Der Weg der weiblichen Erotik

Wir haben die Linien verfolgt, auf denen sich in der Geschichtsspäre eine Verbindung mit der Persönlichkeit vollzogen hat. Was dabei von der psychosexuellen Entwicklung in drei Stufen oder Typen gesagt wurde, bezieht sich im Grunde nur auf den Mann. Welchen Weg die weibliche Entwicklung in Dingen der Erotik genommen hat, ist unbeantwortet geblieben.
Die Verknüpfung der Persönlichkeit mit der Sexualität bringt die individuelle Liebe hervor; auf dieser Entwicklungsstufe erscheint im Bewußtsein des Einzelnen eine sexuelle Beziehung nur durch die Person gerechtfertigt, also nur, wenn das sexuelle Verlangen von der Liebeshinneigung zu der begehrten Person begleitet wird. Nach der allgemein verbreiteten Vorstellung ist dieser Zustand bei dem weiblichen Geschlecht ein angeborener, konstitutioneller, während er bei dem männlichen gewöhnlich erst im Verlauf des sexuellen Erlebens und auch dann häufig nur unvollkommen eintritt. Daher sollte die weibliche Sittlichkeit auf einem angeborenen Gleichgewichtszustand beruhen; nicht aus einem Ringen mit dem widerspenstig Elementaren wie beim Manne sollte sie hervorgehen, sondern nach Analogie ästhetischer Vorzüge in der ursprünglichen Beschaffenheit als ein Werk und Geschenk der Natur beschlossen sein.
Wie so viele Forderungen an das weibliche Geschlecht, wenn man sie auf ihre realen Grundlagen hin prüft, deutet auch diese darauf, daß sie eine männliche Idolbildung ist, daß sie ihren Ursprung in einer Wunschgestalt hat, die sich die männliche Erotik schafft. Noch um einen Schritt weiter von der Beobachtung des Tatsächlichen entfernt sich jene Auffassung, nach welcher die Einheit des Körperlichen und Seelischen von jeher natürlicher Besitz des Weibes gewesen ist. Das sagt beispielsweise Emil Lucka in seinem Buch über »Die drei Stufen der Erotik«, und er folgert daraus, daß nur das Gefühl des Mannes eine Geschichte habe, nicht das der Frau: »sie ist die ewig Gleiche, er ist immer neu und immer problematisch, niemals vollendet, er fällt in Wirrnis und Sünde, so sie nicht irren kann, denn ihr Instinkt ist die Natur selbst - und kennt die Sünde nicht. Was der Mann ihr auferlegt hat, das hat sie schweigend übernommen...«* (* Der Essay »Sexuelle Lebensideale« mit den Ausführungen über die drei Typen der sexuellen Entwicklung ist in der Münchener Zeilschrift »Frauenzukunft« mehrere Jahre vor dem Lucka'schen Buche erschienen.
Allerdings - das Schweigen über sich selbst war während der ganzen Kulturgeschichte ein unverbrüchliches Gebot der Weiblichkeit. Aus vielerlei Gründen und wohlweislich, wie es die Abhängigkeit von Gnade und Ungnade, Beifall und Mißfallen eines Stärkeren eben mit sich bringt. Aber daß die weibliche Erotik keine Entwicklungsgeschichte habe, weil die Einheit von Seele und Sinnen, deren Ausdruck die persönlich orientierte Geschlechtsliebe ist, von Anbeginn dem weiblichen Geschlecht eigen war - diese Voraussetzung kann unmöglich aus der Beobachtung kulturgeschichtlicher Vorgänge stammen, in deren Verlauf das weibliche Empfinden, wenn auch nicht so deutlich sichtbar wie das männliche, unverkennbare Veränderungen erfahren hat.
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Die Entwicklung des geschlechtlichen Selbstgefühles als der Grundlage, auf der sich das Weib über seine Objektstellung im eigenen Bewußtsein allmählich erheben konnte, ist das bedeutsamste Kennzeichen, das die primitive Weiblichkeit und die differenzierte voneinander scheidet. Bei der Vieldeutigkeit der Worte ist es geboten, auch den Begriff des Primitiven näher zu umschreiben. Das Primitive im Sinne des Ursprünglichen, Naturhaften, Unberührten kann als Vorzug angesehen werden und steht nicht in Zusammenhang mit der Entwicklungsstufe des Einzelnen; hier aber ist das Primitive als Gegensatz zu einer höheren seelischen Stufe gemeint, als das Unentwickelte, das Zurückgebliebene und Mangelhafte.
