Atlanten, und nun kann ich ein neues Heft anlegen, speziell für die «Barnimstraße». Gerade alle die Blümchen, die Sie mir geschickt haben, hatte ich noch nicht, und nun habe ich sie ins Heft gebracht; besonders freut mich der Goldstern (das gelbe Blümchen im ersten Brief) und die Kuhschelle, da man dergleichen hier bei Berlin nicht findet. Auch die zwei Efeublätter der Frau v. Stein [174] sind verewigt - richtig hatte ich Efeu noch nicht drin (Hedera Helix auf Latein); ihre Abstammung freut mich doppelt. Außer dem Leberblümchen waren alle Blumen sehr ordentlich gepreßt, was beim Botanisieren wichtig ist.
Ich freue mich für Sie, daß Sie so viel sehen [175]; für mich wäre das eine Strafe, wenn ich Museen und dergleichen besuchen müßte. Ich kriege dabei gleich Migräne und bin wie gerädert. Für mich besteht die einzige Erholung im Schlendern und Liegen im Gras, in der Sonne, wobei ich die winzigsten Käfer beobachte oder auf die Wolken gaffe. Dies ad notam für den Fall unserer künftigen gemeinsamen Reise. Ich würde Sie nicht im geringsten stören, alles zu besuchen, was Sie interessiert, aber mich müßten Sie entschuldigen. Sie vereinigen freilich beides, was ja am richtigsten ist. Ein Bild der Lady Hamilton [176] habe ich gesehen in der Ausstellung der Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts; ich weiß nicht mehr, wie der Maler hieß, habe nur die Erinnerung einer kräftigen und grellen Mache, einer robusten, herausfordernden Schönheit, die mich kalt ließ. Mein Geschmack sind etwas feinere Frauentypen. Ich sehe noch lebhaft in derselben Ausstellung das Bild der Madame de Lavallière [177], von der Lebrun [178] gemalt, in silbergrauem Ton, was zu dem durchsichtigen Gesicht, den blauen Augen und dem hellen Kleid wunderbar stand. Ich konnte mich kaum trennen von dem Bilde, in dem das ganze Raffinement des vorrevolutionären Frankreichs, eine echte aristokratische Kultur mit einem leichten Anflug von Verwesung verkörpert war. Fein, daß sie Engels «Bauernkrieg» lesen. Haben Sie den Zimmermannschen schon durch? Engels gibt eigentlich keine Geschichte, sondern bloß eine kritische Philosophie des Bauernkrieges; das nahrhafte Fleisch der Tatsachen gibt Zimmermann [179]. Wenn ich in Württemberg durch die schläfrigen Dörfer zwischen den duftenden Misthaufen fahre und die zischenden Gänse mit langen Hälsen unwillig dem Auto weichen, während die hoffnungsvolle Dorfjugend einem Schimpfworte nachruft, kann ich mir nie vorstellen, daß einmal in denselben Dörfern Weltgeschichte mit dröhnendem Schritt ging und dramatische Gestalten sich tummelten. Ich lese zur Erholung die geologische Geschichte Deutschlands. Denken Sie, daß man in Tonplatten aus der algonkischen Periode, das heißt aus der ältesten Zeit der Erdgeschichte, bevor noch jegliche Spur organischen Lebens war, also vor ungezählten Jahrmillionen, daß man in solchen Platten in Schweden Abdrücke von Tropfen eines kurzen Platzregens findet! Wie auf mich dieser ferne Gruß der Urzeiten magisch wirkt, kann ich Ihnen nicht sagen. Nichts lese ich mit solcher Spannung wie Geologie.
Zur Frau v. Stein übrigens, bei aller Pietät für Ihre Efeublätter: Gott straf mich, aber sie war eine Kuh. Sie hat sich nämlich, als Goethe ihr den Laufpaß gab, wie eine keifende Waschfrau benommen, und ich bleibe dabei, daß der Charakter einer Frau sich zeigt, nicht wo die Liebe beginnt, sondern wo sie endet. Von allen Dulcineen Goethes gefällt mir auch nur die feine, zurückhaltende Marianne v. Willemer [180], die «Suleika» des «Westöstlichen Divans». Ich bin heilfroh, daß Sie sich erholen, Sie hatten es nötig! Mir geht es sehr gut. Herzliche Grüße Ihre R. L.
Für Fräulein Dyrenfurth meinen freundlichen Gruß, ihre Anschrift hat mich sehr gefreut.

