Der Fall

Am 24. Mai 1430 wird die Pucelle vor Compiègne gefangengenommen. Mgr. de Luxembourg, dessen Haufe zu diesem Zeitpunkt für den Herzog von Burgund operiert, verkauft seine Beute. Die Engländer sind sofort als Abnehmer zur Stelle, bieten sechstausend, dann zehntausend Francs. Ein hohes, aber nicht übertriebenes Lösegeld. Feldherren, die eine starke Kompanie anführen, sind damals sehr teuer: diese Summe entspricht sämtlichen Kosten der Belagerung von Louviers. Folglich braucht es Zeit, eine solche Menge Goldstücke aufzutreiben. Im September müssen die Staaten der Normandie einer Sonderhilfe zustimmen, für den

Kauf von Jeanne der Pucelle, von der es heißt, sie sei eine Hexe, eine Kriegsperson, die das Heer des Dauphins anführt.

Um Johanna zu bekommen, hätten die Engländer jeden Preis gezahlt.

Muß man daran erinnern, daß das Königreich Frankreich in jener Zeit dreifach geteilt ist? Der erste Bruch liegt schon lange zurück. Armagnacs und Burgunder: zwei Fürstensippen, die sich im Umkreis des geisteskranken Karl VI. um die Vorteile der Macht streiten; Zwei Morde: an Herzog Ludwig von Orléans 1407 und an Herzog Johann von Burgund 1419; zwei unversöhnliche Feindschaften: Philipp von Burgund, der neben dem Herzogtum im Königreich noch Flandern und Artois besitzt und ganz Paris beherrscht, ist der Todfeind der »Armagnacs«, der Mörder seines Vaters, die ihrerseits das Land der Loire, die Südprovinzen und auch Karl in der Hand haben, den Sohn des wahnsinnigen Königs, der bald Kronerbe geworden ist, den Dauphin.  Zweiter Bruch: die Unordnung nutzend, beginnt Heinrich V. die Normandie zu erobern, erringt in Azincourt (1415) einen entscheidenden Sieg; nach 1419 unterstützen ihn die Burgunder Vorbehaltlos. 1420 wird der Dauphin durch den Vertrag von Troyes enterbt, Heinrich V. heiratet eine Tochter Karls VI., ihr Sohn soll König von Frankreich werden. Was 1422 auch geschieht, als Heinrich V. und wenige Monate später Karl VI. sterben. Seitdem geht der Krieg weiter mit kleinen, örtlichen, unterbrochenen Kämpfen, denn er verschlingt gewaltige Summen; die Fürsten halten sich fern; er wird von Abenteurern geführt, die auf Kosten des Gegners ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen, so gut es geht, sowie den von ein paar Hundert, ein paar Dutzend Männern, die ihnen Gefolgschaft leisten. Denjenigen, die für den Herzog von Bedford, den Regenten von Frankreich, arbeiten, gelingt es jedoch, sich Stück für Stück der Besitzungen Karls von Orléans zu bemächtigen, des Dichters, der seit Azincourt ein Gefangener ist; sie belagern Orléans, die letzte große Stadt nördlich der Loire, die sich noch in den Händen der Anhänger des »Königs von Bourges« befindet.

Prüfung

Am 6. März 1429 hält sich der Dauphin, der noch nicht gesalbt werden konnte, sich dennoch als König von Frankreich fühlt und von vielen für diesen gehalten wird, in Chinon auf. Johanna trifft ein. Sie überrascht. Sie beunruhigt. Sie behauptet, sie sei von Gott gesandt; sie trägt Männerkleider. Ist sie nicht einer jener falschen Propheten, Vorboten des Antichrists und des Weltuntergangs, von denen alle Prediger sprechen: der Antichrist wird in Kriegszeiten vom Teufel geboren, und wann werden Unzucht und Hoffart alle jungen Männer und Frauen dazu treiben, sich in ihren Gewändern zu vermummen?[1]  Man muß also sorgfältig prüfen, ob Johanna eine gute Christin ist, auch ob sie Jungfrau ist, was Sicherheit bedeutet: die Hexen huren mit Satan. Eine Kommission von Geistlichen wird gebildet, die sie untersuchen soll; der Erzbischof von Reims steht ihr vor. Sie kommt zu dem Schluß:

Dieses ist das Gutachten der Doktoren, um das der König ersucht hat, über die von Gott gesandte Jungfrau.
Der König darf in Anbetracht seiner und seines Reiches Notlage und mit Rücksicht auf die Gebete seines armen Volkes und aller, die Frieden und Recht lieben, die Jungfrau, die sagt, daß sie von Gott gesandt sei, um ihm Hilfe zu bringen, nicht zurückweisen, wenn ihre Versprechungen auch nur Menschenwerk sind; er soll jedoch nicht sofort und leichtfertig an sie glauben; sondern nach der Heiligen Schrift soll er sie zwei Prüfungen unterziehen: er soll aus menschlicher Vorsicht über ihr Leben, ihre Sitten und ihre Absichten Nachforschungen anstellen lassen, denn der heilige Paulus, der Apostel, sagt: Probate spiritus, si ex Deo sunt; nach frommem Bedenken soll er das Zeichen eines göttlichen Eingreifens oder Wollens verlangen, damit man beurteilen kann, ob sie durch den Willen Gottes gesandt wurde. So befahl Gott dem Ahas, er solle um ein Zeichen bitten, um zu wissen, ob er ihm den Sieg gäbe, und sagte: Pete signum a Domino; das gleiche tat Gideon, der ein Zeichen verlangte, und verschiedene andere usw.
Seit Ankunft besagter Jungfrau ließ der König auf folgende Weise vorgehen: die Prüfung aus menschlicher Vorsicht und frommem Bedenken hat von Gott ein Zeichen verlangt. Was die erstere, aus menschlicher Vorsicht, betrifft, hat er über das Leben, die Geburt, die Sitten und Absicht besagter Jungfrau Nachforschungen anstellen lassen und sie sechs Wochen bei sich behalten, um sie allen Leuten zu zeigen, wie Prüfung Gelehrten, Geistlichen, Frommen, Kriegsleuten, Frauen, Witwen und anderen. Sie hat öffentlich und geheim mit allen diesen Leuten gesprochen; in ihr war nichts Böses zu finden, nur Gutes, Demut, Jungfräulichkeit, Frömmigkeit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit; über ihre Geburt und ihr Leben haben sich verschiedene als wundersam berichtete Dinge als wahr erwiesen. Was die zweite Prüfung betrifft, so verlangte der König von ihr ein Zeichen, worauf sie erwiderte, sie würde es vor der Stadt Orléan und an keinem anderen Ort vorweisen, denn so habe es ihr Gott befohlen.
Im Hinblick auf die Prüfungen, denen besagte Jeanne soweit als möglich unterzogen wurde und die in ihr nichts Böses aufdeckten, hat der König ihre Antwort, sie würde das göttliche Zeichen vor Orléans zeigen, gelten lassen, aufgrund der Beständigkeit und Festigkeit ihrer Worte und ihrer inständigen Bitten, nach Orléans gehen zu können, um dort das Zeichen der göttlichen Hilfe vorzuweisen; und er darf sie nicht daran hindern, mit Kriegsleuten nach Orléan zu ziehen, sondern soll ihr im Gegenteil ein ehrenvolles Geleit geben und auf Gott vertrauen. Denn an ihr zweifeln oder sie ohne den Anschein von etwas Bösem im Stich lassen, hieße, sich dem Heiligen Geist widersetzen und der Hilfe Gottes unwürdig werden, wie Gamaliel bei einem Rat der Juden im Hinblick auf die Apostel sagte. [2]