Noch in der griechischen Kultur war diese Unterscheidung der Weiblichkeit durchaus nicht nach modernen Vorstellungen vollzogen. Trotz ihres bürgerlichen Vorranges stand die legitime Frau als Geschlechtswesen im Grunde nicht höher als die Sklavin; sie war bloßes Objekt ohne Persönlichkeitswert wie diese. Die Aufgabe der Fortpflanzung verlieh ihr zwar ein höheres Ansehen als der Sklavin, die nur Mittel der Lust war; wie wenig sie aber als Persönlichkeit geachtet wurde, erhellt schon daraus, daß ihr nicht einmal das Recht auf Erziehung der Kinder zukam. Persönlichkeitswert besaßen unter den griechischen Frauen nur die Hetären, denen nicht allein die Mittel der höheren Geistesbildung durch den freien Umgang mit ausgezeichneten Männern, sondern auch die Möglichkeiten, Geschlechtsgefährten nach eigener Wahl zu treffen, eingeräumt waren. Aber auch sie sind nicht Trägerinnen der seelischen Liebe, die ja noch bei Plato als eine in ihrer höchsten Form gleichgeschlechtliche Erscheinung geschildert wird.
Ein anderes Bild bietet schon die römische Kultur. Das eheliche Verhältnis, das sich in der Grabrede auf die Turia spiegelt, zeigt eine hohe persönliche Qualität der Frau, die in ihrer Hingebung an den Gatten Eigenschaften von einer die bloße Objektstellung weit überragenden Selbständigkeit entfaltet; und jener Austausch von Gedichten zwischen Braut und Bräutigam, der aus der römischen Literatur bekannt ist, verrät, daß ein persönliches Verhältnis durch Erhebung des weiblichen Teiles im Entstehen begriffen war - eine Tatsache, die in der Veränderung der rechtlichen Stellung gleichfalls Ausdruck fand.
Dennoch sind das nur Vorboten einer Entwicklung, die noch keineswegs als allgemeiner Zustand einer Mehrheit gelten kann. Um die Verschmelzung zwischen Persönlichkeit und Sexualität zu einer organischen zu machen, mußten erst andere Einflüsse wirksam werden, denen das weibliche Geschlecht wie das männliche unterworfen wurde. Das Christentum, dessen Werk in der abendländischen Kultur die religiöse Beglaubigung des Persönlichkeitsbewußtseins war, macht darin nicht den geringsten Unterschied zwischen Mann und Frau. Für die weiblichen Christen galten die gleichen Vorschriften wie für die männlichen in Ansehung der Sexualität; die asketische Auffassung räumte dem Mann als Subjekt keine Vorzugsstellung mehr ein. Und wenn sich auch die Entzweiung, die in den männlichen Christen hoher Geistigkeit zwischen Persönlichkeit und Sexualität wachsenden Umfang gewann, an dem weiblichen Geschlecht als solchem durch herabsetzende Urteile äußerte, so war doch die nächste Folge der christlichen Askese eine Art Emanzipation der Frau. Nach dieser Lebensnorm nicht mehr Besitzgegenstand des Mannes, nicht mehr bloßes Objekt, konnte sie den Eigenwert, den die religiöse Auffassung jeder menschlichen Seele zuerkannte, in ihr Selbstgefühl aufnehmen.
Auch die Ehe blieb davon nicht unberührt. Aber die innere seelische Einheit der Gatten, wie sie die christliche Ehe forderte, beruhte nicht auf der individuellen Liebesneigung, sondern auf der Wirkung des Sakramentes, der göttlichen Gnade, die den Geschlechtsverkehr rechtfertigte, reinigte, heiligte. Gerade dieser sakramentale Charakter der geschlechtlichen Hingebung in Gestalt der ehelichen Pflichtleistung scheint in dem psychosexuellen Entwicklungsprozeß des Weibes große Bedeutung gewonnen zu haben. Denn dadurch erfährt die Objektstellung eine wesentliche Veränderung. Die Frau ist zwar nicht die freie Herrin ihres Leibes - aber in der sakramentalen Ehe ist auch der Mann nicht der freie Herr seines Leibes. Beide werden durch den göttlichen Willen einem höheren Zwecke dienstbar gemacht. Noch ist von einer Anerkennung der individualisierten Persönlichkeit in den Geschlechtsbeziehungen keine Rede; und doch erreicht durch die grundlegende Idee der sakramentalen Ehe die Frau als Geschlechtswesen zuerst jene Stufe - die zweite ihrer Entwicklung -, von der aus sie als eigenberechtigte Persönlichkeit in das Reich der freien Liebeshingebung aufsteigen konnte.
Dazu kommt noch ein anderer Einfluß aus der christlichen Vorstellungswelt. Auch die weiblichen Christen hoher Geistigkeit wählten trotz der apostolischen Erlaubnis, durch Kinderzeugen selig zu werden, die asketische Enthaltung als den Weg zur Heiligkeit. Der christliche Himmel bevölkerte sich allgemach mit wunderbaren Seelen, deren irdische Leistung ohne Ansehung des Geschlechtes in der heldenmütigen Behauptung ihrer Persönlichkeit gegen alle inneren und äußeren Anfechtungen bestand. Denn der Glaube, der ihr höchstes geistiges Besitztum war, wie die Askese, aus der sie ihre höchste seelische Kraft schöpften, sie bilden den eigentlichen Inhalt der christlichen Persönlichkeit und zugleich den Boden, in dem das Persönlichkeitsbewußtsein als solches die Wurzeln seines Wachstums hatte.

