Das Urteil

Am 5. Juli 1456 wurden dem Gericht von den Vertretern der Klägerseite sämtliche Akten vorgelegt. Am 2. Juli erhielt das Gericht weitere Gutachten, um die, wie üblich, namhafte Doktoren ersucht worden waren. Jean Brihal faßte dieses Material zu einer Recollectio zusammen, deren zweiter Teil, der unmittelbar die Form des Prozesses betrifft, zwölf Kapitel enthält:

  • Erstens, über die Unzuständigkeit der Richter, hauptsächlich des Bischofs von Beauvais.
  • Zweitens, über seine Strenge und Maßlosigkeit.
  • Drittens, über die Beschwerlichkeit des Gefängnisses und der Wächter.
  • Viertens, über die Ablehnung des Richters und die zulängliche Anrufung des Papstes.
  • Fünftens, über den Stellvertretenden Inquisitor, sein Zaudern und seine Furcht.
  • Sechstens, über die verfälschte Zusammenstellung der Artikel.
  • Siebtens, über die Beschaffenheit des Widerrufs und der Abschwörung.
  • Achtens, über den angeblichen Rückfall.
  • Neuntens, über die schwierigen Verhöre, denen Jeanne unterzogen wurde.
  • Zehntens über die Beisitzer, Verteidiger, Ermahner und Prediger, die mit dem Prozeß befaßt waren.
  • Elftens, über jene, die in der Sache beratschlagt haben, und ihre Beschlüsse.
  • Zwölftens, über die Beschaffenheit des Urteilsspruchs.

(...) Infolge des Vorstehenden kam man zu dem Schluß, daß der Prozeß in der Sache wie in der Form, desgleichen das Urteil gegen jene auserwählte Pucelle, eine offenkundige Ungerechtigkeit enthalten ...[15]

Schließlich, am VII. Tag des Montags Juli, erschienen am Morgen zur Urteilsverkündung im Palast des hochehrwürdigen Vaters in Christo, des Herrn Erzbischofs von Rouen, dem Ort, an dem das Gericht bei derartigen Verfahren zu tagen pflegt, vor Hochehrwürden und den ehrwürdigen Vätern, Jean, durch Gottes Barmherzigkeit Erzbischof und Herzog von Reims, Guillaume aus Paris und Richard aus Coutance, Bischöfe, Jean Béhal, Professor der heiligen Theologie, einer der Inquisitoren der Häresie im Königreich Frankreich, die Richter, Beauftragten und Kommissare etc., es erschienen außerdem jean d'Arc, als einer der Hauptkläger ... ; Magister Guillaume Prevosteau, Bevollmächtigter der ehrenwerten Personen Isabeau und Pierre d'Arc, Kläger; sowie Magister Simon Chapitault, in dieser Sache ernannter Promotor, ausgestattet mit dem Rat des gelehrten und besonnenen Magisters Pierre Maugier, Doktor des Kirchenrechts, in dieser Sache bestellter Advokat. Und ein jeder von ihnen legte tatsächlich und schriftlich einen früher an ihn ergangenen Auftrag vor gegen den ehrwürdigen Vater in Christo, den derzeitigen Bischof von Beauvais, den Stellvertretenden Inquisitor in der Diözese Beauvais, den Promotor für Strafsachen am Gerichtshof von Beauvais, und alle übrigen, die insgesamt oder für sich allein daran interessiert waren, das endgültige Urteil in dieser Sache zu hören ...