Diese Schlußfolgerungen ließ Karls Hof sofort im ganzen Reich und außerhalb bekanntgeben. In Lyon, einer treu ergebenen Stadt, beendet Gerson am 14. Mai ein Traktat über die Jungfrau. Der alte Gelehrte ist vorsichtig. Er hegt Mißtrauen gegenüber einfachen Leuten, deren Kontemplation, obwohl ebenso achtbar wie die der guten Theologen, die sich in der Heiligen Schrift auskennen, indes zu wenig nach klarerer Kenntnis als der des Glaubens strebt, der ihnen gegeben oder eingegeben ist. Auch gegenüber den Frauen, die allzu oft Visionen haben. Aber er unterscheidet den Glaubensirrtum, den man mit Feuer und Schwert ausrotten muß, von der frommen Gläubigkeit, die Johanna in seinen Augen hat; daß sie Waffen und Männerkleider trägt, stört ihn nicht: auch andere haben sie getragen; was zählt, ist, daß sie ihre Gefährten und sogar den König ermahnt, ein christlicheres Leben zu führen, daß man in ihren Taten weder Hexerei noch Aberglauben entdeckt, und vor allem, daß sie siegreich ist.

Das Zeichen

Tatsächlich wurde am 8. Mai in Orléan das Zeichen gegeben: die Engländer haben die Belagerung aufgehoben. Die Nachricht verbreitet sich sofort in allen Ländern. Und so hat es der »Bürger von Paris« wahrgenommen, ein der Universität nahestehender Intellektueller, mit Leib und Seele Burgunder, wie damals die meisten Pariser und alle Universitätsangehörigen:

... Es trat damals an der Loire eine Jungfrau auf, wie man sie nannte, die sagte, daß sie eine Prophetin sei, und behauptete: »Dies oder jenes wird ganz gewiß eintreffen.« Sie war gegen den Regenten von Frankreich und seine Verbündeten, und man erzählte, daß sie zum Trotz all derer, die Orléan belagerten, an der Spitze einer großen Truppe von Armagnacs und einer gewaltigen Menge von Lebensmitteln in die Stadt eingezogen sei, und daß die Engländer sich nicht gerührt hätten, obwohl das Bedürfnis nach Verpflegung so groß war, daß ein Mann gut und gern drei Weißbrote verzehrt hätte. Diejenigen, welche die Armagnacs den Burgundern und dem Regenten von Frankreich vorzogen, erzählten noch manch andere Dinge über sie: sie behaupteten, sie habe, als sie klein war, die Schafe gehütet, und die Vögel seien aus dem Wald und den Feldern herbeigekommen, wenn sie sie rief, um das Brot aus ihrem Schoß zu essen, wie zahme Tiere. In veritate appocrisium est ... In dieser Zeit hoben die Armagnacs die Belagerung von Orléan auf und zwangen die Engländer zum Rückzug, dann zogen sie vor Vendôme und nahmen es ein, wie es heißt. Die bewaffnete Jungfrau folgte den Armagnacs überall, ihre Fahne tragend, auf der nichts als JESUS geschrieben stand. Man sagte, sie habe einem englischen Heerführer geraten, mit seiner Truppe die Belagerung aufzuheben, sonst werde er nur Unheil und Schmach ernten; worauf dieser Heerführer sie grob beschimpft und namentlich Hure und Dirne genannt habe; sie antwortete, daß sie alle gegen ihren Willen schnell abziehen würden, aber er dann nicht mehr da wäre, um es zu sehen, und ein großer Teil seiner Truppe tot sein werde. Und so geschah es, denn er ertrank noch am Tag der Schlacht; er wurde aufgefischt, gevierteilt, gesotten, einbalsamiert und nach Saint-Merry gebracht, wo er acht oder zehn Tage in der Kapelle vor dem Weinkeller liegen blieb; Tag und Nacht brannten vier Kerzen oder Fackeln vor seinem Leichnam; wonach man ihn in seine Heimat brachte, um ihn dort zu begraben. [3]

Dieser plötzliche, unerwartete Erfolg wird als Wunder aufgenommen. Er reicht aus. Die Heerführer der Loire fassen wieder Mut. Eine Beweglichkeit in der Aktion, die man auf beiden Seiten verlernt hatte, bringt am 19. Juni bei Patay die Entscheidung. Nach diesem Aufschwung wird Karl VII. am 17.Juli in Reims gekrönt. Die Liturgie ist so gewichtig, daß er von nun anfür alle zum wahren König wird. Unanfechtbar, legitim. Freilich unter einer Bedingung: diejenige, die gekommen ist, ihn an der Hand zu nehmen und zu lenken, Johanna, muß einfach, unter den vielen anderen, die wie sie von sich behaupten, sie seien erleuchtet, das Werkzeug Gottes sein. Der Beweis: ihre Erfolge.