An Franz Mehring

Berlin, Barnimstr. 10, den 31. August 1915

Sehr verehrter und lieber Freund! Ihr Brief hat mir herzliche Freude bereitet, um so mehr, da ich schon mit Sehnsucht nach einer Nachricht von Ihrem und der lieben Frau Eva Befinden auslugte und gern wissen wollte, ob Sie die erwünschte Erholung gefunden haben. Sehr betrübt hat es mich, daß Sie unter dem schlechten Wetter so gelitten haben, und mit Sorge schaue ich durch den Spalt meiner Luftklappe oben auf den schweren grauen Himmel und den platschenden Regen, die vielleicht auch Sie im Harz heimsuchen und Ihnen die Laune wieder verderben. Aber wie unrec ht haben Sie, diese Stimmungen in irgendeine Beziehung mit dem Alter zu setzen! Dann dürfte ich ja Ihre Großmutter sein, denn ich bin vom Wetter so abhängig wie ein Frosch, und beim herbstlichen Regen erscheint mir manchmal mein ganzes Dasein wie eine schale und abgeschmackte Farce. Und was ist denn Jugend anders als diese unverwüstliche Freude am Arbeiten, am Raufen und am Lachen, worin Sie uns alle noch jeden Tag in die Pfanne hauen? Sie wissen gar nicht, wie sehr mich gerade das Beispiel Ihrer wunderbaren Arbeitskraft, der Gedanke an Ihre geistige Elastizität und auch die leise Hoffnung auf Ihren Beifall beschämen und anspornen, wenn ich wieder einmal in Begriff bin - Sie kennen nur zu wenig meine schändlichen Schwächen - mich zu verträumen oder aus dem Joch der Pflicht vor Ungeduld Reißaus zu nehmen.
Freilich ist jetzt die ganze Lage derart verworren, daß eine richtige Freude am Kampf gar nicht aufkommen kann. Alles ist noch in der Verschiebung begriffen, der große Bergrutsch scheint gar kein Ende zu nehmen, und auf einem solchen zerwühlten und schwankenden Felde die Strategie zu bestimmen und die Schlacht zu ordnen ist eine verteufelt schwierige Sache. Ich fürchte mich eigentlich jetzt vor gar nichts mehr. Im ersten Moment, damals am 4. August, war ich entsetzt, fast gebrochen; seitdem bin ich ganz ruhig geworden. Die Katastrophe hat solche Dimensionen angenommen, daß die gewöhnlichen Maßstäbe von menschlicher Schuld und menschlichem Schmerz versagen; elementare Verheerungen haben ja etwas Beruhigendes gerade in ihrer Größe und Blindheit.
Und schließlich, wenn es schon so um die Dinge stand und die ganze Friedensherrlichkeit bloß Irrlicht auf dem Sumpfe war, dann ist ja besser, daß die Sache mal zum Klappen kam. Aber vorläufig haben wir die Qual und die Unbehaglichkeit des Übergangszustandes, und auf uns paßt wirklich: le mort saisit le vif [182] Die Jämmerlichkeit unserer schwankenden Freunde, über die Sie stöhnen, ist ja auch nichts anderes als die Frucht von der allgemeinen Korruption, an der die Baracke, die im Frieden so stolz glänzte, zusammengekracht ist. Wohin man greift, ist morscher Zunder. Das muß sich, denk ich mir, alles noch weiter zurechtrutschen und noch mehr auseinanderfallen, damit das gesunde Holz endlich herauskommt. In dieser Misere, die ich also in aller Seelenruhe hinnehme, sind mir Ihre Arbeiten ein wahrer Trost. Der erste Artikel hat mich doppelt interessiert, weil ich gerade einiges bei Seeley [183] und bei Macaulay [184] gelesen hatte, was mit dem Thema in Berührung steht und worin ich die Ansicht vollauf bestätigt fand, die Sie vertreten: daß der Siebenjährige Krieg im Grunde genommen nichts war als eine Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich um die Herrschaft in Amerika und in Asien und daß Friedrich der Nutznießer dieser Weltkonkurrenz war. Zuerst war ich durch diesen Standpunkt frappiert - man bringt ja von der Schulbank gut hausbacken-europäische Gesichtspunkte mit - jetzt aber, gerade im Lichte der heutigen Ereignisse, freut man sich über die breiten Horizonte, die einem so eröffnet werden. Auch kam mir bei der Schilderung der friderizianischen Heere und ihrer glänzenden Siege sowie solcher Figuren wie Clive [185] und seiner Sepoys[186] in den Sinn, wie manches sich zum aktuellen Kapitel «Kriegsheldentum - allgemeine Wehrpflicht - englische Söldner» im Lichte der Geschichte sagen ließe. Nun warte ich gespannt auf das Weitere, die heutige «Neue Zeit» bringt aber blödsinnigerweise keine Fortsetzung! Dort redigiert wohl nicht einmal der Briefträger mehr, denn dieser hätte wenigstens Ihre Zusendung hintereinander an den Leser bestellt. Zu meiner Erfrischung lese ich ferner ein wenig in Lassalle [187]. Aber helft mir, ihr Götter, daß ich bei Bernsteins Anmerkungen nicht aus der Haut fahre. Wie ein blöder Köter springt er dem Lassalle immer zwischen den Beinen. Wenn dieser am schönsten ausholt, um Schultzen [188] eine klatschende Ohrfeige zu versetzen, packt ihn das Rindvieh am Ärmel, um mit gehobenem Finger zu bemerken, daß «eigentlich» Schultze «insofern» «nicht ganz» unrecht hätte, als usw. Und wenn Lassalle ein Kapitel wie ein rollendes Gewitter mit Blitzen und Donnern abschließt und ich in der frischen Luft tief aufatmen will, taucht schnell von unten am Seil einer Fußnote, wie die Spinne am Faden, der unvermeidliche Ede [Bernstein] auf und «bemerkt», daß «eigentlich» Molinari [189] schon im Jahre 1846 so etwas gesagt habe oder was weiß ich was für einen Kohl sonst. O daß dich doch der Teufel holt!, muß ich alle Augenblicke ausrufen. Er verleidet einem ja völlig das Alleinsein mit Lassalle. Wie konnten Sie so eine Leichenschändung dulden! Warum haben Sie nicht dagegen geflucht und gewettert? Ach, wir haben viel zu vieles ruhig hingenommen. Frau Eva hat schon recht: Wir waren viel zu milde. Aber ich schwöre, ich will mich bessern. Ich fühle mich schon ganz wie ein Stachelschwein und brenne darauf, mang die Philister zu laufen. Leider geht es bei mir mit der Arbeit nicht so recht vorwärts. Es ist wohl die Einförmigkeit und die Enge des Lebens, der Mangel an Eindrücken, was sich allmählich wie Kleister um die Sinne legt. Ich kann ja überhaupt nur im Rausch arbeiten, wenn ich in frischfröhlicher Stimmung bin, jetzt aber muß ich mir das bißchen mit Mühe abringen. Dies nicht als Klage, sondern nur als «mildernder Umstand» zu meiner Entschuldigung, wenn ich Ihre Erwartungen enttäuschen werde. Sonst können Sie um meine Gesundheit ganz ruhig sein, und Fräulein J[acob] wird eine Kopfwäsche bekommen, daß sie Sie mit meinem Kadaver in Anspruch nimmt. Ich möchte ebenso ruhig um unsere Klara [Zetkin] sein können. Aber die Ungewißheit, was mit ihr wird und wie lange der üble Spaß [190] noch dauert, geht mir etwas an die Nieren. Ich bin übrigens entrüstet - nein, seien wir ehrlich: ich bin froh, daß die Fraktion kein Wort über Klara geäußert hat. Wissen Sie, wie der sterbende Valentin zum Gretchen [191] sagt: Und bist du einmal eine - so sei es eben recht!
Nun noch die herzlichsten Grüße an Sie beide. Wie ich mich schon darauf freue, wieder in Ihrem behaglichen Arbeitszimmer an dem kleinen Tischchen zu sitzen, zusammen zu plaudern und zu lachen! Nochmals alles Gute Ihre R. L.
Vielen Dank im voraus für die Lessing-Legende [192] und die Marx-Bogen [193].
N. B. Sie haben, wohl aus Versehen, Ihren Brief gar nicht zugemacht!