(...) Und das endgültige Urteil wurde verkündet durch den Mund des Herrn Erzbischofs, in der Art und Form, wie sie in unten beigeftigtem Schriftstück enthalten sind. Nach dem Wortlaut dieses Schriftstücks wurde gesagt und verkündet, daß mehrere Artikel, beginnend: Quaedamfaemina, die früher dem genannten Bischof von Beauvais und dem Stellvertretenden Inquisitor der Diözese von Beauvais vorgelegt worden waren, als falsch und lügnerisch zerrissen werden sollten. Und sie wurden zerrissen.[16]

Was außerdem die beiden in dem Prozeß enthaltenen vorgeblichen Urteile betrifft, die die Richter Fall und Rückfall nennen, in Anbetracht dessen, daß Johanna mehrfach verlangt hat, vor den Papst geführt zu werden, um ihm ihre Worte und Taten zu unterbreiten, daß sie die Abschwörung, die man ihr in Gegenwart des Henkers und des Feuers entriß, nicht verstehen konnte, daß die Verbrechen, die ihr zur Last gelegt worden sind, im Laufe des Prozesses nicht erschlossen werden konnten, spricht das Gericht, das allein Gott vor Augen hat, das endgültige Urteil:
Wir sprechen, verkünden, verfügen und erklären, daß die genannten Prozesse und Urteile, befleckt von Arglist, Verleumdung, Unrecht, Widerspruch, ein offenkundiger Tatsachen- und Rechtsirrtum, mitsamt der erwähnten Abschwörung, den Vollziehungen und allen Folgen, null, ungültig, unwirksam und nichtig waren, sind und sein werden. Dessenungeachtet, soweit es nötig und verniinftig erscheint, kassieren, tilgen und annullieren wir sie und entheben sie jeder Kraft; wir erklären, daß besagte Jeanne, deren Verteidiger und Eltern bei Gelegenheit des Vorgenannten keinerlei Schimpf noch Makel auf sich gezogen haben; daß sie entlastet und gereinigt werden sollen, und wir waschen sie, soweit es nötig ist, völlig rein. Wir verfügen, daß die Ausführung oder feierliche Bekanntgabe unseres Urteils unverzüglich an zwei Orten dieser Stadt vorgenommen wird: die eine auf dem Platz von Saint-Ouen, nach vorausgegangener Prozession und in Verbindung mit einer allgemeinen Predigt, die andere morgen auf dem Altmarkt, das heißt an der Stelle, wo besagte jeanne auf einem grausamen und schrecklichen Scheiterhaufen erstickt wurde; gleichzeitig soll eine feierliche Predigt gehalten und ein ehrenvolles Kreuz errichtet werden, um das Gedenken an sie zu verewigen und mit Gebeten ihr und der anderen Verstorbenen Heil zu erflehen. Die weitere Ausf'ührung, Verkündigung und zu dauerndem Gedenken dienende Bekanntmachung unseres Urteils in den Städten und bedeutenden Orten dieses Königreichs, soweit wir sie als wünschenswert erachten, und was sonst noch zu tun bleibt, behalten wir unserer begründeten Verfügung vor.[17] (...)

Offenbar fand dieses Urteil kaum Widerhall. Außer in Orléans, wo am 21. Juli vom Bischof von Coutance und dem Inquisitor eine Prozession angeordnet wurde. Tatsächlich überraschte es niemanden: Johanna war im voraus rehabilitiert, so wie sie im voraus verurteilt worden war; sobald das Verfahren begonnen hatte, konnte es keinen anderen Ausgang nehmen. Zudem war das sehr trockene Urteil - Jacques Le Goff weist zu Recht darauf hin - >rein negativ<. Es entsprach der eingereichten Klage: um Johanna und ihre Familie von dem >Schimpf<, dem >Makel< reinzuwaschen, beschränkte es sich darauf, eine Verurteilung für >null und nichtig< zu erklären; es bekräftigte, daß die Pucelle nicht war, wie man wollte, daß sie