Die Mutterschaft, die als Bewertung des Weibes im Altertum und noch unbeschränkter auf einer viel früheren Lebensstufe die Herrschaft besaß, ehe die Väterlichkeit ihre vollen Rechte im Bewußtsein des Mannes erreichte, trat nun ihren Rang an die Jungfräulichkeit ab. Was jene Männer des Zwiespalts, die in den ersten christlichen Jahrhunderten das geistige Leben führten, am Weibe haßten, war das Werkzeug der Verführung, der Fallstrick des Bösen; da sie das irdische Dasein nur als eine Verirrung betrachteten und das wahre Leben in das Jenseits verlegten, mußte ihnen die Mutterschaft als das Mittel, ein fluchwürdiges Dasein fortzusetzen, weniger ehrfurchtgebietend erscheinen als die Jungfräulichkeit, die eine unbefleckte Seele dem Himmel darbrachte. Aber mit dieser Wertsetzung steigerten sie unabsichtlich das Persönlichkeitsgefühl in der weiblichen Seele. Denn auch die Mutter ist ja nur Mittel zum Zweck; hingegen hat die jungfräuliche Heilige den gleichen Eigenwert wie der Mann kraft der gleichen Leistung. So vereinigen sich im Lauf der christlichen Epoche die verschiedensten Einflüsse, um das Bewußtsein der Frau von dem Zustand des bloßen Objektes in eine seelische Verfassung zu leiten, in der sie sich selbst den Zweck ihres Lebens setzen und durch ihre Handlungen verwirklichen, also Persönlichkeit werden konnte. Das aber ist die Voraussetzung für die freie Hingebung der Liebe, in der sich die nächste Entfaltung der Sexualität offenbaren sollte.
Die Vorstellung, Eigentum zu sein, die mit dem weiblichen Ehrgefühl so eng verwachsen ist, besteht freilich auf der zweiten Stufe weiter: allein sie gewinnt unter dem Einfluß neuer gedanklicher Bestimmungen eine andere Bedeutung. Man wird die weibliche Sexualität in ihrer Entwicklung nicht richtig verstehen können, wenn man den Einfluß der Eigentumsidee, noch mehr aber aber den der Rechtmäßigkeitsidee nicht berücksichtigt. Auf der primitiven Stufe geschieht die Bindung an einen bestimmten Mann unter der Herrschaft der Eigentumsidee, ohne daß die Persönlichkeit des Eigentümers im Vordergrund steht; auf der zweiten Stufe ergreift die Idee der Rechtmäßigkeit in Gestalt der göttlichen Sanktion durch das Sakrament die Vorherrschaft im Bewußtsein des Weibes. Noch immer heftet es sich nicht an die individuelle Person des Mannes, doch tritt der Eigentümer jetzt in ein höheres Verhältnis zur Frau, denn er ist durch das Sakrament beglaubigt, das die Gatten vor Gott gleichstellt und ihnen die gleichen Verpflichtungen auferlegt. Alles Bemühen der Kirche wie der Gesellschaft geht dahin, diese Auffassung zu einer organischen Fixierung im weiblichen Seelenleben zu machen.