An Marta Rosenbaum

Berlin, den 11. Mai 1916

Meine liebe Frau Marta! Vielen Dank für Ihre Kartengrüße und den Brief. Ich hatte ja früher Ihre Adresse nicht, konnte also schon aus diesem Grunde nicht schreiben. Außerdem komme ich kaum zur Besinnung vor Lauferei und Sitzungen. Sie können sich denken, daß seit dem 1. 5. [194] viel zu tun ist! Natürlich möchten Sie vor allem wissen, was mit K [arl] Liebknecht ist. Leider ist noch nichts Bestimmtes zu sagen. Die Untersuchung dauert noch, die Anklage ist noch nicht formuliert. Die Aussichten scheinen nicht ungünstig, doch entscheidet, wie Sie wissen, in solchen Fällen die politische raison d'état [195], es bleibt also abzuwarten, was diese erfordert. Daß der gesamte bürgerliche Reichstag die Immunität ablehnen wird, steht schon fest. Um so besser: Das ist der politische Selbstmord des Parlamentarismus. Die Demonstration am 1. 5. war sehr gelungen und übertraf alle unsere Erwartungen, zumal wir sie ganz allein mit wenigen Kräften und in kürzester Zeit vorbereitet haben. Die Ledebour [196]-Leute wurden um Mitwirkung angegangen und haben - abgesagt! Von Klara [Zetkin] habe ich wieder weniger günstige Nachrichten: eine «Reise» in die Stadt (sie wohnt ja außerhalb) [197] ist ihr so schlecht bekommen, daß der Arzt ihr aufs strengste jeden Versuch untersagt hat, das Haus zu verlassen. - Den Sturm im hiesigen Berliner Glase Wasser kennen Sie wohl aus dem Echo im «Vorwärts». Die Krise geht weiter, ein Ende ist nicht abzusehen, und es «regnet» Sitzungen in der Früh und spät in der Nacht. Ich komme leider vor all diesem Trubel zu keiner ruhigen Arbeit und zu keiner freien Minute. Ihre Azalee blüht unbeschreiblich schön, jetzt gerade ist sie im Zenith. Die ganze Welt strotzt vor Frühlingsschönheit und Glanz, aber ich habe kaum Zeit, davon im Vorbeigehen Notiz zu nehmen. Hoffentlich erholen Sie sich wenigstens gründlich und werden die unausstehlichen Schmerzen im Arm los. Pflegen Sie sich ordentlich und regen Sie sich wegen Nachrichten vom hiesigen «Kriegsschauplatz» nicht auf! Für heute herzlichste Grüße von Ihrer R. L.

An Mathilde Wurm

Wronke, den 28. Dezember 1916

Meine liebe Tilde! Ich will Deinen Weihnachtsbrief gleich beantworten, solange ich noch in dem frischen Zorn bin, den er in mir erregt hat. Ja, Dein Brief hat mich fuchsteufelswild gemacht, weil er mir, so kurz er ist, in jeder Zeile zeigt, wie sehr Du wieder ganz im Banne Deines Milieus stehst. Dieser heulmeierische Ton, dieses Ach und Weh über die «Enttäuschungen», die Ihr erlebt habt - angeblich an anderen, statt nur selbst in den Spiegel zu blicken, um der Menschheit ganzen Jammer in treffendstem Konterfei zu erblicken! Und «wir» bedeutet jetzt in Deinem Munde Deine sumpfige Froschgesellschaft [199], während es Dir früher, wenn Du mit mir zusammen warst, meine Gesellschaft bedeutete. Dann wart, ich werde Dich per «Ihr» behandeln. Ihr seid mir «zu wenig draufgeherisch», meinst Du melancholisch. «Zu wenig» ist gut! Ihr seid überhaupt nicht «geherisch», sondern «kriecherisch». Es ist nicht ein Unterschied des Grades, sondern der Wesenheit. «Ihr» seid überhaupt eine andere zoologische Gattung als ich, und nie war mir Euer griesgrämiges, sauertöpfisches, feiges und halbes Wesen so fremd, so verhaßt wie jetzt. Das «Draufgängertum» würde Euch schon passen, meinst Du, bloß wird man dafür ins Loch gesteckt und «nutzt dann wenig». Ach, Ihr elende Kleinkrämerseelen, die Ihr bereit wäret, auch ein bißchen «Heldentum» feilzubieten, aber nur «gegen bar», und sei es um verschimmelte drei Kupferpfennige, aber man soll gleich einen «Nutzen» auf dem Ladentisch sehen. Und das einfache Wort des ehrlichen und geraden Menschen: «Hier steh ich [201], ich kann nicht anders, Gott helf mir», ist für Euch nicht gesprochen. Ein Glück, daß die bisherige Weltgeschichte nicht von Euersgleichen gemacht war, sonst hätten wir keine Reformation und säßen wohl noch im ancien régime. Was mich anbelangt, so bin ich in der letzten Zeit, wenn ich schon nie weich war, hart geworden wie geschliffener Stahl und werde nunmehr weder politisch noch im persönlichen Umgang auch die geringste Konzession machen. Wenn ich mich nur an die Galerie Deiner Helden erinnere, so ergreift mich der Katzenjammer: der süße Haase [202], der Dittmann mit dem schönen Bart und den schönen Reichstagsreden, der schwankende Hirte Kautsky, dem Dein Emmo natürlich treu durch alle Höhen und Tiefen folgt, der herrliche Arthur [Stadthagen] ah, je n'en finirai [203]! Ich schwöre Dir: lieber sitze ich jahrelang ich sage nicht hier, wo ich's nach allem wie im Himmelreich habe, sondern lieber in der Spelunke am Alexanderplatz, wo ich in der 2 cbm großen Zelle, morgens und abends ohne Licht, eingeklemmt zwischen das C (aber ohne W) und die eiserne Pritsche, meinen Mörike deklamierte, als mit Euren Helden zusammen mit Verlaub zu sagen «kämpfen» oder überhaupt zu tun haben! Dann schon lieber Graf Westarp [204] und nicht deshalb, weil er von meinen «mandelförmigen Samtaugen» im Reichstag redete, sondern weil er ein Mann ist. Ich sage Dir, sobald ich wieder die Nase hinausstecken kann, werde ich Eure Froschgesellschaft jagen und hetzen mit Trompetenschall, Peitschengeknall und Bluthunden - wie Penthesilea [205], wollte ich sagen, aber Ihr seid bei Gott keine Achilleus. Hast Du jetzt genug zum Neu jahrsgruß? Dann sieh, daß Du Mensch bleibst. Mensch sein ist. vor allem die Hauptsache. Und das heißt: fest und klar und heiter sein, ja, heiter trotz alledem und alledem, denn das Heulen ist Geschäft der Schwäche. Mensch sein heißt, sein ganzes Leben «auf des Schicksals großer Waage» freudig hinwerfen, wenn's sein muß, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke freuen, ach, ich weiß keine Rezepte zu schreiben, wie man Mensch sein soll, ich weiß nur, wie man's ist, und Du wußtest es auch immer, wenn wir einige Stunden zusammen im Südender Feld spazierengingen und auf dem Getreide roter Abendschein lag. Die Welt ist so schön bei allem Graus und wäre noch schöner, wenn es keine Schwächlinge und Feiglinge auf ihr gäbe. Komm, Du kriegst doch noch einen Kuß, weil Du doch ein ehrlicher kleiner Kerl bist. Prosit Neujahr! R.