sei; aber es versuchte nicht, deutlich zu machen, was sie wirklich gewesen war. Es vermied sorgfältig, die Begeisterung wiederzubeleben, die 1429 Menschenmengen aus den Städten und Ortschaften der Jungfrau entgegengetrieben hatte, Menschen, die ihre Hände, ihre Füße, ihre Ringe küssen, ein kleines Stück aus ihrem Gewand, ihrer Fahne reißen wollten und sie um Wunder baten; noch sorgfältiger vermied es, alle diese Leute, bis hin zu jenen Soldaten, die Tag und Nacht um sie gewesen waren, in ihrem Glauben zu bestärken, die alle - in diesem Punkt lassen die Aussagen des Prozesses keinen Zweifel - von Johannas >Heiligkeit< überzeugt sind, die in ihren Augen zur Genüge erwiesen ist durch ihre Gabe der Weissagung und ihre Wunderkräfte. Die Inquisitoren von 1456 hüteten sich, als sie das Urteil verkündeten, die >natürlichen Ursachen< von denen zu unterscheiden, die nicht natürlich erschienen. Dem französischen Hof, nun, da die Ehre des Königs Karl VII. gerettet und seine Macht wiederhergestellt war, lag in keiner Weise daran. Und der Kirche noch weniger, die, nicht ohne Grund, den Erleuchteten und allen Volksaufwieglern mißtraute. Die Aufgabe, die Jean Brihal zugewiesen wurde, war also von Anfang an eng begrenzt. In befohlenem Dienst, wie einst Pierre Cauchon, erfüllte er sie indes nicht ohne Mühe. Wahrscheinlich freudiger als Pierre Cauchon die seine, denn es ist weniger bedrückend >freizusprechen< als zu verbrennen. Aber nicht einfacher. Denn Jean Bréhal hatte zuerst die Unschlüssigkeit des Heiligen Stuhls bezwingen müssen: mühsam überwand man gerade die schwere Krise, die das Schisma verursacht hatte; es war nicht der geeignete Moment, den König von England zu erzürnen, auch nicht die Universität von Paris, die vielleicht die schwerste Verantwortung trug und sich der päpstlichen Autorität gegenüber nicht so gehorsam erwies; in Beauvais einen guten Bischof, einen guten Glaubensinquisitor, einen guten Promotor in Strafsachen zu beunruhigen, die, von ihren Kollegen unterstützt, wenig darauf bedacht waren, eine alte Affäre wieder auflodern zu sehen, die sie persönlich nicht betraf; vor allem war es nicht der geeignete Moment, gegen Abtrünnigkeit und Ungehorsam gefällte Urteile zu revidieren und Kontroversen bezüglich der Autorität der streitbaren Kirche neu zu entfachen. Als endlich das Einverständnis vorlag und der zweite Prozeß begann, war es nicht leicht gewesen, im ersten >offenkundige Tatsachen- und Rechtsirrtümer< zu entdecken.

Tasachenirrtümer? Als die Richter 1431 Johanna des >Schismas, der Abgötterei, der Teufelsbeschwörung< für schuldig erklärten, hatten sie den Angriff höchst geschickt in die beiden Richtungen gelenkt, denen die Inquisition damals hauptsächlich folgte. Denn in jener Entwicklungsphase des religiösen Phänomens erschienen zwei Arten der Abweichung bedrohlicher als jede andere. Die Bettelbrüder hatten die Partie gewonnen. Ihrer Hartnäckigkeit, zwei Jahrhunderten gründlicher Arbeit zunächst in den Städten, dann auf dem Land, vielen in der Sprache der einfachen Leute gehaltenen Predigten, die ihrer Weltsicht, ihrer Art zufühlen und zu denken angepaßt waren, den im Beichtstuhl geflüsterten Ratschlägen, einer wuchernden Bilderwelt, die das Echo jener Worte fortsetzte, war es am Ende gelungen, das Christentum zu einer Volksreligion zu machen. Aber gerade von diesem Erfolg leiteten sich zwei Gefahren her.