Man kann die Wirkung, die durch die Vorstellung der Rechtmäßigkeit, der Legalität, bei einem bestimmten weiblichen Typus hervorgebracht wird, in Hinsicht auf dessen Verhalten gegenüber der Sexualität gar nicht hoch genug einschätzen. Bei diesem Typus gewinnen soziale und legale Vorschriften eine Macht, der sich das Empfinden völlig und mit Leichtigkeit unterordnet. Noch heute, da doch die persönliche Liebeswahl in den sittlichen Vorstellungen den ersten Rang erobert hat, kann man nicht selten beobachten, daß der Einfluß vernunftgemäßer Erwägungen bei der Wahl alsbald in die Gestalt der Liebe übergeht, und den passenden Bewerber, der die Zustimmung der Eltern besitzt, mit den entsprechenden Gefühlen umkleidet. Die überragende Bedeutung, welche die Einrichtung der Ehe in den Augen so vieler Frauen hat, ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, daß ihre Sexualität ohne die Vorstellung der Rechtmäßigkeit nicht ungehemmt wirksam werden, sich gegen die inneren Widerstände ihrer Natur nicht durchsetzen kann. Und sie sind der freien Liebe als Lebensform nicht zuletzt deshalb so feindlich gesinnt, weil ihr gerade jenes Motiv fehlt, das ihre Sexualität am stärksten beeinflußt. Die Eigentümlichkeit, daß im weiblichen Organismus somatische und psychische Einflüsse leicht zu einer unzerreißbaren Einheit verschmelzen, wirkt dabei mit: der Mann, dem sie ihre Jungfräulichkeit hingegeben hat, behält für ihr Empfinden andauernd eine bindende Gewalt. Sie fühlen sich mit ihm untrennbar verbunden, und so wollen sie dieses für ihr ganzes Leben entscheidende erste sexuelle Ereignis nur unter dem Schutz der Rechtmäßigkeit, die auch den Mann bindet, erleben. Das ungefähr meint Spitteler in »Imago«, wenn er von dem »Mysterium des Fleisches« spricht, das »die Frau zwingt, das Herz dem Leibe nachzuwerfen, mit allen Fibern dem Manne gehörend, der sie körperlich geprägt, der sie aus der Jungfrau zur Frau und Mutter umgewandelt hat

... O ihr Toren, die ihr euch darum kümmert,
ob euch jene liebt, die ihr zur Frau begehrt!
Herzhaft! Lache ihres Abscheues,
schleppe sie zum Altar;
denn die Ehe ist stärker als der Haß,
dauerhafter als die Liebe.«