An Sophie Liebknecht

Wronke, 15. Januar 1917 [206]

[...] Ach, heute gab es einen Augenblick, da ich's bitter spürte. Der Pfiff der Lokomotive um 3.19 sagte mir, daß Mathilde abdampft, und ich lief gerade wie ein Tier im Käfig den gewohnten «Spaziergang» an meiner Mauer entlang, hin und zurück, und mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz, daß ich nicht auch fort von hier kann, oh, nur fort von hier! Aber das macht nichts, mein Herz kriegte gleich darauf einen Klaps und mußte kuschen; es ist schon gewöhnt, zu parieren wie ein gut dressierter Hund. Reden wir nicht von mir.
Sonitschka, wissen Sie noch, was wir uns vorgenommen haben, wenn der Krieg vorbei ist? Eine Reise zusammen nach dem Süden. Und wir tun das! Ich weiß, Sie träumen davon, mit mir nach Italien zu gehen, das Ihnen das Höchste ist. Ich plane hingegen, Sie nach Korsika zu schleppen. Das ist noch mehr als Italien. Dort vergißt man Europa, wenigstens das moderne Europa. Denken Sie sich eine breite, heroische Landschaft mit strengen Konturen der Berge und Täler, oben nichts als kahle Felskuppen von edlem Grau, unten üppige Oliven, Lorbeerkirschen und uralte Kastanienbäume. Und über allem eine vorweltliche Stille - keine Menschenstimme, kein Vogelruf, nur ein Flüßchen schlickert irgendwo zwischen Steinen, oder in der Höhe raunt zwischen Felsklippen der Wind - noch derselbe, der Odysseus' Segel schwellte. Und was Sie an Menschen treffen, stimmt genau zur Landschaft. Plötzlich erscheint zum Beispiel hinter einer Biegung des Bergpfades eine Karawane - die Korsen gehen immer hintereinander in gestreckter Karawane, nicht im Haufen wie unsere Bauern. Vorne läuft gewöhnlich ein Hund, dann schreitet langsam etwa eine Ziege oder ein mit Säcken voller Kastanien beladenes Eselchen, dann folgt ein großes Maultier, auf dem eine Frau im Profil zum Tiere mit gerade herabhängenden Beinen sitzt, ein Kind in den Armen; sie sitzt hoch aufgerichtet, schlank wie eine Zypresse, unbeweglich; daneben schreitet ein bärtiger Mai-in in ruhiger, fester Haltung, beide schweigend. Sie würden schwören: es ist die Heilige Familie. Und solche Szenen treffen Sie dort auf jedem Schritt. Ich war jedesmal so ergriffen, daß ich unwillkürlich in die Knie sinken wollte, wie ich's immer vor vollendeter Schönheit muß. Dort ist noch die Bibel lebendig und die Antike. Wir müssen hin, und so wie ich's getan: zu Fuß die ganze Insel durchqueren, jede Nacht an einem anderen Ort ruhen, jeden Sonnenaufgang schon im Wandern begrüßen. Lockt Sie das? Ich wäre glücklich, Ihnen diese Welt vorzuführen, ma petite reine! [207]
Ja, Sonitschka, vergessen Sie nie, daß Sie eine petite reine sind. Ich weiß, Sie haben's mir selbst gesagt: Sie vergaßen sich oft, degradierten sich und redeten und benahmen sich comme une petite blanchisseuse [208]. Aber Sie dürfen das nicht mehr. Sie müssen in diesen vier Jahren inneren Halt gewinnen, damit Karl Sie als eine kleine Königin findet, vor der er den Kopf neigen muß. Dazu ist nur innere Disziplin und Selbstachtung nötig, und die müssen Sie gewinnen. Sie sind es sich und - mir schuldig, die Sie liebt und achtet. Lesen Sie viel, Sonitschka, Sie müssen auch geistig vorwärtskommen, und Sie können das, Sie sind noch frisch und biegsam. - Und nun muß ich schließen. Ich lege Ihnen noch meine drei nackten Babys auf den Schoß und umarme Sie. Seien Sie heiter und ruhig an diesem Tage. Ihre Rosa