Die Massen waren nicht erobert worden, ohne daß das Christentum sich wandelte. Als erstes, indem es sich dem Einfluß des Klerus entzog. Denn die Predigt der Bettelbrüder hatte schließlich die starken Gemeindestrukturen untergraben, welche die römische Kirche seit dem 12. Jahrhundert zu festigen sich bemüht hatte, damit das Volk der Gläubigen, eingeteilt und kontrolliert, noch unwissend undpassiv, auf dem rechten Weg gehalten werden konnte. Und der Aiß des Großen Schismas wäre ohne die Fortschritte dieser schleichenden Korrosion der Fundamente der Überwachung vielleicht nicht erfolgt. 1431 war es wichtiger denn je, diese Rahmen wiederherzustellen, ihr Gerüst zu festigen, also die Randgruppen wieder einzugliedern, all jene, die ohne Priester auskamen und sich unmittelbar an Gott wandten. Die beunruhigendsten Ketzerführer, Wyclif, Jan Hus, hatten den Wert und die Funktion des Klerus in Frage gestellt. Es blieben, virulent, alle Anhänger der libertären Sekten, Begarden, Brüder des Freien Geistes, Beginen. Zwar war die Kirche gezwungen, der >modernen< Frömmigkeit einen Platz einzuräumen; aber sie gedachte, diesen Platz genau einzugrenzen und innerhalb einer strengen Ordnung einzuschließen, um die unabhängigen Kräfte zu bändigen. Argwohn lastete also auf allen Spiritualen und jenen, die sich gegen die Unterwerfung sträubten. In einer Kirche, die im Begriff war, sich zu erholen, war die Häresie in erster Linie Rebellion. Und Johanna war rebellisch. Die Richter von 1456 mußten folglich die Protokolle der Verhöre sorgfältig prüfen, die Zeugen geschickt befragen, um behaupten zu können, daß die Pucelle sich in ihrer Kindheit den Priestern unterworfen und sich bereit gezeigt hatte, auf die Dekrete der streitbaren Kirche zu vertrauen. Um sie - ohne daran zu glauben - von der Anklage des >Schismas< freizusprechen.
Andererseits hatte das Christentum, vom Laienvolk überflutet, Formen der Frömmigkeit aufnehmen und eingliedern müssen, in dem Versuch, sie mit ihrem Lehrgebäude zu versöhnen, Formen, die Herzensergießungen mehr Raum gaben als der Vernunft. Damals hatte sich ein großer Wandel vollzogen. Jene Mauer zwischen der Religion der Doktoren und der der einfachen Leute, welche die Rationalisierung des Dogmas, die im 13. Jahrhundert auf den höheren Ebenen des kirchlichen Apparats betrieben wurde, noch erhöht hatte, begann rissig zu werden. Zur Zeit Johannas fuhr die Universität von Paris zwar fort, an der Logik und den Abstraktionen des Vokabulars herumzutüfteln, aber diese riesige dialektische Maschinerie lief leer, seit über einem Jahrhundert verebbten der kritische Geist, die intellektuelle Strenge unter den Doktoren, und zwar um so rascher, als diese ihre Aufmerksamkeit auf die Erfordernisse einer Volksseelsorge lenkten. Die Abwandlungen, die man in den Themen und Verfahren der sakralen Kunst erkennt, liefern den schlagenden Beweis dafür - aber zum Beispiel auch die Position eines Jean Gerson. Dieses Abebben des Rationalen, zusammen mit den pädagogischen Erfolgen der Bettelbrüder, näherte das wissenschaftliche Denken einem >wilderen< Denken an. Gewiß blieben die kulturellen Ebenen deutlich geschieden: man braucht nur die beiden Berichte von Johannas Tod noch einmal zu lesen, den das Tagebuch des Bürgers von Paris mitteilt, um den Abstand zu ermessen zwischen dem, was die Gebildeten wahrnahmen, und dem, was man den Massen vorsetzte. Aber die Trennwände wurden immer durchlässiger, und über die Fortschritte dieser Osmose liefern die Akten der beiden Prozesse ein klares Zeugnis. Ihr Hauptinteresse besteht darin, daß sie es uns ermöglichen, zum erstenmal das Volk zu hören. Es spricht gut. Und seine Rede unterscheidet sich nicht so stark von der der Gelehrten, als man hätte glauben können.
Natürlich sind die Wörter nicht dieselben oder haben nicht immer denselben Sinn. Man merkt, daß Johanna manchmal nicht versteht, was ihre Richter zu ihr sagen, und daß es Zeit braucht, es ihr zu erklären. Doch was die Anordnung der Vokabeln, die logischen Mechanismen betrifft - sind sie wirklich verschieden? Zweifellos ist es möglich und die Analyse der hier vorgelegten Dokumente erlaubt es -, unterschiedliche Stufen zu erkennen. Die Sprache der Bauern von Domrémy - sehr klar aber waren sie nicht in jenen Gegenden Ostfrankreichs gebildeter, weniger bäuerisch als anderswo? - ist weniger verworren als die der Notare. Während die Höflinge und Kriegsleute, der Herzog von Alencon, Jean d'Aulon, ungefähr wie die Bettelbrüder sprechen, und die >Magister<, die wirklich Studierten, Jean Beaupère oder Thomas de Courcelles, ihre Beweise weit strenger führen. Doch kann man letztlich nicht sehen, daß Johanna und alle Laien, die aussagen, ihre Gedanken genauso entwickeln wie die Universitätsangehörigen, sobald diese ihr schlechtes Latein ablegen, das ihre Rede verhüllt, die Rhetorik der Homelien, alle Schnörkel und die syllogistische Spitzfindigkeit fahrenlassen?