Die Niederlage

Doch nun scheitert sie. Schon vor den Toren von Paris, das zu befreien sie versprochen hatte; am 8. September, einem Feiertag, an dem der Krieg verboten ist, wagt sie die Schlacht:

Im September, am Tag vor der Geburt Unserer Lieben Frau, rannten die Armagnacs gegen die Mauern von Paris, die sie wohl im Sturm zu nehmen hofften, aber sie ernteten nur Schmerz, Schande und Unglück. Viele von ihnen, die sich vor der Erstürmung guter Gesundheit erfreuten, wurden für den Rest ihres Lebens verwundet. Aber ein Verrückter argwöhnt nichts, solange er Erfolg hat. Ich sage es für sie, die von Unglück und Unglauben befallen waren und im Vertrauen auf eine Kreatur in Gestalt einer Frau, die sie begleitete und die Jungfrau genannt wurde - Gott weiß, wer sie war! - sich verschworen hatten, Paris an diesem Tag Unserer Lieben Frau zu stürmen. [4]

Abermalige Niederlage im Winter, vor La Chariti-sur-Loire. Schließlich, am 24. Mai 1430, Compiègne.

Der Zweifel

Für viele ist dies der schlagende Gegenbeweis. Vornehmlich für jene, die - nicht zu Unrecht meinen, das Dringlichste sei nun, den König von Bourges mit dem Herzog von Burgund zu versöhnen. So der Erzbischof von Reims. Als er den Einwohnern von Reims die Gefangennahme mitteilt, erklärt er: Gott hat es zugelassen, daß Johanna, die Jungfrau, gefangen wurde, um ihrer Anmaßung und der reichen Kleider willen, die sie trug, und weil sie nicht tat, was Gott ihr befohlen hatte, sondern nach ihrem Willen gehandelt hat.  Die Engländer bestärken alle Zweifler in ihrer Meinung, behaupten, daß Johanna falsch sei, daß der Geist des Bösen sie geführt habe, daß infolgedessen alle ihre Taten schlecht seien, besonders die Salbung Karls, und zwar nach dem Urteil der Doktoren, der Magister der Religionswissenschaft, der Hüter der wahren Lehre. Es genügt ihnen nicht, Johanna gefangenzuhalten, es würde ihnen nicht genügen, sie einfach zu töten. Sie muß noch wegen Satanismus verurteilt und verbannt werden.
Seit zwei Jahrhunderten ist der Apparat aufgestellt und funktioniert vortrefflich: das Inquisitionsgericht, das in jeder Diözese der bischöflichen Macht beigeordnet ist. Inquisition: Untersuchung - alle, die vom Glauben und der Disziplin abweichen, welche die Kirche in aller Strenge durchzusetzen gedenkt, aufspüren, entlarven, mit allen Mitteln der Schuld überführen und unschädlich machen. Das Instrumentarium ist geschmiedet und gestählt worden in den Kämpfen, die Rom gegen allesführte, was sich seiner Autorität entzog, gegen die Katharer aus Albi, gegen Hunderte von anderen Sekten. Zwischen Häresie und Hexerei machen die Inquisitoren und jene hervorstechenden Spezialisten, die Dominikaner, verstrickt in die Spitzfindigkeiten ihrer Sprache und Logik, besessen von der Jagd, die sie veranstalten, keinen Unterschied mehr. Jede Widersetzlichkeit, jeder Ungehorsam, jeder scheinbare Nonkonformismus bedeutet Verkehr mit dem Dämon. Es sind offenkundig politische Prozesse: um die Legitimität des Kindes Heinrich VI. zu begründen, ist es erforderlich, die Legitimität Karls VII. in ihren geistigen, magischen Grundlagen zu zerstören. Dazu jedoch bedarf es eines Glaubensprozesses, eines kirchlichen Prozesses: es gilt nachzuweisen - was nicht sehr schwierig ist - daß Johanna sich den Geboten der kirchlichen Institution widersetzt und folglich verhext ist, nicht von Gott, sondern vom Teufel inspiriert. Es wimmelt damals von Erleuchteten. Die Geistlichen mißtrauen ihnen, halten es für ihre Aufgabe, sie aufzustöbern und zu vernichten. Richter wird man mühelos finden. Bereits am 26. Mai richtete die Universität, mächtiges Zentrum der Theologie, ein Schreiben an den Herzog von Burgund, in dem sie ersucht, Johanna dem Generalvikar des Großinquisitors von Frankreich auszuliefern, weil sie »verschiedener ketzerischer Verbrechen sehr verdächtig ist«. Da sie in der Diözese Beauvais gefangengenommen wurde, ist ihr legaler Richter der Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon. Ein veräßlicher Mann. Seit langem im Dienst des Herzogs von Burgund, hatte er 1413 bei der Abfassung der sogenannten cabochien-Verfügung mitgewirkt, die unter dem Druck des Volks von Paris die Reform der königlichen Regierung vorschlug. Karls Leute besetzen daraufhin seine Stadt. Er lebt in Rouen, im Herzen der eroberten und völlig >verenglischten< Normandie. Er selbst unterhandelt im Namen der Engländer wegen des Kaufs der Pucelle. Nach Abschluß des Geschäfts wird Johanna im November nicht nach Paris gebracht, wie es die Universität verlangte, sondern ins Gefängnis von Rouen. Und von Rouen aus beauftragt der König von England am 3. Januar 1431 Cauchon, die Untersuchung einzuleiten:

... Es ist allgemein bekannt, daß seit geraumer Zeit eine Frau, die sich Jeanne die Pucelle nennen läßt, das Gewand des weiblichen Geschlechts ablegend, was dem göttlichen Gebot zuwiderläuft, Gott ein Greuel ist und von allen Gesetzen mißbilligt und verboten ist, Männertracht angelegt hat und Waffen trägt. Sie hat grausam Menschen getötet und, wie man sagt, dem einfachen Volk, um es zu verführen und zu mißbrauchen, zu verstehen gegeben, sie sei von Gott gesandt und kenne seine Geheimnisse, des weiteren andere sehr gefährliche und unserem katholischen Glauben höchst abträgliche und schändliche Irrlehren verbreitet. Ihre Täuschungen fortsetzend und uns und unserem Volk gegenüber Feindseligkeit übend, ist sie vor Compiègne von einigen unserer loyalen Untertanen ergriffen und als Gefangene zu uns gebracht worden. Und weil sie von mehreren des Aberglaubens, falscher Lehren und anderer Verbrechen der Beleidigung göttlicher Majestät für verdächtig gehalten und verschrien worden ist, sind wir inständig ersucht worden - durch den hochwürdigsten Herrn Bischof von Beauvais, unseren lieben und getreuen Ratgeber, kirchlichen Richter und zuständigen Ordinarius, weil sie in dem Gebiet und in den Grenzen seiner Diözese gefangen und ergriffen worden ist; und ebenso aufgefordert von unserer liebwerten Tochter, der Pariser Universität, besagte Jeanne zu überlassen, zu übergeben und auszuliefern dem genannten hochwürdigen Herrn, um sie über die genannten Fälle zu vernehmen und zu verhören und nach den Bestimmungen und Vorschriften des göttlichen und kanonischen Rechts gegen sie vorzugehen; beruft also diejenigen, die zu berufen sind.
(...) Es ist jedoch unsere Absicht, Jeanne wieder zurückzunehmen, wenn sich herausstellen sollte, daß man sie in keinem der oben genannten Punkte oder in anderen, die auf den Glauben Bezug haben, überführen kann...[5]