An Sophie Liebknecht

Wronke, 19. April 1917

Sonjuscha, mein kleines Vöglein! Ich habe mich gestern über Ihren Kartengruß herzlich gefreut, obwohl er so traurig klang. Wie möchte ich jetzt bei Ihnen sein, um Sie wieder zum Lachen zu bringen wie damals nach Karls Verhaftung, als wir beide - wissen Sie noch? -im Café Fürstenhof durch unsere übermütigen Lachsalven einiges Aufsehen erregten. Wie war das damals schön - trotz alledem! Unsere tägliche Jagd am frühen Morgen auf ein Automobil auf dem Potsdamer Platz, dann die Fahrt zum Gefängnis durch den blühenden Tiergarten in die stille Lehrter Straße mit den hohen Rüstern, dann auf dem Rückweg das obligate Absteigen im Fürstenhof, dann Ihr obligater Besuch bei mir in Südende, wo alles in der Maipracht stand, die gemütlichen Stunden in meiner Küche, wo Sie und Mimi [209] am weißgedeckten Tischchen geduldig auf die Erzeugnisse meiner Kochkunst warteten (wissen Sie noch die feinen haricots verts à la Parisienne? [210]). Dann das Blumentischchen mit Goethe und einem Tellerchen Kompott, das ich Ihnen im Erker am Fenster baute? Zu alledem habe ich die lebhafte Erinnerung eines unveränderlich strahlenden heißen Wetters, und nur bei einem solchen hat man ja das richtige freudige Frühlingsgefühl. Dann abends meine obligaten Besuche bei Ihnen, in Ihrem lieben Zimmerchen - ich habe Sie so gern als Hausfrau, das steht Ihnen so besonders lieb, wenn Sie mit Ihrem Backfischfigürchen, am Tisch stehend, Tee einschenken - und schließlich um Mitternacht unsere gegenseitige Begleiterei nach Hause durch die duftenden dunklen Straßen! Erinnern Sie sich noch der fabelhaften Mondnacht in Südende, in der ich Sie heimbegleitete und uns die Häusergiebel mit ihren schroffen schwarzen Konturen auf dem Hintergrund der süßen Himmelsbläue wie alte Ritterburgen vorkamen? Sonjuscha, so möchte ich ständig um Sie sein, Sie zerstreuen, mit Ihnen plaudern oder schweigen, damit Sie nicht in Ihr düsteres, verzweifeltes Brüten verfallen. Sie fragen in Ihrer Karte: «Warum ist alles so?» Sie Kind, «so» ist eben das Leben seit jeher, alles gehört dazu: Leid und Trennung und Sehnsucht. Man muß es immer mit allem nehmen und alles schön und gut finden. Ich tue es wenigstens so. Nicht durch ausgeklügelte Weisheit, sondern einfach so aus meiner Natur. Ich fühle instinktiv, daß das die einzige richtige Art ist, das Leben zu nehmen, und fühle mich deshalb wirklich glücklich in jeder Lage. Ich möchte auch nichts aus meinem Leben missen und nichts anders haben, als es war und ist. Wenn ich Sie doch zu dieser Lebensauffassung bringen könnte!...
Ich habe Ihnen noch nicht für das Bild Karls gedankt. Wie haben Sie mich damit erfreut! Es war wirklich das schönste Geburtstagsgeschenk, das Sie mir geben konnten. Er steht im guten Rahmen auf dem Tisch vor mir und verfolgt mich überall mit seinen Blicken (Sie wissen, es gibt Bilder, die einen anzuschauen scheinen, wo man sie auch hinstellt). Das Bild ist ausgezeichnet getroffen. Wie muß Karl sich jetzt über die Nachrichten aus Rußland [211] freuen! Aber auch Sie persönlich haben Grund, fröhlich zu sein: nun wird ja der Reise Ihrer Mutter zu Ihnen wohl nichts im Wege stehen! Haben Sie das schon ins Auge gefaßt? Ihretwegen wünsche ich dringend Sonne und Wärme herbei. Hier steht noch alles erst in Knospen, und gestern hatten wir Schneegraupen. Wie mag es wohl in meiner «südlichen Landschaft» in Südende aussehen? Voriges Jahr standen wir beide dort vor dem Gitter, und Sie bewunderten die Fülle des Flors [...] Ich will Ihnen häufig schreiben, mir genügt aber vollkommen, wenn Sie einen kurzen Gruß auf einer Postkarte schicken! Seien Sie viel im Freien, botanisieren Sie viel. Haben Sie den kleinen Blumenatlas von mir mit? Seien Sie ruhig und heiter, Liebste, alles wird gut gehen! Sie werden sehen! Ich umarme Sie vielmals und herzlich, stets Ihre Rosa

An Sophie Liebknecht

Wronke, 19. Mai 1917

[...] Wie schön ist es jetzt hier! Alles grünt und blüht. Die Kastanienbäume sind in frischem herrlichem Laubschmuck, die Zier. Johannisbeeren haben gelbe Sternchen die Zierkirsche mit dem rötlichen Laub blüht auch schon, und der Faulbaum wird nächstens blühen. Ich habe heute von Luise Kautsky, die mich besucht hat, zum Abschied einen Haufen Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen gekriegt und sie selbst eingepflanzt! Zwei runde Klümbchen und eine gerade Linie dazwischen, immer abwechselnd Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen -, alles steht so fest; ich traue kaum meinen Augen, denn ich habe zum erstenmal im Leben gepflanzt, und alles ist gleich so gelungen. Grade zu Pfingsten werde ich so viel Blumen vor dem Fenster haben! Vögel gibt es jetzt hier eine Menge neue, jeden Tag lerne ich wieder einen kennen, den ich nie gesehen hatte. Ach, wissen Sie noch, damals im Botanischen mit Karl in der Frühe, als wir die Nachtigall hörten, da sahen wir auch einen so großen Baum, der noch ganz ohne Laub, aber massenhaft mit kleinen leuchtend weißen Blüten bedeckt war; wir zerbrachen uns den Kopf, was denn das sei, denn es war klar, daß es kein Obstbaum war, und die Blüten waren auch etwas seltsam. jetzt weiß ich! Das-ist eine Silberpappel, und diese Blüten sind keine Blüten, sondern junge Blättchen. Das erwachsene Blatt der Silberpappel ist nämlich nur unten weiß, oben dunkelgrün, die jungen aber sind noch beiderseits mit weißem Flaum bedeckt und leuchten in der Sonne wie weiße Blüten. Solch eine große Pappel steht hier in meinem Gärtlein, und auf ihr sitzen mit Vorliebe alle Singvögel. Damals, am gleichen Tage, wart Ihr beide bei mir abends, erinnern Sie sich noch? Es war so schön; wir lasen uns etwas vor, und um Mitternacht, als wir stehend Abschied nahmen - durch die offene Balkontür floß himmlische Luft mit Jasminduft herein - trug ich Euch noch jenes spanische Lied vor, das ich so gern habe.