Auch was den Inhalt dieser Rede, das heißt im wesentlichen die religiösen Vorstellungen angeht, ist der Graben nicht gar so lief. Die Hellsicht des Volkes ist beeindruckend. Gewiß, der Anteil der Bilder tritt sehr stark hervor, aber er ist geordnet, diszipliniert, durch alle verbalen oder bildlichen Formen gezügelt, welche die aktiven Mannschaften der Kirche verbreiteten. Johanna sagt es deutlich: die Erzengel und die Heiligen nahmen in ihren Augen die Gestalt an, die sie auf den Gemälden der Altartafeln haben, und es sind die Worte der Predigten, die ihr, wenn sie auf schwierige Fragen antworten muß, spontan über die Lippen kommen. Die Knaben und Mädchen ihres Dorfs achten die Rituale der Vorväter, doch wie viele von ihnen glaubten an die Feen, wenn der Pfarrer an einem bestimmten Datum Zu dem Frauenbaum ging, um unter ihm das johannesevangelium zu lesen, und die Zeit kam, Kränze dort aufzuhängen? Umgekehrt hat das Imaginäre in den Köpfen der Gelehrten an Boden gewonnen. Man hört noch, daß sich beim Verurteilungsprozeß die Bettelbrüder auf den heiligen Thomas von Aquin berufen. Aber die Aussagen eines Martin Ladvenu oder eines Isembard de la Pierre enthüllen, daß für sie die wahre, lebendige, heilsame Frömmigkeit, die der Zuhörer, denen sie predigen, aber auch ihre eigene, aus der Hingabe an das Affektive schöpft. Satan, die Feen, die Hexenkünste haben für die Richter, 1456 wie 1431, nicht weniger Realität als für Johanna; alles deutet darauf hin, daß sie für sie eher noch mehr Realität besitzen. Eine Zeitlang im Klerus zurückgedrängt durch die Klarheit der Vernunft, taucht mit einemmal die Angst vor dem Dunkel, dem Unreinen, dem Bösen wieder auf. Und genau dies überzeugt die Inquisitoren davon, daß ihre erste Aufgabe darin besteht, die Spreu vom Weizen zu trennen und dadurch unter den Gesten und den Wörtern die eine Verbindung zum Übernatürlichen herstellen, die Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Unerlaubten zu ziehen, das heißt zu entscheiden, was in den Bereichen des Irrationalen weiß oder schwarz, engelhaft oder teuflisch ist, und diese Entscheidung rigoros durchzusetzen. Also diejenigen aufzuspüren und notfalls durch das reinigende Feuer zu vernichten, die diese Grenze anfechten und sich jenseits ihrer niederzulassen scheinen. Die Raster der Verhöre, die in den Anfängen der Inquisition allmählich erarbeitet wurden, müssen von nun an hauptsächlich diesem Zweck dienen. Ungehorsam, Häresie ist Hexerei geworden. Götzendienst, Teufelsbeschwörung: das war also der zweite Anklagepunkt im endgültigen Urteil gegen Johanna gewesen. Im Grunde war dieser Klagerartikel weniger gesichert als der erste. Der Pucelle kamen >Offenbarungen< zugute, sie war erleuchtet. Aber man konnte sie nicht mit Catherine de La Rochelle gleichstellen, nicht einmal mit einem Bruder Richard und so vielen anderen Fanatikern der Volkspredigt. Allem Augenschein nach war sie weder eine Irrsinnige noch eine Simulantin, und sie schien nicht unbedingt vom Dämon besessen zu sein. Wenn sie zur Heiligen Jungfrau betete, damit ein totgeborenes Kind einen Augenblick zum Leben erwache, damit man es taufen, dem Vorhimmel entreißen und ins Paradies führen konnte, worin unterschied sich