Auf dieser zweiten Stufe steht der Typus der tugendhaften Frau älterer Prägung. Wie sehr er der vorbildliche, wenn auch nicht der in Wirklichkeit vorherrschende war, sieht man aus den Literaturwerken jener Zeit. Sogar in einem so leichtfertigen Milieu wie der Hof Ludwigs XIV. gilt er als der einzig moralische; die Princesse de Cleve in dem gleichnamigen Roman der Madame de Lafayette erscheint durch die Vorstellung der pflichtgemäßen Gebundenheit durch die Ehe so unauflösbar an ihren Gatten fixiert, daß sie selbst nach seinem Tode dem Manne, dem sie viele Jahre lang leidenschaftlich zugetan war, nicht anzugehören vermag.
Der gleiche Typus ist es, den noch Fichte im Auge hat, wenn er sagt: »Das zweite Geschlecht steht der Natureinrichtung nach um eine Stufe tiefer als das erste; es ist das Objekt einer Kraft des ersteren... Nun aber sollen beide als moralische Wesen gleich sein. Dies war nur dadurch möglich, daß im zweiten Geschlecht eine ganz neue, dem ersten völlig ermangelnde Stufe eingeschoben wurde. Diese Stufe ist die Gestalt, unter welcher ihm der Geschlechtstrieb erscheint, der dem Mann in seiner wahren Gestalt erscheint.« Kraft dieser Auffassung kommt Fichte zu dem Schluß, daß, da das Weib sich nicht der Geschlechtslust hingeben kann, um ihren eigenen Trieb zu befriedigen, der Trieb, den Mann zu befriedigen, es ist, der sie dazu bewegt. »Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen.«
Nicht als freie Hingebung an einen bestimmten Mann erscheint hier die weibliche Liebe, sondern als Trieb, einen Mann zu befriedigen. Ein solcher Trieb schließt zwar eine Wahl nach persönlicher Besonderheit nicht aus, doch liegt es in der Natur des Triebhaften, daß es sich mehr auf das Gattungsmäßige richtet. Versucht man, den Typus der Frau, den Fichte bei seiner Darstellung im Auge hat, herauszustellen, so findet man von dem Empfinden der freien Persönlichkeit in der Tat kaum eine Spur. Denn ihre weibliche Menschenwürde beruht nach Fichte darauf, daß sie sich ohne Vorbehalt an den Mann und in ihm verloren gebe, ein für allemal. »Nur mit ihm vereinigt, nur unter seinen Augen und in seinen Geschäften hat sie noch Leben und Tätigkeit. Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen.«
Mag auch hinter dieser Schilderung sich ein subjektives Idol verbergen, es besteht doch kein Zweifel, daß sie auf viele Frauen zutrifft, eben auf die Frauen der zweiten Stufe, in deren Erotik nicht so sehr die Person des Mannes, sondern der Mann als Träger ihres Lebensinhaltes im Vordergrund steht. Daß aber ein solches Verhältnis völliger Selbstentäußerung die stärksten Rechtsversicherungen zur Voraussetzung und somit die Legalität zur Grundlage haben muß, versteht sich von selbst. Was Fichte unabsichtlich erläutert, ist die Tatsache, daß die Frauen der zweiten Stufe ihr geschlechtliches Selbstgefühl, ihre Menschenwürde nur in der legalen Hingebung zu behaupten vermögen; ja noch mehr, daß die Legalität der Geschlechtsverbindung die Form ist, unter der allein der Trieb, den Mann zu befriedigen, sich im weiblichen Seelenleben ohne Verletzung der Menschenwürde entfalten kann. Denn ohne legale Bindung, wohin müßte dieser Trieb das Weib führen?
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Eine Einteilung und Abgrenzung nach seelischen Entwicklungsstufen ist nur mit Vorbehalten zu machen; sie läßt sich weder den Symptomen noch der Zeit nach streng durchführen. Gewiß reicht die persönliche Liebe, die Leistung einer höheren Differenzierung des Seelenlebens, weit zurück in die menschliche Geschichte. Ja, man könnte schon aus der Tierwelt Anhaltspunkte dafür beibringen, daß die Neigung zu individueller Bevorzugung mit dem Geschlechtstrieb zuweilen einhergeht - wie denn der Begriff der Entwicklung nur soweit Geltung hat, als er auf die Entfaltung gegebener Anlagen bezogen wird. Was in der menschlichen Gattung nicht als Anlage vorhanden ist, kann durch keinerlei erkenntnismäßige Bemühung in sie hineingetragen werden.
Auch die stufenweise Entwicklung der Erotik ist nur als Wachstum einer ursprünglichen menschlichen Anlage zu verstehen, Wachstum in die Breite durch Auftreten bei immer zahlreicheren Individuen, und Wachstum in die Höhe durch zunehmende Vollendung der seelischen Phänomene, die dabei mitwirken. Die erkenntnismäßige Veränderung, die sich in der Wertsetzung ausdrückt, begleitet den Entwicklungsprozeß in einer Wechselwirkung, indem sie als dessen Produkt auftritt und zugleich dem Empfinden des Einzelnen die Richtung weist.
Es ist zur Genüge bekannt, wie stark die Veränderung der Wertsetzung in Dingen der Erotik gegenwärtig die Frauen bewegt. Der Kampf gegen die alte Weiblichkeit, die noch ganz auf dem Boden der Rechtfertigung durch die Legalität steht, wird eben von Frauen geführt, die einzig in der Liebesneigung die sexuelle Rechtfertigung erblicken, also von den Frauen der dritten Stufe. Nur diese Wertsetzung und noch mehr ihre Erhebung zu einer sozialen Richtungslinie gehört der jüngsten Zeit an; hingegen als seelische Erscheinung tritt sie bei Einzelnen schon früh hervor. Aber so wenig die Tatsache, daß auch unter den Männern vergangener Epochen vereinzelt Beispiele seelischer Liebe vorkommen, als Einwand gegen die Entwicklung in der männlichen Erotik gedeutet werden kann, so verfehlt wäre es, in Ansehung ähnlicher Fälle unter den Frauen eine Entwicklung der weiblichen Erotik zu leugnen.
Vielleicht darf man in der Gestalt der Heloise, dieser großen Heldin der Geschlechtsliebe, die mit vollem Bewußtsein das Recht der freien Hingebung über den Wert der Legalität gesetzt hat, die erste Repräsentantin der dritten Stufe erblicken. Mit herrlicher Offenheit schreibt sie an Abälard:

»Nichts habe ich je bei Dir gesucht als Dich selbst;
Dich nur begehrt' ich, nicht das, was Dein war.
Kein Ehebündnis, keine Morgengabe habe ich erwartet...
Mag Dir der Name »Gattin« heiliger und ehrbarer scheinen,
mir klang es allezeit reizender, Deine »Geliebte« zu heißen...
Wollte mich heute der Kaiser, der Herr der Welt,
der Ehre seines Ehebettes würdigen und mich für immer
über die ganze Welt gebieten lassen:
für süßer und würdiger achtete ich's,
Deine Buhle zu heissen als seine Kaiserin.«

Das ist das typische weibliche Denken und Empfinden der dritten Stufe; Heloise, Schülerin und Geliebte eines Philosophen, besitzt die denkerischen Mittel, aber auch die persönliche Kraft, sich ihr Empfinden einzugestehen und ihm Worte zu verleihen. Schon bei ihr fehlt auch die Polemik gegen den weiblichen Typus der zweiten Stufe nicht: »Die muß sich ja selbst für eine feile Person halten, die einen Mann seines Geldes wegen einem Armen vorzieht und weniger den Mann selbst begehrt als das, was er hat. Gewiß, die Frau, die ein solches Gelüsten zur Ehe treibt, sollte man bezahlen, nicht lieben.«
Diese Worte sind um so staunenswürdiger, als sie zu einer Zeit ausgesprochen wurden, in der die sakramentale, unpersönliche Auffassung des Eheverhältnisses die allgemein herrschende war und der außereheliche Geschlechtsverkehr als eine schwere Versündigung gegen das göttliche Gebot galt - eine Auffassung, die Abälard selbst in einer ausführlichen Strafpredigt über die unbußfertig liebende Heloise ergießt.
Man kann in Abälards Äußerungen Anzeichen dafür finden, daß er, ganz abgesehen von dem physischen Unheil, das ihn gewaltsam von der Sexualität trennte, ein Mann des Zwiespalts, wenn auch nicht der metaphysischen Erotik, war. Sein Briefwechsel mit Heloise ist - allerdings auf der höchsten geistigen Ebene - das Dokument eines typischen Verhältnisses zwischen der männlichen Zwiespalts- und der weiblichen Einheitsseele. Obwohl dem Minnedienst zeitgenössisch, unterscheidet es sich wesentlich von dem zwischen dem ritterlichen Anbeter und seiner Dame, die als Herrin über das Maß der Nähe und Gunst entschied, während Heloise, überwältigt von dem Hingebungsbedürfnis ihrer Einheitserotik, sich dem stürmischen Werben ihres Geliebten unbedenklich ergab.
Im Jahre 1101 geboren, spricht sie zum ersten Male das Empfinden aus, das viele Jahrhunderte später die Grundlage einer höheren weiblichen Sittlichkeit, einer neuen Menschheitskultur werden sollte. Sie hat zugleich aus der Kraft einer alle Schranken überflügelnden Liebe das Schweigen gebrochen und sich trotz der Demut und Unterordnung, die zu ihrer erotischen Eigenart gehört, so weit über die weibliche Objektstellung erhoben, daß sie für ihr Subjekterleben Ausdruck zu finden vermochte.