Die Dokumente

Die Originalakten des Verurteilungsprozesses sind verlorengegangen. Spuren davon sind jedoch erhalten geblieben, 1456 von den Untersuchungsrichtern des Rehabilitationsverfahrens zusammengetragen. Unsere Kenntnisse stammen hauptsächlich aus drei Dokumenten:

  1. Wenige Tage nach der Hinrichtung erstellten der Bischof und der Inquisitor vorschriftsgemäß ein Instrument public des sentences, versehen mit dem Siegel der Richter und der Unterschrift der Notare. Es enthielt die zwölf Anklageartikel, den Widerruf in Saint-Ouen, den Absolutionsspruch vom 24. Mai, die Verurteilung und die Exkommunikation vom 30. Mai, eine Zusammenfassung der Sache. Der Text selbst ist verschwunden, aber 1456 haben die Richter Kopien anfertigen lassen.
  2. Lange später, frühestens 1435, redigierten zwei Mitglieder des Gerichts, Thomas de Courcelles und der Notar Guillaume Manchon, ein Protokoll in lateinischer Sprache. Nach dem Originalregister, das verloren ist, wurden fünf authentische Abschriften angefertigt. Drei davon sind erhalten geblieben (Bibliothique nationale, Nr. 1119; Bibliothique nationale, lateinisch, Nr. 5965 und 5966). Außer dem Text der Information posthume (s. S. 112ff.) enthalten sie die Zusammenfassung der Verhöre, nach der Minute ins Französische übersetzt.
  3. Die Minute francaise wurde von den Notaren angefertigt. Sie machten sich während der Sitzungen Notizen und kollationierten diese am Abend; in Zweifelsfällen brachten sie ein nota an, daß Johanna zu diesem Punkt erneut zu befragen sei. Obwohl Johannas Antworten hier häufig zusammengefaßt wurden und die Richter angeordnet hatten, einige von ihnen wegzulassen, da sie angeblich nichts mit der Sache zu tun hätten, wäre dieses >Register aus Papier<, das Guillaume Manchon am 15. Dezember 1455 den Richtern des Rehabilitationsprozesses übergab, wohl das direkteste Zeugnis. Es ist verlorengegangen. Doch seine Spur findet sich in drei Schriften:
  • a) Im Libell der Anklage, die vom Promotor Jean Destivet im März 1931 in einem verständlichen Vulgärlatein abgefaßt und unverändert ins Protokoll übernommen wurde. Jeder der siebzig Artikel enthält die Darlegung eines Verbrechens sowie die Antwort der Angeklagten; als Beweise liefert es Auszüge aus den früheren Verhören, die ganz offenkundig der Minute entnommen sind.
  • b) Im Manuskript der Bibliothéque Nationale, lateinisch, Nr. 8383, dem sogenannten manuscrit d'Urfé, das 1787 entdeckt wurde. Quicherat zufolge ist es das einzige Exemplar einer vorläufigen Fassung, die im Rehabilitationsprozeß Verwendung fand, jedoch für die Endausfertigung nicht benutzt worden ist.
  • c) Im Manuskript Nr.518 der Bibliothéque d'Orléans, das ebenfalls 1787 entdeckt wurde. Sein zweiter Teil enthält den Verurteilungsprozeß, »aus dem Lateinischen ins Französische übertragen auf Anordnung von König Ludwig, dem zwölften dieses Namens, sowie auf Ersuchen von Mgr. Admiral von Frankreich, Herrn de Graville«. In Wahrheit ist dieses Dokument wie Pater Doncoeur klar festgestellt hat - keine Übersetzung des lateinischen Protokolls. Übertragen wurde lediglich, was in der französischen Minute nicht in der Alltagssprache niedergeschrieben worden war: es gibt nämlich unmittelbar die Volkssprache zu Beginn des 15.Jahrhunderts wieder. Der Text des Manuskripts stammt wahrscheinlich direkt aus der Quelle des Urfé-Manuskripts. Dieser Text, hier und dort durch Texte aus anderen Qullen ergänzt, dient unserer Bearbeitung als Grundlage.