Johanna von jenen flehenden jungen Müttern, die in den Betkapellen Unserer lieben Frau auf den Knien lagen? Besessen war Johanna zweifellos für die Engländer, die vor ihrer Fahne die Flucht ergriffen. Doch in Poitiers hatten die Doktoren, die sie prüften, sie nicht als solche erkannt; die Richter von 1431 sahen sich in der Mehrzahl gezwungen, vor ihrem Gewisssen einzuräumen, daß sie es nicht war. Während die Richter von 1456 vielleicht nicht alle völlig vom Gegenteil überzeugt waren. Was ihr vorsichtiges Schweigen über diesen Punkt erklärt sowie die Tatsache, daß sie sich zur Aufhebung des ersten Urteils auf die >Rechtsirrtümer< stützten. Diese ließen sich nicht leicht ausfindig machen. Der Verurteilungsprozeß war von Anfang an von den Absichten der Engländer verfälscht worden. Sie kamen sehr deutlich in dem Erlaß König Heinrichs zum Ausdruck: Johanna sei auf jeden Fall zu beseitigen. Es galt, um jeden Preis die Panik zu bannen, die bei ihrem Anblick die besten Truppen in die Flucht schlug. Vor allem aber galt es, die Segnungen der Krönung aufzuheben, das heißt alle Welt davon zu überzeugen, daß die magische Kraft, die die Pucelle offensichtlich besaß, nicht vom lieben Gott kam, sondern vom Teufel. Dazu gab es nur ein einziges Mittel: die militärische und politische Angelegenheit in eine Glaubensangelegenheit zu verwandeln. In unserer Zeit kennen wir ähnliche Verschiebungen zur Genüge. Die bedrohte Macht stellt einen hervorstechenden Gegner vor ein Tribunal, das kein Ausnahmegericht ist, sondern im Gegenteil völlige Ordnungsmäßigkeit zur Schau stellt; hier muß der Angeklagte mit allen Mitteln zum öffentlichen Geständnis gebracht werden; es folgt die rasche Hinrichtung. Im Jahr 1431 bildete das Inquisitionsgericht hierfür das wirksamste Instrument. Seit den großen häretischen Ausbrüchen des 13. Jahrhunderts waren seine Prozeduren normiert, seine Techniken erprobt worden, gehandhabt von einem sachkundigen Personal, das überdies von der Rechtmäßigkeit und Dringlichkeit seiner Aufgaben überzeugt war. Ernannt, um die Mehrheit vor der Verdammnis zu retten, machten sich diese Männer mit Feuereifer daran, jeden Keim von Verderbtheit zu vernichten. Diejenigen, die Pierre Cauchon zur Hand gingen, hatten Angst vor der Soldateska, die sie umgab; manche von ihnen waren von großer Unterwürfigkeit, andere durch die Ausübung ihres Amtes vergiftet: sie sahen das Böse überall. Aber alle meinten ihre Aufgabe ordnungsgemäß zu erledigen. Diejenigen, die sie lenkten, waren sehr darauf bedacht, keinen Formfehler zu begehen, der das Urteil später anzufechten erlauben würde. Daher der Nachdruck, mit dem sie Johanna jene Ratgeber vorschlugen, die man Gefangenen von einfacher Auffassungsgabe zur Seite zu stellen pflegte, und ihr Eifer, sie immer wieder >liebevoll< zu ermahnen. Aber jeder von ihnen war überzeugt, daß zur Vertreibung der Mächte des Bösen alle Mittel recht seien. Eine Überlegung, die uns ebenfalls vertraut geworden ist, rechtfertigte es - da der Einsatz in diesem Kampf zwischen Licht und Finsternis so hoch war -, gegenüber einem listenreichen, ungreifbaren, hinterhältigen Feind, der auf jeden Fall schändlich war, mit Denunziation, Drohungen, Tücke und Folter zu arbeiten.