«Gepriesen sei, durch wen die Welt entstund,
Wie trefflich schuf er sie nach allen Seiten,
Er schuf das Meer mit endlos tiefem Grund,
Er schuf die Schiffe, die hinübergleiten.
Er schuf das Paradies mit ewigem Licht,
Er schuf die Erde - und Dein Angesicht!...»

Ach, Sonitschka, wenn Sie das nicht in Wolfscher Musik [212] gehört haben, dann wissen Sie nicht, wieviel glühende Leidenschaft in diesen schlichten zwei Schlußworten liegt. Jetzt, während ich das schreibe, ist eine große Hummel ins Zimmer geflogen und füllt es mit tiefem Brummen. Wie schön das ist, welche tiefe Lebensfreude liegt in diesem satten Ton, der von Fleiß und Sommerhitze und Blumenduft vibriert.
Sonitschka, seien Sie heiter und schreiben Sie bald, bald, ich habe Sehnsucht. Ihre Rosa

An Sophie Liebknecht

Mitte November 1917

Meine geliebte Sonitschka, ich hoffe, bald Gelegenheit zu haben, Ihnen endlich wieder diesen Brief zu schicken, und greife mit Sehnsucht zur Feder. Wie lange mußte ich jetzt die liebe Gewohnheit entbehren, mit Ihnen wenigstens auf dem Papier zu plaudern! Aber es ging nicht, die wenigen Briefe, die ich schreiben durfte, mußte ich für Hans Diefenbach aufsparen, der ja darauf wartete. Nun ist es damit vorbei [213], meine zwei letzten Briefe waren schon an einen Toten geschrieben, einen habe ich schon zurückgekriegt. Unfaßbar bleibt mir die Tatsache immer noch. Doch reden wir lieber nicht darüber, ich mache solche Sachen am liebsten mit mir allein ab, und wenn man mich «schonend» auf die schlimme Nachricht vorbereiten und durch eigenes Wehklagen «trösten» will, wie (Klara) es tat, so irritiert mich das nur unsagbar. Daß mich meine nächsten Freunde immer noch so wenig kennen und so unterschätzen, daß sie nicht begreifen: Das beste und feinste in solchen Fällen ist, mir schleunigst, aber kurz und einfach die zwei Worte zu sagen: Er ist tot - das kränkt mich. Doch Schluß damit. Sonitschka, mein liebes Vöglein, wie oft denke ich an Sie; vielmehr sind Sie mir ständig gegenwärtig, und stets habe ich das Gefühl, Sie seien einsam und verweht wie ein frierender Sperling, und ich müßte um Sie sein, um Sie aufzuheitern und zu beleben. Wie schade um die Monate und Jahre, die jetzt vergehen und in denen wir zusammen so viel schöne Stunden verleben könnten, trotz all dem Schrecklichen, was in der Welt vorgeht. Wissen Sie, Sonjuscha, je länger das dauert und je mehr das Niederträchtige und Ungeheuerliche, das jeden Tag passiert, alle Grenzen und Maße übersteigt, um so ruhiger und fester werde ich innerlich, wie man gege . nüber einem Element, einem Buran [214], einer Wasserflut, einer Sonnenfinsternis, nicht sittliche Maßstäbe anwenden kann, sondern sie nur als etwas Gegebenes, als Gegenstand der Forschung und Erkenntnis betrachten muß. Gegen eine ganze Menschheit wüten und sich empören ist schließlich sinnlos. Dies sind offenbar die objektiv einzig, möglichen Wege der Geschichte, und man muß ihr folgen, ohne sich an der Hauptrichtung beirren zu lassen. Ich habe das Gefühl, daß dieser ganze moralische Schlamm, durch den wir waten, dieses große Irrenhaus, in dem wir leben, auf einmal, so von heute auf morgen wie durch einen Zauberstab ins Gegenteil umschlagen, in ungeheuer Großes und Heldenhaftes umschlagen kann, und - wenn der Krieg noch ein paar Jahre dauern wird - umschlagen muß. Dann werden genau dieselben Leute, die jetzt den Namen Mensch in unseren Augen schänden, im Heroismus mitrasen, und alles Heutige wird weggewischt und vertilgt und vergessen sein, wie wenn es nie gewesen wäre. Ich muß bei diesem Gedanken lachen, und zugleich im Innern regt sich bei mir der Schrei nach Vergeltung, nach Strafe: Wie, diese, alle Schurkereien sollen vergessen und unbestraft bleiben, und der heutige Auswurf der Menschheit soll morgen mit gehobenem Haupt, womöglich mit frischen Lorbeeren gekrönt, auf den Höhen der Menschheit wandeln und die höchsten Ideale verwirklichen helfen? Aber so ist Geschichte. Ich weiß ganz genau, daß die Abrechnung nach «Gerechtigkeit» niemals stattfindet und daß man schon so alles hinnehmen muß. Ich weiß noch, wie ich mit heißen Tränen in Zürich als Studentin einmal Professor Sibers «Otscherki perwobytnoi ekonomitscheskoi kultury» las, wo die systematische Verdrängung und Austilgung der Rothäute Amerikas durch die Europäer beschrieben ist, und ich ballte die Fäuste vor Verzweiflung, nicht nur, daß solches möglich war, sondern daß das alles nicht gerächt, bestraft, vergolten worden ist. Ich zitterte vor Schmerz, daß jene Spanier, jene Angloamerikaner längst gestorben und vermodert sind und nicht wiedererweckt werden können, damit an ihnen all die Martern, die sie den Indianern zugefügt, vorgenommen werden. Aber das sind kindische Auffassungen, und so werden auch die heutigen Sünden wider den Heiligen Geist und all die Niedertracht sich in dem Wust historischer