Die Richter

Am 9. Januar 1431 eröffnet Pierre Cauchon den Prozeß. Er führt den Vorsitz allein. Der stellvertretende Glaubensinquisitor, Bruder Jean Le Maistre vom Orden der Dominikaner, wohnt den ersten Sitzungen nur bei. Er ist vorsichtig und wartet auf die Sondervollmacht des Herrn Inquisitors, ein Mann von großer Frömmigkeit und Umsicht, Magister Jean Graverent, Professor der Heiligen Schrift, vom selben Orden, Inquisitor des Glaubens und der häretischen Verderbtheit im ganzen Königreich Frankreich, Abgesandter der apostolischen Autorität. Er erhält sie am 4. März.
Mgr. de Beauvais hat beschlossen, sich mit gelehrten und im göttlichen und menschlichen Recht bewanderten Männern, von denen es in unserer Stadt Rouen dank der Güte Gottes eine große Zahl gibt, zu beraten. Diese ersten Beisitzer sind Leute aus der Gegend, Domherren, Priester, normannische Äbte. Weitere treffen am 13. Februar ein, sechs von ihnen aus Paris, von der Universität abgeordnet. Unter ihnen Thomas de Courcelles, damals Rektor. Zwei Bettelbrüder, Martin Ladvenu und Isembard de la Pierre, werden Johanna zum Scheiterhaufen begleiten.
Im Laufe des Prozesses hat die Zahl der Beisitzer - insgesamt mehr als hundert ständig gewechselt. Cauchon betont oft ihre Qualitäten, den Ernst und die Tiefe ihrer Beratungen; er hat sie häufig konsultiert und ihren Rat nie außer acht gelassen. Alle blicken sie auf die Pariser Universität, aus der sie zum größten Teil hervorgegangen sind. Diese steht ganz auf der Seite Burgunds und ist ein erklärter Feind Karls VII. und deshalb stark verenglischt.
Unter den Mitgliedern des Gerichts befinden sich auch Engländer: der Bischof von Norwich, der Dechant der Kapelle des Königs von England, Priester, Geistliche; Johannas Kerkermeister waren Engländer. Andere, mächtigere, beherrschten die Verhandlungen: der Kardinal von Winchester, Kanzler und Großonkel des jungen Königs, der selbst in Rouen weilt, der Graf von Warwick, sein Gouverneur. Zudem hatten zahlreiche Beisitzer direkt im Dienst des englischen Königs gestanden, seine Mission erfüllt, in seinem Rat gesessen wie Cauchon. Der Prozeß wurde aus der königlichen Kasse bezahlt. Die Beisitzer erhielten: zwanzig Sols tournois für jeden Tag, den sie nach eigenen Angaben mit der anhängigen Sache beschäftigt waren. Außerdem Entschädigungen: so erhielt Magister Jean Beaupère am 2. April die Summe von dreißig Livres tournois, um ihm zu helfen, besagte Unkosten und Ausgaben zu tragen, die er während der Zeit seines Aufenthalts in der Stadt Rouen machen mußte.
Am 9. Januar ernennt der Bischof einen Promotor, Jean Destivet, Domherr von Bayeux und Beauvais; einen Berater und Untersuchungsrichter, Jean de la Fontaine; einen Gerichtsdiener, Massieux; zwei Notare, Guillaume Colles und Guillaume Manchon; ein dritter, Nicolas Taquel, wurde später berufen. Da Johanna bekanntermaßen verschrien war, konnte der Prozeß sofort beginnen. Doch zuerst ließ Pierre Cauchon in der Heimat der Gefangenen und anderswo Erkundigungen einziehen. Anfang Februar wurden Jean de la Fontaine und die beiden Notare mit einer neuerlichen Voruntersuchung beauftragt. Auf ihren Bericht hin beschließt das Gericht, daß es hinreichenden Grund hat, sie vorzuladen. Diese Untersuchungen sind nicht in den Akten niedergelegt. Die Kläger des Rehabilitationsverfahrens werden später erklären, daß sie nicht erfolgt seien. Thomas de Courcelles weiß 1456 nichts mehr, und in Domrémy erinnert man sich nicht. Dennoch gab es sie und sie bildeten die Grundlage für Johannas Verhör.