Johannas Richter verwendeten sie nicht alle. In ihrer großen Mehrheit verzichteten sie auf die körperliche Folter und begnügten sich damit, im richtigen Augenblick der Angeklagten die Werkzeuge vor Augen zu führen. Aber sie machten von allem Gebrauch, was geeignet war, ihr Vertrauen und ihre Kraft zu erschüttern, die in den ersten Tagen des Verhörs trotz der langen Haft ungebrochen waren und in der Tat von Tag zu Tag nachließen, um schließlich zusammenzubrechen. Jene andere Qual - die Verweigerung der Sakramente, die strenge Haft, die Einsamkeit, die verdorbene Nahrung, die Pressionen der Wachmannschaften, die falschen Stimmen, die falschen Freunde, die Sophistereien, das Knäuel schwieriger Fragen, die ihr von überall gleichzeitig entgegengeschleudert wurden - führte nach und nach dazu, diesem selbstsicheren Mädchen alles zu entreißen, was es nicht sagen wollte, und führte es, erschöpft, auf den Friedhof von Saint-Ouen zum Geständnis. Das Geständnis reichte nicht aus. Es bedurfte auch des Scheiterhaufens. Die Kirche, die nicht selbst töten konnte, pflegte die Ketzer dem weltlichen Arm zu übergeben. Aber nur als allerletztes Mittel, wenn sie bis zum Schluß verstockt blieben. Denn die Kirche wollte nicht den Tod des reuigen Sünders. Hatte er abgeschworen und zeigte er Zeichen der Bußfertigkeit, dann beschränkte sich die Strafe auf die Einschließung, die >Mauer<. Das war auch Johannas Strafe nach Saint-Ouen. Die Engländer konnten sich damit natürlich nicht zufriedengeben, und das Gericht, sollte es die Sache dabei bewenden lassen, lief Gefahr, den Zorn des Grafen von Warwick zu erregen. Glücklicherweise widerrief die Pucelle. Öffentlich - und, wie es scheint, aus freien Stücken: Rückfall - man konnte sie also rechtmäßig verbrennen. Doch dieser Rückfall hob das Geständnis auf. Man entdeckte, welchen Nachteil es hatte, Politik mit Glaubensdingen zu vermischen, und daß es nicht ungefährlich war, für dieses schmutzige Geschäft Kirchenmänner heranzuziehen: so furchtsam und fanatisch sie waren, sie hatten Herz oder neigten zumindest aufgrund ihres Berufs zur Barmherzigkeit. Man sah es deutlich, als sie am letzten Morgen die rückfällige Johanna bei der Beichte und der Kommunion bewunderten. Ein krasser, unver?neidlicher Widerspruch: jener, auf den die Richter des Rehabilitationsverfahrens hinweisen konnten. Entweder hatte sichjohanna zum Schluß unterworfen - was die posthume Ermittlungfeststellen wollte -, aber dann war es regelwidrig, sie zu töten. Oder aber man hatte einer Verstockten die Absolution erteilt: folglich glaubten die Richter im Grunde ihres Herzens an Johannas Unschuld. In der Tat hielten in Frankreich nur wenige Leute Johanna für eine Hexe - was sie nicht war. Auf der Suche nach Mitteln, sie zu rehabilitieren, hatte Jean Brihal 1456 Aussagen gesammelt, die geeignet waren, sie als Betschwester erscheinen zu lassen - was sie ebenfalls nicht war. Was sie jedoch schließlich für viele geworden ist, aufgrund von Herzensergüssen, offener oder versteckter Ausschlachtung und zweifelhafter Ikonographie. Auch die Akten des dritten Prozesses, des Prozesses der Heiligsprechung im Jahre 1920, würde man gern einmal prüfen, um zu sehen, mit welch subtilen Kunstgriffen die Gestalt dieser Christin, die sich ihren Priestern nicht beugte, abermals verkleinert wurde, um sie dem Bild der Heiligkeit anzupassen, das man sich in der römisch-katholischen Kirche damals machte. Es ist Sache des Lesers, anhand der Dokumente, die wir hier vorlegen, diese Gestalt zu rekonstruieren. Und ein Urteil zu fällen.