unbeglichener Rechnungen verlieren, und bald werden alle wieder «ein einig Volk von Brüdern» sein. Das kam mir so recht zum Bewußtsein, als ich heute von dem Telegramm las, das die Wiener Sozialdemokraten der Petersburger Lenin-Regierung geschickt haben. Begeisterte Zustimmung und Glückwünsche! Die Adler, Pernerstorfer, Renner, Austerlitz - und die Russen, die ihr Herzblut vergießen! Aber so wird es eben kommen, man wird später gar nicht anders je gewesen sein wollen... Übrigens war es von Anfang der Welt wohl nicht anders. Lesen Sie mal «Les dieux ont soif» [215] von Anatole France. Ich halte das Werk für so groß hauptsächlich deshalb, weil es mit genialem Blick für das Allzumenschliche zeigt: Seht, aus solchen Jammergestalten und solcher alltäglichen Kleinlichkeit werden in entsprechenden Momenten der Geschichte die riesenhaftesten Ereignisse und die monumentalsten Gesten gemacht. Man muß alles im gesellschaftlichen Geschehen wie im Privatleben nehmen: ruhig, großzügig und mit einem milden Lächeln. Ich glaube fest daran, daß sich schließlich alles nach dem Kriege oder zum Schluß des Krieges zum Richtigen wendet, aber wir müssen offenbar erst durch eine Periode der schlimmsten, unmenschlichen Leiden waten.
Es ist zum Lachen und zum Weinen, daß ein so zartes Vöglein, das zum Sonnenschein und unbekümmertem Gesang geboren war, wie Sie, in eine der düstersten und grausamsten Perioden der Weltgeschichte vom Schicksal verschlagen ward. Aber wir werden jedenfalls Seite an Seite die Zeiten durchschwimmen, und es wird schon gehen. Apropos, meine letzten Worte wecken in mir eine andere Vorstellung, eine Tatsache, die ich Ihnen mitteilen möchte, weil sie mir so poetisch und so rührend vorkam. Ich las neulich in einem wissenschaftlichen Werk über den Vogelzug, der ja bis jetzt ein ziemlich rätselhaftes Phänomen darstellt, daß dabei beobachtet worden ist, wie verschiedene Arten, die sich sonst als Todfeinde befehden und auffressen, friedlich nebeneinander die große Reise südwärts übers Meer machen: Nach Ägypten kommen zum Winter gewaltige Scharen von Vögeln, die wie Wolken in der Höhe schwirren und den Himmel verdunkeln, und in diesen Scharen fliegen mitten unter Raubvögeln, Habichten, Adlern, Falken, Eulen, Tausende von kleinen Singvögeln, wie Lerchen, Goldhähnchen, Nachtigallen, ohne jede Angst mitten unter Raubvögeln, die ihnen sonst nachstellen. Auf der Reise scheint also stillschweigend eine trêve de dieu [216] zu herrschen; alle streben dem gemeinsamen Ziel zu und fallen halbtot vor Erschöpfung am Nil auf die Erde, um sich nach Arten und Landsmannschaften zu sondern. ja, noch mehr: Man hat beobachtet, daß auf dieser Reise «über den großen Teich» große Vögel viele kleine auf ihrem Rücken transportieren; so hat man Scharen von Kranichen vorüberschwirren sehen («Sieh da, sieh da, Timotheus!» [217]), auf deren Rücken winzige Singvögelchen lustig zwitscherten! Ist das nicht reizend? Wenn es also mal auch für uns heißt, in Sturm und Drang «über das große Meer» zu fliegen, dann nehmen wir die Sonitschka auf den Buckel, und sie wird uns dort unterwegs sorglos zwitschern...
Ich habe neulich in einer sonst geschmacklosen und kunterbunten Sammlung von Gedichten eins von Hugo von Hofmannsthal [218] entdeckt. Ich mag ihn sonst gar nicht, finde ihn gesucht, raffiniert, unklar, ich verstehe ihn einfach gar nicht. Dieses Gedicht aber gefiel mir sehr und hat auf mich einen starken poetischen Eindruck gemacht. Ich lege es Ihnen anbei, vielleicht macht es Ihnen auch Vergnügen. Ich bin jetzt tief in der Geologie. Sie wird Ihnen wohl als eine sehr trockene Wissenschaft vorkommen, das ist aber ein Irrtum. Ich lese sie mit fieberhaftem Interesse und leidenschaftlicher Befriedigung, sie erweitert kolossal den geistigen Horizont und verschafft eine so einheitliche, allumfassende Vorstellung von der Natur, wie keine Teilwissenschaft es vermag. Ich möchte Ihnen eine Menge davon erzählen, aber dazu müßten wir uns sprechen können, zusammen an einem Vormittag im Südender Feld schlendern oder einander in einer stillen Mondnacht ein paarmal gegenseitig nach Hause hin- und herbegleiten. Was lesen Sie? Wie steht's mit der «Lessing-Legende»? Ich will von Ihnen alles wissen! Schreiben Sie wenn es geht - sofort auf demselben Wege oder wenigstens auf dem offiziellen Wege, ohne diesen Brief zu erwähnen. Ich zähle auch schon im stillen die Wochen, bis ich Sie wieder hier sehen werde. Das wird doch wohl bald nach Neujahr sein, nicht wahr? Wie freue ich mich schon darauf! Sonjuscha, ich möchte Sie um ein Weihnachtsgeschenk bitten: ein Bild von Ihnen. Das wäre das Schönste, was Sie mir geben können.
Was schreibt Karl? Wann werden Sie ihn wiedersehen? Grüßen Sie ihn tausendmal von mir. Ich umarme Sie und drücke Ihnen fest die Hand, meine liebe, liebe Sonitschka! Schreiben Sie bald und viel! Ihre Rosa

 