Auf der Linie, auf der als erste große Erscheinung Heloise die Jahrhunderte überstrahlt, nähert sich die weibliche Erotik allmählich der seelischen Einheitlichkeit, freilich auf dem Umweg über Sitten, die den modernen Vorstellungen nicht annehmbar erscheinen. Die Einrichtung des Cicisbeates, des in das Alltägliche übersetzten und gleichzeitig mit vollen sexuellen Rechten ausgestatteten Minnedienstes, kann als eine solche Etappe gelten, zugleich als Übergang von der Konvenienzehe zur Liebesehe. In welchem Maße das weibliche Empfinden dazu beigetragen hat, ist nicht zu bestimmen; aber wenn es schon nicht die Macht besaß, die Ansprüche der Familie bei der Eheschließung zu brechen, so hat es sich doch in der Form durchgesetzt, welche die Ehe annahm. Der Cicisbeo ist der Nachfolger des ritterlichen Anbeters, mit dem Unterschied, daß er ganz öffentlich in die Rechte des Gatten eintritt, gewissermaßen als Liebesgatte neben den legalen, der ihn ohne Eifersucht neben sich duldet. Diese Sitte schildert Lady Montagne in ihren Briefen aus Wien zu Anfang des 18. Jahrhunderts: »Einen Liebhaber zu bekommen, stürzt hier nicht in die Gefahr, den guten Ruf zu verlieren, sondern er trägt dazu bei, ihn zu erhalten, da die Damen mehr nach dem Rang ihres Liebhabers geschätzt werden als nach dem ihres Gatten... Die Männer sind mit den Galanen ihrer Frauen so freundlich, als ob diese ihre Vertreter wären, denen man den mühsamsten Teil ihrer Pflichten aufhalst... Mit einem Wort, es ist für eine Dame unerläßlich, zwei Gatten zu haben - einen nominellen und einen aktiven.«
Wir wissen, daß nach der Auffassung des Minnezeitalters Liebe unter Ehegatten nicht stattfinden konnte. Etwas von dieser alten Auffassung wirkt unverkennbar in die Einrichtung des Cicisbeates herein; aber die Liebeswahl genießt schon, wenn auch noch nicht unter der Form der legalen Ehe, öffentliche Anerkennung. Noch ein Jahrhundert weiter, und die Anerkennung der Liebesehe ist vollzogen - zum mindesten in den Anschauungen der führenden Geister, welche die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zu einer Epoche der sittlichen Umwertung gemacht haben.
Jetzt tritt auch der Anteil der Frauen deutlich und unbezweifelbar hervor; denn nun erhalten wir aus den geistigen Schöpfungen von Frauen Aufschluß über das, was sich in der weiblichen Psyche begibt. Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts (in der erschöpfenden Darstellung von Dr. Christine Touaillon) legt Zeugnis für die Wandlung ab, die sich vollzieht. Schon Sophie Laroche, in ihren ersten Arbeiten noch ganz im Banne des strengen Legalitätsempfindens, nähert sich später der neuen Auffassung, die ihren entschiedenen Ausdruck in der nächsten Generation durch Auguste Fischer-Venturini findet. In ihren Werken wird der Standpunkt der dritten Stufe mit Leidenschaft, logischem Scharfsinn und schöpferischer Gestaltungskraft dargestellt. So antwortet in einem ihrer Romare die Heldin auf die Frage ihres Bewerbers, wem anders als dem Manne die Schönheit der Frau gehöre:

»Ich glaube, sie gehört ihr selbst - so wie ihr Herz und ihr Leben.
Wem sie es auch gebe, es ist ein freies Geschenk,
oder es gibt keine Freiheit mehr auf Erden.«

Es ist für die inneren Vorgänge, in denen sich die Entfaltung der weiblichen Erotik spiegelt, symptomatisch, daß die Frauen erst, als auch sie sich selbst als Subjekt empfinden, das Schweigen brechen und Zeugenschaft für ihr Wünschen und Wollen in der Liebe ablegen. Das kann aus tieferen Gründen erst auf der dritten Stufe geschehen. Denn nur die Liebe auf dieser Stufe gewährt auch dem weiblichen Teil die Möglichkeit, sich als Subjekt zu empfinden; solange das Weib bloßes Objekt des Mannes ist und sich als solches im eigenen Bewußtsein findet, besitzt es keine Sprache.
Was in dieser Erotik den höchsten ideellen Rang besitzt, ist jener »Tausch der Seelen«, bei dem jeder Rest von Fremdheit in der Wärme der seelischen Gemeinschaft schmilzt, und der Wille, einander in der innigsten und vollständigsten Nähe zu besitzen, bis zum tiefsten Grunde in die Seele des geliebten Wesens einzudringen, um sich selbst in rückhaltloser Hingegebenheit darzubieten, zur richtunggebenden Macht des Erlebens wird.

»Nie werde ich gegen Sie auf meiner Hut sein,
nie etwas argwöhnen,«

schreibt Julie de Lespinasse ihrem Geliebten;

»ich werde Ihnen keine Regung, keine Bewegung meines Herzens verbergen,
und nie erröten, vor Ihnen schwach und voll Widerspruch zu erscheinen.«

Und die Zumutung, daß irgendein anderes Motiv die Verbindung zwischen ihr und ihm herstellen könnte, Dankbarkeit oder Galanterie oder selbst Moralität weist sie mit den Worten zurück:

»Alles das ist abscheulich und nur geeignet, eine empfindsame Seele
zu schänden und zu demütigen.«

In dieser Liebe ist jeder Subjekt und Objekt zugleich, die Frau wie der Mann. Die Eigentumsidee wie die der Rechtmäßigkeit tritt vor der Idee der freien Hingebung zurück; kein anderes Motiv als die gegenseitige Liebe vermag das Bündnis zu rechtfertigen. Eine Formel für diese Wertsetzung der dritten Stufe gibt Ellen Key, wenn sie sagt: »Die Liebe ist sittlich auch ohne die Ehe, aber die Ehe ist unsittlich ohne die Liebe.«
Es wäre ungerecht, diese Formel retrospektiv auf die zweite Stufe der weiblichen Erotik anzuwenden und die ganze Epoche, in der die ehrbare Frau die Rechtfertigung des Geschlechtsverhältnisses in der Legalität empfand, nach dem Maßstab der Einheitsseele zu beurteilen. Hätte das weibliche Empfinden in Dingen der Sexualität tatsächlich keine Entwicklungsgeschichte, dann wären die Zustände der Vergangenheit gar nicht zu verstehen, ja selbst jene der Gegenwart nicht.