An Sophie Liebknecht

Breslau, Mitte Dezember 1917

Jetzt ist es ein Jahr [219], daß Karl in Luckau sitzt. Ich habe in diesem Monat oft daran gedachtUnd genau vor einem Jahr waren Sie bei mir in Wronke, haben mir den schönen Weihnachtsbaum beschert... Heuer habe ich mir hier einen besorgen lassen, aber man brachte mir einen ganz schäbigen, mit fehlenden Ästen - kein Vergleich mit dem vorjährigen. Ich weiß nicht, wie ich darauf die acht Lichtlein anbringe, die ich erstanden habe. Es sind meine dritten Weihnachten im Kittchen, aber nehmen Sie's ja nicht tragisch. Ich bin so ruhig und heiter wie immer. Gestern lag ich lange wach - ich kann jetzt nie vor ein Uhr einschlafen, muß aber schon um zehn ins Bett, weil das Licht ausgelöscht wird - dann träume ich mir Verschiedenes im Dunkeln. Gestern dachte ich also: Wie merkwürdig das ist, daß ich ständig in einem freudigen Rausch lebe - ohne jeden besonderen Grund. So liege ich zum Beispiel hier in der dunklen Zelle auf einer steinharten Matratze, um mich im Hause herrscht die übliche Kirchhofsstille, man kommt sich vor wie im Grabe; vom Fenster her zeichnet sich auf der Decke der Reflex der Laterne, die vor dem Gefängnis die ganze Nacht brennt. Von Zeit zu Zeit hört man nur ganz dumpf das ferne Rattern eines vorbeigehenden Eisenbahnzuges oder ganz in der Nähe unter den Fenstern das Räuspern der Schildwache, die in ihren schweren Stiefeln ein paar Schritte langsam macht, um die steifen Beine zu vertreten. Der Sand knirscht so hoffnungslos unter diesen Schritten, daß die ganze Öde und Ausweglosigkeit des Daseins daraus klingt in die feuchte, dunkle Nacht. Da liege ich still, allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langeweile, Unfreiheit, des Winters - und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden Sonnenschein über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln dem Leben, wie wenn ich irgendein zauberhaftes Geheimnis wüßte, das alles Böse und Traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück wandelt. Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muß wieder lächeln - über mich selbst. Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst; die tiefe nächtliche Finsternis ist so schön und weich wie Sammet, wenn man nur richtig schaut; und in dem Knirschen des feuchten Sandes unter den langsamen schweren Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied vom Leben - wenn man nur richtig zu hören weiß. In solchen Augenblicken denke ich an Sie und möchte Ihnen so gern diesen Zauberschlüssel mitteilen, um immer und in allen Lagen das Schöne und Freudige des Lebens wahrzunehmen, damit Sie auch im Rausch leben und wie über eine bunte Wiese gehen. Ich denke ja nicht daran, Sie mit Asketentum, mit eingebildeten Freuden abzuspeisen. Ich gönne Ihnen alle reellen Sinnesfreuden, die Sie sich wünschen. Ich möchte Ihnen nur noch dazu meine unerschöpfliche innere Heiterkeit geben, damit ich um Sie ruhig bin, daß Sie in einem sternbestickten Mantel durchs Leben gehen, der Sie vor allem Kleinen, Trivialen und Beängstigenden schützt.
Sie haben im Steglitzer Park einen schönen Strauß aus schwarzen und rosigvioletten Beeren gepflückt. Für die schwarzen Beeren kommen in Betracht entweder Holunder seine Beeren hängen in schweren, dichten Trauben zwischen großen gefiederten Blattwedeln, sicher kennen Sie sie, oder, wahrscheinlicher, Liguster: schlanke, zierliche aufrechte Rispen von Beeren und schmale, längliche grüne Blättchen. Die rosigvioletten, unter kleinen Blättern versteckten Beeren können die der Zwergmispel sein; sie sind zwar eigentlich rot, aber in dieser späten Jahreszeit, ein bißchen schon überreif und angefault, erscheinen sie oft violettrötlich; die Blättchen sehen der Myrte ähnlich: klein, spitz am Ende, dunkelgrün und lederig oben, unten rauh.
Sonjuscha, kennen Sie Platens [220] «Verhängnisvolle Gabel»? Könnten Sie's mir schicken oder bringen? Karl hat einmal erwähnt, daß er sie zu Hause gelesen hat. Die Gedichte Georges sind schön; jetzt weiß ich, woher der Vers: «Und unterm Rauschen [221] rötlichen Getreides... » stammt, den Sie gewöhnlich hersagten, wenn wir im Felde spazierengingen. Können Sie mir Gelegentlich den «Neuen Amadis» [222] abschreiben? Ich liebe das Gedicht so sehr - natürlich dank Hugo Wolfs Lied - habe es aber nicht hier. Lesen Sie weiter die «Lessing-Legende»? Ich habe wieder zu Langes [223] «Geschichte des Materialismus» gegriffen, die mich stets anregt und erfrischt. Ich möchte so sehr, daß Sie sie mal lesen. Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt. Auf den Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen von Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und -hemden, oft mit Blutflecken..., die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz, mit großen, sanften schwarzen Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen... Die Soldaten, die den Wagen fuhren, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis sie begreifen lernten, daß sie den Krieg verloren hatten und daß für sie das Wort gilt «vae victis» [224] ... An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewohnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde. Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren. Die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstiels loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! «Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid!» antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein ... Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete... Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still, erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll ... Ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter - es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die schönen freien, saftiggrünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel, die man dort hörte, oder das melodische Rufen der Hirten. Und hier - diese fremde, schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen und - die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt ... Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumm und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. Derweil tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus; der Soldat aber steckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff leise einen Gassenhauer. Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei.
Schreiben Sie schnell, ich umarme Sie, Sonitschka. Ihre Rosa
Sonjuscha, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das Leben, und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd - trotz alledem. Fröhliche Weihnachten! Rosa

An Sophie Liebknecht

Breslau, 18. Oktober 1918
 

Liebste Sonitschka, ich schrieb Ihnen vorgestern. Bis heute habe ich noch keinen Bescheid auf mein Telegramm an den Reichskanzler [225], es kann vielleicht noch einige Tage dauern. Jedenfalls steht aber eins fest: Meine Stimmung ist schon derart, daß mir ein Besuch meiner Freunde unter Aufsicht zur Unmöglichkeit geworden ist. Ich ertrug alles ganz geduldig die Jahre hindurch und wäre unter anderen Umständen noch weitere Jahre ebenso geduldig geblieben. Nachdem aber der allgemeine Umschwung [226] in der Lage kam, gab es auch in meiner Psychologie einen Knick. Die Unterredungen unter Aufsicht, die Unmöglichkeit, darüber zu reden, was mich wirklich interessiert, sind mir schon so lästig, daß ich lieber auf jeden Besuch verzichte, bis wir uns als freie Menschen sehn. Lange kann es ja nicht mehr dauern. Wenn Dittmann [227] und Kurt Eisner [228] freigelassen sind, können sie mich nicht länger im Gefängnis halten, und auch Karl wird bald frei sein [229]. Warten wir also lieber auf das Wiedersehen in Berlin. Bis dahin tausend Grüße.
Stets Ihre Rosa